Aus meinem Leben

Dichtung und Wahrheit

 

 

 


Als Vorwort zu der gegenwŠrtigen Arbeit, welche desselben vielleicht mehr als eine andere bedŸrfen mšchte, stehe hier der Brief eines Freundes, durch den ein solches, immer bedenkliches Unternehmen veranla§t worden.

ÒWir haben, teurer Freund, nunmehr die zwšlf Teile Ihrer dichterischen Werke beisammen, und finden, indem wir sie durchlesen, manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Vergessene wird durch diese Sammlung wieder angefrischt. Man kann sich nicht enthalten, diese zwšlf BŠnde, welche in einem Format vor uns stehen, als ein Ganzes zu betrachten, und man mšchte sich daraus gern ein Bild des Autors und seines Talents entwerfen. Nun ist nicht zu leugnen, da§ fŸr die Lebhaftigkeit, womit derselbe seine schriftstellerische Laufbahn begonnen, fŸr die lange Zeit, die seitdem verflossen, ein Dutzend BŠndchen zu wenig scheinen mŸssen. Ebenso kann man sich bei den einzelnen Arbeiten nicht verhehlen, da§ meistens besondere Veranlassungen dieselben hervorgebracht und sowohl Šu§ere bestimmte UmstŠnde als innere bestimmte Bildungsstufen daraus hervorscheinen, nicht minder auch gewisse temporŠre moralische und Šsthetische Maximen und †berzeugungen darin obwalten. Im ganzen aber bleiben diese Produktionen immer unzusammenhŠngend; ja oft sollte man kaum glauben, da§ sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien.

Ihre Freunde haben indessen die Nachforschung nicht aufgegeben und suchen, als nŠher bekannt mit Ihrer Lebens- und Denkweise, manches RŠtsel zu erraten, manches Problem aufzulšsen; ja sie finden, da eine alte Neigung und ein verjŠhrtes VerhŠltnis ihnen beisteht, selbst in den vorkommenden Schwierigkeiten einigen Reiz. Doch wŸrde uns hie


und da eine Nachhilfe nicht unangenehm sein, welche Sie unseren freundlichen Gesinnungen nicht wohl versagen dŸrfen.

Das erste also, worum wir Sie ersuchen, ist, da§ Sie uns Ihre, bei der neuen Ausgabe, nach gewissen innern Beziehungen geordneten Dichtwerke in einer chronologischen Folge auffŸhren und sowohl die Lebens- und GefŸhlsumstŠnde, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen GrundsŠtze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhange vertrauen mšchten. Widmen Sie diese BemŸhung einem engern Kreise, vielleicht entspringt daraus etwas, was auch einem gršßern angenehm und nŸtzlich werden kann. Der Schriftsteller soll bis in sein hšchstes Alter den Vorteil nicht aufgeben, sich mit denen, die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhalten; und wenn es nicht einem jedem verliehen sein mšchte, in gewissen Jahren mit unerwarteten, mŠchtig wirksamen Zeugnissen von neuem aufzutreten: so sollte doch gerade zu der Zeit, wo die Erkenntnis vollstŠndiger, das Bewußtsein deutlicher wird, das GeschŠft sehr unterhaltend und neubelebend sein, jenes Hervorgebrachte wieder als Stoff zu behandeln und zu einem Letzten zu bearbeiten, welches denen abermals zur Bildung gereiche, die sich frŸher mit und an dem KŸnstler gebildet haben.Ó

Dieses so freundlich geŠußerte Verlangen erweckte bei mir unmittelbar die Lust es zu befolgen. Denn wenn wir in frŸherer Zeit leidenschaftlich unsern eigenen Weg gehen, und, um nicht irre zu werden, die Anforderungen anderer ungeduldig ablehnen, so ist es uns in hšhern Tagen hšchst erwŸnscht, wenn irgendeine Teilnahme uns aufregen und zu einer neuen TŠtigkeit liebevoll bestimmen mag. Ich unterzog mich daher sogleich der vorlŠufigen Arbeit, die gršßeren und kleineren Dichtwerke meiner zwšlf BŠnde auszuzeichnen und den Jahren nach zu ordnen. Ich suchte mir Zeit und UmstŠnde zu vergegenwŠrtigen, unter welchen ich sie her-


vorgebracht. Allein das GeschŠft ward bald beschwerlicher, weil ausfŸhrliche Anzeigen und ErklŠrungen nštig wurden, um die LŸcken zwischen dem bereits Bekanntgemachten auszufŸllen. Denn zuvšrderst fehlt alles, woran ich mich zuerst geŸbt, es fehlt manches Angefangene und nicht Vollendete; ja sogar ist die Šu§ere Gestalt manches Vollendeten všllig verschwunden, indem es in der Folge gŠnzlich umgearbeitet und in eine andere Form gegossen worden. Außer diesem blieb mir auch noch zu gedenken, wie ich mich in Wissenschaften und andern KŸnsten bemŸht, und was ich in solchen fremd erscheinenden FŠchern, sowohl einzeln als in Verbindung mit Freunden, teils im stillen geŸbt, teils šffentlich bekannt gemacht.

Alles dieses wŸnschte ich nach und nach zu Befriedigung meiner Wohlwollenden einzuschalten; allein diese BemŸhungen und Betrachtungen fŸhrten mich immer weiter: denn indem ich jener sehr wohl Ÿberdachten Forderung zu entsprechen wŸnschte und mich bemŸhte, die innern Regungen, die Šu§ern EinflŸsse, die theoretisch und praktisch von mir betretenen Stufen der Reihe nach darzustellen: so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt gerŸckt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche nŠher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich, wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen, den grš§ten Einflu§ gehabt, mu§ten vorzŸglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen ZeitverhŠltnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begŸnstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er KŸnstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach au§en abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, da- nŠmlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen UmstŠnden dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den


Willigen als Unwilligen mit sich fortrei§t, bestimmt und bildet, dergestalt, da§ man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre frŸher oder spŠter geboren, dŸrfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach au§en betrifft, ein ganz anderer geworden sein.

Auf diesem Wege, aus dergleichen Betrachtungen und Versuchen, aus solchen Erinnerungen und †berlegungen entsprang die gegenwŠrtige Schilderung, und aus diesem Gesichtspunkt ihres Entstehens wird sie am besten genossen, genutzt und am billigsten beurteilt werden kšnnen. Was aber sonst noch, besonders Ÿber die halb poetische, halb historische Behandlung etwa zu sagen sein mšchte, dazu findet sich wohl im Laufe der ErzŠhlung mehrmals Gelegenheit.


ERSTER TEIL

Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen


Erstes Buch

 

Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwšlf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glŸcklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte fŸr den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwŠrtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgŸltig: nur der Mond, der soeben voll ward, Ÿbte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorŸbergegangen.

Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wu§ten, mšgen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich fŸr tot auf die Welt, und nur durch vielfache BemŸhungen brachte man es dahin, da§ ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in gro§e Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen MitbŸrgern zum Vorteil, indem mein Gro§vater, der Schulthei§ Johann Wolfgang Textor, daher Anla§ nahm, da§ ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht eingefŸhrt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen mag zugute gekommen sein.

Wenn man sich erinnern will, was uns in der frŸhsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall dasjenige, was wir von andern gehšrt, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierŸber eine genaue Untersuchung anzustellen, welche ohnehin zu nichts fŸhren kann, bin ich mir bewu§t, da§ wir in einem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus zwei durchgebrochenen HŠusern bestand.


Eine turmartige Treppe fŸhrte zu unzusammenhŠngenden Zimmern, und die Ungleichheit der Stockwerke war durch Stufen ausgeglichen. FŸr uns Kinder, eine jŸngere Schwester und mich, war die untere weitlŠuftige Hausflur der liebste Raum,welche neben der TŸre ein gro§es hšlzernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmittelbar mit der Stra§e undder freien Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele HŠuser versehen waren,nannte man ein GerŠms. Die Frauen sa§en darin, um zu nŠhen und zu stricken; die Kšchin las ihren Salat;die Nachbarinnen besprachen sich von daher miteinander, und die Stra§en gewannen dadurch in der guten Jahrszeit ein sŸdliches Ansehen. Man fŸhlte sich frei, indem man mit dem …ffentlichen vertraut war. So kamen auch durch diese GerŠmse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewannen drei gegenŸber wohnende BrŸder von Ochsenstein, hinterlassene Sšhne des verstorbenen Schulthei§en, gar lieb, und beschŠftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise.

Die Meinigen erzŠhlten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen mich jene sonst ernsten und einsamen MŠnner angereizt. Ich fŸhre nur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die KŸche fŸr die nŠchste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender BeschŠftigung eingekauft. An einem schšnen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im GerŠms mit meinen SchŸsseln und Tšpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Stra§e und freute mich, da§ es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, da§ ich so gar fršhlich in die HŠndchen putschte, riefen: "Noch mehr!" Ich sŠumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwŠhrendes Rufen: "Noch mehr!" nach und nach sŠmtliche SchŸsselchen, Tiegelchen, KŠnnchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn


fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war hšchlich froh, ihnen VergnŸgen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: "Noch mehr!" Ich eilte daher stracks in die KŸche und holte die irdenen Teller, welchen nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wider, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stŸrzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben. Nur spŠter erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das UnglŸck war geschehen, und man hatte fŸr so viel zerbrochene Tšpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten.

Meines Vaters Mutter, bei der wir eigentlich im Hause wohnten, lebte in einem gro§en Zimmer hinten hinaus, unmittelbar an der Hausflur, und wir pflegten unsere Spiele bis an ihren Sessel, ja, wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin auszudehnen. Ich erinnere mich ihrer gleichsam als eines Geistes, als einer schšnen, hagern, immer wei§ und reinlich gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohlwollend ist sie mir im GedŠchtnis geblieben.

Wir hatten die Stra§e, in welcher unser Haus lag, den Hirschgraben nennen hšren; da wir aber weder Graben noch Hirsche sahen, so wollten wir diesen Ausdruck erklŠrt wissen. Man erzŠhlte sodann, unser Haus stehe auf einem Raum, der sonst au§erhalb der Stadt gelegen, und da, wo jetzt die Stra§e sich befinde, sei ehmals ein Graben gewesen, in welchem eine Anzahl Hirsche unterhalten worden. Man habe diese Tiere hier bewahrt und genŠhrt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen Hirsch šffentlich verspeiset, den man denn fŸr einen solchen Festtag hier im Graben immer zur Hand gehabt, wenn auch auswŠrts FŸrsten und Ritter der Stadt ihre Jagdbefugnis verkŸmmerten und stšrten, oder wohl gar Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dies gefiel uns sehr, und wir wŸnschten, eine


solche zahme Wildbahn wŠre auch noch bei unsern Zeiten zu sehen gewesen.

Die Hinterseite des Hauses hatte, besonders aus dem oberen Stock, eine sehr angenehme Aussicht Ÿber eine beinah unabsehbare FlŠche von NachbarsgŠrten, die sich bis an die Stadtmauern verbreiteten. Leider aber war, bei Verwandlung der sonst hier befindlichen GemeindeplŠtze in HausgŠrten, unser Haus und noch einige andere, die gegen die Stra§enecke zu lagen, sehr verkŸrzt worden, indem die HŠuser vom Ro§markt her weitlŠufige HintergebŠude und gro§e GŠrten sich zueigneten, wir aber uns durch eine ziemlich hohe Mauer unsres Hofes von diesen so nah gelegenen Paradiesen ausgeschlossen sahen.

Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige GewŠchse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsŸchtiger Aufenthalt. †ber jene GŠrten hinaus, Ÿber Stadtmauern und WŠlle sah man in eine schšne fruchtbare Ebene; es ist die welche sich nach Hšchst hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewšhnlich meine Lektionen, wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren GŠrten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich ergetzen sah, die Kegelkugeln rollen und die Kegel fallen hšrte: so erregte dies frŸhzeitig in mir ein GefŸhl der Einsamkeit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das, dem von der Natur in mich gelegten Ernsten und Ahndungsvollen entsprechend, seinen Einflu§ gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.

Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen dŸstere Beschaffenheit des Hauses war Ÿbrigens geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen GemŸtern zu erwecken. UnglŸcklicherweise hatte man noch die Erziehungsmaxime, den Kindern frŸh-


zeitig alle Furcht vor dem Ahnungsvollen und Unsichtbaren zu benehmen und sie an das Schauderhafte zu gewšhnen. Wir Kinder sollten daher allein schlafen, und wenn uns dieses unmšglich fiel, und wir uns sacht aus den Betten hervormachten und die Gesellschaft der Bedienten und MŠgde suchten, so stellte sich, in umgewandtem Schlafrock und also fŸr uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und schreckte uns in unsere RuhestŠtte zurŸck. Die daraus entspringende Ÿble Wirkung denkt sich jedermann. Wie soll derjenige die Furcht los werden, den man zwischen ein doppeltes Furchtbare einklemmt? Meine Mutter, stets heiter und froh, und andern das gleiche gšnnend, erfand eine bessere pŠdagogische Auskunft. Sie wu§te ihren Zweck durch Belohnungen zu erreichen. Es war die Zeit der Pfirschen, deren reichlichen Genu§ sie uns jeden Morgen versprach, wenn wir nachts die Furcht Ÿberwunden hŠtten. Es gelang, und beide Teile waren zufrieden.

Innerhalb des Hauses zog meinen Blick am meisten eine Reihe ršmischer Prospekte auf sich, mit welchen der Vater einen Vorsaal ausgeschmŸckt hatte, gestochen von einigen geschickten VorgŠngern des Piranesi, die sich auf Architektur und Perspektive wohl verstanden, und deren Nadel sehr deutlich und schŠtzbar ist. Hier sah ich tŠglich die Piazza del Popolo, das Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von au§en und innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten drŸckten sich tief bei mir ein und der sonst sehr lakonische Vater hatte wohl manchmal die GefŠlligkeit, eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen. Seine Vorliebe fŸr die italienische Sprache und fŸr alles, was sich auf jenes Land bezieht, war sehr ausgesprochen. Eine kleine Marmor - und Naturaliensammlung, die er von dorther mitgebracht, zeigte er uns auch manchmal vor, und einen gro§en Teil seiner Zeit verwendete er auf seine italienisch verfa§te Reisebeschreibung, deren Abschrift und Redaktion er eigenhŠndig, heftweise, langsam und genau ausfertigte. Ein alter heiterer italienischer Sprachmeister, Giovinazzi ge-


nannt, war ihm daran behŸlflich. Auch sang der Alte nicht Ÿbel, und meine Mutter mu§te sich bequemen, ihn und sich selbst mit dem Klaviere tŠglich zu akkompagnieren; da ich denn das " Solitario bosco ombroso" bald kennen lernte, und auswendig wu§te, ehe ich es verstand.

Mein Vater war Ÿberhaupt lehrhafter Natur, und bei seiner Entfernung von GeschŠften wollte er gern dasjenige, was er wu§te und vermochte, auf andre Ÿbertragen. So hatte er meine Mutter in den ersten Jahren ihrer Verheiratung zum flei§igen Schreiben angehalten, wie zum Klavierspielen und Singen; wobei sie sich genštigt sah, auch in der italienischen Sprache einige Kenntnis und notdŸrftige Fertigkeit zu erwerben.

Gewšhnlich hielten wir uns in allen unsern Freistunden zur Gro§mutter, in deren gerŠumigem Wohnzimmer wir hinlŠnglich Platz zu unsern Spielen fanden. Sie wu§te uns mit allerlei Kleinigkeiten zu beschŠftigen, und mit allerlei guten Bissen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch setzte sie allen ihren Wohltaten die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen lie§, und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen GemŸter mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine gro§e langdauernde Wirkung nachklang.

Die kleine BŸhne mit ihrem stummen Personal, die man uns anfangs nur vorgezeigt hatte, nachher aber zu eigner †bung und dramatischer Belebung Ÿbergab, mu§te uns Kindern um so viel werter sein, als es das letzte VermŠchtnis unserer guten Gro§mutter war, die bald darauf durch zunehmende Krankheit unsern Augen erst entzogen, und dann fŸr immer durch den Tod entrissen wurde. Ihr Abscheiden war fŸr die Familie von desto grš§erer Bedeutung, als es eine všllige VerŠnderung in dem Zustande derselben nach sich zog.

Solange die Gro§mutter lebte, hatte mein Vater sich gehŸtet, nur das mindeste im Hause zu verŠndern oder zu er-


neuern; aber man wu§te wohl, da§ er sich zu einem Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch sogleich vorgenommen wurde. In Frankfurt, wie in mehrern alten StŠdten, hatte man bei AuffŸhrung hšlzerner GebŠude, um Platz zu gewinnen, sich erlaubt, nicht allein mit dem ersten, sondern auch mit den folgenden Stocken Ÿberzubauen, wodurch denn freilich besonders enge Stra§en etwas DŸsteres und €ngstliches bekamen. Endlich ging ein Gesetz durch, da§, wer ein neues Haus von Grund auf baue, nur mit dem ersten Stock Ÿber das Fundament herausrŸcken dŸrfe, die Ÿbrigen aber senkrecht auffŸhren mŸsse. Mein Vater, um den vorspringenden Raum im zweiten Stock auch nicht aufzugeben, wenig bekŸmmert um Šu§eres architektonisches Ansehen, und nur um innere gute und bequeme Einrichtung besorgt, bediente sich, wie schon mehrere vor ihm getan, der Ausflucht, die oberen Teile des Hauses zu unterstŸtzen und von unten herauf einen nach dem andern wegzunehmen, und das Neue gleichsam einzuschalten, so da§, wenn zuletzt gewisserma§en nichts von dem Alten Ÿbrig blieb, der ganz neue Bau noch immer fŸr eine Reparatur gelten konnte. Da nun also das Einrei§en und Aufrichten allmŠhlich geschah, so hatte mein Vater sich vorgenommen, nicht aus dem Hause zu weichen, um desto besser die Aufsicht zu fŸhren und die Anleitung geben zu kšnnen: denn aufs Technische des Baues verstand er sich ganz gut; dabei wollte er aber auch seine Familie nicht von sich lassen. Diese neue Epoche war den Kindern sehr Ÿberraschend und sonderbar. Die Zimmer, in denen man sie oft enge genug gehalten und mit wenig erfreulichem Lernen und Arbeiten geŠngstigt, die GŠnge, auf denen sie gespielt, die WŠnde, fŸr deren Reinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmermanns fallen zu sehen, und zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstŸtzten Balken gleichsam in der Luft zu schweben, und dabei immer noch zu einer gewissen Lektion, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden - dieses alles brachte


eine Verwirrung in den jungen Kšpfen hervor, die sich so leicht nicht wieder ins gleiche setzen lie§. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher und manche Gelegenheit, sich auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingen, gelassen ward.

HartnŠckig setzte der Vater die erste Zeit seinen Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach teilweise abgetragen wurde, und, ohngeachtet alles Ÿbergespannten Wachstuches von abgenommenen Tapeten, der Regen bis zu unsern Betten gelangte: so entschlo§ er sich, obgleich ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden, welche sich schon frŸher dazu erboten hatten, auf eine Zeitlang zu Ÿberlassen und sie in eine šffentliche Schule zu schicken.

Dieser †bergang hatte manches Unangenehme: denn indem man die bisher zu Hause abgesondert, reinlich, edel, obgleich streng gehaltenen Kinder unter eine rohe Masse von jungen Geschšpfen hinunterstie§, so hatten sie vom Gemeinen, Schlechten, ja NiedertrŠchtigen ganz unerwartet alles zu leiden, weil sie aller Waffen und aller FŠhigkeit ermangelten, sich dagegen zu schŸtzen.

Um diese Zeit war es eigentlich, da§ ich meine Vaterstadt zuerst gewahr wurde: wie ich denn nach und nach immer freier und ungehinderter, teils allein, teils mit muntern Gespielen, darin auf und ab wandelte. Um den Eindruck, den diese ernsten und wŸrdigen Umgebungen auf mich machten, einigerma§en mitzuteilen, mu§ ich hier mit der Schilderung meines Geburtsortes vorgreifen, wie er sich in seinen verschiedenen Teilen allmŠhlich vor mir entwickelte. Am liebsten spazierte ich auf der gro§en MainbrŸcke. Ihre LŠnge, ihre Festigkeit, ihr gutes Ansehen machte sie zu einem bemerkenswerten Bauwerk; auch ist es aus frŸherer Zeit beinahe das einzige Denkmal jener Vorsorge, welche die weltliche Obrigkeit ihren BŸrgern schuldig ist. Der schšne Flu§ auf und abwŠrts zog meine Blicke nach sich; und wenn auf dem BrŸckenkreuz der goldene Hahn im Sonnenschein


glŠnzte, so war es mir immer eine erfreuliche Empfindung. Gewšhnlich ward alsdann durch Sachsenhausen spaziert, und die †berfahrt fŸr einen Kreuzer gar behaglich genossen. Da befand man sich nun wieder diesseits, da schlich man zum Weinmarkte, bewunderte den Mechanismus der Krane, wenn Waren ausgeladen wurden; besonders aber unterhielt uns die Ankunft der Marktschiffe, wo man so mancherlei und mitunter so seltsame Figuren aussteigen sah. Ging es nun in die Stadt herein, so ward jederzeit der Saalhof, der wenigstens an der Stelle stand, wo die Burg Kaiser Karls des Gro§en und seiner Nachfolger gewesen sein sollte, ehrfurchtsvoll gegrŸ§t. Man verlor sich in die alte Gewerbstadt, und besonders Markttages gern in dem GewŸhl, das sich um die BartholomŠuskirche herum versammelte. Hier hatte sich, von den frŸhsten Zeiten an, die Menge der VerkŠufer und KrŠmer Ÿbereinander gedrŠngt, und wegen einer solchen Besitznahme konnte nicht leicht in den neuern Zeiten eine gerŠumige und heitere Anstalt Platz finden. Die Buden des sogenannten Pfarreisen waren uns Kindern sehr bedeutend, und wir trugen manchen Batzen hin, um uns farbige, mit goldenen Tieren bedruckte Bogen anzuschaffen. Nur selten aber mochte man sich Ÿber den beschrŠnkten, vollgepfropften und unreinlichen Marktplatz hindrŠngen. So erinnere ich mich auch, da§ ich immer mit Entsetzen vor den daransto§enden engen und hŠ§lichen FleischbŠnken geflohen bin. Der Ršmerberg war ein desto angenehmerer Spazierplatz. Der Weg nach der neuen Stadt, durch die Neue KrŠme, war immer aufheiternd und ergetzlich; nur verdro§ es uns, da§ nicht neben der Liebfrauenkirche eine Stra§e nach der Zeile zuging, und wir immer den gro§en Umweg durch die Hasengasse oder die Katharinenpforte machen mu§ten. Was aber die Aufmerksamkeit des Kindes am meisten an sich zog, waren die vielen kleinen StŠdte in der Stadt, die Festungen in der Festung, die ummauerten Klosterbezirke nŠmlich, und die aus frŸhern Jahrhunderten noch Ÿbrigen mehr oder minder burgartigen RŠume: so der NŸrnberger Hof, das


Kompostell, das Braunfels, das Stammhaus derer von Stallburg, und mehrere in den spŠtern Zeiten zu Wohnungen und Gewerbebenutzungen eingerichtete Festen. Nichts architektonisch Erhebendes war damals in Frankfurt zu sehen: alles deutete auf eine lŠngst vergangne, fŸr Stadt und Gegend sehr unruhige Zeit. Pforten und TŸrme, welche die Grenze der alten Stadt bezeichneten, dann weiterhin abermals Pforten, TŸrme, Mauern, BrŸcken, WŠlle, GrŠben, womit die neue Stadt umschlossen war, alles sprach noch zu deutlich aus, da§ die Notwendigkeit, in unruhigen Zeiten dem Gemeinwesen Sicherheit zu verschaffen, diese Anstalten hervorgebracht, da§ die PlŠtze, die Stra§en, selbst die neuen, breiter und schšner angelegten, alle nur dem Zufall und der WillkŸr und keinem regelnden Geiste ihren Ursprung zu danken hatten. Eine gewisse Neigung zum AltertŸmlichen setzte sich bei dem Knaben fest, welche besonders durch alte Chroniken, Holzschnitte, wie z. B. den Graveschen von der Belagerung von Frankfurt, genŠhrt und begŸnstigt wurde; wobei noch eine andre Lust, blo§ menschliche ZustŠnde in ihrer Mannigfaltigkeit und NatŸrlichkeit, ohne weitern Anspruch auf Interesse oder Schšnheit, zu erfassen, sich hervortat. So war es eine von unsern liebsten Promenaden, die wir uns des Jahrs ein paarmal zu verschaffen suchten, inwendig auf dem Gange der Stadtmauer herzuspazieren. GŠrten, Hšfe, HintergebŠude ziehen sich bis an den Zwinger heran, man sieht mehreren tausend Menschen in ihre hŠuslichen kleinen, abgeschlossenen, verborgenen ZustŠnde. Von dem Putz- und Schaugarten des Reichen zu den ObstgŠrten des fŸr seinen Nutzen besorgten BŸrgers, von da zu Fabriken, BleichplŠtzen und Šhnlichen Anstalten, ja bis zum Gottesacker selbst - denn eine kleine Welt lag innerhalb des Bezirks der Stadt - ging man an dem mannigfaltigsten, wunderlichsten, mit jedem Schritt sich verŠndernden Schauspiel vorbei, an dem unsere kindische Neugier sich nicht genug ergetzen konnte. Denn fŸrwahr, der bekannte hinkende Teufel, als er fŸr seinen Freund die


DŠcher von Madrid in der Nacht abhob, hat kaum mehr fŸr diesen geleistet, als hiervor uns unter freiem Himmel, bei hellem Sonnenschein, getan war. Die SchlŸssel, deren man sich auf diesem Wege bedienen mu§te, um durch mancherlei TŸrme, Treppen und Pfšrtchen durchzukommen, waren in den HŠnden der Zeugherren, und wir verfehlten nicht, ihren Subalternen aufs beste zu schmeicheln.

Bedeutender noch und in einem andern Sinne fruchtbarer blieb fŸr uns das Rathaus, der Ršmer genannt. In seinen untern, gewšlbŠhnlichen Hallen verloren wir uns gar zu gerne. Wir verschafften uns Eintritt in das gro§e, hšchst einfache Sessionszimmer des Rates. Bis auf eine gewisse Hšhe getŠfelt, waren Ÿbrigens die WŠnde so wie die Wšlbung wei§, und das Ganze ohne Spur von Malerei oder irgend einem Bildwerk. Nur an der mittelsten Wand in der Hšhe las man die kurze Inschrift:

Eines Manns Rede

Ist keines Manns Rede:

Man soll sie billig hšren beede.

 

Nach der altertŸmlichsten Art waren fŸr die Glieder dieser Versammlung BŠnke ringsumher an der VertŠfelung angebracht und um eine Stufe von dem Boden erhšht. Da begriffen wir leicht, warum die Rangordnung unsres Senats nach BŠnken eingeteilt sei. Von der TŸre linker Hand bis in die gegenŸberstehende Ecke, als auf der ersten Bank, sa§en die Schšffen, in der Ecke selbst der Schulthei§, der einzige, der ein kleines Tischchen vor sich hatte; zu seiner Linken bis gegen die Fensterseite sa§en nunmehr die Herren der zweiten Bank; an den Fenstern her zog sich die dritte Bank, welche die Handwerker einnahmen; in der Mitte des Saals stand ein Tisch fŸr den ProtokollfŸhrer.

Waren wir einmal im Ršmer, so mischten wir uns auch wohl in das GedrŠnge vor den burgemeisterlichen Audienzen. Aber grš§eren Reiz hatte alles, was sich auf Wahl und Kršnung der Kaiser bezog. Wir wu§ten uns die Gunst der


Schlie§er zu verschaffen, um die neue, heitre, in Fresko gemalte, sonst durch ein Gitter verschlossene Kaisertreppe hinaufsteigen zu dŸrfen. Das mit Purpurtapeten und wunderlich verschnšrkelten Goldleisten verzierte Wahlzimmer flš§te uns Ehrfurcht ein. Die TŸrstŸcke, auf welchen kleine Kinder oder Genien, mit dem kaiserlichen Ornat bekleidet, und belastet mit den Reichsinsignien, eine gar wunderliche Figur spielen, betrachteten wir mit gro§er Aufmerksamkeit, und hofften wohl auch noch einmal eine Kršnung mit Augen zu erleben. Aus dem gro§en Kaisersaale konnte man uns nur mit sehr vieler MŸhe wieder herausbringen, wenn es uns einmal geglŸckt war, hineinzuschlŸpfen; und wir hielten denjenigen fŸr unsern wahrsten Freund, der uns bei den Brustbildern der sŠmtlichen Kaiser, die in einer gewissen Hšhe umher gemalt waren, etwas von ihren Taten erzŠhlen mochte.

Von Karl dem Gro§en vernahmen wir manches MŠrchenhafte; aber das Historisch - Interessante fŸr uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit so gro§en Verwirrungen ein Ende gemacht. Auch Karl der Vierte zog unsre Aufmerksamkeit an sich. Wir hatten schon von der Goldnen Bulle und der Peinlichen Halsgerichtsordnung gehšrt, auch da§ er den Frankfurtern ihre AnhŠnglichkeit an seinen edlen Gegenkaiser, GŸnther von Schwarzburg, nicht entgelten lie§. Maximilianen hšrten wir als einen Menschen und BŸrgerfreund loben, und da§ von ihm prophezeit worden, er werde der letzte Kaiser aus einem deutschen Hause sein; welches denn auch leider eingetroffen, indem nach seinem Tode die Wahl nur zwischen dem Kšnig von Spanien, Karl dem FŸnften, und dem Kšnig von Frankreich, Franz dem Ersten, geschwankt habe. Bedenklich fŸgte man hinzu, da§ nun abermals eine solche Weissagung oder vielmehr Vorbedeutung umgehe: denn es sei augenfŠllig, da§ nur noch Platz fŸr das Bild eines Kaisers Ÿbrig bleibe; ein Umstand, der, obgleich zufŠllig scheinend, die Patriotisch gesinnten mit Besorgnis erfŸlle.


Wenn wir nun so einmal unsern Umgang hielten, verfehlten wir auch nicht, uns nach dem Dom zu begeben und daselbst das Grab jenes braven, von Freund und Feinden geschŠtzten GŸnther zu besuchen. Der merkwŸrdige Stein, der es ehmals bedeckte, ist in dem Chor aufgerichtet. Die gleich daneben befindliche TŸre, welche ins Konklave fŸhrt blieb uns lange verschlossen, bis wir endlich durch die obern Behšrden auch den Eintritt in diesen so bedeutenden Ort zu erlangen wu§ten. Allein wir hŠtten besser getan, ihn durch unsre Einbildungskraft, wie bisher, auszumalen: denn wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwŸrdigen Raum, wo die mŠchtigsten FŸrsten sich zu einer Handlung von solcher Wichtigkeit zu versammlen pflegten, keinesweges wŸrdig ausgeziert, sondern noch obenein mit Balken, Stangen, GerŸsten und anderem solchen Gesperr, das man beiseitesetzen wollte, verunstaltet. Desto mehr ward unsere Einbildungskraft angeregt und das Herz uns erhoben, als wir kurz nachher die Erlaubnis erhielten, beim Vorzeigen der Goldnen Bulle an einige vornehme Fremden auf dem Rathause gegenwŠrtig zu sein.

Mit vieler Begierde vernahm der Knabe sodann, was ihm die Seinigen so wie Šltere Verwandte und Bekannte gern erzŠhlten und wiederholten, die Geschichten der zuletzt kurz auf einander gefolgten Kršnungen: denn es war kein Frankfurter von einem gewissen Alter, der nicht diese beiden Ereignisse, und was sie begleitete, fŸr den Gipfel seines Lebens gehalten hŠtte. So prŠchtig die Kršnung Karls des Siebenten gewesen war, bei welcher besonders der franzšsische Gesandte, mit Kosten und Geschmack, herrliche Feste gegeben, so war doch die Folge fŸr den guten Kaiser desto trauriger, der seine Residenz MŸnchen nicht behaupten konnte und gewisserma§en die Gastfreiheit seiner ReichsstŠdter anflehen mu§te.

War die Kršnung Franz' des Ersten nicht so auffallend prŠchtig wie jene, so wurde sie doch durch die Gegenwart der Kaiserin Maria Theresia verherrlicht, deren Schšnheit


ebenso einen gro§en Eindruck auf die MŠnner scheint gemacht zu haben, als die ernste wŸrdige Gestalt und die blauen Augen Karls des Siebenten auf die Frauen. Wenigstens wetteiferten beide Geschlechter, dem aufhorchenden Knaben einen hšchst vorteilhaften Begriff von jenen beiden Personen beizubringen. Alle diese Beschreibungen und ErzŠhlungen geschahen mit heitrem und beruhigtem GemŸt: denn der Aachner Friede hatte fŸr den Augenblick aller Fehde ein Ende gemacht, und wie von jenen Feierlichkeiten, so sprach man mit Behaglichkeit von den vorŸbergegangenen KriegszŸgen, von der Schlacht bei Dettingen, und was die merkwŸrdigsten Begebenheiten der verflossenen Jahre mehr sein mochten; und alles Bedeutende und GefŠhrliche schien, wie es nach einem abgeschlossenen Frieden zu gehen pflegt, sich nur ereignet zu haben, um glŸcklichen und sorgenfreien Menschen zur Unterhaltung zu dienen.

Hatte man in einer solchen patriotischen BeschrŠnkung kaum ein halbes Jahr hingebracht, so traten schon die Messen wieder ein, welche in den sŠmtlichen Kinderkšpfen jederzeit eine unglaubliche GŠrung hervorbrachten. Eine durch Erbauung so vieler Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit entspringende neue Stadt, das Wogen und Treiben, das Abladen und Auspacken der Waren erregte von den ersten Momenten des Bewu§tseins an eine unbezwinglich tŠtige Neugierde und ein unbegrenztes Verlangen nach kindischem Besitz, das der Knabe mit wachsenden Jahren, bald auf diese bald auf jene Weise, wie es die KrŠfte seines kleinen Beutels erlauben wollten, zu befriedigen suchte. Zugleich aber bildete sich die Vorstellung von dem, was die Welt alles hervorbringt, was sie bedarf, und was die Bewohner ihrer verschiedenen Teile gegen einander auswechseln.

Diese gro§en, im FrŸhjahr und Herbst eintretenden Epochen wurden durch seltsame Feierlichkeiten angekŸndigt, welche um desto wŸrdiger schienen, als sie die alte Zeit, und was von dorther noch auf uns gekommen, lebhaft vergegenwŠrtigten. Am Geleitstag war das ganze Volk auf den Beinen,


drŠngte sich nach der Fahrgasse, nach der BrŸcke, bis Ÿber Sachsenhausen hinaus; alle Fenster waren besetzt, ohne da§ den Tag Ÿber was Besonderes vorging; die Menge schien nur da zu sein, um sich zu drŠngen, und die Zuschauer, um sich unter einander zu betrachten: denn das, worauf es eigentlich ankam, ereignete sich erst mit sinkender Nacht, und wurde mehr geglaubt als mit Augen gesehen.

In jenen Šltern unruhigen Zeiten nŠmlich, wo ein jeder nach Belieben Unrecht tat, oder nach Lust das Rechte befšrderte, wurden die auf die Messen ziehenden Handelsleute von Wegelagerern, edlen und unedlen Geschlechts, willkŸrlich geplagt und geplackt, so da§ FŸrsten und andre mŠchtige StŠnde die Ihrigen mit gewaffneter Hand bis nach Frankfurt geleiten lie§en. Hier wollten nun aber die ReichsstŠdter sich selbst und ihrem Gebiet nichts vergeben; sie zogen den Ankšmmlingen entgegen: da gab es denn manchmal Streitigkeiten, wie weit jene Geleitenden herankommen, oder ob sie wohl gar ihren Einritt in die Stadt nehmen kšnnten. Weil nun dieses nicht allein bei Handels- und Me§geschŠften stattfand, sondern auch wenn hohe Personen in Kriegs- und Friedenszeiten, vorzŸglich aber zu Wahltagen sich heranbegaben, und es auch šfters zu TŠtlichkeiten kam, sobald irgend ein Gefolge, das man in der Stadt nicht dulden wollte, sich mit seinem Herrn hereinzudrŠngen begehrte: so waren zeither darŸber manche Verhandlungen gepflogen, es waren viele Rezesse deshalb, obgleich stets mit beiderseitigen Vorbehalten, geschlossen worden, und man gab die Hoffnung nicht auf, den seit Jahrhunderten dauernden Zwist endlich einmal beizulegen, als die ganze Anstalt, weshalb er so lange und oft sehr heftig gefŸhrt worden war, beinah fŸr unnŸtz, wenigstens fŸr ŸberflŸssig angesehen werden konnte.

Unterdessen ritt die bŸrgerliche Kavallerie in mehreren Abteilungen, mit den OberhŠuptern an ihrer Spitze, an jenen Tagen zu verschiedenen Toren hinaus, fand an einer gewissen Stelle einige Reiter oder Husaren der zum Geleit berechtigten ReichsstŠnde, die nebst ihren AnfŸhrern wohl emp-


fangen und bewirtet wurden; man zšgerte bis gegen Abend, und ritt alsdann, kaum von der wartenden Menge gesehen, zur Stadt herein; da denn mancher bŸrgerliche Reiter weder sein Pferd noch sich selbst auf dem Pferde zu erhalten vermochte. Zu dem BrŸckentore kamen die bedeutendsten ZŸge herein, und deswegen war der Andrang dorthin am stŠrksten. Ganz zuletzt und mit sinkender Nacht langte der auf gleiche Weise geleitete NŸrnberger Postwagen an, und man trug sich mit der Rede, es mŸsse jederzeit, dem Herkommen gemŠ§, eine alte Frau darin sitzen, weshalb denn die Stra§enjungen bei Ankunft des Wagens in ein gellendes Geschrei auszubrechen pflegten, ob man gleich die im Wagen sitzenden Passagiere keineswegs mehr unterscheiden konnte. Unglaublich und wirklich die Sinne verwirrend war der Drang der Menge, die in diesem Augenblick durch das BrŸckentor herein dem Wagen nachstŸrzte; deswegen auch die nŠchsten HŠuser von den Zuschauern am meisten gesucht wurden.

Eine andere, noch viel seltsamere Feierlichkeit, welche am hellen Tage das Publikum aufregte, war das Pfeifergericht. Es erinnerte diese Zeremonie an jene ersten Zeiten, wo bedeutende HandelsstŠdte sich von den Zšllen, welche mit Handel und Gewerb in gleichem Ma§e zunahmen, wo nicht zu befreien, doch wenigstens eine Milderung derselben zu erlangen suchten. Der Kaiser, der ihrer bedurfte, erteilte eine solche Freiheit da, wo es von ihm abhing, gewšhnlich aber nur auf ein Jahr, und sie mu§te daher jŠhrlich erneuert werden. Dieses geschah durch symbolische Gaben, welche dem kaiserlichen Schulthei§en, der auch wohl gelegentlich Oberzšllner sein konnte, vor Eintritt der BartholomŠimesse gebracht wurden, und zwar des Anstandes wegen, wenn er mit den Schšffen zu Gericht sa§. Als der Schulthei§ spŠterhin nicht mehr vom Kaiser gesetzt, sondern von der Stadt selbst gewŠhlt wurde, behielt er doch diese Vorrechte, und sowohl die Zollfreiheiten der StŠdte, als die Zeremonien, womit die Abgeordneten von Worms, NŸrnberg und Alt-Bamberg diese uralte VergŸnstigung anerkannten, waren bis auf un-


sere Zeiten gekommen. Den Tag vor MariŠ Geburt ward ein šffentlicher Gerichtstag angekŸndigt. In dem gro§en Kaisersaale, in einem umschrŠnkten Raume, sa§en erhšht die Schšffen, und eine Stufe hšher der Schulthei§ in ihrer Mitte; die von den Parteien bevollmŠchtigten Prokuratoren unten zur rechten Seite. Der Aktuarius fŠngt an, die auf diesen Tag gesparten wichtigen Urteile laut vorzulesen; die Prokuratoren bitten um Abschrift, appellieren, oder was sie sonst zu tun nštig finden.

Auf einmal meldet eine wunderliche Musik gleichsam die Ankunft voriger Jahrhunderte. Es sind drei Pfeifer, deren einer eine alte Schalmei, der andere einen Ba§, der dritte einen Pommer oder Hoboe blŠst. Sie tragen blaue mit Gold verbrŠmte MŠntel, auf den €rmeln die Noten befestigt, und haben das Haupt bedeckt. So waren sie aus ihrem Gasthause, die Gesandten und ihre Begleitung hintendrein, Punkt zehn ausgezogen, von Einheimischen und Fremden angestaunt, und so treten sie in den Saal. Die Gerichtsverhandlungen halten inne, Pfeifer und Begleitung bleiben vor den Schranken, der Abgesandte tritt hinein und stellt sich dem Schulthei§en gegenŸber. Die symbolischen Gaben, welche auf das genauste nach dem alten Herkommen gefordert wurden, bestanden gewšhnlich in solchen Waren, womit die darbringende Stadt vorzŸglich zu handlen pflegte. Der Pfeffer galt gleichsam fŸr alle Waren, und so brachte auch hier der Abgesandte einen schšn gedrechselten hšlzernen Pokal mit Pfeffer angefŸllt. †ber demselben lagen ein Paar Handschuhe, wundersam geschlitzt, mit Seide besteppt und bequastet, als Zeichen einer gestatteten und angenommenen VergŸnstigung, dessen sich auch wohl der Kaiser selbst in gewissen FŠllen bediente. Daneben sah man ein wei§es StŠbchen, welches vormals bei gesetzlichen und gerichtlichen Handlungen nicht leicht fehlen durfte. Es waren noch einige kleine SilbermŸnzen hinzugefŸgt, und die Stadt Worms brachte einen alten Filzhut, den sie immer wieder einlšste, so da§ derselbe viele Jahre ein Zeuge dieser Zeremonien gewesen.


Nachdem der Gesandte seine Anrede gehalten, das Geschenk abgegeben, von dem Schulthei§en die Versicherung fortdauernder BegŸnstigung empfangen, so entfernte er sich aus dem geschlossenen Kreise, die Pfeifer bliesen, der Zug ging ab, wie er gekommen war, das Gericht verfolgte seine GeschŠfte, bis der zweite und endlich der dritte Gesandte eingefŸhrt wurden: denn sie kamen erst einige Zeit nach einander, teils damit das VergnŸgen des Publikums lŠnger daure, teils auch weil es immer dieselben altertŸmlichen Virtuosen waren, welche NŸrnberg fŸr sich und seine MitstŠdte zu unterhalten und jedes Jahr an Ort und Stelle zu bringen Ÿbernommen hatte.

Wir Kinder waren bei diesem Feste besonders interessiert, weil es uns nicht wenig schmeichelte, unsern Gro§vater an einer so ehrenvollen Stelle zu sehen, und weil wir gewšhnlich noch selbigen Tag ihn ganz bescheiden zu besuchen pflegten, um, wenn die Gro§mutter den Pfeffer in ihre GewŸrzladen geschŸttet hŠtte, einen Becher und StŠbchen, ein Paar Handschuh oder einen alten RŠderalbus zu erhaschen. Man konnte sich diese symbolischen, das Altertum gleichsam hervorzaubernden Zeremonien nicht erklŠren lassen, ohne in vergangene Jahrhunderte wieder zurŸckgefŸhrt zu werden, ohne sich nach Sitten, GebrŠuchen und Gesinnungen unserer Altvordern zu erkundigen, die sich durch wieder auferstandene Pfeifer und Abgeordnete, ja durch handgreifliche und fŸr uns besitzbare Gaben auf eine so wunderliche Weise vergegenwŠrtigten.

Solchen altehrwŸrdigen Feierlichkeiten folgte in guter Jahrszeit manches fŸr uns Kinder lustreichere Fest au§erhalb der Stadt unter freiem Himmel. An dem rechten Ufer des Mains unterwŠrts, etwa eine halbe Stunde vom Tor, quillt ein Schwefelbrunnen, sauber eingefa§t und mit uralten Linden umgeben. Nicht weit davon steht der "Hof zu den guten Leuten", ehmals ein um dieser Quelle willen erbautes Hospital. Auf den Gemeindeweiden umher versammelte man zu einem gewissen Tage des Jahres die Rindviehherden


aus der Nachbarschaft, und die Hirten samt ihren MŠdchen feierten ein lŠndliches Fest, mit Tanz und Gesang, mit mancherlei Lust und Ungezogenheit. Auf der andern Seite der Stadt lag ein Šhnlicher nur grš§erer Gemeindeplatz, gleichfalls durch einen Brunnen und durch noch schšnere Linden geziert. Dorthin trieb man zu Pfingsten die Schafherden, und zu gleicher Zeit lie§ man die armen verbleichten Waisenkinder aus ihren Mauern ins Freie: denn man sollte erst spŠter auf den Gedanken geraten, da§ man solche verlassene Kreaturen, die sich einst durch die Welt durchzuhelfen genštigt sind, frŸh mit der Welt in Verbindung bringen, anstatt sie auf eine traurige Weise zu hegen, sie lieber gleich zum Dienen und Dulden gewšhnen mŸsse, und alle Ursach habe, sie von Kindesbeinen an sowohl physisch als moralisch zu krŠftigen. Die Ammen und MŠgde, welche sich selbst immer gern einen Spaziergang bereiten, verfehlten nicht, von den frŸhsten Zeiten, uns an dergleichen Orte zu tragen und zu fŸhren, so da§ diese lŠndlichen Feste wohl mit zu den ersten EindrŸcken gehšren, deren ich mich erinnern kann.

Das Haus war indessen fertig geworden, und zwar in ziemlich kurzer Zeit, weil alles wohl Ÿberlegt, vorbereitet und fŸr die nštige Geldsumme gesorgt war. Wir fanden uns nun alle wieder versammelt und fŸhlten uns behaglich: denn ein wohlausgedachter Plan, wenn er ausgefŸhrt dasteht, lŠ§t alles vergessen, was die Mittel, um zu diesem Zweck zu gelangen, Unbequemes mšgen gehabt haben. Das Haus war fŸr Aussicht Ÿber die GŠrten aus mehrern Fenstern bequem zu genie§en. Der innere Ausbau, und was zur Vollendung und Zierde gehšrt, ward nach und nach vollbracht, und diente zugleich zur BeschŠftigung und zur Unterhaltung.

Das erste, was man in Ordnung brachte, war die BŸchersammlung des Vaters, von welcher die besten, in Franz oder Halbfranzband gebundenen BŸcher die WŠnde seines Arbeits- und Studierzimmers schmŸcken sollten. Er besa§ die schš-


nen hollŠndischen Ausgaben der lateinischen Schriftsteller, welche er der Šu§ern †bereinstimmung wegen sŠmtlich in Quart anzuschaffen suchte; sodann vieles, was sich auf die ršmischen AntiquitŠten und die elegantere Jurisprudenz bezieht. Die vorzŸglichsten italienischen Dichter fehlten nicht, und fŸr den Tasso bezeigte er eine gro§e Vorliebe. Die besten neusten Reisebeschreibungen waren auch vorhanden, und er selbst machte sich ein VergnŸgen daraus, den Key§ler und Nemeiz zu berichtigen und zu ergŠnzen Nicht weniger hatte er sich mit den nštigsten HŸlfsmitteln umgeben, mit WšrterbŸchern aus verschiedenen Sprachen, mit Reallexiken, da§ man sich also nach Belieben Rats erholen konnte, so wie mit manchem andern, was zum Nutzen und VergnŸgen gereicht.

Die andere HŠlfte dieser BŸchersammlung, in saubern PergamentbŠnden mit sehr schšn geschriebenen Titeln, ward in einem besondern Mansardzimmer aufgestellt. Das Nachschaffen der neuen BŸcher, so wie das Binden und Einreihen derselben, betrieb er mit gro§er Gelassenheit und Ordnung. Dabei hatten die gelehrten Anzeigen, welche diesem oder jenem Werk besondere VorzŸge beilegten, auf ihn gro§en Einflu§, seine Sammlung juristischer Dissertationen vermehrte sich jŠhrlich um einige BŠnde.

ZunŠchst aber wurden die GemŠlde, die sonst in dem alten Hause zerstreut herumgehangen, nunmehr zusammen an den WŠnden eines freundlichen Zimmers neben der Studierstube, alle in schwarzen, mit goldenen StŠbchen verzierten Rahmen, symmetrisch angebracht. Mein Vater hatte den Grundsatz, den er šfters und sogar leidenschaftlich aussprach, da§ man die lebenden Meister beschŠftigen, und weniger auf die abgeschiedenen wenden solle, bei deren SchŠtzung sehr viel Vorurteil mit unterlaufe. Er hatte die Vorstellung, da§ es mit den GemŠlden všllig wie mit den Rheinweinen beschaffen sei, die, wenn ihnen gleich das Alter einen vorzŸglichen Wert beilege, dennoch in jedem folgenden Jahre ebenso vortrefflich als in den vergangenen kšnnten hervorgebracht werden. Nach Verlauf einiger Zeit werde


der neue Wein auch ein alter, ebenso kostbar und vielleicht noch schmackhafter. In dieser Meinung bestŠtigte er sich vorzŸglich durch die Bemerkung, da§ mehrere alte Bilder hauptsŠchlich dadurch fŸr die Liebhaber einen gro§en Wert zu erhalten schienen, weil sie dunkler und brŠuner geworden, und der harmonische Ton eines solchen Bildes šfters gerŸhmt wurde. Mein Vater versicherte dagegen, es sei ihm gar nicht bange, da§ die neuen Bilder kŸnftig nicht auch schwarz werden sollten; da§ sie aber gerade dadurch gewonnen, wollte er nicht zugestehen.

Nach diesen GrundsŠtzen beschŠftigte er mehrere Jahre hindurch die sŠmtlichen Frankfurter KŸnstler: den Maler Hirt, welcher Eichen - und BuchenwŠlder und andere sogenannte lŠndliche Gegenden sehr wohl mit Vieh zu staffieren wu§te; desgleichen Trautmann, der sich den Rembrandt zum Muster genommen, und es in eingeschlossenen Lichtern und Widerscheinen, nicht weniger in effektvollen FeuersbrŸnsten weit gebracht hatte, so da§ er einstens aufgefordert wurde, einen Pendant zu einem Rembrandtischen Bilde zu malen; ferner SchŸtz, der auf dem Wege des Sachtleben die Rheingegenden flei§ig bearbeitete; nicht weniger Junckern, der Blumen- und FruchtstŸcke, Stilleben und ruhig beschŠftigte Personen, nach dem Vorgang der NiederlŠnder, sehr reinlich ausfŸhrte. Nun aber ward durch die neue Ordnung, durch einen bequemem Raum, und noch mehr durch die Bekanntschaft eines geschickten KŸnstlers die Liebhaberei wieder angefrischt und belebt. Dieses war Seekatz, ein SchŸler von Brinckmann, darmstŠdtischer Hofmaler, dessen Talent und Charakter sich in der Folge vor uns umstŠndlicher entwickeln wird.

Man schritt auf diese Weise mit Vollendung der Ÿbrigen Zimmer, nach ihren verschiedenen Bestimmungen, weiter. Reinlichkeit und Ordnung herrschten im ganzen; vorzŸglich trugen gro§e Spiegelscheiben das Ihrige zu einer vollkommenen Helligkeit bei, die in dem alten Hause aus mehrern Ursachen, zunŠchst aber auch wegen meist runder Fen-


sterscheiben gefehlt hatte. Der Vater zeigte sich heiter, weil ihm alles gut gelungen war; und wŠre der gute Humor nicht manchmal dadurch unterbrochen worden, da§ nicht immer der Flei§ und die Genauigkeit der Handwerker seinen Forderungen entsprachen, so hŠtte man kein glŸcklicheres Leben denken kšnnen, zumal da manches Gute teils in der Familie selbst entsprang, teils ihr von au§en zuflo§.

Durch ein au§erordentliches Weltereignis wurde jedoch die GemŸtsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschŸttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete Ÿber die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine gro§e prŠchtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten UnglŸck betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die HŠuser stŸrzen ein, Kirchen und TŸrme darŸber her, der kšnigliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn Ÿberall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der GlŸcklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung Ÿber das UnglŸck mehr gestattet ist. Die Flammen wŸten fort, und mit ihnen wŸtet eine Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglŸcklichen †briggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mi§handlungen blo§gestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose WillkŸr.

Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch gro§e Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwŠchere ErschŸtterungen zu verspŸren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewšhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto grš§er war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelhei-


ten sich rasch verbreiteten. Hierauf lie§en es die GottesfŸrchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an TrostgrŸnden, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch fremdes UnglŸck aufgeregten GemŸter wurden durch Sorgen fŸr sich selbst und die Ihrigen um so mehr geŠngstigt, als Ÿber die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umstŠndlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der DŠmon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mŠchtig seine Schauer Ÿber die Erde verbreitet.

Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mu§te, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schšpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die ErklŠrung des ersten Glaubensartikels so weise und gnŠdig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs vŠterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge GemŸt sich gegen diese EindrŸcke herzustellen, welches Ÿberhaupt um so weniger mšglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich Ÿber die Art, wie man ein solches PhŠnomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.

Der folgende Sommer gab eine nŠhere Gelegenheit, den zornigen Gott, von dem das Alte Testament so viel Ÿberliefert, unmittelbar kennen zu lernen. Unversehens brach ein Hagelwetter herein und schlug die neuen Spiegelscheiben der gegen Abend gelegenen Hinterseite des Hauses unter Donner und Blitzen auf das gewaltsamste zusammen, beschŠdigte die neuen Mšbeln, verderbte einige schŠzbare BŸcher und sonst werte Dinge, und war fŸr die Kinder um so fŸrchterlicher, als das ganz au§er sich gesetzte Hausgesinde sie in einen dunklen Gang mit fortri§, und dort auf den Knieen liegend durch schreckliches Geheul und Geschrei die erzŸrnte Gottheit zu versšhnen glaubte; indessen der Vater, ganz allein gefa§t, die FensterflŸgel aufri§ und aushob; wodurch er zwar


manche Scheiben rettete, aber auch dem auf den Hagel folgenden Regengu§ einen desto offnern Weg bereitete, so da§ man sich, nach endlicher Erholung, auf den VorsŠlen und Treppen von flutendem und rinnendem Wasser umgeben sah.

Solche VorfŠlle, wie stšrend sie auch im ganzen waren, unterbrachen doch nur wenig den Gang und die Folge des Unterrichts, den der Vater selbst uns Kindern zu geben sich einmal vorgenommen. Er hatte seine Jugend auf dem Koburger Gymnasium zugebracht, welches unter den deutschen Lehranstalten eine der ersten Stellen einnahm. Er hatte daselbst einen guten Grund in den Sprachen, und was man sonst zu einer gelehrten Erziehung rechnete, gelegt, nachher in Leipzig sich der Rechtswissenschaft beflissen, und zuletzt in Gie§en promoviert. Seine mit Ernst und Flei§ verfa§te Dissertation: "Electa de aditione hereditatis", wird, noch von den Rechtslehrern mit Lob angefŸhrt.

Es ist ein frommer Wunsch aller VŠter, das, was ihnen selbst abgegangen, an den Sšhnen realisiert zu sehen, so ohngefŠhr, als wenn man zum zweitenmal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte. Im GefŸhl seiner Kenntnisse, in Gewi§heit einer treuen Ausdauer, und im Mi§trauen gegen die damaligen Lehrer nahm der Vater sich vor, seine Kinder selbst zu unterrichten, und nur so viel, als es nštig schien, einzelne Stunden durch eigentliche Lehrmeister zu besetzen. Ein pŠdagogischer Dilettantismus fing sich Ÿberhaupt schon zu zeigen an. Die Pedanterie und TrŸbsinnigkeit der an šffentlichen Schulen angestellten Lehrer mochte wohl die erste Veranlassung dazu geben. Man suchte nach etwas Besserem, und verga§, wie mangelhaft aller Unterricht sein mu§, der nicht durch Leute vom Metier erteilt wird.

Meinem Vater war sein eigner Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelungen; ich sollte denselben Weg gehen, aber bequemer und weiter. Er schŠtzte meine angeborenen Gaben um so mehr, als sie ihm mangelten: denn er hatte alles nur durch unsŠglichen Flei§, Anhaltsamkeit und


Wiederholung erworben. Er versicherte mir šfters, frŸher und spŠter, im Ernst und Scherz, da§ er mit meinen Anlagen sich ganz anders wŸrde benommen, und nicht so liederlich damit wŸrde gewirtschaftet haben.

Durch schnelles Ergreifen, Verarbeiten und Festhalten entwuchs ich sehr bald dem Unterricht, den mir mein Vater und die Ÿbrigen Lehrmeister geben konnten, ohne da§ ich doch in irgend etwas begrŸndet gewesen wŠre. Die Grammatik mi§fiel mir, weil ich sie nur als ein willkŸrliches Gesetz ansah; die Regeln schienen mir lŠcherlich, weil sie durch so viele Ausnahmen aufgehoben wurden, die ich alle wieder besonders lernen sollte. Und wŠre nicht der gereimte angehende Lateiner gewesen, so hŠtte es schlimm mit mir ausgesehen; doch diesen trommelte und sang ich mir gern vor. So hatten wir auch eine Geographie in solchen GedŠchtnisversen, wo uns die abgeschmacktesten Reime das zu Behaltende am besten einprŠgten, z. B.:

 

Oberyssel: viel Morast

Macht das gute Land verha§t.

 

Die Sprachformen und Wendungen fa§te ich leicht; so auch entwickelte ich mir schnell, was in dem Begriff einer Sache lag. In rhetorischen Dingen, Chrien und dergleichen tat es mir niemand zuvor, ob ich schon wegen Sprachfehler oft hintanstehen mu§te. Solche AufsŠtze waren es jedoch, die meinem Vater besondre Freude machten, und wegen deren er mich mit manchem fŸr einen Knaben bedeutenden Geldgeschenk belohnte.

Mein Vater lehrte die Schwester in demselben Zimmer Italienisch, wo ich den Cellarius auswendig zu lernen hatte. Indem ich nun mit meinem Pensum bald fertig war und doch still sitzen sollte, horchte ich Ÿber das Buch weg und fa§te das Italienische, das mir als eine lustige Abweichung des Lateinischen auffiel, sehr behende.

Andere FrŸhzeitigkeiten in Absicht auf GedŠchtnis und Kombination hatte ich mit jenen Kindern gemein, die da-


durch einen frŸhen Ruf erlangt haben. Deshalb konnte mein Vater kaum erwarten, bis ich auf Akademie gehen wŸrde. Sehr bald erklŠrte er, da§ ich in Leipzig, fŸr welches er eine gro§e Vorliebe behalten, gleichfalls Jura studieren, alsdann noch eine andre UniversitŠt besuchen und promovieren sollte. Was diese zweite betraf, war es ihm gleichgŸltig, welche ich wŠhlen wŸrde; nur gegen Gšttingen hatte er, ich wei§ nicht warum, einige Abneigung, zu meinem Leidwesen: denn ich hatte gerade auf diese viel Zutrauen und gro§e Hoffnungen gesetzt.

Ferner erzŠhlte er mir, da§ ich nach Wetzlar und Regensburg, nicht weniger nach Wien und von da nach Italien gehen sollte; ob er gleich wiederholt behauptete, man mŸsse Paris voraus sehen, weil man aus Italien kommend sich an nichts mehr ergetze.

Dieses MŠrchen meines kŸnftigen Jugendganges lie§ ich mir gern wiederholen, besonders da es in eine ErzŠhlung von Italien und zuletzt in eine Beschreibung von Neapel auslief. Sein sonstiger Ernst und Trockenheit schien sich jederzeit aufzulšsen und zu beleben, und so erzeugte sich in uns Kindern der leidenschaftliche Wunsch, auch dieser Paradiese teilhaft zu werden.

Privatstunden, welche sich nach und nach vermehrten, teilte ich mit Nachbarskindern. Dieser gemeinsame Unterricht fšrderte mich nicht; die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Bšsartigkeiten meiner Gesellen brachten Unruh, Verdru§ und Stšrung in die kŠrglichen Lehrstunden. Chrestomathien, wodurch die Belehrung heiter und mannigfaltig wird, waren noch nicht bis zu uns gekommen. Der fŸr junge Leute so starre Cornelius Nepos, das allzu leichte, und durch Predigten und Religionsunterricht sogar trivial gewordne Neue Testament, Cellarius und Pasor konnten uns kein Interesse geben; dagegen hatte sich eine gewisse Reim- und Versewut, durch Lesung der damaligen deutschen Dichter, unser bemŠchtigt. Mich hatte sie schon frŸher ergriffen, als ich es lustig fand, von der


rhetorischen Behandlung der Aufgaben zu der poetischen Ÿberzugehen.

Wir Knaben hatten eine sonntŠgliche Zusammenkunft, wo jeder von ihm selbst verfertigte Verse produzieren sollte. Und hier begegnete mir etwas Wunderbares, was mich sehr lange in Unruh setzte. Meine Gedichte, wie sie auch sein mochten, mu§te ich immer fŸr die bessern halten. Allein ich bemerkte bald, da§ meine Mitwerber, welche sehr lahme Dinge vorbrachten, in dem gleichen Falle waren und sich nicht weniger dŸnkten; ja, was mir noch bedenklicher schien, ein guter, obgleich zu solchen Arbeiten všllig unfŠhiger Knabe, dem ich Ÿbrigens gewogen war, der aber seine Reime sich vom Hofmeister machen lie§, hielt diese nicht allein fŸr die allerbesten, sondern war všllig Ÿberzeugt, er habe sie selbst gemacht; wie er mir, in dem vertrauteren VerhŠltnis, worin ich mit ihm stand, jederzeit aufrichtig behauptete. Da ich nun solchen Irrtum und Wahnsinn offenbar vor mir sah, fiel es mir eines Tages aufs Herz, ob ich mich vielleicht selbst in dem Falle befŠnde, ob nicht jene Gedichte wirklich besser seien als die meinigen, und ob ich nicht mit Recht jenen Knaben ebenso toll als sie mir vorkommen mšchte? Dieses beunruhigte mich sehr und lange Zeit: denn es war mir durchaus unmšglich, ein Šu§eres Kennzeichen der Wahrheit zu finden; ja ich stockte sogar in meinen Hervorbringungen, bis mich endlich Leichtsinn und SelbstgefŸhl und zuletzt eine Probearbeit beruhigten, die uns Lehrer und Eltern, welche auf unsere Scherze aufmerksam geworden aus dem Stegreif aufgaben, wobei ich gut bestand und allgemeines Lob davontrug.

Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken fŸr Kinder veranstaltet. Die Alten hatten selbst noch kindliche Gesinnungen, und fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzuteilen. Au§er dem "Orbis pictus" des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die HŠnde; aber die gro§e Foliobibel, mit Kupfern von Merlan, ward hŠufig von uns durchblŠttert; Gottfrieds Chronik, mit Kupfern


desselben Meisters, belehrte uns von den merkwŸrdigsten FŠllen der Weltgeschichte; die Acerra philologica tat noch allerlei Fabeln, Mythologien und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidischen Verwandlungen gewahr wurde, und besonders die ersten BŸcher flei§ig studierte: so war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefŸllt, und ich konnte niemals Langeweile haben, indem ich mich immerfort beschŠftigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen.

Einen fršmmern, sittlichern Effekt als jene mitunter rohen und gefŠhrlichen AltertŸmlichkeiten machte FŽnelons "Telemach", den ich erst nur in der Neukirchischen †bersetzung kennen lernte, und der, auch so unvollkommen Ÿberliefert, eine gar sŸ§e und wohltŠtige Wirkung auf mein GemŸt Šu§erte. Da§ "Robinson Crusoe" sich zeitig angeschlossen, liegt wohl in der Natur der Sache; da§ die "Insel Felsenburg" nicht gefehlt habe, lŠ§t sich denken. Lord Ansons "Reise um die Welt" verband das WŸrdige der Wahrheit mit dem Phantasiereichen des MŠrchens, und indem wir diesen trefflichen Seemann mit den Gedanken begleiteten wurden wir weit in alle Welt hinausgefŸhrt, und versuchten, ihm mit unsern Fingern auf dem Globus zu folgen. Nun sollte mir auch noch eine reichlichere Ernte bevorstehen, indem ich an eine Masse Schriften geriet, die zwar in ihrer gegenwŠrtigen Gestalt nicht vortrefflich genannt werden kšnnen, deren Inhalt jedoch uns manches Verdienst voriger Zeiten in einer unschuldigen Weise nŠher bringt.

Der Verlag oder vielmehr die Fabrik jener BŸcher, welche in der folgenden Zeit unter dem Titel "Volksschriften", "VolksbŸcher" bekannt und sogar berŸhmt geworden, war in Frankfurt selbst, und sie wurden, wegen des gro§en Abgangs, mit stehenden Lettern auf das schrecklichste Lšschpapier fast unleserlich gedruckt. Wir Kinder hatten also das GlŸck, diese schŠtzbaren †berreste der Mittelzeit auf einem Tischchen vor


der HaustŸre eines BŸchertršdlers tŠglich zu finden, und sie uns fŸr ein paar Kreuzer zuzueignen. Der Eulenspiegel, Die vier Haimonskinder, Die schšne Melusine, Der Kaiser Oktavian, Die schšne Magelone, Fortunatus, mit der ganzen Sippschaft bis auf den Ewigen Juden, alles stand uns zu Diensten, sobald uns gelŸstete, nach diesen Werken anstatt nach irgend einer NŠscherei zu greifen. Der grš§te Vorteil dabei war, da§, wenn wir ein solches Heft zerlesen oder sonst beschŠdigt hatten, es bald wieder angeschafft und aufs neue verschlungen werden konnte.

Wie eine Familienspazierfahrt im Sommer durch ein plštzliches Gewitter auf eine hšchst verdrie§liche Weise gestšrt, und ein froher Zustand in den widerwŠrtigsten verwandelt wird, so fallen auch die Kinderkrankheiten unerwartet in die schšnste Jahrszeit des FrŸhlebens. Mir erging es auch nicht anders. Ich hatte mir eben den "Fortunalus" mit seinem SŠckel und WŸnschhŸtlein gekauft, als mich ein Mi§behagen und ein Fieber Ÿberfiel, wodurch die Pocken sich ankŸndigten. Die Einimpfung derselben ward bei uns noch immer fŸr sehr problematisch angesehen, und ob sie gleich populŠre Schriftsteller schon fa§lich und eindringlich empfohlen, so zauderten doch die deutschen €rzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende EnglŠnder kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar, die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurteil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wŸtete durch die Familien, tštete und entstellte viele Kinder, und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche HŸlfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestŠtigt war. Das †bel betraf nun auch unser Haus, und Ÿberfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Kšrper war mit Blattern ŸbersŠt, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in gro§en Leiden. Man suchte die mšglichste Linderung, und versprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig ver-


halten und das †bel nicht durch Reiben und Kratzen vermehren wollte. Ich gewann es Ÿber mich; indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurteil, so warm als mšglich, und schŠrfte dadurch nur das †bel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne da§ die Blattern eine sichtbare Spur auf der Haut zurŸckgelassen; aber die Bildung war merklich verŠndert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren; aber andere waren unbarmherzig genug, mich šfters an den vorigen Zustand zu erinnern; besonders eine sehr lebhafte Tante, die frŸher Abgštterei mit mir getrieben hatte, konnte mich, selbst noch in spŠteren Jahren, selten ansehen, ohne auszurufen: "Pfui Teufel! Vetter, wie garstig ist Er geworden!" Dann erzŠhlte sie mir umstŠndlich, wie sie sich sonst an mir ergetzt, welches Aufsehen sie erregt, wenn sie mich umhergetragen; und so erfuhr ich frŸhzeitig, da§ uns die Menschen fŸr das VergnŸgen, das wir ihnen gewŠhrt haben, sehr oft empfindlich bŸ§en lassen.

Weder von Masern, noch Windblattern, und wie die QuŠlgeister der Jugend hei§en mšgen, blieb ich verschont, und jedesmal versicherte man mir, es wŠre ein GlŸck, da§ dieses †bel nun fŸr immer vorŸber sei; aber leider drohte schon wieder ein andres im Hintergrund und rŸckte heran. Alle diese Dinge vermehrten meinen Hang zum Nachdenken, und da ich, um das Peinliche der Ungeduld von mir zu entfernen, mich schon šfter im Ausdauern geŸbt hatte, so schienen mir die Tugenden, welche ich an den Stoikern hatte rŸhmen hšren, hšchst nachahmenswert, um so mehr, als durch die christliche Duldungslehre ein €hnliches empfohlen wurde.

Bei Gelegenheit dieses Familienleidens will ich auch noch eines Bruders gedenken, welcher, um drei Jahr jŸnger als ich, gleichfalls von jener Ansteckung ergriffen wurde und nicht wenig davon litt. Er war von zarter Natur, still und eigensinnig, und wir hatten niemals ein eigentliches Ver-


hŠltnis zusammen. Auch Ÿberlebte er kaum die Kinderjahre. Unter mehrern nachgebornen Geschwistern, die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erinnere ich mich nur eines sehr schšnen und angenehmen MŠdchens, die aber auch bald verschwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre, ich und meine Schwester, uns allein Ÿbrig sahen, und nur um so inniger und liebevoller verbanden.

Jene Krankheiten und andere unangenehme Stšrungen wurden in ihren Folgen doppelt lŠstig: denn mein Vater, der sich einen gewissen Erziehungs- und Unterrichtskalender gemacht zu haben schien, wollte jedes VersŠumnis unmittelbar wieder einbringen, und belegte die Genesenden mit doppelten Lektionen, welche zu leisten mir zwar nicht schwer, aber insofern beschwerlich fiel, als es meine innere Entwicklung, die eine entschiedene Richtung genommen hatte, aufhielt und gewisserma§en zurŸckdrŠngte.

Vor diesen didaktischen und pŠdagogischen BedrŠngnissen flŸchteten wir gewšhnlich zu den Gro§eltern. Ihre Wohnung lag auf der Friedberger Gasse und schien ehmals eine Burg gewesen zu sein: denn wenn man herankam, sah man nichts als ein gro§es Tor mit Zinnen, welches zu beiden Seiten an zwei NachbarhŠuser stie§. Trat man hinein, so gelangte man durch einen schmalen Gang endlich in einen ziemlich breiten Hof, umgeben von ungleichen GebŠuden, welche nunmehr alle zu einer Wohnung vereinigt waren. Gewšhnlich eilten wir sogleich in den Garten, der sich ansehnlich lang und breit hinter den GebŠuden hin erstreckte und sehr gut unterhalten war; die GŠnge meistens mit RebgelŠnder eingefa§t, ein Teil des Raums den KŸchengewŠchsen, ein andrer den Blumen gewidmet, die vom FrŸhjahr bis in den Herbst, in reichlicher Abwechslung, die Rabatten so wie die Beete schmŸckten. Die lange gegen Mittag gerichtete Mauer war zu wohl gezogenen Spalier-PfirsichbŠumen genŸtzt, von denen uns die verbotenen FrŸchte den Sommer Ÿber gar appetitlich entgegenreiften. Doch vermieden wir lieber diese Seite, weil wir unsere GenŠschigkeit hier nicht befriedigen durften,


und wandten uns zu der entgegengesetzten, wo eine unabsehbare Reihe Johannis- und StachelbeerbŸsche unserer Gierigkeit eine Folge von Ernten bis in den Herbst eršffnete. Nicht weniger war uns ein alter, hoher, weitverbreiteter Maulbeerbaum bedeutend, sowohl wegen seiner FrŸchte als auch, weil man uns erzŠhlte, da§ von seinen BlŠttern die SeidenwŸrmer sich ernŠhrten. In diesem friedlichen Revier fand man jeden Abend den Gro§vater mit behaglicher GeschŠftigkeit eigenhŠndig die feinere Obst- und Blumenzucht besorgend, indes ein GŠrtner die gršbere Arbeit verrichtete. Die vielfachen BemŸhungen, welche nštig sind, um einen schšnen Nelkenflor zu erhalten und zu vermehren, lie§ er sich niemals verdrie§en. Er selbst band sorgfŠltig die Zweige der PfirsichbŠume fŠcherartig an die Spaliere, um einen reichlichen und bequemen Wachstum der FrŸchte zu befšrdern. Das Sortieren der Zwiebeln von Tulpen, Hyazinthen und verwandter GewŠchse so wie die Sorge fŸr Aufbewahrung derselben Ÿberlie§ er niemanden; und noch erinnere ich mich gern, wie emsig er sich mit dem Okulieren der verschiedenen Rosenarten beschŠftigte. Dabei zog er, um sich vor den Dornen zu schŸtzen, jene altertŸmlichen ledernen Handschuhe an, die ihm beim Pfeifergericht jŠhrlich in Triplo Ÿberreicht wurden, woran es ihm deshalb niemals mangelte. So trug er auch immer einen tatarŠhnlichen Schlafrock, und auf dem Haupt eine faltige schwarze SamtmŸtze, so da§ er eine mittlere Person zwischen Alkinous und Laertes hŠtte vorstellen kšnnen.

Alle diese Gartenarbeiten betrieb er ebenso regelmŠ§ig und genau als seine AmtsgeschŠfte: denn eh er herunterkam, hatte er immer die Registrande seiner Proponenden fŸr den andern Tag in Ordnung gebracht und die Akten gelesen. Ebenso fuhr er morgens aufs Rathaus, speiste nach seiner RŸckkehr, nickte hierauf in seinem Gro§vaterstuhl, und so ging alles einen Tag wie den andern. Er sprach wenig, zeigte keine Spur von Heftigkeit; ich erinnere mich nicht, ihn zornig gesehen zu haben. Alles, was ihn umgab, war alter-


tŸmlich. In seiner getŠfelten Stube habe ich niemals irgend eine Neuerung wahrgenommen, seine Bibliothek enthielt au§er juristischen Werken nur die ersten Reisebeschreibungen, Seefahrten und LŠnderentdeckungen. †berhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das GefŸhl eines unverbrŸchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hŠtte.

Was jedoch die Ehrfurcht, die wir fŸr diesen wŸrdigen Greis empfanden, bis zum Hšchsten steigerte, war die †berzeugung, da§ derselbe die Gabe der Weissagung besitze, besonders in Dingen, die ihn selbst und sein Schicksal betrafen. Zwar lie§ er sich gegen niemand als gegen die Gro§mutter entschieden und umstŠndlich heraus; aber wir alle wu§ten doch, da§ er durch bedeutende TrŠume von dem, was sich ereignen sollte, unterrichtet werde. So versicherte er z. B. seiner Gattin, zur Zeit als er noch unter die jŸngern Ratsherren gehšrte, da§ er bei der nŠchsten Vakanz auf der Schšffenbank zu der erledigten Stelle gelangen wŸrde. Und als wirklich bald darauf einer der Schšffen vom Schlage gerŸhrt starb, verordnete er am Tage der Wahl und Kugelung, da§ zu Hause im Stillen alles zum Empfang der GŠste und Gratulanten solle eingerichtet werden, und die entscheidende goldne Kugel ward wirklich fŸr ihn gezogen. Den einfachen Traum, der ihn hievon belehrt, vertraute er seiner Gattin folgenderma§en: Er habe sich in voller gewšhnlicher Ratsversammlung gesehen, wo alles nach hergebrachter Weise vorgegangen. Auf einmal habe sich der nun verstorbene Schšff von seinem Sitz erhoben, sei herabgestiegen und habe ihm auf eine verbindliche Weise das Kompliment gemacht er mšge den verlassenen Platz einnehmen, und sei darauf zur TŸre hinausgegangen.

Etwas €hnliches begegnete, als der Schulthei§ mit Tode abging. Man zaudert in solchem Falle nicht lange mit Besetzung dieser Stelle, weil man immer zu fŸrchten hat, der Kaiser werde sein altes Recht, einen Schulthei§en zu bestellen, irgend einmal wieder hervorrufen. Diesmal ward um


Mitternacht eine au§erordentliche Sitzung auf den andern Morgen durch den Gerichtsboten angesagt. Weil diesem nun das Licht in der Laterne verlšschen wollte, so erbat er sich ein StŸmpfchen, um seinen Weg weiter fortsetzen zu kšnnen. "Gebt ihm ein ganzes", sagte der Gro§vater zu den Frauen, "er hat ja doch die MŸhe um meinetwillen." Dieser €u§erung entsprach auch der Erfolg: er wurde wirklich Schulthei§; wobei der Umstand noch besonders merkwŸrdig war, da§, obgleich sein ReprŠsentant bei der Kugelung an der dritten und letzten Stelle zu ziehen hatte, die zwei silbernen Kugeln zuerst herauskamen, und also die goldne fŸr ihn auf dem Grunde des Beutels liegen blieb.

Všllig prosaisch, einfach und ohne Spur von Phantastischem oder Wundersamem waren auch die Ÿbrigen der uns bekannt gewordenen TrŠume. Ferner erinnere ich mich, da§ ich als Knabe unter seinen BŸchern und Schreibkalendern gestšrt, und darin unter andern auf GŠrtnerei bezŸglichen Anmerkungen aufgezeichnet gefunden: "Heute nacht kam N. N. zu mir und sagte..." Name und Offenbarung waren in Chiffern geschrieben. Oder es stand auf gleiche Weise: "Heute nacht sah ich..." Das Ÿbrige war wieder in Chiffern, bis auf die Verbindungs- und andre Worte, aus denen sich nichts abnehmen lie§.

Bemerkenswert bleibt es hiebei, da§ Personen, welche sonst keine Spur von Ahndungsvermšgen zeigten, in seiner SphŠre fŸr den Augenblick die FŠhigkeit erlangten, da§ sie von gewissen gleichzeitigen, obwohl in der Entfernung vorgehenden Kranheits- und Todesereignissen durch sinnliche Wahrzeichen eine Vorempfindung hatten. Aber auf keines seiner Kinder und Enkel hat eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie meistenteils rŸstige Personen, lebensfroh und nur aufs Wirkliche gestellt.

Bei dieser Gelegenheit gedenk ich derselben mit Dankbarkeit fŸr vieles Gute, das ich von ihnen in meiner Jugend empfangen, so waren wir zum Beispiel auf gar mannigfaltige Weise beschŠftigt und unterhalten, wenn wir die an einen


MaterialhŠndler Melber verheiratete zweite Tochter besuchten, deren Wohnung und Laden mitten im lebhaftesten, gedrŠngtesten Teile der Stadt an dem Markte lag. Hier sahen wir nun dem GewŸhl und GedrŠnge, in welches wir uns scheuten zu verfieren, sehr vergnŸglich aus den Fenstern zu; und wenn uns im Laden unter so vielerlei Waren anfŠnglich nur das SŸ§holz und die daraus bereiteten braunen gestempelten Zeltlein vorzŸglich interessierten, so wurden wir doch allmŠhlich mit der gro§en Menge von GegenstŠnden bekannt, welche bei einer solchen Handlung aus und ein flie§en. Diese Tante war unter den Geschwistern die lebhafteste. Wenn meine Mutter, in JŸngern Jahren, sich in reinlicher Kleidung bei einer zierlichen weiblichen Arbeit oder im Lesen eines Buches gefiel, so fuhr jene in der Nachbarschaft umher, um sich dort versŠumter Kinder anzunehmen, sie zu warten, zu kŠmmen und herumzutragen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Weile so getrieben. Zur Zeit šffentlicher Feierlichkeiten, wie bei Kršnungen, war sie nicht zu Hause zu halten. Als kleines Kind schon hatte sie nach dem bei solchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gelde gehascht, und man erzŠhlte sich: wie sie einmal eine gute Partie beisammen gehabt und solches vergnŸglich in der flachen Hand beschaut, habe ihr einer dagegen geschlagen, wodurch denn die wohlerworbene Beute auf einmal verloren gegangen. Nicht weniger wu§te sie sich viel damit, da§ sie dem vorbeifahrenden Kaiser Karl dem Siebenten, wŠhrend eines Augenblicks, da alles Volk schwieg, auf einem Prallsteine stehend, ein heftiges Vivat in die Kutsche gerufen und ihn veranla§t habe, den Hut vor ihr abzuziehen und fŸr diese kecke Aufmerksamkeit gar gnŠdig zu danken.

Auch in ihrem Hause war um sie her alles bewegt, lebenslustig und munter, und wir Kinder sind ihr manche frohe Stunde schuldig geworden.

In einem ruhigern, aber auch ihrer Natur angemessenen Zustande befand sich eine zweite Tante, welche mit dem bei der St.-Katharinen-Kirche angestellten Pfarrer Starck ver-


heiratet war. Er lebte seiner Gesinnung und seinem Stande gemŠ§ sehr einsam, und besa§ eine schšne Bibliothek. Hier lernte ich zuerst den Homer kennen, und zwar in einer prosaischen †bersetzung, wie sie im siebenten Teil der durch Herrn von Loen besorgten "Neuen Sammlung der merkwŸrdigsten Reisegeschichten", unter dem Titel "Homers Beschreibung der Eroberung des Trojanischen Reichs", zu finden ist, mit Kupfern im franzšsischen Theatersinne geziert. Diese Bilder verdarben mir derma§en die Einbildungskraft, da§ ich lange Zeit die Homerischen Helden mir nur unter diesen Gestalten vergegenwŠrtigen konnte. Die Begebenheiten selbst gefielen mir unsŠglich; nur hatte ich an dem Werke sehr auszusetzen, da§ es uns von der Eroberung Trojas keine Nachricht gebe, und so stumpf mit dem Tode Hektors endige. Mein Oheim, gegen den ich diesen Tadel Šu§erte, verwies mich auf den Virgil, welcher denn meiner Forderung vollkommen GenŸge tat.

Es versteht sich von selbst, da§ wir Kinder, neben den Ÿbrigen Lehrstunden, auch eines fortwŠhrenden und fortschreitenden Religionsunterrichts genossen. Doch war der kirchliche Protestantismus, den man uns Ÿberlieferte, eigentlich nur eine Art von trockner Moral: an einen geistreichen Vortrag ward nicht gedacht, und die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Deswegen ergaben sich gar mancherlei Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrnhuter, die "Stillen im Lande", und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle blo§ die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nŠhern, als es ihnen unter der Form der šffentlichen Religion mšglich zu sein schien.

Der Knabe hšrte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhšrlich sprechen: denn die Geistlichkeit sowohl als die Laien teilten sich in das FŸr und Wider. Die mehr oder weniger Abgesonderten waren immer die Minderzahl; aber ihre Sinnesweise zog an durch OriginalitŠt, Herzlich-


keit, Beharren und SelbststŠndigkeit. Man erzŠhlte von diesen Tugenden und ihren €u§erungen allerlei Geschichten. Besonders ward die Antwort eines frommen Klempnermeisters bekannt, den einer seiner Zunftgenossen durch die Frage zu beschŠmen gedachte: wer denn eigentlich sein Beichtvater sei? Mit Heiterkeit und Vertrauen auf seine gute Sache erwiderte jener: "Ich habe einen sehr vornehmen, es ist niemand Geringeres als der Beichtvater des Kšnigs David."

Dieses und dergleichen mag wohl Eindruck auf den Knaben gemacht und ihn zu Šhnlichen Gesinnungen aufgefordert haben. Genug, er kam auf den Gedanken, sich dem gro§en Gotte der Natur, dem Schšpfer und Erhalter Himmels und der Erden, dessen frŸhere ZornŠu§erungen schon lange Ÿber die Schšnheit der Welt und das mannigfaltige Gute, das uns darin zuteil wird, vergessen waren, unmittelbar zu nŠhern; der Weg dazu aber war sehr sonderbar.

Der Knabe hatte sich Ÿberhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott, der jawohl auch mit dem Menschen wie mit allem Ÿbrigen in ein genaueres VerhŠltnis treten kšnne, und fŸr denselben ebenso wie fŸr die Bewegung der Sterne, fŸr Tages- und Jahrszeiten, fŸr Pflanzen und Tiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dieses ausdrŸcklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf, und wollte ihm auf gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis vorstellen, Ÿber diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schšpfer sich aufsehnende GemŸt des Menschen bedeuten. Nun wurden aus der vorhandnen und zufŠllig vermehrten Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein wie solche zu schichten und aufzubauen sein mšchten, das war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte einen schšnen, rotlackierten, goldgeblŸmten Musikpult, in


Gestalt einer vierseitigen Pyramide mit verschiedenen Abstufungen, den man zu Quartetten sehr bequem fand, ob er gleich in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Dessen bemŠchtigte sich der Knabe, und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur Ÿbereinander, so da§ es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte bei einem frŸhen Sonnenaufgang die erste Gottesverehrung angestellt werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einig, auf welche Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Geruch von sich geben mŸsse. Endlich gelang ihm ein Einfall, beides zu verbinden, indem er RŠucherkerzchen besa§, welche, wo nicht flammend, doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten. Ja dieses gelinde Verbrennen und Verdampfen schien noch mehr das, was im GemŸt vorgeht, auszudrŸcken als eine offene Flamme. Die Sonne war schon lŠngst aufgegangen, aber NachbarhŠuser verdeckten den Osten. Endlich erschien sie Ÿber den DŠchern; sogleich ward ein Brennglas zur Hand genommen, und die in einer schšnen Porzellanschale auf dem Gipfel stehenden RŠucherkerzen angezŸndet. Alles gelang nach Wunsch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine besondre Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingerŠumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohl aufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wu§te besser, was er verschwieg. Er sehnte sich nach der Wiederholung jener Feierlichkeit. UnglŸcklicherweise war eben, als die gelegenste Sonne hervorstieg, die Porzellantasse nicht bei der Hand; er stellte die RŠucherkerzchen unmittelbar auf die obere FlŠche des Musikpultes; sie wurden angezŸndet, und die Andacht war so gro§, da§ der Priester nicht merkte, welchen Schaden sein Opfer anrichtete, als bis ihm nicht mehr abzuhelfen war. Die Kerzen hatten sich nŠmlich in den roten Lack und in die schšnen goldnen Blumen auf eine schmŠhliche Weise eingebrannt und, gleich als wŠre ein bšser Geist verschwunden, ihre schwarzen unauslšschlichen Fu§tapfen zurŸckgelassen. HierŸber


kam der junge Priester in die Šu§erste Verlegenheit. Zwar wu§te er den Schaden durch die grš§esten Prachtstufen zu bedecken, allein der Mut zu neuen Opfern war ihm vergangen, und fast mšchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefŠhrlich es Ÿberhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nŠhern zu wollen.


 

Zweites Buch

 

Alles bisher Vorgetragene deutet auf jenen glŸcklichen und gemŠchlichen Zustand, in welchem sich die LŠnder wŠhrend eines langen Friedens befinden. Nirgends aber genie§t man eine solche schšne Zeit wohl mit grš§erem Behagen als in StŠdten, die nach ihren eigenen Gesetzen leben, die gro§ genug sind, eine ansehnliche Menge BŸrger zu fassen, und wohl gelegen, um sie durch Handel und Wandel zu bereichern. Fremde finden ihren Gewinn, da aus- und einzuziehen, und sind genštigt, Vorteil zu bringen, um Vorteil zu erlangen. Beherrschen solche StŠdte auch kein weites Gebiet, so kšnnen sie desto mehr im Innern WohlhŠbigkeit bewirken, weil ihre VerhŠltnisse nach au§en sie nicht zu kostspieligen Unternehmungen oder Teilnahmen verpflichten. Auf diese Weise verflo§ den Frankfurtern wŠhrend meiner Kindheit eine Reihe glŸcklicher Jahre. Aber kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr zurŸckgelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher auf die nŠchsten sieben Jahre meines Lebens auch gro§en Einflu§ haben sollte. Friedrich der Zweite, Kšnig von Preu§en, war mit 60000 Mann in Sachsen eingefallen, und statt einer vorgŠngigen KriegserklŠrung folgte ein Manifest, wie man sagte, von ihm selbst verfa§t, welches die Ursachen enthielt, die ihn zu einem solchen ungeheuren Schritt bewogen und berechtigt. Die Welt, die sich nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Richter aufgefordert fand, spaltete sich sogleich in zwei Parteien, und unsere Familie war ein Bild des gro§en Ganzen.

Mein Gro§vater, der als Schšff von Frankfurt Ÿber Franz dem Ersten den Kršnungshimmel getragen, und von der


Kaiserin eine gewichtige goldene Kette mit ihrem Bildnis erhalten hatte, war mit einigen Schwiegersšhnen und Tšchtern auf šstreichischer Seite. Mein Vater, von Karl dem Siebenten zum kaiserlichen Rat ernannt, und an dem Schicksale dieses unglŸcklichen Monarchen gemŸtlich teilnehmend, neigte sich mit der kleinem FamilienhŠlfte gegen Preu§en. Gar bald wurden unsere ZusammenkŸnfte, die man seit mehrern Jahren Sonntags ununterbrochen fortgesetzt hatte, gestšrt. Die unter VerschwŠgerten gewšhnlichen Mi§helligkeiten fanden nun erst eine Form, in der sie sich aussprechen konnten. Man stritt, man Ÿberwarf sich, man schwieg, man brach los. Der Gro§vater, sonst ein heitrer, ruhiger und bequemer Mann, ward ungeduldig. Die Frauen suchten vergebens das Feuer zu tŸschen, und nach einigen unangenehmen Szenen blieb mein Vater zuerst aus der Gesellschaft. Nun freuten wir uns ungestšrt zu Hause der preu§ischen Siege, welche gewšhnlich durch jene leidenschaftliche Tante mit gro§em Jubel verkŸndigt wurden. Alles andere Interesse mu§te diesem weichen und wir brachten den †berrest des Jahres in bestŠndiger Agitation zu. Die Besitznahme von Dresden, die anfŠngliche MŠ§igung des Kšnigs, die zwar langsamen aber sichern Fortschritte, der Sieg bei Lowositz, die Gefangennehmung der Sachsen waren fŸr unsere Partei ebenso viele Triumphe. Alles, was zum Vorteil der Gegner angefŸhrt werden konnte, wurde geleugnet oder verkleinert; und da die entgegengesetzten Familienglieder das gleiche taten, so konnten sie einander nicht auf der Stra§e begegnen, ohne da§ es HŠndel setzte, wie in "Romeo und Julie ". Und so war ich denn auch preu§isch oder, um richtiger zu reden, fritzisch gesinnt: denn was ging uns Preu§en an. Es war die Persšnlichkeit des gro§en Kšnigs, die auf alle GemŸter wirkte. Ich freute mich mit dem Vater unserer Siege, schrieb sehr gern die Siegeslieder ab, und fast noch lieber die Spottlieder auf die Gegenpartei, so platt die Reime auch sein mochten.


Als Šltester Enkel und Pate hatte ich seit meiner Kindheit jeden Sonntag bei den Gro§eltern gespeist: es waren meine vergnŸgtesten Stunden der ganzen Woche. Aber nun wollte mir kein Bissen mehr schmecken: denn ich mu§te meinen Helden aufs greulichste verleumden hšren. Hier wehte ein anderer Wind, hier klang ein anderer Ton als zu Hause. Die Neigung, ja die Verehrung fŸr meine Gro§eltern nahm ab. Bei den Eltern durfte ich nichts davon erwŠhnen, ich unterlie§ es aus eigenem GefŸhl und auch, weil die Mutter mich gewarnt hatte. Dadurch war ich auf mich selbst zurŸckgewiesen, und wie mir in meinem sechsten Jahre, nach dem Erdbeben von Lissabon, die GŸte Gottes einigerma§en verdŠchtig geworden war, so fing ich nun, wegen Friedrichs des Zweiten, die Gerechtigkeit des Publikums zu bezweifeln an. Mein GemŸt war von Natur zur Ehrerbietung geneigt und es gehšrte eine gro§e ErschŸtterung dazu, um meinen Glauben an irgend ein EhrwŸrdiges wanken zu machen. Leider hatte man uns die guten Sitten, ein anstŠndiges Betragen, nicht um ihrer selbst, sondern um der Leute willen anempfohlen; was die Leute sagen wŸrden, hie§ es immer, und ich dachte, die Leute mŸ§ten auch rechte Leute sein, wŸrden auch alles und jedes zu schŠtzen wissen. Nun aber erfuhr ich das Gegenteil. Die grš§ten und augenfŠlligsten Verdienste wurden geschmŠht und angefeindet, die hšchsten Taten, wo nicht geleugnet, doch wenigstens entstellt und verkleinert; und ein so schnšdes Unrecht geschah dem einzigen, offenbar Ÿber alle seine Zeitgenossen erhabenen Manne, der tŠglich bewies und dartat, was er vermšge; und dies nicht etwa vom Pšbel, sondern von vorzŸglichen MŠnnern, wofŸr ich doch meinen Gro§vater und meine Oheime zu halten hatte. Da§ es Parteien geben kšnne, ja da§ er selbst zu einer Partei gehšrte, davon hatte der Knabe keinen Begriff. Er glaubte um so viel mehr recht zu haben und seine Gesinnung fŸr die bessere erklŠren zu dŸrfen, da er und die Gleichgesinnten Marien Theresien, ihre Schšnheit und Ÿbrigen guten Eigenschaften ja gelten lie§en, und dem Kaiser Franz


seine Juwelen- und Geldliebhaberei weiter auch nicht verargten; da§ Graf Daun manchmal eine SchlafmŸtze gehei§en wurde, glaubten sie verantworten zu kšnnen.

Bedenke ich es aber jetzt genauer, so finde ich hier den Keim der Nichtachtung, ja der Verachtung des Publikums, die mir eine ganze Zeit meines Lebens anhing und nur spŠt durch Einsicht und Bildung ins gleiche gebracht werden konnte. Genug, schon damals war das Gewahrwerden parteiischer Ungerechtigkeit dem Knaben sehr unangenehm, ja schŠdlich, indem es ihn gewšhnte, sich von geliebten und geschŠtzten Personen zu entfernen. Die immer auf einander folgenden Kriegstaten und Begebenheiten lie§en den Parteien weder Ruhe noch Rast. Wir fanden ein verdrie§liches Behagen, jene eingebildeten †bel und willkŸrlichen HŠndel immer von frischem wieder zu erregen und zu schŠrfen, und so fuhren wir fort, uns unter einander zu quŠlen, bis einige Jahre darauf die Franzosen Frankfurt besetzten und uns wahre Unbequemlichkeit in die HŠuser brachten.

Ob nun gleich die meisten sich dieser wichtigen, in der Ferne vorgehenden Ereignisse nur zu einer leidenschaftlichen Unterhaltung bedienten, so waren doch auch andre, welche den Ernst dieser Zeiten wohl einsahen, und befŸrchteten, da§ bei einer Teilnahme Frankreichs der Kriegsschauplatz sich auch in unsern Gegenden auftun kšnne. Man hielt uns Kinder mehr als bisher zu Hause, und suchte uns auf mancherlei Weise zu beschŠftigen und zu unterhalten. Zu solchem Ende hatte man das von der Gro§mutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt, und zwar dergestalt eingerichtet, da§ die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen, die spielenden und dirigierenden Personen aber, so wie das Theater selbst vom Proszenium an, in einem Nebenzimmer Platz und Raum fanden. Durch die besondere VergŸnstigung, bald diesen bald jenen Knaben als Zuschauer einzulassen, erwarb ich mir anfangs viele Freunde; allein die Unruhe, die in den Kindern steckt, lie§ sie nicht lange geduldige Zuschauer bleiben. Sie stšrten das Spiel, und wir


mu§ten uns ein jŸngeres Publikum aussuchen, das noch allenfalls durch Ammen und MŠgde in der Ordnung gehalten werden konnte. Wir hatten das ursprŸngliche Hauptdrama, worauf die Puppengesellschaft eigentlich eingerichtet war, auswendig gelernt, und fŸhrten es anfangs auch ausschlie§lich auf; allein dies ermŸdete uns bald, wir verŠnderten die Garderobe, die Dekorationen und wagten uns an verschiedene StŸcke, die freilich fŸr einen so kleinen Schauplatz zu weitlŠuftig waren. Ob wir uns nun gleich durch diese Anma§ung dasjenige, was wir wirklich hŠtten leisten kšnnen, verkŸmmerten und zuletzt gar zerstšrten, so hat doch diese kindliche Unterhaltung und BeschŠftigung auf sehr mannigfaltige Weise bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermšgen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geŸbt und befšrdert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hŠtte geschehen kšnnen.

Ich hatte frŸh gelernt, mit Zirkel und Lineal umzugehen, indem ich den ganzen Unterricht, den man uns in der Geometrie erteilte, sogleich in das TŠtige verwandte, und Pappenarbeiten konnten mich hšchlich beschŠftigen. Doch blieb ich nicht bei geometrischen Kšrpern, bei KŠstchen und solchen Dingen stehen, sondern ersann mir artige LusthŠuser, welche mit Pilastern, Freitreppen und flachen DŠchern ausgeschmŸckt wurden; wovon jedoch wenig zustande kam.

Weit beharrlicher hingegen war ich, mit HŸlfe unsers Bedienten, eines Schneiders von Profession, eine RŸstkammer auszustatten, welche zu unsern Schau- und Trauerspielen dienen sollte, die wir, nachdem wir den Puppen Ÿber den Kopf gewachsen waren, selbst aufzufŸhren Lust hatten. Meine Gespielen verfertigten sich zwar auch solche RŸstungen und hielten sie fŸr ebenso schšn und gut als die meinigen; allein ich hatte es nicht bei den BedŸrfnissen einer Person bewenden lassen, sondern konnte mehrere des kleinen Heeres mit allerlei Requisiten ausstatten, und machte mich daher unserm kleinen Kreise immer notwendiger. Da§


solche Spiele auf Parteiungen, Gefechte und SchlŠge hinwiesen, und gewšhnlich auch mit HŠndeln und Verdru§ ein schreckliches Ende nahmen, lŠ§t sich denken. In solchen FŠllen hielten gewšhnlich gewisse bestimmte Gespielen an mir, andre auf der Gegenseite, ob es gleich šfter manchen Parteiwechsel gab. Ein einziger Knabe, den ich Pylades nennen will, verlie§ nur ein einzigmal, von den andern aufgehetzt, meine Partei, konnte es aber kaum eine Minute aushalten, mir feindselig gegenŸberzustehen; wir versšhnten uns unter vielen TrŠnen, und haben eine ganze Weile treulich zusammengehalten.

Diesen so wie andre Wohlwollende konnte ich sehr glŸcklich machen, wenn ich ihnen MŠrchen erzŠhlte, und besonders liebten sie, wenn ich in eigner Person sprach, und hatten eine gro§e Freude, da§ mir als ihrem Gespielen so wunderliche Dinge kšnnten begegnet sein, und dabei gar kein Arges, wie ich Zeit und Raum zu solchen Abenteuern finden kšnnen, da sie doch ziemlich wu§ten, wie ich beschŠftigt war und wo ich aus und ein ging. Nicht weniger waren zu solchen Begebenheiten LokalitŠten, wo nicht aus einer andern Welt, doch gewi§ aus einer andern Gegend nštig, und alles war doch erst heut oder gestern geschehen, sie mu§ten sich daher mehr selbst betrŸgen, als ich sie zum besten haben konnte. Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemŠ§, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmŠ§igen Darstellungen hŠtte verarbeiten lernen, so wŠren solche aufschneiderische AnfŠnge gewi§ nicht ohne schlimme Folgen fŸr mich geblieben.

Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so mšchte man in ihm diejenige Anma§ung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht, und von einem jeden fordert, er solle dasjenige fŸr wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte.

Was jedoch hier nur im allgemeinen und betrachtungsweise vorgetragen worden, wird vielleicht durch ein Bei-


spiel, durch ein MusterstŸck angenehmer und anschaulicher werden. Ich fŸge daher ein solches MŠrchen bei, welches mir, da ich es meinen Gespielen oft wiederholen mu§te, noch ganz wohl vor der Einbildungskraft und im GedŠchtnis schwebt.

 

Der neue Paris

 

KnabenmŠrchen

 

Mir trŠumte neulich in der Nacht vor Pfingstsonntag, als stŸnde ich vor einem Spiegel und beschŠftigte mich mit den neuen Sommerkleidern, welche mir die lieben Eltern auf das Fest hatten machen lassen. Der Anzug bestand, wie ihr wi§t, in Schuhen von sauberem Leder, mit gro§en silbernen Schnallen, feinen baumwollenen StrŸmpfen, schwarzen Unterkleidern von Sarsche, und einem Rock von grŸnem Berkan mit goldnen Balletten. Die Weste dazu, von Goldstoff, war aus meines Vaters BrŠutigamsweste geschnitten. Ich war frisiert und gepudert, die Locken standen mir wie FlŸgelchen vom Kopfe; aber ich konnte mit dem Anziehen nicht fertig werden, weil ich immer die KleidungsstŸcke verwechselte, und weil mir immer das erste vom Leibe fiel, wenn ich das zweite umzunehmen gedachte. In dieser gro§en Verlegenheit trat ein junger schšner Mann zu mir und begrŸ§te mich aufs freundlichste. "Ei, seid mir willkommen!" sagte ich, "es ist mir ja gar lieb, da§ ich Euch hier sehe." - "Kennt Ihr mich denn?" versetzte jener lŠchelnd. - "Warum nicht?" war meine gleichfalls lŠchelnde Antwort. "Ihr seid Merkur, und ich habe Euch oft genug abgebildet gesehen." - "Das bin ich", sagte jener, "und von den Gšttern mit einem wichtigen Auftrag an dich gesandt, siehst du diese drei €pfel?" - Er reichte seine Hand her und zeigte mir drei €pfel, die sie kaum fassen konnte, und die ebenso wundersam schšn als gro§ waren, und zwar der eine von


roter, der andere von gelber, der dritte von grŸner Farbe. Man mu§te sie fŸr Edelsteine halten, denen man die Form von FrŸchten gegeben. Ich wollte darnach greifen; er aber zog zurŸck und sagte: "Du mu§t erst wissen, da§ sie nicht fŸr dich sind. Du sollst sie den drei schšnsten jungen Leuten von der Stadt geben, welche sodann, jeder nach seinem Lose, Gattinnen finden sollen, wie sie solche nur wŸnschen kšnnen. Nimm, und mach deine Sachen gut!" sagte er scheidend und gab mir die €pfel in meine offnen HŠnde; sie schienen mir noch grš§er geworden zu sein. Ich hielt sie darauf in die Hšhe, gegen das Licht, und fand sie ganz durchsichtig; aber gar bald zogen sie sich aufwŠrts in die LŠnge und wurden zu drei schšnen, schšnen Frauenzimmerchen in mŠ§iger Puppengrš§e, deren Kleider von der Farbe der vorherigen €pfel waren. So gleiteten sie sacht an meinen Fingern hinauf, und als ich nach ihnen haschen wollte um wenigstens eine festzuhalten, schwebten sie schon weit in der Hšhe und Ferne, da§ ich nichts als das Nachsehen hatte. Ich stand ganz verwundert und versteinert da, hatte die HŠnde noch in der Hšhe und beguckte meine Finger, als wŠre daran etwas zu sehen gewesen. Aber mit einmal erblickte ich auf meinen Fingerspitzen ein allerliebstes MŠdchen herumtanzen, kleiner als jene, aber gar niedlich und munter; und weil sie nicht wie die andern fortflog, sondern verweilte, und bald auf diese bald auf jene Fingerspitze tanzend hin und her trat, so sah ich ihr eine Zeitlang verwundert zu. Da sie mir aber gar so wohl gefiel, glaubte ich sie endlich haschen zu kšnnen und dachte geschickt genug zuzugreifen; allein in dem Augenblick fŸhlte ich einen Schlag an den Kopf, so da§ ich ganz betŠubt niederfiel, und aus dieser BetŠubung nicht eher erwachte, als bis es Zeit war mich anzuziehen und in die Kirche zu gehen.

Unter dem Gottesdienst wiederholte ich mir jene Bilder oft genug; auch am gro§elterlichen Tische, wo ich zu Mittag speiste. Nachmittags wollte ich einige Freunde besuchen, sowohl um mich in meiner neuen Kleidung, den Hut unter


dem Arm und den Degen an der Seite, sehen zu lassen, als auch weil ich ihnen Besuche schuldig war. Ich fand niemanden zu Hause, und da ich hšrte, da§ sie in die GŠrten gegangen, so gedachte ich ihnen zu folgen und den Abend vergnŸgt zuzubringen. Mein Weg fŸhrte mich den Zwinger hin, und ich kam in die Gegend, welche mit Recht den Namen "schlimme Mauer " fŸhrt: denn es ist dort niemals ganz geheuer. Ich ging nur langsam und dachte an meine drei Gšttinnen, besonders aber an die kleine Nymphe, und hielt meine Finger manchmal in die Hšhe, in Hoffnung, sie wŸrde so artig sein, wieder darauf zu balancieren. In diesen Gedanken VorwŠrts gehend erblickte ich, linker Hand, in der Mauer ein Pfšrtchen, das ich mich nicht erinnerte je gesehen zu haben. Es schien niedrig, aber der Spitzbogen drŸber hŠtte den grš§ten Mann hindurch gelassen. Bogen und GewŠnde waren aufs zierlichste vom Steinmetz und Bildhauer ausgemei§elt, die TŸre selbst aber zog erst recht meine Aufmerksamkeit an sich. Braunes uraltes Holz, nur wenig verziert, war mit breiten, sowohl erhaben als vertieft gearbeiteten BŠndern von Erz beschlagen, deren Laubwerk, worin die natŸrlichsten Všgel sa§en, ich nicht genug bewundern konnte. Doch was mir das MerkwŸrdigste schien, kein SchlŸsselloch war zu sehen, keine Klinke, kein Klopfer, und ich vermutete daraus, da§ diese TŸre nur von innen aufgemacht werde. Ich hatte mich nicht geirrt: denn als ich ihr nŠher trat, um die Zieraten zu befŸhlen, tat sie sich hineinwŠrts auf, und es erschien ein Mann, dessen Kleidung etwas Langes, Weites und Sonderbares hatte. Auch ein ehrwŸrdiger Bart umwšlkte sein Kinn; daher ich ihn fŸr einen Juden zu halten geneigt war. Er aber, eben als wenn er meine Gedanken erraten hŠtte, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes, wodurch er mir zu erkennen gab, da§ er ein guter katholischer Christ sei. - "Junger Herr, wie kommt Ihr hierher, und was macht Ihr da?" sagte er mit freundlicher Stimme und GebŠrde. - "Ich bewundre", versetzte ich, "die Arbeit dieser Pforte: denn ich habe dergleichen noch nie-


mals gesehen; es mŸ§te denn sein auf kleinen StŸcken in den Kunstsammlungen der Liebhaber." - "Es freut mich", versetzte er darauf, "da§ Ihr solche Arbeit liebt. Inwendig ist die Pforte noch viel schšner: tretet herein, wenn es Euch gefŠllt." Mir war bei der Sache nicht ganz wohl zu Mute. Die wunderliche Kleidung des Pfšrtners, die Abgelegenheit und ein sonst ich wei§ nicht was, das in der Luft zu liegen schien, beklemmte mich. Ich verweilte daher, unter dem Vorwunde, die Au§enseite noch lŠnger zu betrachten, und blickte dabei verstohlen in den Garten: denn ein Garten war es, der sich vor mir eršffnet hatte. Gleich hinter der Pforte sah ich einen gro§en beschatteten Platz; alte Linden, regelmŠ§ig von einander abstehend, bedeckten ihn všllig mit ihren dicht in einander greifenden €sten, so da§ die zahlreichsten Gesellschaften in der grš§ten Tageshitze sich darunter hŠtten erquicken kšnnen, schon war ich auf die Schwelle getreten, und der Alte wu§te mich immer um einen Schritt weiter zu locken. Ich widerstand auch eigentlich nicht: denn ich hatte jederzeit gehšrt, da§ ein Prinz oder Sultan in solchem Falle niemals fragen mŸsse, ob Gefahr vorhanden sei. Hatte ich doch auch meinen Degen an der Seite; und sollte ich mit dem Alten nicht fertig werden, wenn er sich feindlich erweisen wollte? Ich trat also ganz gesichert hinein; der Pfšrtner drŸckte die TŸre zu, die so leise einschnappte, da§ ich es kaum spŸrte. Nun zeigte er mir die inwendig angebrachte, wirklich noch viel kunstreichere Arbeit, legte sie mir aus, und bewies mir dabei ein besonderes Wohlwollen. Hiedurch nun všllig beruhigt, lie§ ich mich in dem belaubten Raume an der Mauer, die sich ins Runde zog, weiter fŸhren, und fand manches an ihr zu bewundern. Nischen, mit Muscheln, Korallen und Metallstufen kŸnstlich ausgeziert, gaben aus TritonenmŠulern reichliches Wasser in marmorne Becken; dazwischen waren VogelhŠuser angebracht und andre Vergitterungen, worin Eichhšrnchen herumhŸpften, Meerschweinchen hin und wider liefen, und was man nur sonst von artigen Geschšpfen


wŸnschen kann. Die Všgel riefen und sangen uns an, wie wir vorschritten; die Stare besonders schwŠtzten das nŠrrischste Zeug; der eine rief immer: "Paris, Paris", und der andre: "Narzi§, Narzi§," so deutlich, als es ein Schulknabe nur aussprechen kann. Der Alte schien mich immer ernsthaft anzusehen, indem die Všgel dieses riefen; ich tat aber nicht, als wenn ich's merkte, und hatte auch wirklich nicht Zeit, auf ihn Acht zu geben: denn ich konnte wohl gewahr werden, da§ wir in die Runde gingen, und da§ dieser beschattete Raum eigentlich ein gro§er Kreis sei, der einen andern viel bedeutendern umschlie§e. Wir waren auch wirklich wieder bis ans Pfšrtchen gelangt, und es schien, als wenn der Alte mich hinauslassen wolle; allein meine Augen blieben auf ein goldnes Gitter gerichtet, welches die Mitte dieses wunderbaren Gartens zu umzŠunen schien, und das ich auf unserm Gange hinlŠnglich zu beobachten Gelegenheit fand, ob mich der Alte gleich immer an der Mauer und also ziemlich entfernt von der Mitte zu halten wu§te. Als er nun eben auf das Pfšrtchen losging, sagte ich zu ihm, mit einer Vorbeugung: "Ihr seid so Šu§erst gefŠllig gegen mich gewesen, da§ ich wohl noch eine Bitte wagen mšchte, ehe ich von Euch scheide. DŸrfte ich nicht jenes goldne Gitter nŠher besehen, das in einem sehr weiten Kreise das Innere des Gartens einzuschlie§en scheint?"- "Recht gern," versetzte jener; "aber sodann mŸ§t Ihr Euch einigen Bedingungen unterwerfen." - "Worin bestehen sie?" fragte ich hastig. - "Ihr mŸ§t Euren Hut und Degen hier zurŸcklassen, und dŸrft mir nicht von der Hand, indem ich Euch begleite."- "Herzlich gern!" erwiderte ich, und legte Hut und Degen auf die erste beste steinerne Bank. Sogleich ergriff er mit seiner Rechten meine Linke, hielt sie fest, und fŸhrte mich mit einiger Gewalt gerade vorwŠrts. Als wir ans Gitter kamen, verwandelte sich meine Verwunderung in Erstaunen: so etwas hatte ich nie gesehen. Auf einem hohen Sockel von Marmor standen unzŠhlige Spie§e und Partisanen neben einander gereiht, die durch ihre seltsam verzierten oberen Enden zusammen-


hingen und einen ganzen Kreis bildeten. Ich schaute durch die ZwischenrŠume, und sah gleich dahinter ein sanft flie§endes Wasser, auf beiden Seiten mit Marmor eingefa§t, das in seinen klaren Tiefen eine gro§e Anzahl von Gold- und Silberfischen sehen lie§, die sich bald sachte bald geschwind, bald einzeln bald zugweise hin und her bewegten. Nun hŠtte ich aber auch gern Ÿber den Kanal gesehen, um zu erfahren, wie es in dem Herzen des Gartens beschaffen sei; allein da fand ich zu meiner gro§en BetrŸbnis, da§ an der Gegenseite das Wasser mit einem gleichen Gitter eingefa§t war, und zwar so kŸnstlicher Weise, da§ auf einen Zwischenraum diesseits gerade ein Spie§ oder eine Partisane jenseits pa§te, und man also, die Ÿbrigen Zieraten mitgerechnet, nicht hindurchsehen konnte, man mochte sich stellen, wie man wollte. †berdies hinderte mich der Alte, der mich noch immer festhielt, da§ ich mich nicht frei bewegen konnte. Meine Neugier wuchs indes, nach allem, was ich gesehen, immer mehr, und ich nahm mir ein Herz, den Alten zu fragen, ob man nicht auch hinŸber kommen kšnne. - "Warum nicht?" versetzte jener; "aber auf neue Bedingungen." - Als ich nach diesen fragte, gab er mir zu erkennen, da§ ich mich umkleiden mŸsse. Ich war es sehr zufrieden; er fŸhrte mich zurŸck nach der Mauer in einen kleinen reinlichen Saal, an dessen WŠnden mancherlei Kostbarkeiten hingen, die sich sŠmtlich dem orientalischen KostŸm zu nŠhern schienen. Ich war geschwind umgekleidet; er streifte meine gepuderten Haare unter ein buntes Netz, nachdem er sie zu meinem Entsetzen gewaltig ausgestŠubt hatte. Nun fand ich mich vor einem gro§en Spiegel in meiner Vermummung gar hŸbsch, und gefiel mir besser als in meinem steifen Sonntagskleide. Ich machte einige GebŠrden und SprŸnge, wie ich sie von den TŠnzern auf dem Me§theater gesehen hatte. Unter diesem sah ich in den Spiegel und erblickte zufŠllig das Bild einer hinter mir befindlichen Nische. Auf ihrem wei§en Grunde hingen drei grŸne Strickchen, jedes in sich auf eine Weise verschlungen, die mir in der Ferne nicht deutlich


werden wollte. Ich kehrte mich daher etwas hastig um, und fragte den Alten nach der Nische so wie nach den Strickchen. Er, ganz gefŠllig, holte eins herunter und zeigte es mir. Es war eine grŸnseidene Schnur von mŠ§iger StŠrke, deren beide Enden, durch ein zwiefach durchschnittenes grŸnes Leder geschlungen, ihr das Ansehn gaben, als sei es ein Werkzeug zu einem eben nicht sehr erwŸnschten Gebrauch. Die Sache schien mir bedenklich, und ich fragte den Alten nach der Bedeutung. Er antwortete mir ganz gelassen und gŸtig: es sei dieses fŸr diejenigen, welche das Vertrauen mi§brauchten, das man ihnen hier zu schenken bereit sei. Er hing die Schnur wieder an ihre Stelle und verlangte sogleich, da§ ich ihm folgen solle: denn diesmal fa§te er mich nicht an, und so ging ich frei neben ihm her.

Meine grš§te Neugier war nunmehr, wo die TŸre, wo die BrŸcke sein mšchte, um durch das Gitter, um Ÿber den Kanal zu kommen: denn ich hatte dergleichen bis jetzt noch nicht ausfindig machen kšnnen. Ich betrachtete daher die goldene UmzŠunung sehr genau, als wir darauf zueilten; allein augenblicklich verging mir das Gesicht: denn unerwartet begannen Spie§e, Speere, Hellebarden, Partisanen sich zu rŸtteln und zu schŸtteln, und diese seltsame Bewegung endigte damit, da§ die sŠmtlichen Spitzen sich gegen einander senkten, eben als wenn zwei altertŸmliche, mit Piken bewaffnete Heerhaufen gegen einander losgehen wollten. Die Verwirrung fŸrs Auge, das Geklirr fŸr die Ohren war kaum zu ertragen, aber unendlich Ÿberraschend der Anblick, als sie všllig niedergelassen den Kreis des Kanals bedeckten und die herrlichste BrŸcke bildeten, die man sich denken kann: denn nun lag das bunteste Gartenparterre vor meinem Blick. Es war in verschlungene Beete geteilt, welche zusammen betrachtet ein Labyrinth von Zieraten bildeten; alle mit grŸnen Einfassungen von einer niedrigen, wollig wachsenden Pflanze, die ich nie gesehen; alle mit Blumen, jede Abteilung von verschiedener Farbe, die, ebenfalls niedrig und am Boden, den vorgezeichneten Grundri§ leicht


verfolgen lie§en. Dieser kšstliche Anblick, den ich in vollem Sonnenschein geno§, fesselte ganz meine Augen; aber ich wu§te fast nicht, wo ich den Fu§ hinsetzen sollte: denn die schlŠngelnden Wege waren aufs reinlichste von blauem Sande gezogen, der einen dunklem Himmel, oder einen Himmel im Wasser, an der Erde zu bilden schien; und so ging ich, die Augen auf den Boden gerichtet, eine Zeitlang, neben meinem FŸhrer, bis ich zuletzt gewahr ward, da§ in der Mitte von diesem Beeten- und Blumenrund ein gro§er Kreis von Zypressen oder pappelartigen BŠumen stand, durch den man nicht hindurchsehen konnte, weil die untersten Zweige aus der Erde hervorzutreiben schienen. Mein FŸhrer, ohne mich gerade auf den nŠchsten Weg zu drŠngen, leitete mich doch unmittelbar nach jener Mitte, und wie war ich Ÿberrascht, als ich, in den Kreis der hohen BŠume tretend, die SŠulenhalle eines kšstlichen GartengebŠudes vor mir sah, das nach den Ÿbrigen Seiten hin Šhnliche Ansichten und EingŠnge zu haben schien. Noch mehr aber als dieses Muster der Baukunst entzŸckte mich eine himmlische Musik, die aus dem GebŠude hervordrang. Bald glaubte ich eine Laute, bald eine Harfe, bald eine Zither zu hšren, und bald noch etwas Klimperndes, das keinem von diesen drei Instrumenten gemŠ§ war. Die Pforte, auf die wir zugingen, eršffnete sich bald nach einer leisen BerŸhrung des Alten; aber wie erstaunt war ich, als die heraustretende Pfšrtnerin ganz vollkommen dem niedlichen MŠdchen glich, das mir im Traume auf den Fingern getanzt hatte, sie grŸ§te mich auch auf eine Weise, als wenn wir schon bekannt wŠren, und bat mich hereinzutreten. Der Alte blieb zurŸck, und ich ging mit ihr durch einen gewšlbten und schšn verzierten kurzen Gang nach dem Mittelsaal, dessen herrliche domartige Hšhe beim Eintritt meinen Blick auf sich zog und mich in Verwunderung setzte. Doch konnte mein Auge nicht lange dort verweilen, denn es ward durch ein reizenderes Schauspiel herabgelockt. Auf einem Teppich, gerade unter der Mitte der Kuppel, sa§en drei Frauenzimmer im Dreieck,


in drei verschiedene Farben gekleidet, die eine rot, die andre gelb, die dritte grŸn; die Sessel waren vergoldet, und der Teppich ein vollkommenes Blumenbeet. In ihren Armen lagen die drei Instrumente, die ich drau§en hatte unter scheiden kšnnen: denn durch meine Ankunft gestšrt, hatten sie mit Spielen inne gehalten. - "Seid uns willkommen!" sagte die mittlere, die nŠmlich, welche mit dem Gesicht nach der TŸre sa§, im roten Kleide und mit der Harfe. "Setzt Euch zu Alerten und hšrt zu, wenn Ihr Liebhaber von der Musik seid." Nun sah ich erst, da§ unten quervor ein ziemlich langes BŠnkchen stand, worauf eine Mandoline lag. Das artige MŠdchen nahm sie auf, setzte sich und zog mich an ihre Seite. Jetzt betrachtete ich auch die zweite Dame zu meiner Rechten; sie hatte das gelbe Kleid an, und eine Zither in der Hand; und wenn jene Harfenspielerin ansehnlich von Gestalt, gro§ von GesichtszŸgen, und in ihrem Betragen majestŠtisch war, so konnte man der Zitherspielerin ein leicht anmutiges heitres Wesen anmerken, sie war eine schlanke Blondine, da jene dunkelbraunes Haar schmŸckte. Die Mannigfaltigkeit und †bereinstimmung ihrer Musik konnte mich nicht abhalten, nun auch die dritte Schšnheit im grŸnen Gewande zu betrachten, deren Lautenspiel etwas RŸhrendes und zugleich Auffallendes fŸr mich hatte. Sie war diejenige, die am meisten auf mich Acht zu geben und ihr Spiel an mich zu richten schien; nur konnte ich aus ihr nicht klug werden: denn sie kam mir bald zŠrtlich, bald wunderlich, bald offen, bald eigensinnig vor, je nachdem sie die Mienen und ihr Spiel verŠnderte. Bald schien sie mich rŸhren, bald mich necken zu wollen. Doch mochte sie sich stellen wie sie wollte, so gewann sie mir wenig ab: denn meine kleine Nachbarin, mit der ich Ellbogen an Ellbogen sa§, hatte mich ganz fŸr sich eingenommen; und wenn ich in jenen drei Damen ganz deutlich die Sylphiden meines Traums und die Farben der €pfel erblickte, so begriff ich wohl, da§ ich keine Ursache hŠtte, sie festzuhalten. Die artige Kleine hŠtte ich lieber angepackt, wenn mir nur nicht


der Schlag, den sie mir im Traume versetzt hatte, gar zu erinnerlich gewesen wŠre. Sie hielt sich bisher mit ihrer Mandoline ganz ruhig, als aber ihre Gebieterinnen aufgehšrt hatten, so befahlen sie ihr, einige lustige StŸckchen zum besten zu geben. Kaum hatte sie einige Tanzmelodien gar aufregend abgeklimpert, so sprang sie in die Hšhe; ich tat das gleiche, sie spielte und tanzte; ich ward hingerissen, ihre Schritte zu begleiten, und wir fŸhrten eine Art von kleinem Ballett auf, womit die Damen zufrieden zu sein schienen: denn sobald wir geendigt, befahlen sie der Kleinen, mich derweil mit etwas Gutem zu erquicken, bis das Nachtessen herankŠme. Ich hatte freilich vergessen, da§ au§er diesem Paradiese noch etwas anderes in der Welt wŠre. Alerte fŸhrte mich sogleich in den Gang zurŸck, durch den ich hereingekommen war. An der Seite hatte sie zwei wohleingerichtete Zimmer; in dem einen, wo sie wohnte, setzte sie mir Orangen, Feigen, Pfirschen und Trauben vor, und ich geno§ sowohl die FrŸchte fremder LŠnder, als auch die der erst kommenden Monate mit gro§em Appetit. Zuckerwerk war im †berflu§, auch fŸllte sie einen Pokal von geschliffnem Kristall mit schŠumendem Wein: doch zu trinken bedurfte ich nicht, denn ich hatte mich an den FrŸchten hinreichend gelabt. - "Nun wollen wir spielen," sagte sie und fŸhrte mich in das andere Zimmer. Hier sah es nun aus wie auf einem Christmarkt; aber so kostbare und feine Sachen hat man niemals in einer Weihnachtsbude gesehen. Da waren alle Arten von Puppen, Puppenkleidern und PuppengerŠtschaften; KŸchen, Wohnstuben und LŠden; und einzelne Spielsachen in Unzahl, sie fŸhrte mich an allen GlasschrŠnken herum: denn in solchen waren diese kŸnstlichen Arbeiten aufbewahrt. Die ersten SchrŠnke verschlo§ sie aber bald wieder und sagte: "Das ist nichts fŸr Euch, ich wei§ es wohl. Hier aber," sagte sie, "kšnnten wir Baumaterialien finden, Mauern und TŸrme, HŠuser, PalŠste, Kirchen, um eine gro§e Stadt zusammenzustellen. Das unterhŠlt mich aber nicht; wir wollen zu etwas anderem greifen, das fŸr


Euch und mich gleich vergnŸglich ist." - Sie brachte darauf einige Kasten hervor, in denen ich kleines Kriegsvolk Ÿber einander geschichtet erblickte, von dem ich sogleich bekennen mu§te, da§ ich niemals so etwas Schšnes gesehen hŠtte. Sie lie§ mir die Zeit nicht, das einzelne nŠher zu betrachten, sondern nahm den einen Kasten unter den Arm, und ich packte den andern auf. "Wir wollen auf die goldne BrŸcke gehen," sagte sie; "dort spielt sich's am besten mit Soldaten: die Spie§e geben gleich die Richtung, wie man die Armeen gegen einander zu stellen hat." Nun waren wir auf dem goldnen schwankenden Boden angelangt; unter mir hšrte ich das Wasser rieseln und die Fische plŠtschern, indem ich niederkniete, meine Linien aufzustellen. Es war alles Reiterei, wie ich nunmehr sah, sie rŸhmte sich, die Kšnigin der Amazonen zum FŸhrer ihres weiblichen Heeres zu besitzen; ich dagegen fand den Achill und eine sehr stattliche griechische Reiterei. Die Heere standen gegen einander, und man konnte nichts Schšneres sehen. Es waren nicht etwa flache bleierne Reiter, wie die unsrigen, sondern Mann und Pferd rund und kšrperlich, und auf das feinste gearbeitet; auch konnte man kaum begreifen, wie sie sich im Gleichgewicht hielten: denn sie standen fŸr sich, ohne ein Fu§brettchen zu haben.

Wir hatten nun jedes mit gro§er Selbstzufriedenheit unsere Heerhaufen beschaut, als sie mir den Angriff verkŸndigte. Wir hatten auch GeschŸtz in unsern KŠsten gefunden; es waren nŠmlich Schachteln voll kleiner wohlpolierter Achatkugeln. Mit diesen sollten wir aus einer gewissen Entfernung gegen einander kŠmpfen, wobei jedoch ausdrŸcklich bedungen war, da§ nicht stŠrker geworfen werde, als nštig sei, die Figuren umzustŸrzen: denn beschŠdigt sollte keine werden. Wechselseitig ging nun die Kanonade los, und im Anfang wirkte sie zu unser beider Zufriedenheit. Allein als meine Gegnerin bemerkte, da§ ich doch besser zielte als sie, und zuletzt den Sieg, der von der †berzahl der Stehngebliebenen abhing, gewinnen mšchte, trat sie nŠher, und ihr


mŠdchenhaftes Werfen hatte denn auch den erwŸnschten Erfolg, sie streckte mir eine Menge meiner besten Truppen nieder, und je mehr ich protestierte, desto eifriger warf sie. Dies verdro§ mich zuletzt, und ich erklŠrte, da§ ich ein gleiches tun wŸrde. Ich trat auch wirklich nicht allein nŠher heran, sondern warf im Unmut viel heftiger, da es denn nicht lange wŠhrte, als ein paar ihrer kleinen Zentaurinnen in StŸcke sprangen. In ihrem Eifer bemerkte sie es nicht gleich; aber ich stand versteinert, als die zerbrochnen FigŸrchen sich von selbst wieder zusammenfŸgten, Amazone und Pferd wieder ein Ganzes, auch zugleich všllig lebendig wurden, im Galopp von der goldnen BrŸcke unter die Linden setzten, und, in Karriere hin und wider rennend, sich endlich gegen die Mauer, ich wei§ nicht wie, verloren. Meine schšne Gegnerin war das kaum gewahr worden, als sie in ein lautes Weinen und Jammern ausbrach und rief: da§ ich ihr einen unersetzlichen Verlust zugefŸgt, der weit grš§er sei, als es sich aussprechen lasse. Ich aber, der ich schon erbost war, freute mich ihr etwas zu Leide zu tun, und warf noch ein paar mir Ÿbrig gebliebene Achatkugeln blindlings mit Gewalt unter ihren Heerhaufen. UnglŸcklicherweise traf ich die Kšnigin, die bisher bei unserm regelmŠ§igen Spiel ausgenommen gewesen. Sie sprang in StŸcken, und ihre nŠchsten Adjutanten wurden auch zerschmettert; aber schnell stellten sie sich wieder her und nahmen Rei§aus wie die ersten, galoppierten sehr lustig unter den Linden herum und verloren sich gegen die Mauer.

Meine Gegnerin schalt und schimpfte; ich aber, nun einmal im Gange, bŸckte mich, einige Achatkugeln aufzuheben, welche an den goldnen Spie§en herumrollten. Mein ergrimmter Wunsch war, ihr ganzes Heer zu vernichten; sie dagegen, nicht faul, sprang auf mich los und gab mir eine Ohrfeige, da§ der Kopf summte. Ich, der ich immer gehšrt hatte, auf die Ohrfeige eines MŠdchens gehšre ein derber Ku§, fa§te sie bei den Ohren und kŸ§te sie zu wiederholten Malen. Sie aber tat einen solchen durchdringenden


Schrei, der mich selbst erschreckte; ich lie§ sie fahren, und das war mein GlŸck: denn in dem Augenblick wu§te ich nicht, wie mir geschah. Der Boden unter mir fing an zu beben und zu rasseln; ich merkte geschwind, da§ sich die Gitter wieder in Bewegung setzten: allein ich hatte nicht Zeit zu Ÿberlegen, noch konnte ich Fu§ fassen, um zu fliehen. Ich fŸrchtete jeden Augenblick gespie§t zu werden: denn die Partisanen und Lanzen, die sich aufrichteten, zerschlitzten mir schon die Kleider; genug, ich wei§ nicht, wie mir geschah, mir verging Hšren und Sehen, und ich erholte mich aus meiner BetŠubung, von meinem Schrecken am Fu§ einer Linde, wider den mich das aufschnellende Gitter geworfen hatte. Mit dem Erwachen erwachte auch meine Bosheit, die sich noch heftig vermehrte, als ich von drŸben die Spottworte und das GelŠchter meiner Gegnerin vernahm, die an der andern Seite, etwas gelinder als ich, mochte zur Erde gekommen sein. Daher sprang ich auf, und als ich rings um mich das kleine Heer nebst seinem AnfŸhrer Achill, welche das auffahrende Gitter mit mir herŸber geschnellt hatte, zerstreut sah, ergriff ich den Helden zuerst und warf ihn wider einen Baum. Seine Wiederherstellung und seine Flucht gefielen mir nun doppelt, weil sich die Schadenfreude zu dem artigsten Anblick von der Welt gesellte, und ich war im Begriff, die sŠmtlichen Griechen ihm nachzuschicken, als auf einmal zischende Wasser von allen Seiten her, aus Steinen und Mauern, aus Boden und Zweigen hervorsprŸhten, und, wo ich mich hinwendete, kreuzweise auf mich lospeitschten. Mein leichtes Gewand war in kurzer Zeit všllig durchnŠ§t; zerschlitzt war es schon, und ich sŠumte nicht, es mir ganz vom Leibe zu rei§en. Die Pantoffeln warf ich von mir, und so eine HŸlle nach der andern; ja ich fand es endlich bei dem warmen Tage sehr angenehm, ein solches Strahlbad Ÿber mich ergehen zu lassen. Ganz nackt schritt ich nun gravitŠtisch zwischen diesen willkommnen GewŠssern einher, und dachte, mich lange so wohl befinden zu kšnnen. Mein Zorn verkŸhlte sich, und ich wŸnschte nichts


mehr als eine Versšhnung mit meiner kleinen Gegnerin. Doch in einem Nu schnappten die Wasser ab, und ich stand nun feucht auf einem durchnŠ§ten Boden. Die Gegenwart des alten Mannes, der unvermutet vor mich trat, war mir keineswegs willkommen; ich hŠtte gewŸnscht, mich, wo nicht verbergen, doch wenigstens verhŸllen zu kšnnen. Die BeschŠmung, der Frostschauer, das Bestreben, mich einigerma§en zu bedecken, lie§en mich eine hšchst erbŠrmliche Figur spielen; der Alte benutzte den Augenblick, um mir die grš§esten VorwŸrfe zu machen. "Was hindert mich," rief er aus, "da§ ich nicht eine der grŸnen Schnuren ergreife und sie, wo nicht Eurem Hals, doch Eurem RŸcken anmesse!" Diese Drohung nahm ich hšchst Ÿbel. "HŸtet Euch," rief ich aus, "vor solchen Worten, ja nur vor solchen Gedanken: denn sonst seid Ihr und Eure Gebieterinnen verloren!" - "Wer bist denn du," fragte er trutzig, "da§ du so reden darfst?" - "Ein Liebling der Gštter," sagte ich, "von dem es abhŠngt, ob jene Frauenzimmer wŸrdige Gatten finden und ein glŸckliches Leben fŸhren sollen, oder ob er sie will in ihrem Zauberkloster verschmachten und veralten lassen." - Der Alte trat einige Schritte zurŸck. "Wer hat dir das offenbart?" fragte er erstaunt und bedenklich. - "Drei €pfel," sagte ich, "drei Juwelen." - "Und was verlangst du zum Lohn?" rief er aus. - "Vor allen Dingen das kleine Geschšpf," versetzte ich, "die mich in diesen verwŸnschten Zustand gebracht hat." - Der Alte warf sich vor mir nieder, ohne sich vor der noch feuchten und schlammigen Erde zu scheuen; dann stand er auf, ohne benetzt zu sein, nahm mich freundlich bei der Hand, fŸhrte mich in jenen Saal, kleidete mich behend wieder an, und bald war ich wieder sonntŠgig geputzt und frisiert wie vorher. Der Pfšrtner sprach kein Wort weiter aber ehe er mich Ÿber die Schwelle lie§, hielt er mich an, und deutete mir auf einige GegenstŠnde an der Mauer drŸben Ÿber den Weg, indem er zugleich rŸckwŠrts auf das Pfšrtchen zeigte. Ich verstand ihn wohl, er wollte nŠmlich, da§ ich mir die GegenstŠnde


einprŠgen mšchte, um das Pfšrtchen desto gewisser wieder zu finden, welches sich unversehens hinter mir zuschlo§. Ich merkte mir nun wohl, was mir gegenŸber stand. †ber eine hohe Mauer ragten die €ste uralter Nu§bŠume herŸber, und bedeckten zum Teil das Gesims, womit sie endigte. Die Zweige reichten bis an eine steinerne Tafel, deren verzierte Einfassung ich wohl erkennen, deren Inschrift ich aber nicht lesen konnte. Sie ruhte auf dem Kragstein einer Nische, in welcher ein kŸnstlich gearbeiteter Brunnen, von Schale zu Schale, Wasser in ein gro§es Becken go§, das wie einen kleinen Teich bildete und sich in die Erde verlor. Brunnen, Inschrift, Nu§bŠume alles stand senkrecht Ÿber einander; ich wollte es malen, wie ich es gesehn habe.

Nun lŠ§t sich wohl denken, wie ich diesen Abend und manchen folgenden Tag zubrachte, und wie oft ich mir diese Geschichten, die ich kaum selbst glauben konnte wiederholte. Sobald mir's nur irgend mšglich war, ging ich wieder zur "schlimmen Mauer," um wenigstens jene Merkzeichen im GedŠchtnis anzufrischen und das kšstliche Pfšrtchen zu beschauen. Allein zu meinem grš§ten Erstaunen fand ich alles verŠndert. Nu§bŠume ragten wohl Ÿber die Mauer, aber sie standen nicht unmittelbar neben einander. Eine Tafel war auch eingemauert, aber von den BŠumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leserlichen Inschrift. Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist; so da§ ich beinahe glauben mu§, das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen: denn von dem Pfšrtchen findet sich Ÿberhaupt gar keine Spur. Das einzige, was mich tršstet, ist die Bemerkung, da§ jene drei GegenstŠnde stets den Ort zu verŠndern scheinen: denn bei wiederholtem Besuch jener Gegend glaube ich bemerkt zu haben, da§ die Nu§bŠume etwas zusammenrŸcken, und da§ Tafel und Brunnen sich ebenfalls zu nŠhern scheinen. Wahrscheinlich, wenn alles wieder zusammentrifft, wird auch die Pforte von neuem sichtbar sein, und ich werde mein mšgliches tun, das


Abenteuer wieder anzuknŸpfen. Ob ich euch erzŠhlen kann, was weiter begegnet, oder ob es mir ausdrŸcklich verboten wird, wei§ ich nicht zu sagen.

 

Dieses MŠrchen, von dessen Wahrheit meine Gespielen sich leidenschaftlich zu Ÿberzeugen trachteten, erhielt gro§en Beifall. Sie besuchten, jeder allein, ohne es mir oder den andern zu vertrauen, den angedeuteten Ort, fanden die Nu§bŠume, die Tafel und den Brunnen, aber immer entfernt von einander: wie sie zuletzt bekannten, weil man in jenen Jahren nicht gern ein Geheimnis verschweigen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der eine versicherte: die GegenstŠnde rŸckten nicht vom Flecke und blieben immer in gleicher Entfernung unter einander. Der zweite behauptete: sie bewegten sich, aber sie entfernten sich von einander. Mit diesem war der dritte Ÿber den ersten Punkt der Bewegung einstimmig, doch schienen ihm Nu§bŠume, Tafel und Brunnen sich vielmehr zu nŠhern. Der vierte wollte noch was MerkwŸrdigeres gesehen haben: die Nu§bŠume nŠmlich in der Mitte, die Tafel aber und den Brunnen auf den entgegengesetzten Seiten, als ich angegeben. In Absicht auf die Spur des Pfšrtchens variierten sie auch. Und so gaben sie mir ein frŸhes Beispiel, wie die Menschen von einer ganz einfachen und leicht zu eršrternden Sache die widersprechendsten Ansichten haben und behaupten kšnnen. Als ich die Fortsetzung meines MŠrchens hartnŠckig verweigerte, ward dieser erste Teil šfters wieder begehrt. Ich hŸtete mich, an den UmstŠnden viel zu verŠndern, und durch die Gleichfšrmigkeit meiner ErzŠhlung verwandelte ich in den GemŸtern meiner Zuhšrer die Fabel in Wahrheit.

†brigens war ich den LŸgen und der Verstellung abgeneigt, und Ÿberhaupt keineswegs leichtsinnig; vielmehr zeigte sich der innere Ernst, mit dem ich schon frŸh mich und die Welt betrachtete, auch in meinem €u§ern, und ich ward, oft freundlich, oft auch spšttisch, Ÿber eine gewisse


WŸrde berufen, die ich mir herausnahm. Denn ob es mir zwar an guten ausgesuchten Freunden nicht fehlte, so waren wir doch immer die Minderzahl gegen jene, die uns mit rohem Mutwillen anzufechten ein VergnŸgen fanden, und uns freilich oft sehr unsanft aus jenen mŠrchenhaften selbstgefŠlligen TrŠumen aufweckten, in die wir uns, ich erfindend und meine Gespielen teilnehmend, nur allzugern verloren. Nun wurden wir abermals gewahr, da§ man, anstatt sich der Weichlichkeit und phantastischen VergnŸgungen hinzugeben, wohl eher Ursache habe, sich abzuhŠrten, um die unvermeidlichen †bel entweder zu ertragen, oder ihnen entgegen zu wirken.

Unter die †bungen des Stoizismus, den ich deshalb, so ernstlich als es einem Knaben mšglich ist, bei mir ausbildete, gehšrten auch die Duldungen kšrperlicher Leiden. Unsere Lehrer behandelten uns oft sehr unfreundlich und ungeschickt mit SchlŠgen und PŸffen, gegen die wir uns um so mehr verhŠrteten, als Widersetzlichkeit oder Gegenwirkung aufs hšchste verpšnt war. Sehr viele Scherze der Jugend beruhen auf einem Wettstreit solcher Erfragungen: zum Beispiel, wenn man mit zwei Fingern oder der ganzen Hand sich wechselsweise bis zur BetŠubung der Glieder schlŠgt, oder die bei gewissen Spielen verschuldeten SchlŠge mit mehr oder weniger Gesetztheit aushŠlt; wenn man sich beim Ringen und Balgen durch die Kniffe der HalbŸberwundenen nicht irre machen lŠ§t; wenn man einen aus Neckerei zugefŸgten Schmerz unterdrŸckt, ja selbst das Zwicken und Kitzeln, womit junge Leute so geschŠftig gegen einander sind, als etwas GleichgŸltiges behandelt. Dadurch setzt man sich in einen gro§en Vorteil, der uns von andern so geschwind nicht abgewonnen wird.

Da ich jedoch von einem solchen Leidenstrotz gleichsam Profession machte, so wuchsen die Zudringlichkeiten der andern; und wie eine unartige Grausamkeit keine Grenzen kennt, so wu§te sie mich doch aus meiner Grenze hinauszutreiben. Ich erzŠhle einen Fall statt vieler. Der Lehrer war


eine Stunde nicht gekommen; solange wir Kinder alle beisammen waren, unterhielten wir uns recht artig; als aber die mir wohlwollenden, nachdem sie lange genug gewartet, hinweggingen, und ich mit drei mi§wollenden allein blieb, so dachten diese mich zu quŠlen, zu beschŠmen und zu vertreiben, sie hatten mich einen Augenblick im Zimmer verlassen und kamen mit Ruten zurŸck, die sie sich aus einem geschwind zerschnittenen Besen verschafft hatten. Ich merkte ihre Absicht, und weil ich das Ende der Stunde nahe glaubte, so setzte ich aus dem Stegreife bei mir fest, mich bis zum Glockenschlage nicht zu wehren, sie fingen darauf unbarmherzig an, mir die Beine und Waden auf das grausamste zu peitschen. Ich rŸhrte mich nicht, fŸhlte aber bald, da§ ich mich verrechnet hatte, und da§ ein solcher Schmerz die Minuten sehr verlŠngert. Mit der Duldung wuchs meine Wut, und mit dem ersten Stundenschlag fuhr ich dem einen, der sich's am wenigsten versah, mit der Hand in die Nackenhaare und stŸrzte ihn augenblicklich zu Boden, indem ich mit dem Knie seinen RŸcken drŸckte; den andern, einen JŸngeren und SchwŠcheren, der mich von hinten anfiel, zog ich bei dem Kopfe durch den Arm und erdrosselte ihn fast, indem ich ihn an mich pre§te. Nun war der Letzte noch Ÿbrig und nicht der SchwŠchste, und mir blieb nur die linke Hand zu meiner Verteidigung. Allein ich ergriff ihn beim Kleide, und durch eine geschickte Wendung von meiner Seite, durch eine Ÿbereilte von seiner brachte ich ihn nieder und stie§ ihn mit dem Gesicht gegen den Boden, sie lie§en es nicht an Bei§en, Kratzen und Treten fehlen; aber ich hatte nur meine Rache im Sinn und in den Gliedern. In dem Vorteil, in dem ich mich befand, stie§ ich sie wiederholt mit den Kšpfen zusammen, sie erhuben zuletzt ein entsetzliches Zetergeschrei, und wir sahen uns bald von allen Hausgenossen umgeben. Die umhergestreuten Ruten und meine Beine, die ich von den StrŸmpfen entblš§te, zeugten bald fŸr mich. Man behielt sich die Strafe vor und lie§ mich aus dem Hause; ich erklŠrte aber, da§ ich kŸnftig bei der


geringsten Beleidigung einem oder dem andern die Augen auskratzen, die Ohren abrei§en, wo nicht gar ihn erdrosseln wŸrde.

Dieser Vorfall, ob man ihn gleich, wie es in kindischen Dingen zu geschehen pflegt, bald wieder verga§ und sogar belachte, war jedoch Ursache, da§ diese gemeinsamen Unterrichtsstunden seltner wurden und zuletzt ganz aufhšrten. Ich war also wieder wie vorher mehr ans Haus gebannt, wo ich an meiner Schwester Cornelia, die nur ein Jahr weniger zŠhlte als ich, eine an Annehmlichkeit immer wachsende Gesellschafterin fand.

Ich will jedoch diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne noch einige Geschichten zu erzŠhlen, wie mancherlei Unangenehmes mir von meinen Gespielen begegnet: denn das ist ja eben das Lehrreiche solcher sittlichen Mitteilungen, da§ der Mensch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom Leben zu erwarten habe, und da§ er, es mag sich ereignen was will, bedenke, dieses widerfahre ihm als Menschen und nicht als einem besonders GlŸcklichen oder UnglŸcklichen. NŸtzt ein solches Wissen nicht viel, um die †bel zu vermeiden, so ist es doch sehr dienlich, da§ wir uns in die ZustŠnde finden, sie ertragen, ja sie Ÿberwinden lernen.

Noch eine allgemeine Bemerkung steht hier an der rechten Stelle, da§ nŠmlich bei dem Emporwachsen der Kinder aus den gesitteten StŠnden ein sehr gro§er Widerspruch zum Vorschein kommt, ich meine den, da§ sie von Eltern und Lehrern angemahnt und angeleitet werden, sich mŠ§ig, verstŠndig, ja vernŸnftig zu betragen, niemanden aus Mutwillen oder †bermut ein Leids zuzufŸgen und alle gehŠssigen Regungen, die sich an ihnen entwickeln mšchten, zu unterdrŸcken; da§ nun aber im Gegenteil, wŠhrend die jungen Geschšpfe mit einer solchen †bung beschŠftigt sind, sie von andern das zu leiden haben, was an ihnen gescholten wird und hšchlich verpšnt ist. Dadurch kommen die armen Wesen zwischen dem Naturzustande und dem der Zivilisation gar erbŠrmlich in die Klemme, und werden, je nachdem


die Charakter sind, entweder tŸckisch, oder gewaltsam aufbrausend, wenn sie eine Zeitlang an sich gehalten haben.

Gewalt ist eher mit Gewalt zu vertreiben; aber ein gut gesinntes, zur Liebe und Teilnahme geneigtes Kind wei§ dem Hohn und dem bšsen Willen wenig entgegenzusetzen. Wenn ich die TŠtlichkeiten meiner Gesellen so ziemlich abzuhalten wu§te, so war ich doch keineswegs ihren Sticheleien und Mi§reden gewachsen, weil in solchen FŠllen derjenige, der sich verteidigt, immer verlieren mu§. Es wurden also auch Angriffe dieser Art, insofern sie zum Zorn reizten, mit physischen KrŠften zurŸckgewiesen, oder sie regten wundersame Betrachtungen in mir auf, die denn nicht ohne Folgen bleiben konnten. Unter andern VorzŸgen mi§gšnnten mir die †belwollenden auch, da§ ich mir in einem VerhŠltnis gefiel, welches aus dem Schulthei§enamt meines Gro§vaters fŸr die Familie entsprang: denn indem er als der Erste unter seinesgleichen dastand, hatte dieses doch auch auf die Seinigen nicht geringen Einflu§. Und als ich mir einmal nach gehaltenem Pfeifergerichte etwas darauf einzubilden schien, meinen Gro§vater in der Mitte des Schšffenrats, eine Stufe hšher als die andern, unter dem Bilde des Kaisers gleichsam thronend gesehen zu haben, so sagte einer der Knaben hšhnisch: ich sollte doch, wie der Pfau auf seine FŸ§e, so auf meinen Gro§vater vŠterlicher Seite hinsehen, welcher Gastgeber zum Weidenhof gewesen und wohl an die Thronen und Kronen keinen Anspruch gemacht hŠtte. Ich erwiderte darauf, da§ ich davon keineswegs beschŠmt sei, weil gerade darin das Herrliche und Erhebende unserer Vaterstadt bestehe, da§ alle BŸrger sich einander gleich halten dŸrften, und da§ einem jeden seine TŠtigkeit nach seiner Art fšrderlich und ehrenvoll sein kšnne. Es sei mir nur leid, da§ der gute Mann schon so lange gestorben: denn ich habe mich auch ihn persšnlich zu kennen šfters gesehnt, sein Bildnis vielmals betrachtet, ja sein Grab besucht und mich wenigstens bei der Inschrift an dem einfachen Denkmal seines vorŸbergegangenen Daseins gefreut, dem ich das


meine schuldig geworden. Ein anderer Mi§wollender, der tŸckischste von allen, nahm jenen ersten bei Seite und flŸsterte ihm etwas in die Ohren, wobei sie mich immer spšttisch ansahen, schon fing die Galle mir an zu kochen, und ich forderte sie auf, laut zu reden. - "Nun, was ist es denn weiter," sagte der erste, "wenn du es wissen willst: dieser da meint, du kšnntest lange herumgehen und suchen, bis du deinen Gro§vater fŠndest." - Ich drohte nun noch heftiger, wenn sie sich nicht deutlicher erklŠren wŸrden, sie brachten darauf ein MŠrchen vor, das sie ihren Eltern wollten abgelauscht haben: mein Vater sei der Sohn eines vornehmen Mannes, und jener gute BŸrger habe sich willig finden lassen, Šu§erlich Vaterstelle zu vertreten, sie hatten die UnverschŠmtheit, allerlei Argumente vorzubringen, z.B. da§ unser Vermšgen blo§ von der Gro§mutter herrŸhre, da§ die Ÿbrigen Seitenverwandten, die sich in Friedberg und sonst aufhielten, gleichfalls ohne Vermšgen seien, und was noch andre solche GrŸnde waren, die ihr Gewicht blo§ von der Bosheit hernehmen konnten. Ich hšrte ihnen ruhiger zu, als sie erwarteten, denn sie standen schon auf dem Sprung zu entfliehen, wenn ich Miene machte, nach ihren Haaren zu greifen. Aber ich versetzte ganz gelassen: auch dieses kšnne mir recht sein. Das Leben sei so hŸbsch, da§ man všllig fŸr gleichgŸltig achten kšnne, wem man es zu verdanken habe: denn es schriebe sich doch zuletzt von Gott her, vor welchem wir alle gleich wŠren, so lie§en sie, da sie nichts ausrichten konnten, die Sache fŸr diesmal gut sein; man spielte zusammen weiter fort, welches unter Kindern immer ein erprobtes Versšhnungsmittel bleibt.

Mir war jedoch durch diese hŠmischen Worte eine Art von sittlicher Krankheit eingeimpft, die im stillen fortschlich. Es wollte mir gar nicht mi§fallen, der Enkel irgend eines vornehmen Herrn zu sein, wenn es auch nicht auf die gesetzlichste Weise gewesen wŠre. Meine SpŸrkraft ging auf dieser FŠhrte, meine Einbildungskraft war angeregt und mein Scharfsinn aufgefordert. Ich fing nun an, die Angaben


jener zu untersuchen, fand und erfand neue GrŸnde der Wahrscheinlichkeit. Ich hatte von meinem Gro§vater wenig reden hšren, au§er da§ sein Bildnis mit dem meiner Gro§mutter in einem Besuchzimmer des alten Hauses gehangen hatte, welche beide, nach Erbauung des neuen, in einer obern Kammer aufbewahrt wurden. Meine Gro§mutter mu§te eine sehr schšne Frau gewesen sein, und von gleichem Alter mit ihrem Manne. Auch erinnerte ich mich, in ihrem Zimmer das Miniaturbild eines schšnen Herrn, in Uniform mit Stern und Orden, gesehen zu haben, welches nach ihrem Tode mit vielen andern kleinen GerŠtschaften, wŠhrend des alles umwŠlzenden Hausbaues, verschwunden war, solche wie manche andre Dinge baute ich mir in meinem kindischen Kopfe zusammen, und Ÿbte frŸhzeitig genug jenes moderne Dichtertalent, welches durch eine abenteuerliche VerknŸpfung der bedeutenden ZustŠnde des menschlichen Lebens sich die Teilnahme der ganzen kultivierten Welt zu verschaffen wei§.

Da ich nun aber einen solchen Fall niemanden zu vertrauen, oder auch nur von ferne nachzufragen mich nŠher zu kommen. Ich hatte nŠmlich ganz bestimmt behaupten hšren, da§ die Sšhne den VŠtern oder Gro§vŠtern oft entschieden Šhnlich zu sein pflegten. Mehrere unserer Freunde, besonders auch Rat Schneider, unser Hausfreund, hatten GeschŠftsverbindungen mit allen FŸrsten und Herren der Nachbarschaft, deren, sowohl regierender als nachgeborner, keine geringe Anzahl am Rhein und Main und in dem Raume zwischen beiden ihre Besitzungen hatten, und die aus besonderer Gunst ihre treuen GeschŠftstrŠger zuweilen wohl mit ihren Bildnissen beehrten. Diese, die ich von Jugend auf vielmals an den WŠnden gesehen, betrachtete ich nunmehr mit doppelter Aufmerksamkeit, forschend, ob ich nicht eine €hnlichkeit mit meinem Vater oder gar mit mir entdecken kšnnte; welches aber zu oft gelang, als da§ es mich zu


einiger Gewi§heit hŠtte fŸhren kšnnen. Denn bald waren es die Augen von diesem, bald die Nase von jenem, die mir auf einige Verwandtschaft zu deuten schienen. So fŸhrten mich diese Kennzeichen trŸglich genug hin und wider. Und ob ich gleich in der Folge diesen Vorwurf als ein durchaus leeres MŠrchen betrachten mu§te, so blieb mir doch der Eindruck, und ich konnte nicht unterlassen, die sŠmtlichen Herren, deren Bildnisse mir sehr deutlich in der Phantasie geblieben waren, von Zeit zu Zeit im stillen bei mir zu mustern und zu prŸfen, so wahr ist es, da§ alles, was den Menschen innerlich in seinem DŸnkel bestŠrkt, seiner heimlichen Eitelkeit schmeichelt, ihm dergestalt hšchlich erwŸnscht ist, da§ er nicht weiter fragt, ob es ihm sonst auf irgend eine Weise zur Ehre oder zur Schmach gereichen kšnne.

Doch anstatt hier ernsthafte, ja rŸgende Betrachtungen einzumischen, wende ich lieber meinen Blick von jenen schšnen Zeiten hinweg: denn wer wŠre imstande, von der FŸlle der Kindheit wŸrdig zu sprechen! Wir kšnnen die kleinen Geschšpfe, die vor uns herumwandeln, nicht anders, als mit VergnŸgen, ja mit Bewunderung ansehen: denn meist versprechen sie mehr als sie halten, und es scheint, als wenn die Natur unter andern schelmischen Streichen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz besonders vorgesetzt, uns zum besten zu haben. Die ersten Organe, die sie Kindern mit auf die Welt gibt, sind dem nŠchsten unmittelbaren Zustande des Geschšpfs gemŠ§; es bedient sich derselben kunst- und anspruchslos, auf die geschickteste Weise zu den nŠchsten Zwecken. Das Kind, an und fŸr sich betrachtet, mit seinesgleichen und in Beziehungen, die seinen KrŠften angemessen sind, scheint so verstŠndig, so vernŸnftig, da§ nichts drŸber geht, und zugleich so bequem, heiter und gewandt, da§ man keine weitre Bildung fŸr dasselbe wŸnschen mšchte. WŸchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hŠtten wir lauter Genies. Aber das Wachstum ist nicht blo§ Entwicklung; die verschiednen organischen Systeme, die den einen Menschen ausmachen, entspringen auseinan-


der, folgen einander, verwandeln sich ineinander, verdrŠngen einander, ja zehren einander auf, so da§ von manchen FŠhigkeiten, von manchen KraftŠu§erungen nach einer gewissen Zeit kaum eine Spur mehr zu finden ist. Wenn auch die menschlichen Anlagen im ganzen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem grš§ten und erfahrensten Kenner schwer sein, sie mit ZuverlŠssigkeit voraus zu verkŸnden; doch kann man hintendrein wohl bemerken, was auf ein KŸnftiges hingedeutet hat.

Keineswegs gedenke ich daher in diesen ersten BŸchern meine Jugendgeschichten všllig abzuschlie§en, sondern ich werde vielmehr noch spŠterhin manchen Faden aufnehmen und fortleiten, der sich unbemerkt durch die ersten Jahre schon hindurchzog. Hier mu§ ich aber bemerken, welchen stŠrkeren Einflu§ nach und nach die Kriegsbegebenheiten auf unsere Gesinnungen und unsre Lebensweise ausŸbten.

Der ruhige BŸrger steht zu den gro§en Weltereignissen in einem wunderbaren VerhŠltnis. Schon aus der Ferne regen sie ihn auf und beunruhigen ihn, und er kann sich, selbst wenn sie ihn nicht berŸhren, eines Urteils, einer Teilnahme nicht enthalten, schnell ergreift er eine Partei, nachdem ihn sein Charakter oder Šu§ere AnlŠsse bestimmen. RŸcken so gro§e Schicksale, so bedeutende VerŠnderungen nŠher, dann bleibt ihm bei manchen Šu§ern Unbequemlichkeiten noch immer jenes innre Mi§behagen, verdoppelt und schŠrft das †bel meistenteils und zerstšrt das noch mšgliche Gute. Dann hat er von Freunden und Feinden wirklich zu leiden, oft mehr von jenen als von diesen, und er wei§ weder, wie er seine Neigung, noch wie er seinen Vorteil wahren und erhalten soll.

Das Jahr 1757, das wir noch in všllig bŸrgerlicher Ruhe verbrachten, wurde dem ungeachtet in gro§er GemŸtsbewegung verlebt. Reicher an Begebenheiten als dieses war vielleicht kein anderes. Die Siege, die Gro§taten, die UnglŸcksfŠlle, die Wiederherstellungen folgten aufeinander, verschlangen sich und schienen sich aufzuheben; immer


aber schwebte die Gestalt Friedrichs, sein Name, sein Ruhm, in kurzem wieder oben. Der Enthusiasmus seiner Verehrer ward immer grš§er und belebter, der Ha§ seiner Feinde bitterer, und die Verschiedenheit der Ansichten, welche selbst Familien zerspaltete, trug nicht wenig dazu bei, die ohnehin schon auf mancherlei Weise von einander getrennten BŸrger noch mehr zu isolieren. Denn in einer Stadt wie Frankfurt, wo drei Religionen die Einwohner in drei ungleiche Massen teilen, wo nur wenige MŠnner, selbst von der herrschenden, zum Regiment gelangen kšnnen, mu§ es gar manchen Wohlhabenden und Unterrichteten geben, der sich auf sich zurŸckzieht und durch Studien und Liebhabereien sich eine eigne und abgeschlossene Existenz bildet. Von solchen wird gegenwŠrtig und auch kŸnftig die Rede sein mŸssen, wenn man sich die Eigenheiten eines Frankfurter BŸrgers aus jener Zeit vergegenwŠrtigen soll.

Mein Vater hatte, sobald er von Reisen zurŸckgekommen, nach seiner eigenen Sinnesart den Gedanken gefa§t, da§ er, um sich zum Dienste der Stadt fŠhig zu machen, eins der subalternen €mter Ÿbernehmen und solches ohne Emolumente fŸhren wolle, wenn man es ihm ohne Ballotage ŸbergŠbe. Er glaubte nach seiner Sinnesart, nach dem Begriffe, den er von sich selbst hatte, im GefŸhl seines guten Willens, eine solche Auszeichnung zu verdienen, die freilich weder gesetzlich noch herkšmmlich war. Daher, als ihm sein Gesuch abgeschlagen wurde, geriet er in €rger und Mi§mut, verschwur, jemals irgend eine Stelle anzunehmen, und um es unmšglich zu machen, verschaffte er sich den Charakter eines Kaiserlichen Rates, den der Schulthei§ und die Šltesten Schšffen als einen besonderen Ehrentitel tragen. Dadurch hatte er sich zum Gleichen der Obersten gemacht und konnte nicht mehr von unten anfangen. Derselbe Beweggrund fŸhrte ihn auch dazu, um die Šlteste Tochter des Schulthei§en zu werben, wodurch er auch auf dieser Seite von dem Rate ausgeschlossen werd. Er gehšrte nun unter die ZurŸckgezogenen, welche niemals unter sich eine SozietŠt machen. Sie


stehen so isoliert gegen einander wie gegen das Ganze, und um so mehr, als sich in dieser Abgeschiedenheit das EigentŸmliche der Charakter immer schroffer ausbildet. Mein Vater mochte sich auf Reisen und in der freien Welt, die er gesehen, von einer elegantern und liberalern Lebensweise einen Begriff gemacht haben, als sie vielleicht unter seinen MitbŸrgern gewšhnlich war. Zwar fand er darin VorgŠnger und Gesellen.

Der Name von Uffenbach ist bekannt. Ein Schšff von Uffenbach lebte damals in gutem Ansehen. Er war in Italien gewesen, hatte sich besonders auf Musik gelegt, sang einen angenehmen Tenor, und da er eine schšne Sammlung von Musikalien mitgebracht hatte, wurden Konzerte und Oratorien bei ihm aufgefŸhrt. Weil er nun dabei selbst sang und die Musiker begŸnstigte, so fand man es nicht ganz seiner WŸrde gemŠ§, und die eingeladenen GŠste sowohl als die Ÿbrigen Landsleute erlaubten sich darŸber manche lustige Anmerkung.

Ferner erinnere ich mich eines Barons von HŠckel, eines reichen Edelmanns, der, verheiratet aber kinderlos, ein schšnes Haus in der Antoniusgasse bewohnte, mit allem Zubehšr eines anstŠndigen Lebens ausgestattet. Auch besa§ er gute GemŠlde, Kupferstiche, Antiken und manches andre, wie es bei Sammlern und Liebhabern zusammenflie§t. Von Zeit zu Zeit lud er die Honoratioren zum Mittagessen, und war auf eine eigne achtsame Weise wohltŠtig, indem er in seinem Hause die Armen kleidete, ihre alten Lumpen aber zurŸckbehielt, und ihnen nur unter der Bedingung ein wšchentliches Almosen reichte, da§ sie in jenen geschenkten Kleidern sich ihm jedesmal sauber und ordentlich vorstellten. Ich erinnere mich seiner nur dunkel als eines freundlichen, wohlgebildeten Mannes; desto deutlicher aber seiner Auktion, der ich vom Anfang bis zu Ende beiwohnte, und teils auf Befehl meines Vaters, teils aus eigenem Antrieb manches erstand, was sich noch unter meinen Sammlungen befindet.


FrŸher, und von mir kaum noch mit Augen gesehen, machte Johann Michael von Loen in der literarischen Welt so wie in Frankfurt ziemliches Aufsehen. Nicht von Frankfurt gebŸrtig, hatte er sich daselbst niedergelassen und war mit der Schwester meiner Gro§mutter Textor, einer gebornen Lindheimer, verheiratet. Bekannt mit der Hof- und Staatswelt, und eines erneuten Adels sich erfreuend, erlangte er dadurch einen Namen, da§ er in die verschiedenen Regungen, welche in Kirche und Staat zum Vorschein kamen, einzugreifen den Mut hatte. Er schrieb den "Grafen von Rivera," einen didaktischen Roman, dessen Inhalt aus dem zweiten Titel: "oder der ehrliche Mann am Hofe " ersichtlich ist. Dieses Werk wurde gut aufgenommen, weil es auch von den Hšfen, wo sonst nur Klugheit zu Hause ist, Sittlichkeit verlangte; und so brachte ihm seine Arbeit Beifall und Ansehen. Ein zweites Werk sollte dagegen desto gefŠhrlicher fŸr ihn werden. Er schrieb: "Die einzige wahre Religion," ein Buch, das die Absicht hatte, Toleranz, besonders zwischen Lutheranern und Calvinisten, zu befšrdern. HierŸber kam er mit den Theologen in Streit; besonders schrieb Dr. Benner in Gie§en gegen ihn. Von Loen erwiderte; der Streit wurde heftig und persšnlich, und die daraus entspringenden Unannehmlichkeiten veranla§ten den Verfasser, die Stelle eines PrŠsidenten zu Lingen anzunehmen, die ihm Friedrich der Zweite anbot, der in ihm einen aufgeklŠrten, und den Neuerungen, die in Frankreich schon viel weiter gediehen waren, nicht abgeneigten vorurteilsfreien Mann zu erkennen glaubte, seine ehemaligen Landsleute, die er mit einigem Verdru§ verlassen, behaupteten, da§ er dort nicht zufrieden sei, ja nicht zufrieden sein kšnne, weil sich ein Ort wie Lingen mit Frankfurt keineswegs messen dŸrfe. Mein Vater zweifelte auch an dem Behagen des PrŠsidenten, und versicherte, der gute Oheim hŠtte besser getan, sich mit dem Kšnige nicht einzulassen, weil es Ÿberhaupt gefŠhrlich sei, sich demselben zu nŠhern, so ein au§erordentlicher Herr er auch Ÿbrigens sein mšge. Denn man habe ja gesehen, wie schmŠhlich der


berŸhmte Voltaire, auf Requisition des preu§ischen Residenten Freitag, in Frankfurt sei verhaftet worden, da er doch vorher so hoch in Gunsten gestanden und als des Kšnigs Lehrmeister in der franzšsischen Poesie anzusehen gewesen. Es mangelte bei solchen Gelegenheiten nicht an Betrachtungen und Beispielen, um vor Hšfen und Herrendienst zu warnen, wovon sich Ÿberhaupt ein geborner Frankfurter kaum einen Begriff machen konnte.

Eines vortrefflichen Mannes, Doktor Orth, will ich nur dem Namen nach gedenken, indem ich verdienten Frankfurtern hier nicht sowohl ein Denkmal zu errichten habe, vielmehr derselben nur insofern erwŠhne, als ihr Ruf oder ihre Persšnlichkeit auf mich in den frŸhsten Jahren einigen Einflu§ gehabt. Doktor Orth war ein reicher Mann und gehšrte auch unter die, welche niemals teil am Regimente genommen, ob ihn gleich seine Kenntnisse und Einsichten wohl dazu berechtigt hŠtten. Die deutschen und besonders die frankfurtischen AltertŸmer sind ihm sehr viel schuldig geworden; er gab die Anmerkungen zu der sogenannten "Frankfurter Reformation " heraus, ein Werk, in welchem die Statuten der Reichsstadt gesammelt sind. Die historischen Kapitel desselben habe ich in meinen JŸnglingsjahren flei§ig studiert.

Von Ochsenstein, der Šltere jener drei BrŸder, deren ich oben als unserer Nachbarn gedacht, war, bei seiner eingezogenen Art zu sein, wŠhrend seines Lebens nicht merkwŸrdig geworden, desto merkwŸrdiger aber nach seinem Tode, indem er eine Verordnung hinterlie§, da§ er morgens frŸh ganz im stillen und ohne Begleitung und Gefolg, von Handwerksleuten zu Grabe gebracht sein wolle. Es geschah, und diese Handlung erregte in der Stadt, wo man an prunkhafte LeichenbegŠngnisse gewšhnt war, gro§es Aufsehn. Alle diejenigen, die bei solchen Gelegenheiten einen herkšmmlichen Verdienst hatten, erhuben sich gegen die Neuerung. Allein der wackre Patrizier fand Nachfolger in allen StŠnden, und ob man schon dergleichen BegŠngnisse spottweise Ochsenleichen nannte, so nahmen sie doch zum Besten


mancher wenig bemittelten Familien Ÿberhand, und die PrunkbegŠngnisse verloren sich immer mehr. Ich fŸhre diesen Umstand an, weil er eins der frŸhern Symptome jener Gesinnungen von Demut und Gleichstellung darbietet, die sich in der zweiten HŠlfte des vorigen Jahrhunderts von obenherein auf so manche Weise gezeigt haben und in so unerwartete Wirkungen ausgeschlagen sind.

Auch fehlte es nicht an Liebhabern des Altertums. Es fanden sich GemŠldekabinette, Kupferstichsammlungen, besonders aber wurden vaterlŠndische MerkwŸrdigkeiten mit Eifer gesucht und aufgehoben. Die Šlteren Verordnungen und Mandate der Reichsstadt, von denen keine Sammlung veranstaltet war, wurden in Druck und Schrift sorgfŠltig aufgesucht, nach der Zeitfolge geordnet und als ein Schatz vaterlŠndischer Rechte und Herkommen mit Ehrfurcht verwahrt. Auch die Bildnisse von Frankfurtern, die in gro§er Anzahl existierten, wurden zusammengebracht und machten eine besondre Abteilung der Kabinette.

Solche MŠnner scheint mein Vater sich Ÿberhaupt zum Muster genommen zu haben. Ihm fehlte keine der Eigenschaften, die zu einem rechtlichen und angesehnen BŸrger gehšren. Auch brachte er, nachdem er sein Haus erbaut, seine Besitzungen von jeder Art in Ordnung. Eine vortreffliche Landkartensammlung der Schenkischen und anderer damals vorzŸglicher geographischen BlŠtter, jene oberwŠhnten Verordnungen und Mandate, jene Bildnisse, ein Schrank alter Gewehre, ein Schrank merkwŸrdiger venezianischer GlŠser, Becher und Pokale, Naturalien, Elfenbeinarbeiten, Bronzen und hundert andere Dinge wurden gesondert und aufgestellt, und ich verfehlte nicht, bei vorfallenden Auktionen mir jederzeit einige AuftrŠge zu Vermehrung des Vorhandenen zu erbitten.

Noch einer bedeutenden Familie mu§ ich gedenken, von der ich seit meiner frŸhsten Jugend viel Sonderbares vernahm und von einigen ihrer Glieder selbst noch manches Wunderbare erlebte; es war die Senckenbergische. Der Vater,


von dem ich wenig zu sagen wei§, war ein wohlhabender Mann. Er hatte drei Sšhne, die sich in ihrer Jugend schon durchgŠngig als Sonderlinge auszeichneten. Dergleichen wird in einer beschrŠnkten Stadt, wo sich niemand weder im Guten noch im Bšsen hervortun soll, nicht zum besten aufgenommen. Spottnamen und seltsame, sich lang im GedŠchtnis erhaltende MŠrchen sind meistens die Frucht einer solchen Sonderbarkeit. Der Vater wohnte an der Ecke der Hasengasse, die von dem Zeichen des Hauses, das einen, wo nicht gar drei Hasen vorstellt, den Namen fŸhrte. Man nannte daher diese drei BrŸder nur die drei Hasen, welchen Spitznamen sie lange Zeit nicht los wurden. Allein, wie gro§e VorzŸge sich oft in der Jugend durch etwas Wunderliches und Unschickliches ankŸndigen, so geschah es auch hier. Der Šlteste war der nachher so rŸhmlich bekannte Reichshofrat von Senckenberg. Der zweite ward in den Magistrat aufgenommen und zeigte vorzŸgliche Talente, die er aber auf eine rabulistische, ja verruchte Weise, wo nicht zum Schaden seiner Vaterstadt, doch wenigstens seiner Kollegen in der Folge mi§brauchte. Der dritte Bruder, ein Arzt und ein Mann von gro§er Rechtschaffenheit, der aber wenig und nur in vornehmen HŠusern praktizierte, behielt bis in sein hšchstes Alter immer ein etwas wunderliches €u§ere. Er war immer sehr nett gekleidet, und man sah ihn nie anders auf der Stra§e als in Schuh und StrŸmpfen und einer wohlgepuderten LockenperŸcke, den Hut unterm Arm. Er ging schnell, doch mit einem seltsamen Schwanken vor sich hin, so da§ er bald auf dieser bald auf jener Seite der Stra§e sich befand, und im Gehen ein Zickzack bildete. Spottvšgel sagten: er suche durch diesen abweichenden Schritt den abgeschiedenen Seelen aus dem Wege zu gehen, die ihn in grader Linie wohl verfolgen mšchten, und ahme diejenigen nach, die sich vor einem Krokodil fŸrchten. Doch aller dieser Scherz und manche lustige Nachrede verwandelte sich zuletzt in Ehrfurcht gegen ihn, als er seine ansehnliche Wohnung mit Hof, Garten und allem Zubehšr, auf der Eschen-


heimer Gasse, zu einer medizinischen Stiftung widmete, wo neben der Anlage eines blo§ fŸr Frankfurter BŸrger bestimmten Hospitals ein botanischer Garten, ein anatomisches Theater, ein chemisches Laboratorium, eine ansehnliche Bibliothek und eine Wohnung fŸr den Direktor eingerichtet werd, auf eine Weise, deren keine Akademie sich hŠtte schŠmen dŸrfen.

Ein andrer vorzŸglicher Mann, dessen Persšnlichkeit nicht sowohl als seine Wirkung in der Nachbarschaft und seine Schriften einen sehr bedeutenden Einflu§ auf mich gehabt haben, war Karl Friedrich von Moser, der seiner GeschŠftstŠtigkeit wegen in unserer Gegend immer genannt wurde. Auch er hatte einen grŸndlich-sittlichen Charakter der, weil die Gebrechen der menschlichen Natur ihm wohl manchmal zu schaffen machten, ihn sogar zu den sogenannten Frommen hinzog; und so wollte er, wie von Loen das Hofleben, ebenso das GeschŠftsleben einer gewissenhafteren Behandlung entgegenfŸhren. Die gro§e Anzahl der kleinen deutschen Hšfe stellte eine Menge von Herren und Dienern dar, wovon die ersten unbedingten Gehorsam verlangten und die andern meistenteils nur nach ihren †berzeugungen wirken und dienen wollten. Es entstand daher ein ewiger Konflikt und schnelle VerŠnderungen und Explosionen, weil die Wirkungen des unbedingten Handelns im kleinen viel geschwinder merklich und schŠdlich werden als im gro§en. Viele HŠuser waren verschuldet und kaiserliche Debitkommissionen ernannt; andre fanden sich langsamer oder geschwinder auf demselben Wege, wobei die Diener entweder gewissenlos Vorteil zogen, oder gewissenhaft sich unangenehm und verha§t machten. Moser wollte als Staatsund GeschŠftsmann wirken; und hier gab sein ererbtes, bis zum Metier ausgebildetes Talent ihm eine entschiedene Ausbeute, aber er wollte auch zugleich als Mensch und BŸrger handeln und seiner sittlichen WŸrde so wenig als mšglich vergeben, sein "Herr und Diener," sein "Daniel in der Lšwengrube," seine "Reliquien " schildern durchaus die Lage, in wel-


cher er sich zwar nicht gefoltert, aber doch immer geklemmt fŸhlte. Sie deuten sŠmtlich auf eine Ungeduld in einem Zustand, mit dessen VerhŠltnissen man sich nicht versšhnen und den man doch nicht los werden kann. Bei dieser Art zu denken und zu empfinden mu§te er freilich mehrmals andere Dienste suchen, an welchen es ihm seine gro§e Gewandtheit nicht fehlen lie§. Ich erinnere mich seiner als eines angenehmen, beweglichen und dabei zarten Mannes.

Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopstock auch schon auf uns eine gro§e Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann so wunderlich hei§en kšnne; doch gewšhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeutung dieser Silben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die frŸheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und gerŸhmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim fŸr poetische Werke unerlŠ§lich. Canitz, Hagedorn, Drollinger, Geliert, Creuz, Haller standen in schšnen FranzbŠnden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neukirchs "Telemach," Koppens "Befreites Jerusalem " und andre †bersetzungen. Ich hatte diese sŠmtlichen BŠnde von Kindheit auf flei§ig durchgelesen und teilweise memoriert, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft šfters aufgerufen wurde. Eine verdrie§liche Epoche im Gegenteil eršffnete sich fŸr meinen Vater, als durch Klopstocks "Messias " Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der šffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehŸtet, dieses Werk anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwŠrzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu.

Auf diesen geschŠftstŠtigen Mann, welcher wenig las, hatte der "Messias " gleich bei seiner Erscheinung einen mŠchtigen Eindruck gemacht. Diese so natŸrlich ausgedrŸckten und doch so schšn veredelten frommen GefŸhle, diese gefŠllige Sprache, wenn man sie auch nur fŸr harmonische Prosa gelten lie§, hatten den Ÿbrigens trocknen GeschŠftsmann so ge-


wonnen, da§ er die zehn ersten GesŠnge, denn von diesen ist eigentlich die Rede, als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und solches alle Jahre einmal in der Karwoche, in welcher er sich von allen GeschŠften zu entbinden wu§te, fŸr sich im stillen durchlas und sich daran fŸrs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er seine Empfindungen seinem alten Freunde mitzuteilen; allein er fand sich sehr bestŸrzt, als er eine unheilbare Abneigung vor einem Werke von so kšstlichem Gehalt, wegen einer, wie es ihm schien, gleichgŸltigen Šu§ern Form, gewahr werden mu§te. Es fehlte, wie sich leicht denken lŠ§t, nicht an Wiederholung des GesprŠchs Ÿber diesen Gegenstand; aber beide Teile entfernten sich immer weiter von einander, es gab heftige Szenen, und der nachgiebige Mann lie§ sich endlich gefallen, von seinem Lieblingswerke zu schweigen, damit er nicht zugleich einen Jugendfreund und eine gute Sonntagssuppe verlšre.

Proselyten zu machen ist der natŸrlichste Wunsch eines jeden Menschen, und wie sehr fand sich unser Freund im Stillen belohnt, als er in der Ÿbrigen Familie fŸr seinen Heiligen so offen gesinnte GemŸter entdeckte. Das Exemplar, das er jŠhrlich nur eine Woche brauchte, war uns fŸr die Ÿbrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heimlich, und wir Geschwister bemŠchtigten uns desselben, wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als mšglich ins GedŠchtnis zu fassen.

Portias Traum rezitierten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde GesprŠch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rote Meer gestŸrzt worden, hatten wir uns geteilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Teil gekommen, die andere, um ein wenig klŠglicher, Ÿbernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar grŠ§lichen aber doch wohlklingenden VerwŸnschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen hšllischen Redensarten zu begrŸ§en.


Es war ein Samstagsabend im Winter- der Vater lie§ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags frŸh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu kšnnen - wir sa§en auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, wŠhrend der Barbier einseifte, unsere herkšmmlichen FlŸche ziemlich leise. Nun so hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen HŠnden zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:

Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,

Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,

Hilf mir! ich leide die Pein des rŠchenden ewigen Todes!...

Vormals konnt' ich mit hei§em, mit grimmigem Hasse dich hassen!

Jetzt vermag ich's nicht mehr! Auch dies ist stechender Jammer!

 

Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fŸrchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte: O wie bin ich zermalmt!.. Der gute Chirurgus erschrak und go§ dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen gro§en Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des UnglŸcks, das hŠtte entstehen kšnnen, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wŠre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das UnglŸck, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als da§ man sie nicht aufs neue hŠtte verrufen und verbannen sollen.

So pflegen Kinder und Volk das Gro§e, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Posse zu verwandeln; und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es auszuhalten und zu ertragen!


 

Drittes Buch

 

Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persšnlichen GlŸckwŸnschungen fŸr die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Gšnnern und Freunden einen Augenblick freundlich und hšflich zu sein. FŸr uns Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Gro§vaters an diesem Tage ein hšchst erwŸnschter Genu§. Mit dem frŸhsten Morgen waren die Enkel schon daselbst versammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Klarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das MilitŠr, die Stadtmusici und wer sonst alles ertšnen lie§, zu vernehmen. Die versiegelten und Ÿberschriebenen Neujahrsgeschenke wurden von den Kindern unter die geringern Gratulanten ausgeteilt, und wie der Tag wuchs, so vermehrte sich die Anzahl der Honoratioren. Erst erschienen die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren vom Rate selbst verfehlten nicht ihren Schulthei§ zu begrŸ§en, und eine auserwŠhlte Anzahl wurde abends in Zimmern bewirtet, welche das ganze Jahr Ÿber kaum sich šffneten. Die Torten, Biskuitkuchen, Marzipane, der sŸ§e Wein Ÿbte den grš§ten Reiz auf die Kinder aus, wozu noch kam, da§ der Schulthei§ sowie die beiden Burgemeister aus einigen Stiftungen jŠhrlich etwas Silberzeug erhielten, welches denn den Enkeln und Paten nach einer gewissen Abstufung verehrt werd; genug, es fehlte diesem Feste im kleinen an nichts, was die grš§ten zu verherrlichen pflegt.

Der Neujahrstag 1759 kam heran, fŸr uns Kinder erwŸnscht und vergnŸglich wie die vorigen, aber den altern Personen bedenklich und ahnungsvoll. Die DurchmŠrsche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten


sich šfters und hŠufig, aber doch am hŠufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichsstŠdtischer Sitte posaunte der TŸrmer des Hauptturms, so oft Truppen heranrŸckten, und an diesem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhšren, welches ein Zeichen war, da§ grš§ere HeereszŸge von mehreren Seiten in Bewegung seien. Wirklich zogen sie auch in grš§eren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man lief, sie vorbeipassieren zu sehen, sonst war man gewohnt, da§ sie nur in kleinen Partien durchmarschierten; diese aber vergrš§erten sich nach und nach, ohne da§ man es verhindern konnte oder wollte. Genug, am 2. Januar, nachdem eine Kolonne durch Sachsenhausen Ÿber die BrŸcke durch die Fahrgasse bis an die Konstablerwache gelangt war, machte sie Halt, ŸberwŠltigte das kleine, sie durchfŸhrende Kommando, nahm Besitz von gedachter Wache, zog die Zeil hinunter, und nach einem geringen Widerstand mu§te sich auch die Hauptwache ergeben. Augenblicks waren die friedlichen Stra§en in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Dort verweilten und biwakierten die Truppen, bis durch regelmŠ§ige Einquartierung fŸr ihr Unterkommen gesorgt wŠre.

Diese unerwartete, seit vielen Jahren unerhšrte Last drŸckte die behaglichen BŸrger gewaltig, und niemanden konnte sie beschwerlicher sein als dem Vater, der in sein kaum vollendetes Haus fremde milit'rische Bewohner aufnehmen, ihnen seine wohlausgeputzten und meist verschlossenen Staatszimmer einrŠumen, und das, was er so genau zu ordnen und zu regieren pflegte, fremder WillkŸr preisgeben sollte; er, ohnehin preu§isch gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in seinen Zimmern belagert sehen: es war das Traurigste was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte. WŠre es ihm jedoch mšglich gewesen, die Sache leichter yu nehmen, da er gut franzšsisch sprach und sich im Leben wohl mit WŸrde und Anmut betragen konnte, so hŠtte er sich und uns manche trŸbe Stunde ersparen mšgen; denn man quartierte bei uns den Kšnigsleutnant, der obgleich MilitŠrperson, doch nur die ZivilvorfŠlle, die Streitigkeiten zwischen Soldaten und


BŸrgern, Schuldensachen und HŠndel zu schlichten hatte. Es war Graf Thoranc, von Grasse in der Provence unweit Antibes gebŸrtig, eine lange, hagre, ernste Gestalt, das Gesicht durch die Blattern sehr entstellt, mit schwarzen feurigen Augen, und von einem wŸrdigen zusammengenommenen Betragen. Gleich sein Eintritt war fŸr den Hausbewohner gŸnstig, Man sprach von den verschiedenen Zimmern, welche teils abgegeben werden, teils der Familie verbleiben sollten, und als der Graf ein GemŠldezimmer erwŠhnen hšrte, so erbat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit Kerzen die Bilder wenigstens flŸchtig zu besehen. Er hatte an diesen Dingen eine Ÿbergro§e Freude, bezeigte sich gegen den ihn begleitenden Vater auf das verbindlichste, und als er vernahm, da§ die meisten KŸnstler noch lebten, sich in Frankfurt und in der Nachbarschaft aufhielten, so versicherte er, da§ er nichts mehr wŸnsche, als sie baldigst kennen zu lernen und sie zu beschŠftigen.

Aber auch diese AnnŠherung von seiten der Kunst vermochte nicht die Gesinnung meines Vaters zu Šndern, noch seinen Charakter zu beugen. Er lie§ geschehen was er nicht verhindern konnte, hielt sich aber in unwirksamer Entfernung, und das Au§erordentliche was nun um ihn vorging, war ihm bis auf die geringste Kleinigkeit unertrŠglich.

Graf Thoranc indessen betrug sich musterhaft. Nicht einmal seine Landkarten wollte er an die WŠnde genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu verderben. Seine Leute waren gewandt, still und ordentlich; aber freilich, da den ganzen Tag und einen Teil der Nacht nicht Ruhe bei ihm ward, da ein Klagender dem anderen folgte, Arrestanten gebracht und fortgefŸhrt, alle Offiziere und Adjutanten vorgelassen wurden, da der Graf noch Ÿberdies tŠglich offne Tafel hielt: so gab es in dem mŠ§ig gro§en, nur fŸr eine Familie eingerichteten Hause, das nur eine durch alle Stockwerke unverschlossen durchgehende Treppe hatte, eine Bewegung und ein Gesumme, wie in einem Bienenkorbe,obgleich alles sehr gemŠ§igt, ernsthaft und streng zuging.


Zum Vermittler zwischen einem verdrie§lichen, tŠglich mehr sich hypochondrisch quŠlenden Hausherrn und einem zwar wohlwollenden aber sehr ernsten und genauen MilitŠrgast fand sich glŸcklicherweise ein behaglicher Dolmetscher, ein schšner, wohlbeleibter, heitrer Mann, der BŸrger von Frankfurt war und gut franzšsisch sprach, sich in alles zu schicken wu§te und mit mancherlei kleinen Unannehmlichkeiten nur seinen Spa§ trieb. Durch diesen hatte meine Mutter dem Grafen ihre Lage bei dem GemŸtszustande ihres Gatten vorstellen lassen; er hatte die Sache so klŸglich ausgemalt, das neue noch nicht einmal gnaz eingerichtete Haus, die natŸrliche ZurŸckgezogenheit des Besitzers, die BeschŠftigung mit der Erziehung seiner Familie und was sich alles sonst noch sagen lie§, zu bedenken gegeben; so da§ der Graf, der an seiner Stelle auf die hšchste Gerechtigkeit, Unbestechlichkeit und ehrenvollen Wandel den grš§ten Stolz setzte, auch hier sich als Einquartierter sich musterhaft zu betragen vornahm, und es wirklich die einigen Jahre seines Dableibens unter mancherlei UmstŠnden unverbrŸchlich gehalten hat.

Meine Mutter besa§ einige Kenntnis des Italienischen, welche Sprache Ÿberhaupt niemandem von der Familie fremd war; sie entschlo§ sich daher sogleich Franzšsisch zu lernen, zu welchem Zweck der Dolmetscher, dem sie unter diesen stŸrmischen Ereignissen ein kind aus der Taufe gehoben hatte, und der nun auch als Gevatter yu dem Hause eine doppelte Neigung spŸrte, seiner Gevatterin jeden abgemŸ§igten Augenblick schenkte (denn er wohnte grade gegenŸber) und ihr vor allen Dingen diejenigen Phrasen einlernte, welche sie persšnlich dem Grafen vorzutragen habe; welches denn zum besten geriet. Der Graf war geschmeichelt von der MŸhe, welche die Hausfrau sich in ihren Jahren gab, und weil er einen heitern geistreichen Zug in seinem Charakter hatte, auch eine gewisse trockne Galanterie gern ausŸbte, so entstand daraus das beste VerhŠltnis, und die verbŸndeten Gevattern konnten erlangen, was sie wollten.


WŠre es, wie schon gesagt, mšglich gewesen, den Vater zu erheitern, so hŠtte dieser verŠnderte Zustand wenig DrŸckendes gehabt. Der Graf Ÿbte die strengste UneigennŸtzigkeit; selbst Gaben, die seiner Stelle gebŸhrten, lehnte er ab; das Geringste, was einer Bestechung hŠtte Šhnlich sehen kšnnen, wurde mit Zorn, ja mit Strafe weggewiesen; seinen Leuten war aufs strengste befohlen, dem Hausbesitzer nicht die mindesten Unkosten zu machen. Dagegen wurde uns Kindern reichlich vom Nachtische mitgeteilt. Bei dieser Gelegenheit mu§ ich, um von der Unschuld jener Zeiten einen Begriff zu geben, anfŸhren, da§ die Mutter uns eines Tages hšchlich betrŸbte, indem sie das Gefrorene, das man uns von der Tafel sendete, weggo§, weil es ihr unmšglich vorkam, da§ der Magen ein wahrhaftes Eis, wenn es auch noch so durchzuckert sei, vertragen kšnne.

Au§er diesen Leckereien, die wir denn doch allmŠhlich ganz gut genie§en und vertragen lernten, deuchte es uns Kindern auch noch gar behaglich, von genauen Lehrstunden und strenger Zucht einigerma§en entbunden zu sein. Des Vaters Ÿble Laune nahm zu, er konnte sich nicht in das Unvermeidliche ergeben. Wie sehr quŠlte er sich, die Mutter und den Gevatter, die Ratsherren, alle seine Freunde, nur um den Grafen los zu werden! Vergebens stellte man ihm vor, da§ die Gegenwart eines solchen Mannes im Hause, unter den gegebenen UmstŠnden, eine wahre Wohltat sei, da§ ein ewiger Wechsel, es sei nun von Offizieren oder Gemeinen, auf die Umquartierung des Grafen folgen wŸrde. Keins von diesen Argumenten wollte bei ihm greifen. Das GegenwŠrtige schien ihm so unertrŠglich, da§ ihn sein Unmut ein Schlimmeres, das folgen kšnnte, nicht gewahr werden lie§.

Auf diese Weise ward seine TŠtigkeit gelŠhmt, die er sonst hauptsŠchlich auf uns zu wenden gewohnt war. Das, was er uns aufgab, forderte er nicht mehr mit der sonstigen Genauigkeit, und wir suchten, wie es nur mšglich schien, unsere Neugierde an militŠrischen und andern šffentlichen Dingen


zu befriedigen, nicht allein im Hause, sondern auch auf den Stra§en, welches um so leichter anging, da die Tag und Nacht unverschlossene HaustŸre von Schildwachen besetzt war, die sich um das Hin-und Widerlaufen unruhiger Kinder nicht bekŸmmerten.

Die mancherlei Angelegenheiten, die vor dem Richterstuhle des Kšnigslieutenants geschlichtet wurden, hatten dadurch noch einen ganz besondern Reiz, da§ er einen eigenen Wert darauf legte, seine Entscheidungen zugleich mit einer witzigen, geistreichen, heitern Wendung zu begleiten. Was er befahl, war streng gerecht; die Art, wie er es ausdrŸckte, war launig und pikant. Er schien sich den Herzog von Osuna zum Vorbilde genommen zu haben. Es verging kaum ein Tag, da§ der Dolmetscher nicht eine oder die andere solche Anekdote uns und der Mutter zur Aufheiterung erzŠhlte. Es hatte dieser muntere Mann eine kleine Sammlung solcher salomonischen Entscheidungen gemacht; ich erinnere mich aber nur des Eindrucks im allgemeinen, ohne im GedŠchtnis ein Besonderes wieder zu finden.

Den wunderbaren Charakter des Grafen lernte man nach und nach immer mehr kennen. Dieser Mann war sich selbst seiner Eigenheiten aufs deutlichste bewu§t, und weil er gewisse Zeiten haben mochte, wo ihn eine Art von Unmut, Hypochondrie, oder wie man den bšsen DŠmon nennen soll, Ÿberfiel, so zog er sich in solchen Stunden, die sich manchmal zu Tagen verlŠngerten, in sein Zimmer zurŸck, sah niemanden als seinen Kammerdiener, und war selbst in dringenden FŠllen nicht zu bewegen, da§ er Audienz gegeben hŠtte. Sobald aber der bšse Geist von ihm gewichen war, erschien er nach wie vor mild, heiter und tŠtig. Aus den Reden seines Kammerdieners, Saint-Jean, eines kleinen hagern Mannes von muntrer GutmŸtigkeit, konnte man schlie§en, da§ er in frŸhern Jahren, von solcher Stimmung ŸberwŠltigt, gro§es UnglŸck angerichtet, und sich nun vor Šhnlichen Abwegen, bei einer so wichtigen, den Blicken aller Welt ausgesetzten Stelle, zu hŸten ernstlich vornehme.


Gleich in den ersten Tagen der Anwesenheit des Grafen wurden die sŠmtlichen Frankfurter Maler, als Hirt, SchŸtz, Trautmann, Nothnagel, Juncker, zu ihm berufen. Sie zeigten ihre fertigen GemŠlde vor, und der Graf eignete sich das VerkŠufliche zu. Ihm wurde mein hŸbsches helles Giebelzimmer in der Mansarde eingerŠumt und sogleich in ein Kabinett und Atelier umgewandelt: denn er war willens, die sŠmtlichen KŸnstler, vor allen aber Seekatz in Darmstadt, dessen Pinsel ihm besonders bei natŸrlichen und unschuldigen Vorstellungen hšchlich gefiel, fŸr eine ganze Zeit in Arbeit zu setzen. Er lie§ daher von Grasse, wo sein Šlterer Bruder ein schšnes GebŠude besitzen mochte, die sŠmtlichen Ma§e aller Zimmer und Kabinette herbeikommen, Ÿberlegte sodann mit den KŸnstlern die Wandabteilungen, und bestimmte die Grš§e der hiernach zu verfertigenden ansehnlichen …lbilder, welche nicht in Rahmen eingefa§t, sondern als Tapetenteile auf die Wand befestigt werden sollten. Hier ging nun die Arbeit eifrig an. Seekatz Ÿbernahm lŠndliche Szenen, worin die Greise und Kinder, unmittelbar nach der Natur gemalt, ganz herrlich glŸckten; die JŸnglinge wollten ihm nicht ebenso geraten, sie waren meist zu hager; und die Frauen mi§fielen aus der entgegengesetzten Ursache. Denn da er eine kleine dicke, gute aber unangenehme Person zur Frau hatte, die ihm au§er sich selbst nicht wohl ein Modell zulie§, so wollte nichts GefŠlliges zustande kommen. Zudem war er genštigt gewesen, Ÿber das Ma§ seiner Figuren hinauszugehen. Seine BŠume hatten Wahrheit, aber ein kleinliches BlŠtterwerk. Er war ein SchŸler von Brinckmann, dessen Pinsel in StaffeleigemŠlden nicht zu schelten ist.

SchŸtz, der Landschaftmaler, fand sich vielleicht am besten in die Sache. Die Rheingegenden hatte er ganz in seiner Gewalt, sowie den sonnigen Ton, der sie in der schšnen Jahreszeit belebt. Er war nicht ganz ungewohnt, in einem grš§ern Ma§stabe zu arbeiten, und auch da lie§ er es an AusfŸhrung und Haltung nicht fehlen. Er lieferte sehr heitre Bilder.


Trautmann rembrandtisierte einige Auferweckungswunder des Neuen Testaments, und zŸndete nebenher Dšrfer und MŸhlen an. Auch ihm war, wie ich aus den Aufrissen der Zimmer bemerken konnte, ein eigenes Kabinett zugeteilt worden. Hirt malte einige gute Eichen- und BuchenwŠlder. Seine Herden waren lobenswert. Juncker, an die Nachahmung der ausfŸhrlichsten NiederlŠnder gewšhnt, konnte sich am wenigsten in diesen Tapetenstil finden; jedoch bequemte er sich, fŸr gute Zahlung, mit Blumen und FrŸchten manche Abteilung zu verzieren.

Da ich alle diese MŠnner von meiner frŸhsten Jugend an gekannt, und sie oft in ihren WerkstŠtten besucht hatte, auch der Graf mich gern um sich leiden mochte, so war ich bei den Aufgaben, Beratschlagungen und Bestellungen wie auch bei den Ablieferungen gegenwŠrtig, und nahm mir, zumal wenn Skizzen und EntwŸrfe eingereicht wurden, meine Meinung zu eršffnen gar wohl heraus. Ich hatte mir schon frŸher bei GemŠldeliebhabern, besonders aber auf Auktionen, denen ich flei§ig beiwohnte, den Ruhm erworben, da§ ich gleich zu sagen wisse, was irgend ein historisches Bild vorstelle, es sei nun aus der biblischen oder der Profangeschichte oder aus der Mythologie genommen; und wenn ich auch den Sinn der allegorischen Bilder nicht immer traf, so war doch selten jemand gegenwŠrtig, der es besser verstand als ich. So hatte ich auch šfters die KŸnstler vermocht, diesen oder jenen Gegenstand vorzustellen, und solcher Vorteile bediente ich mich gegenwŠrtig mit Lust und Liebe. Ich erinnere mich noch, da§ ich einen umstŠndlichen Aufsatz verfertigte, worin ich zwšlf Bilder beschrieb, welche die Geschichte Josephs darstellen sollten: einige davon wurden ausgefŸhrt.

Nach diesen fŸr einen Knaben allerdings lšblichen Verrichtungen will ich auch einer kleinen BeschŠmung, die mir innerhalb dieses KŸnstlerkreises begegnete, ErwŠhnung tun. Ich war nŠmlich mit allen Bildern wohl bekannt, welche man nach und nach in jenes Zimmer gebracht hatte. Meine jugendliche Neugierde lie§ nichts ungesehen und ununter-


sucht. Einst fand ich hinter dem Ofen ein schwarzes KŠstchen; ich ermangelte nicht, zu forschen, was darin verborgen sei, und ohne mich lange zu besinnen, zog ich den Schieber weg. Das darin enthaltene GemŠlde war freilich von der Art, die man den Augen nicht auszustellen pflegt, und ob ich es gleich alsobald wieder zuzuschieben Anstalt machte, so konnte ich doch nicht geschwind genug damit fertig werden. Der Graf trat herein und ertappte mich. - "Wer hat Euch erlaubt, dieses KŠstchen zu eršffnen?" sagte er mit seiner Kšnigslieutenantsmiene. Ich hatte nicht viel darauf zu antworten, und er sprach sogleich die Strafe sehr ernsthaft aus: "Ihr werdet in acht Tagen," sagte er, "dieses Zimmer nicht betreten." - Ich machte eine Verbeugung und ging hinaus. Auch gehorchte ich diesem Gebot aufs pŸnktlichste, so da§ es dem guten Seekatz, der eben in dem Zimmer arbeitete, sehr verdrie§lich war: denn er hatte mich gern um sich; und ich trieb aus einer kleinen TŸcke den Gehorsam so weit, da§ ich Seekatzen seinen Kaffee, den ich ihm gewšhnlich brachte, auf die Schwelle setzte; da er denn von seiner Arbeit aufstehen und ihn holen mu§te, welches er so Ÿbel empfand, da§ er mir fast gram geworden wŠre.

Nun aber scheint es nštig, umstŠndlicher anzuzeigen und begreiflich zu machen, wie ich mir in solchen FŠllen in der franzšsischen Sprache, die ich doch nicht gelernt, mit mehr oder weniger Bequemlichkeit durchgeholfen. Auch hier kam mir die angeborne Gabe zustatten, da§ ich leicht den Schall und Klang einer Sprache, ihre Bewegung, ihren Akzent, den Ton und was sonst von Šu§ern EigentŸmlichkeiten, fassen konnte. Aus dem Lateinischen waren mir viele Worte bekannt; das Italienische vermittelte noch mehr, und so horchte ich in kurzer Zeit von Bedienten und Soldaten, Schildwachen und Besuchen so viel heraus, da§ ich mich, wo nicht ins GesprŠch mischen, doch wenigstens einzelne Fragen und Antworten bestehen konnte. Aber dieses war alles nur wenig gegen den Vorteil, den mir das Theater


brachte. Von meinem Gro§vater hatte ich ein Freibillett erhalten, dessen ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Beistand meiner Mutter, tŠglich bediente. Hier sa§ ich nun im Parterre vor einer fremden BŸhne, und pa§te um so mehr auf Bewegung, mimischen und RedeAusdruck, als ich wenig oder nichts von dem verstand, was da oben gesprochen wurde, und also meine Unterhaltung nur vom GebŠrdenspiel und Sprachton nehmen konnte. Von der Komšdie verstand ich am wenigsten, weil sie geschwind gesprochen wurde und sich auf Dinge des gemeinen Lebens bezog, deren AusdrŸcke mir gar nicht bekannt waren. Die Tragšdie kam seltner vor, und der gemessene Schritt, das Taktartige der Alexandriner, das Allgemeine des Ausdrucks machten sie mir in jedem Sinne fa§licher. Es dauerte nicht lange, so nahm ich den Racine, den ich in meines Vaters Bibliothek antraf, zur Hand, und deklamierte mir die StŸcke nach theatralischer Art und Weise, wie sie das Organ meines Ohrs und das ihm so genau verwandte Sprachorgan gefa§t hatte, mit gro§er Lebhaftigkeit, ohne da§ ich noch eine ganze Rede im Zusammenhang hŠtte verstehen kšnnen. Ja ich lernte ganze Stellen auswendig und rezitierte sie, wie ein eingelernter Sprachvogel; welches mir um so leichter ward, als ich frŸher die fŸr ein Kind meist unverstŠndlichen biblischen Stellen auswendig gelernt und sie in dem Ton der protestantischen Prediger zu rezitieren mich gewšhnt hatte. Das versifizierte franzšsische Lustspiel war damals sehr beliebt; die StŸcke von Destouches, Marivaux, La Chaussee kamen hŠufig vor, und ich erinnere mich noch deutlich mancher charakteristischen Figuren. Von den Molirischen ist mir weniger im Sinn geblieben. Was am meisten Eindruck auf mich machte, war die "Hypermnestra" von Lemierre, die als ein neues StŸck mit Sorgfalt aufgefŸhrt und wiederholt gegeben wurde. Hšchst anmutig war der Eindruck, den der "Devin du Village", "Rose et Colas", "Annette et Lubin" auf mich machten. Ich kann mir die bebŠnderten Buben und MŠdchen und ihre Bewegungen noch jetzt zu-


rŸckrufen. Es dauerte nicht lange, so regte sich der Wunsch bei mir, mich auf dem Theater selbst umzusehen, wozu sich mir so mancherlei Gelegenheit darbot. Denn da ich nicht immer die ganzen StŸcke auszuhšren Geduld hatte, und manche Zeit in den Korridors, auch wohl bei gelinderer Jahrszeit vor der TŸre, mit andern Kindern meines Alters allerlei Spiele trieb, so gesellte sich ein schšner munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehšrte, und den ich in manchen kleinen Rollen, obwohl nur beilŠufig, gesehen hatte. Mit mir konnte er sich am besten verstŠndigen, indem ich mein Franzšsisch bei ihm geltend zu machen wu§te; und er knŸpfte sich um so mehr an mich, als kein Knabe seines Alters und seiner Nation beim Theater oder sonst in der NŠhe war. Wir gingen auch au§er der Theaterzeit zusammen, und selbst wŠhrend der Vorstellungen lie§ er mich selten in Ruhe. Er war ein allerliebster kleiner Aufschneider, schwŠtzte charmant und unaufhšrlich, und wu§te so viel von seinen Abenteuern, HŠndeln und andern Sonderbarkeiten zu erzŠhlen, da§ er mich au§erordentlich unterhielt, und ich von ihm, was Sprache und Mitteilung durch dieselbe betrifft, in vier Wochen mehr lernte, als man sich hŠtte vorstellen kšnnen; so da§ niemand wu§te, wie ich auf einmal, gleichsam durch Inspiration, zu der fremden Sprache gelangt war.

Gleich in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft zog er mich mit sich aufs Theater, und fŸhrte mich besonders in die Foyers, wo die Schauspieler und Schauspielerinnen in der Zwischenzeit sich aufhielten und sich an- und auskleideten. Das Lokal war weder gŸnstig noch bequem, indem man das Theater in einen Konzertsaal hineingezwŠngt hatte, so da§ fŸr die Schauspieler hinter der BŸhne keine besonderen Abteilungen stattfanden. In einem ziemlich gro§en Nebenzimmer, das ehedem zu Spielpartien gedient hatte, waren nun beide Geschlechter meist beisammen und schienen sich so wenig unter einander selbst als vor uns Kindern zu scheuen, wenn es beim Anlegen oder VerŠndern der KleidungsstŸcke nicht immer zum anstŠndigsten herging. Mir war derglei-


chen niemals vorgekommen, und doch fand ich es bald durch Gewohnheit, bei wiederholtem Besuch, ganz natŸrlich.

Es wŠhrte nicht lange, so entspann sich aber fŸr mich ein eignes und besondres Interesse. Der junge Derones, so will ich den Knaben nennen, mit dem ich mein VerhŠltnis immer fortsetzte, war au§er seinen Aufschneidereien ein Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre Šlter als wir und ein gar angenehmes MŠdchen war, gut gewachsen, von einer regelmŠ§igen Bildung, brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf alle Weise gefŠllig zu sein; allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken. Junge MŠdchen dŸnken sich gegen jŸngere Knaben sehr weit vorgeschritten, und nehmen, indem sie nach den JŸnglingen hinschauen, ein tantenhaftes Betragen gegen den Knaben an, der ihnen seine erste Neigung zuwendet. Mit einem jŸngern Bruder hatte ich kein VerhŠltnis.

Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Gesellschaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schšnen eine Blume, eine Frucht oder sonst etwas zu Ÿberreichen, welches sie zwar jederzeit mit sehr guter Art annahm und auf das hšflichste dankte; allein ich sah ihren traurigen Blick sich niemals erheitern, und fand keine Spur, da§ sie sonst auf mich geachtet hŠtte. Endlich glaubte ich ihr Geheimnis zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner Mutter, das mit eleganten seidnen VorhŠngen aufgeputzt war, ein Pastellbild, das PortrŠt eines schšnen Mannes, und bemerkte zugleich mit schlauer Miene: das sei eigentlich nicht der Papa, aber ebensogut wie der Papa; und indem er diesen Mann rŸhmte, und nach seiner Art umstŠndlich und prahlerisch manches erzŠhlte, so glaubte ich herauszufinden, da§ die Tochter wohl dem Vater, die beiden andern Kinder aber dem Hausfreund angehšren mochten. Ich erklŠrte mir nun ihr trauriges Ansehen und hatte sie nur um desto lieber.


Die Neigung zu diesem MŠdchen half mir die Schwindeleien des Bruders Ÿbertragen, der nicht immer in seinen Grenzen blieb. Ich hatte oft die weitlŠuftigen ErzŠhlungen seiner Gro§taten auszuhalten, wie er sich schon šfter geschlagen, ohne jedoch dem andern schaden zu wollen: es sei alles blo§ der Ehre wegen geschehen, stets habe er gewu§t, seinen Widersacher zu entwaffnen, und ihm alsdann verziehen; ja er verstehe sich aufs Ligieren so gut, da§ er einst selbst in gro§e Verlegenheit geraten, als er den Degen seines Gegners auf einen hohen Baum geschleudert, so da§ man ihn nicht leicht wieder habhaft werden kšnnen.

Was mir meine Besuche auf dem Theater sehr erleichterte, war, da§ mir mein Freibillett, als aus den HŠnden des Schulthei§en, den Weg zu allen PlŠtzen eršffnete, und also auch zu den Sitzen im Proszenium. Dieses war nach franzšsischer Art sehr tief und an beiden Seiten mit Sitzen eingefa§t, die, durch eine niedrige Barriere beschrŠnkt, sich in mehreren Reihen hinter einander aufbauten, und zwar dergestalt, da§ die ersten Sitze nur wenig Ÿber die BŸhne erhoben waren. Das Ganze galt fŸr einen besondern Ehrenplatz; nur Offiziere bedienten sich gewšhnlich desselben, obgleich die NŠhe der Schauspieler, ich will nicht sagen jede Illusion, sondern gewisserma§en jedes Gefallen aufhob. Sogar jenen Gebrauch oder Mi§brauch, Ÿber den sich Voltaire so sehr beschwert, habe ich noch erlebt und mit Augen gesehen. Wenn bei sehr vollem Hause, und etwa zur Zeit von DurchmŠrschen, angesehene Offiziere nach jenem Ehrenplatz strebten, der aber gewšhnlich schon besetzt war, so stellte man noch einige Reihen BŠnke und StŸhle ins Proszenium auf die BŸhne selbst, und es blieb den Helden und Heldinnen nichts Ÿbrig, als in einem sehr mŠ§igen Raume zwischen den Uniformen und Orden ihre Geheimnisse zu enthŸllen. Ich habe die "Hypermnestra" selbst unter solchen UmstŠnden auffŸhren sehen.

Der Vorhang fiel nicht zwischen den Akten; und ich erwŠhne noch eines seltsamen Gebrauchs, den ich sehr auf-


fallend finden mu§te, da mir als einem guten deutschen Knaben das Kunstwidrige daran ganz unertrŠglich war. Das Theater nŠmlich ward als das grš§te Heiligtum betrachtet, und eine vorfallende Stšrung auf demselben hŠtte als das grš§te Verbrechen gegen die MajestŠt des Publikums sogleich mŸssen gerŸgt werden. Zwei Grenadiere, das Gewehr beim Fu§, standen daher in allen Lustspielen ganz šffentlich zu beiden Seiten des hintersten Vorhangs, und waren Zeugen von allem, was im Innersten der Familie vorging. Da, wie gesagt, zwischen den Akten der Vorhang nicht niedergelassen wurde, so lšsten, bei einfallender Musik, zwei andere dergestalt ab, da§ sie aus den Kulissen ganz strack vor jene hintraten, welche sich dann ebenso gemessentlich zurŸckzogen. Wenn nun eine solche Anstalt recht dazu geeignet war, alles, was man beim Theater Illusion nennt, aufzuheben, so fŠllt es um so mehr auf, da dieses zu einer Zeit geschah, wo nach Diderots GrundsŠtzen und Beispielen die natŸrlichste NatŸrlichkeit auf der BŸhne gefordert, und eine vollkommene TŠuschung als das eigentliche Ziel der theatralischen Kunst angegeben wurde. Von einer solchen militŠrischen Polizeianstalt war jedoch die Tragšdie entbunden, und die Helden des Altertums hatten das Recht, sich selbst zu bewachen; die gedachten Grenadiere standen indes nahe genug hinter den Kulissen. So will ich denn auch noch anfŸhren, da§ ich Diderots "Hausvater" und die "Philosophen" von Palissot gesehen habe, und mich im letztem StŸck der Figur des Philosophen, der auf allen vieren geht und in ein rohes Salathaupt bei§t, noch wohl erinnre.

Alle diese theatralische Mannigfaltigkeit konnte jedoch uns Kinder nicht immer im Schauspielhause festhalten. Wir spielten bei schšnem Wetter vor demselben und in der NŠhe, und begingen allerlei Torheiten, welche besonders an Sonn- und Festtagen keineswegs zu unsrem €u§eren pa§ten: denn ich und meinesgleichen erschienen alsdann, angezogen wie man mich in jenem MŠrchen gesehen, den Hut unterm Arm, mit einem kleinen Degen, dessen BŸgel mit einer gro§en


seidenen Bandschleife geziert war. Einst, als wir eine ganze Zeit unser Wesen getrieben und Derones sich unter uns gemischt hatte, fiel es diesem ein, mir zu beteuern, ich hŠtte ihn beleidigt und mŸsse ihm Satisfaktion geben. Ich begriff zwar nicht, was ihm Anla§ geben konnte, lie§ mir aber seine Ausforderung gefallen und wollte ziehen. Er versicherte mir aber, es sei in solchen FŠllen gebrŠuchlich, da§ man an einsame …rter gehe, um die Sache desto bequemer ausmachen zu kšnnen. Wir verfŸgten uns deshalb hinter einige Scheunen, und stellten uns in gehšrige Positur. Der Zweikampf erfolgte auf eine etwas theatralische Weise, die Klingen klirrten, und die Stš§e gingen nebenaus; doch im Feuer der Aktion blieb er mit der Spitze seines Degens an der Bandschleife meines BŸgels hangen, sie ward durchbohrt, und er versicherte mir, da§ er nun die vollkommenste Satisfaktion habe, umarmte mich sodann, gleichfalls recht theatralisch, und wir gingen in das nŠchste Kaffeehaus, um uns mit einem Glase Mandelmilch von unserer GemŸtsbewegung zu erholen und den alten Freundschaftsbund nur desto fester zu schlie§en.

Ein andres Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause, obgleich spŠter, begegnet, will ich bei dieser Gelegenheit erzŠhlen. Ich sa§ nŠmlich mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre, und wir sahen mit VergnŸgen einem Solotanze zu, den ein hŸbscher Knabe, ungefŠhr von unserm Alter, der Sohn eines durchreisenden franzšsischen Tanzmeisters, mit vieler Gewandtheit und Anmut auffŸhrte. Nach Art der TŠnzer war er mit einem knappen WŠmschen von roter Seide bekleidet, welches, in einen kurzen Reifrock ausgehend, gleich den LauferschŸrzen, bis Ÿber die Knie schwebte. Wir hatten diesem angehenden KŸnstler mit dem ganzen Publikum unsern Beifall gezollt, als mir, ich wei§ nicht wie, einfiel, eine moralische Reflexion zu machen. Ich sagte zu meinem Begleiter: "Wie schšn war dieser Knabe geputzt und wie gut nahm er sich aus; wer wei§, in was fŸr einem zerrissenen JŠckchen er heute nacht schlafen mag!"


- Alles war schon aufgestanden, nur lie§ uns die Menge noch nicht vorwŠrts. Eine Frau, die neben mir gesessen hatte und nun hart an mir stand, war zufŠlligerweise die Mutter dieses jungen KŸnstlers, die sich durch meine Reflexion sehr beleidigt fŸhlte. Zu meinem UnglŸck konnte sie Deutsch genug, um mich verstanden zu haben, und sprach es gerade so viel, als nštig war, um schelten zu kšnnen. Sie machte mich gewaltig herunter: Wer ich denn sei, meinte sie, da§ ich Ursache hŠtte, an der Familie und an der Wohlhabenheit dieses jungen Menschen zu zweifeln. Auf alle FŠlle dŸrfe sie ihn fŸr so gut halten als mich, und seine Talente kšnnten ihm wohl ein GlŸck bereiten, wovon ich mir nicht wŸrde trŠumen lassen. Diese Strafpredigt hielt sie mir im GedrŠnge und machte die Umstehenden aufmerksam, welche wunder dachten, was ich fŸr eine Unart mŸ§te begangen haben. Da ich mich weder entschuldigen, noch von ihr entfernen konnte, so war ich wirklich verlegen, und als sie einen Augenblick inne hielt, sagte ich, ohne etwas dabei zu denken: "Nun, wozu der LŠrm? heute rot, morgen tot!" - Auf diese Worte schien die Frau zu verstummen, sie sah mich an und entfernte sich von mir, sobald es nur einigerma§en mšglich war. Ich dachte nicht weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als der Knabe, anstatt sich nochmals sehen zu lassen, krank ward, und zwar sehr gefŠhrlich. Ob er gestorben ist, wei§ ich nicht zu sagen.

Dergleichen Vordeutungen durch ein unzeitig, ja unschicklich ausgesprochenes Wort standen bei den Alten schon in Ansehen, und es bleibt hšchst merkwŸrdig, da§ die Formen des Glaubens und Aberglaubens bei allen Všlkern und zu allen Zeiten immer dieselben geblieben sind.

Nun fehlte es von dem ersten Tage der Besitznehmung unserer Stadt, zumal Kindern und jungen Leuten, nicht an immerwŠhrender Zerstreuung. Theater und BŠlle, Paraden und DurchmŠrsche zogen unsere Aufmerksamkeit hin und her. Die letztern besonders nahmen immer zu, und das Soldatenleben schien uns ganz lustig und vergnŸglich.


Der Aufenthalt des Kšnigslieutenants in unserm Hause verschaffte uns den Vorteil, alle bedeutenden Personen der franzšsischen Armee nach und nach zu sehen, und besonders die Ersten, deren Name schon durch den Ruf zu uns gekommen war, in der NŠhe zu betrachten. So sahen wir von Treppen und Podesten, gleichsam wie von Galerien, sehr bequem die GeneralitŠt bei uns vorŸbergehn. Vor allen erinnere ich mich des Prinzen Soubise als eines schšnen leutseligen Herrn; am deutlichsten aber des Marschalls von Broglio als eines jŸngern, nicht gro§en aber wohlgebauten, lebhaften, geistreich um sich blickenden, behenden Mannes.

Er kam mehrmals zum Kšnigslieutenant, und man merkte wohl, da§ von wichtigen Dingen die Rede war. Wir hatten uns im ersten Vierteljahr der Einquartierung kaum in diesen neuen Zustand gefunden, als schon die Nachricht sich dunkel verbreitete: die Alliierten seien im Anmarsch, und Herzog Ferdinand von Braunschweig komme, die Franzosen vom Main zu vertreiben. Man hatte von diesen, die sich keines besondern KriegsglŸckes rŸhmen konnten, nicht die grš§te Vorstellung, und seit der Schlacht von Ro§bach glaubte man sie verachten zu dŸrfen; auf den Herzog Ferdinand setzte man das grš§te Vertrauen, und alle preu§isch Gesinnten erwarteten mit Sehnsucht ihre Befreiung von der bisherigen Last. Mein Vater war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war klug genug einzusehen, da§ ein gegenwŠrtiges geringes †bel leicht mit einem gro§en Ungemach vertauscht werden kšnne: denn es zeigte sich nur allzu deutlich, da§ man dem Herzog nicht entgegengehen, sondern einen Angriff in der NŠhe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der Franzosen, eine Flucht, eine Verteidigung der Stadt, wŠre es auch nur, um den RŸckzug zu decken und um die BrŸcke zu behalten, ein Bombardement, eine PlŸnderung, alles stellte sich der erregten Einbildungskraft dar, und machte beiden Parteien Sorge. Meine Mutter, welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, lie§ durch den Dolmetscher ihre Furcht bei dem Grafen anbringen; worauf sie die in solchen


FŠllen gebrŠuchliche Antwort erhielt: sie solle ganz ruhig sein, es sei nichts zu befŸrchten, sich Ÿbrigens still halten und mit niemand von der Sache sprechen.

Mehrere Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, da§ sie bei Bergen Halt machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte sich immer, und unser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieser Zeit habe ich den Marschall Broglio gesehen, immer heiter, ein wie das andere Mal an GebŠrden und Betragen všllig gleich, und es hat mich auch nachher gefreut, den Mann, dessen Gestalt einen so guten und dauerhaften Eindruck gemacht hatte, in der Geschichte rŸhmlich erwŠhnt zu finden.

So kam denn endlich, nach einer unruhigen Karwoche 1759 der Karfreitag heran. Eine gro§e Stille verkŸndigte den nahen Sturm. Uns Kindern war verboten, aus dem Hause zu gehen; der Vater hatte keine Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann; ich stieg auf den obersten Boden, wo ich zwar die Gegend zu sehen verhindert war, aber den Donner der Kanonen und das Massenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut vernehmen konnte. Nach einigen Stunden sahen wir die ersten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete in mancherlei traurigen VerstŸmmelungen und GebŠrden sachte bei uns vorbeigefahren wurden, um in das zum Lazarett umgewandelte Liebfrauenkloster gebracht zu werden. Sogleich regte sich die Barmherzigkeit der BŸrger. Bier, Wein, Brot, Geld ward denjenigen hingereicht, die noch etwas empfangen konnten. Als man aber einige Zeit darauf blessierte und gefangne Deutsche unter diesem Zug gewahr wurde, fand das Mitleid keine Grenze, und es schien, als wollte jeder sich von allem entblš§en, was er nur Bewegliches besa§, um seinen bedrŠngten Landsleuten beizustehen.

Diese Gefangenen waren jedoch Anzeichen einer fŸr die Alliierten unglŸcklichen Schlacht. Mein Vater, in seiner Parteilichkeit ganz sicher, da§ diese gewinnen wŸrden, hatte die leidenschaftliche Verwegenheit, den gehofften Siegern entgegen zu gehen, ohne zu bedenken, da§ die geschlagene Partei


erst Ÿber ihn wegfliehen mŸ§te. Erst begab er sich in seinen Garten, vor dem Friedberger Tore, wo er alles einsam und ruhig fand; dann wagte er sich auf die Bornheimer Heide, wo er aber bald verschiedene zerstreute NachzŸgler und Tro§knechte ansichtig ward, die sich den Spa§ machten, nach den Grenzsteinen zu schie§en, so da§ dem neugierigen Wandrer das abprallende Blei um den Kopf sauste. Er hielt es deshalb doch fŸr geratner, zurŸckzugehen, und erfuhr, bei einiger Nachfrage, was ihm schon der Schall des Feuerns hŠtte klar machen sollen, da§ alles fŸr die Franzosen gut stehe und an kein Weichen zu denken sei. Nach Hause gekommen, voll Unmut, geriet er beim Erblicken der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewšhnlichen Fassung. Auch er lie§ den Vorbeiziehenden mancherlei Spende reichen; aber nur die Deutschen sollten sie erhalten, welches nicht immer mšglich war, weil das Schicksal Freunde und Feinde zusammen aufgepackt hatte.

Die Mutter und wir Kinder, die wir schon frŸher auf des Grafen Wort gebaut und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren hšchlich erfreut, und die Mutter doppelt getršstet, da sie des Morgens, als sie das Orakel ihres "SchatzkŠstleins" durch einen Nadelstich befragt, eine fŸr die Gegenwart sowohl als fŸr die Zukunft sehr tršstliche Antwort erhalten hatte. Wir wŸnschten unserm Vater gleichen Glauben und gleiche Gesinnung, wir schmeichelten ihm, was wir konnten, wir baten ihn, etwas Speise zu sich zu nehmen, die er den ganzen Tag entbehrt hatte; er verweigerte unsre Liebkosungen und jeden Genu§, und begab sich auf sein Zimmer. Unsre Freude ward indessen nicht gestšrt; die Sache war entschieden; der Kšnigslieutenant, der diesen Tag gegen seine Gewohnheit zu Pferde gewesen, kehrte endlich zurŸck, seine Gegenwart zu Hause war nštiger als je. Wir sprangen ihm entgegen, kŸ§ten seine HŠnde und bezeigten ihm unsre Freude. Es schien ihm sehr zu gefallen. "Wohl!" sagte er freundlicher als sonst, "ich bin auch um euertwillen vergnŸgt, liebe Kinder!" Er befahl sogleich, uns Zuckerwerk, sŸ§en


Wein, Ÿberhaupt das Beste zu reichen, und ging auf sein Zimmer, schon von einer gro§en Masse Dringender und Bittender umgeben.

Wir hielten nun eine kšstliche Kollation, bedauerten den guten Vater, der nicht teil daran nehmen mochte, und drangen in die Mutter, ihn herbeizurufen; sie aber, klŸger als wir, wu§te wohl, wie unerfreulich ihm solche Gaben sein wŸrden. Indessen hatte sie etwas Abendbrot zurecht gemacht und hŠtte ihm gern eine Portion auf das Zimmer geschickt; aber eine solche Unordnung litt er nie, auch nicht in den Šu§ersten FŠllen; und nachdem man die sŸ§en Gaben bei Seite geschafft, suchte man ihn zu bereden, herab in das gewšhnliche Speisezimmer zu kommen. Endlich lie§ er sich bewegen, ungern, und wir ahndeten nicht, welches Unheil wir ihm und uns bereiteten. Die Treppe lief frei durchs ganze Haus an allen VorsŠlen vorbei. Der Vater mu§te, indem er herabstieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer vorŸbergehn. Sein Vorsaal stand so voller Leute, da§ der Graf sich entschlo§, um mehrers auf einmal abzutun, herauszutreten; und dies geschah leider in dem Augenblick, als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begrŸ§te ihn und sagte: "Ihr werdet uns und Euch GlŸckwŸnschen, da§ diese gefŠhrliche Sache so glŸcklich abgelaufen ist." - "Keineswegs!" versetzte mein Vater, mit Ingrimm; "ich wollte, sie hŠtten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hŠtte mitfahren sollen." - Der Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wut auf: "Dieses sollt Ihr bŸ§en!" rief er; "Ihr sollt nicht umsonst der gerechten Sache und mir eine solche Beleidigung zugefŸgt haben!"

Der Vater war indes gelassen heruntergestiegen, setzte sich zu uns, schien heitrer als bisher, und fing an zu essen. Wir freuten uns darŸber, und wu§ten nicht, auf welche bedenkliche Weise er sich den Stein vom Herzen gewŠlzt hatte. Kurz darauf wurde die Mutter herausgerufen, und wir hatten gro§e Lust, dem Vater auszuplaudern, was uns der Graf fŸr SŸ§ig-


keiten verehrt habe. Die Mutter kam nicht zurŸck. Endlich trat der Dolmetscher herein. Auf seinen Wink schickte man uns zu Bette; es war schon spŠt, und wir gehorchten gern. Nach einer ruhig durchschlafenen Nacht erfuhren wir die gewaltsame Bewegung, die gestern abend das Haus erschŸttert hatte. Der Kšnigslieutenant hatte sogleich befohlen, den Vater auf die Wache zu fŸhren. Die Subalternen wu§ten wohl, da§ ihm niemals zu widersprechen war; doch hatten sie sich manchmal Dank verdient, wenn sie mit der AusfŸhrung zauderten. Diese Gesinnung wu§te der Gevatter Dolmetsch, den die Geistesgegenwart niemals verlie§, aufs lebhafteste bei ihnen rege zu machen. Der Tumult war ohnehin so gro§, da§ eine Zšgerung sich von selbst versteckte und entschuldigte. Er hatte meine Mutter herausgerufen, und ihr den Adjutanten gleichsam in die HŠnde gegeben, da§ sie durch Bitten und Vorstellungen nur einigen Aufschub erlangen mšchte. Er selbst eilte schnell hinauf zum Grafen, der sich bei der gro§en Beherrschung seiner selbst sogleich ins innre Zimmer zurŸckgezogen hatte, und das dringendste GeschŠft lieber einen Augenblick stocken lie§, als da§ er den einmal in ihm erregten bšsen Mut an einem Unschuldigen gekŸhlt und eine seiner WŸrde nachteilige Entscheidung gegeben hŠtte.

Die Anrede des Dolmetschers an den Grafen, die FŸhrung des ganzen GesprŠchs hat uns der dicke Gevatter, der sich auf den glŸcklichen Erfolg nicht wenig zugute tat, oft genug wiederholt, so da§ ich sie aus dem GedŠchtnis wohl noch aufzeichnen kann.

Der Dolmetsch hatte gewagt, das Kabinett zu eršffnen und hineinzutreten, eine Handlung, die hšchst verpšnt war. "Was wollt Ihr?" rief ihm der Graf zornig entgegen. "Hinaus mit Euch! Hier hat niemand das Recht hereinzutreten als Saint-Jean."

"So haltet mich einen Augenblick fŸr Saint-Jean," versetzte der Dolmetsch.

"Dazu gehšrt eine gute Einbildungskraft, seiner zwei machen noch nicht einen wie Ihr seid. Entfernt Euch!"


"Herr Graf, Ihr habt eine gro§e Gabe vorn Himmel empfangen und an die appelliere ich."

"Ihr denkt mir zu schmeicheln! Glaubt nicht, da§ es Euch gelingen werde." "Ihr habt die gro§e Gabe, Herr Graf, auch in Augenblicken der Leidenschaft, in Augenblicken des Zorns die Gesinnungen anderer anzuhšren."

"Wohl, wohl! Von Gesinnungen ist eben die Rede, die ich zu lange angehšrt habe. Ich wei§ nur zu gut, da§ man uns hier nicht liebt, da§ uns diese BŸrger scheel ansehn."

"Nicht alle!"

"Sehr viele! Was! diese StŠdter, ReichsstŠdter wollen sie sein? Ihren Kaiser haben sie wŠhlen und kršnen sehen, und wenn dieser, ungerecht angegriffen, seine LŠnder zu ver-lieren und einem Usurpator zu unterliegen Gefahr lŠuft, wenn er glŸcklicherweise getreue Alliierte findet, die ihr Geld, ihr Blut zu seinem Vorteil verwenden, so wollen sie die ge-ringe Last nicht tragen, die zu ihrem Teil sie trifft, da§ der Reichsfeind gedemŸtigt werde."

"Freilich kennt Ihr diese Gesinnungen schon lange, und habt sie als ein weiser Mann geduldet; auch ist es nur die geringere Zahl. Wenige, verblendet durch die glŠnzenden Eigenschaften des Feindes, den Ihr ja selbst als einen au§erordentlichen Mann schŠtzt, wenige nur, Ihr wi§t es!"

"Ja wohl! zu lange habe ich es gewu§t und geduldet, sonst hŠtte dieser sich nicht unterstanden, mir in den bedeutendsten Augenblicken solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen. Es mšgen sein so viel ihrer wollen, sie sollen in diesem ihrem kŸhnen ReprŠsen-tanten gestraft werden, und sich merken, was sie zu erwarten haben."

"Nur Aufschub, Herr Graf!"

"In gewissen Dingen kann man nicht zu geschwind verfahren."

"Nur einen kurzen Aufschub!"

"Nachbar! Ihr denkt mich zu einem falschen Schritt zu verleiten; es soll Euch nicht gelingen."


"Weder verleiten will ich Euch zu einem falschen Schritt, noch von einem falschen zurŸckhalten; Euer Entschlu§ ist gerecht: er geziemt dem Franzosen, dem Kšnigslieutenant; aber bedenkt, da§ Ihr auch Graf Thoranc seid."

"Der hat hier nicht mitzusprechen."

"Man sollte den braven Mann doch auch hšren."

"Nun, was wŸrde er denn sagen?"

"Herr Kšnigslieutenant! wŸrde er sagen, Ihr habt so lange mit so viel dunklen, unwilligen, ungeschickten Menschen Geduld gehabt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg machten. Dieser hat's freilich sehr arg gemacht; aber gewinnt es Ÿber Euch, Herr Kšnigslieutenant! und jedermann wird Euch deswegen loben und preisen."

"Ihr wi§t, da§ ich Eure Possen manchmal leiden kann, aber mi§braucht nicht mein Wohlwollen. Diese Menschen, sind sie denn ganz verblendet? HŠtten wir die Schlacht verloren, in diesem Augenblick, was wŸrde ihr Schicksal sein? Wir schlagen uns bis vor die Tore, wir sperren die Stadt, wir halten, wir verteidigen uns, um unsere Retirade Ÿber die BrŸcke zu decken. Glaubt Ihr, da§ der Feind die HŠnde in den Scho§ gelegt hŠtte? Er wirft Granaten und was er bei der Hand hat, und sie zŸnden, wo sie kšnnen. Dieser Hausbesitzer da, was will er? In diesen Zimmern hier platzte jetzt wohl eine Feuerkugel und eine andere folgte hintendrein; in diesen Zimmern, deren vermaledeite Pekingtapeten ich geschont, mich geniert habe, meine Landkarten nicht aufzunageln! Den ganzen Tag hŠtten sie auf den Knien liegen sollen."

"Wie viele haben das getan!"

"Sie hŠtten sollen den Segen fŸr uns erflehen; den Generalen und Offizieren mit Ehren- und Freudenzeichen, den ermatteten Gemeinen mit Erquickung entgegengehen. Anstatt dessen verdirbt mir der Gift dieses Parteigeistes die schšnsten, glŸcklichsten, durch so viel Sorgen und Anstrengungen erworbenen Augenblicke meines Lebens!"

"Es ist ein Parteigeist; aber Ihr werdet ihn durch die Bestrafung dieses Mannes nur vermehren. Die mit ihm Gleich-


gesinnten werden Euch als einen Tyrannen, als einen Barbaren ausschreien; sie werden ihn als einen MŠrtyrer betrachten, der fŸr die gute Sache gelitten hat; und selbst die anders Gesinnten, die jetzt seine Gegner sind, werden in ihm nur den MitbŸrger sehen, werden ihn bedauern und, indem sie Euch recht geben, dennoch finden, da§ Ihr zu hart verfahren seid."

"Ich habe Euch schon zu lange angehšrt; macht, da§ Ihr fortkommt!"

"So hšrt nur noch dieses! Bedenkt, da§ es das Unerhšrteste ist, was diesem Manne, was dieser Familie begegnen kšnnte. Ihr hattet nicht Ursache, von dem guten Willen des Hausherrn erbaut zu sein; aber die Hausfrau ist allen Euren WŸnschen zuvorgekommen, und die Kinder haben Euch als ihren Oheim betrachtet. Mit diesem einzigen Schlag werdet Ihr den Frieden und das GlŸck dieser Wohnung auf ewig zerstšren. Ja, ich kann wohl sagen, eine Bombe, die ins Haus gefallen wŠre, wŸrde nicht grš§ere VerwŸstungen darin angerichtet haben. Ich habe Euch so oft Ÿber Eure Fassung bewundert, Herr Graf; gebt mir diesmal Gelegenheit, Euch anzubeten. Ein Krieger ist ehrwŸrdig, der sich selbst in Feindes Haus als einen Gastfreund betrachtet; hier ist kein Feind, nur ein Verirrter. Gewinnt es Ÿber Euch, und es wird Euch zu ewigem Ruhme gereichen!"

"Das mŸ§te wunderlich zugehen," versetzte der Graf mit einem LŠcheln.

"Nur ganz natŸrlich," erwiderte der Dolmetscher. "Ich habe die Frau, die Kinder nicht zu Euren FŸ§en geschickt: denn ich wei§, da§ Euch solche Szenen verdrie§lich sind aber ich will Euch die Frau, die Kinder schildern, wie sie Euch danken; ich will sie Euch schildern, wie sie sich zeitlebens von dem Tage der Schlacht bei Bergen und von Eurer Gro§mut an diesem Tage unterhalten, wie sie es Kindern und Kindeskindern erzŠhlen, und auch Fremden ihr Interesse fŸr Euch einzuflš§en wissen: eine Handlung dieser Art kann nicht untergehen!"


"Ihr trefft meine schwache Seite nicht, Dolmetscher. An den Nachruhm pfleg' ich nicht zu denken, der ist fŸr andere, nicht fŸr mich; aber im Augenblick recht zu tun, meine Pflicht nicht zu versŠumen, meiner Ehre nichts zu vergeben, das ist meine Sorge. Wir haben schon zu viel Worte gemacht; jetzt geht hin - und la§t Euch von den Undankbaren danken, die ich verschone!"

Der Dolmetsch, durch diesen unerwartet glŸcklichen Ausgang Ÿberrascht und bewegt, konnte sich der TrŠnen nicht enthalten, und wollte dem Grafen die HŠnde kŸssen; der Graf wies ihn ab und sagte streng und ernst: "Ihr wi§t, da§ ich dergleichen nicht leiden kann!" Und mit diesen Worten trat er auf den Vorsaal, um die andringenden GeschŠfte zu besorgen, und das Begehren so vieler wartenden Menschen zu vernehmen. So ward die Sache beigelegt, und wir feierten den andern Morgen, bei den †berbleibseln der gestrigen Zuckergeschenke, das VorŸbergehen eines †bels, dessen Androhen wir glŸcklich verschlafen hatten.

Ob der Dolmetsch wirklich so weise gesprochen, oder ob er sich die Szene nur so ausgemalt, wie man es wohl nach einer guten und glŸcklichen Handlung zu tun pflegt, will ich nicht entscheiden; wenigstens hat er bei WiedererzŠhlung derselben niemals variiert. Genug, dieser Tag dŸnkte ihm, so wie der sorgenvollste, so auch der glorreichste seines Lebens.

Wie sehr Ÿbrigens der Graf alles falsche Zeremoniell abgelehnt, keinen Titel, der ihm nicht gebŸhrte, jemals angenommen, und wie er in seinen heitern Stunden immer geistreich gewesen, davon soll eine kleine Begebenheit ein Zeugnis ablegen.

Ein vornehmer Mann, der aber auch unter die abstrusen einsamen Frankfurter gehšrte, glaubte sich Ÿber seine Einquartierung beklagen zu mŸssen. Er kam persšnlich, und der Dolmetsch bot ihm seine Dienste an; jener aber meinte derselben nicht zu bedŸrfen. Er trat vor den Grafen mit einer anstŠndigen Verbeugung und sagte: "Exzellenz!" Der Graf gab ihm die Verbeugung zurŸck, so wie die Exzellenz.


Betroffen von dieser Ehrenbezeigung, nicht anders glaubend, als der Titel sei zu gering, bŸckte er sich tiefer, und sagte: "Monseigneur!" - "Mein Herr," sagte der Graf ganz ernsthaft, "wir wollen nicht weiter gehen, denn sonst kšnnten wir es leicht bis zur MajestŠt bringen." - Der andere war Šu§erst verlegen und wu§te kein Wort zu sagen. Der Dolmetsch, in einiger Entfernung stehend und von der ganzen Sache unterrichtet, war boshaft genug, sich nicht zu rŸhren; der Graf aber, mit gro§er Heiterkeit, fuhr fort: "Zum Beispiel, mein Herr, wie hei§en sie?" - "Spangenberg," versetzte jener- "Und ich," sagte der Graf, "hei§e Thoranc. Spangenberg, was wollt Ihr von Thoranc? und nun setzen wir uns, die Sache soll gleich abgetan sein."

Und so wurde die Sache auch gleich zu gro§er Zufriedenheit desjenigen abgetan, den ich hier Spangenberg genannt habe, und die Geschichte noch an selbigem Abend von dem schadenfrohen Dolmetsch in unserm Familienkreise nicht nur erzŠhlt, sondern mit allen UmstŠnden und GebŠrden aufgefŸhrt.

Nach solchen Verwirrungen, Unruhen und BedrŠngnissen fand sich gar bald die vorige Sicherheit und der Leichtsinn wieder, mit welchem besonders die Jugend von Tag zu Tag lebt, wenn es nur einigerma§en angehen will. Meine Leidenschaft zu dem franzšsischen Theater wuchs mit jeder Vorstellung; ich versŠumte keinen Abend, ob ich gleich jedesmal, wenn ich nach dem Schauspiel mich zur speisenden Familie an den Tisch setzte und mich gar oft nur mit einigen Resten begnŸgte, die steten VorwŸrfe des Vaters zu dulden hatte: das Theater sei zu gar nichts nŸtze, und kšnne zu gar nichts fŸhren. Ich rief in solchem Falle gewšhnlich alle und jede Argumente hervor, welche den Verteidigern des Schauspiels zur Hand sind, wenn sie in eine gleiche Not wie die meinige geraten. Das Laster im GlŸck, die Tugend im UnglŸck wurden zuletzt durch die poetische Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Die schšnen Beispiele von bestraften Vergehungen, "Mi§ Sara Sampson" und der "Kaufmann von Lon-


don", wurden sehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen šfters den kŸrzern, wenn die "Schelmstreiche Scapins" und dergleichen auf dem Zettel standen, und ich mir das Behagen mu§te vorwerfen lassen, das man Ÿber die BetrŸgereien rŠnkevoller Knechte und Ÿber den guten Erfolg der Torheiten ausgelassener JŸnglinge im Publikum empfinde. Beide Parteien Ÿberzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater sehr bald mit der BŸhne ausgesšhnt, als er sah, da§ ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der franzšsischen Sprache zunahm.

Die Menschen sind nun einmal so, da§ jeder, was er tun sieht, lieber selbst vornŠhme, er habe nun Geschick dazu oder nicht. Ich hatte nun bald den ganzen Kursus der franzšsischen BŸhne durchgemacht; mehrere StŸcke kamen schon zum zweiten- und drittenmal; von der wŸrdigsten Tragšdie bis zum leichtfertigsten Nachspiel war mir alles vor Augen und Geist vorbeigegangen; und wie ich als Kind den Terenz nachzuahmen wagte, so verfehlte ich nunmehr nicht als Knabe, bei einem viel lebhafter dringenden Anla§, auch die franzšsischen Formen nach meinem Vermšgen und Unvermšgen zu wiederholen. Es wurden damals einige halb mythologische, halb allegorische StŸcke im Geschmack des Piron gegeben; sie hatten etwas von der Parodie und gefielen sehr. Diese Vorstellungen zogen mich besonders an: die goldnen FlŸgelchen eines heitern Merkur, der Donnerkeil des verkappten Jupiter, eine galante Danae, oder wie eine von Gšttern besuchte Schšne hei§en mochte, wenn es nicht gar eine SchŠferin oder JŠgerin war, zu der sie sich herunterlie§en. Und da mir dergleichen Elemente aus Ovids "Verwandlungen" und Pomeys "Pantheon mythicum" sehr hŠufig im Kopfe herumsummten, so hatte ich bald ein solches StŸckchen in meiner Phantasie zusammengestellt, wovon ich nur so viel zu sagen wei§, da§ die Szene lŠndlich war, da§ es aber doch darin weder an Kšnigstšchtern, noch Prinzen, noch Gšttern fehlte. Der Merkur besonders war mir dabei so lebhaft im Sinne, da§ ich noch schwšren wollte, ich hŠtte ihn mit Augen gesehen.


Eine von mir selbst sehr reinlich gefertigte Abschrift legte ich meinem Freund Derones vor, welcher sie mit ganz besonderem Anstand und einer wahrhaften Gšnnermiene aufnahm, das Manuskript flŸchtig durchsah, mir einige Sprachfehler nachwies, einige Reden zu lang fand, und zuletzt versprach, das Werk bei gehšriger Mu§e nŠher zu betrachten und zu beurteilen. Auf meine bescheidene Frage, ob das StŸck wohl aufgefŸhrt werden kšnne, versicherte er mir, da§ es gar nicht unmšglich sei. Sehr vieles komme beim Theater auf Gunst an, und er beschŸtze mich von ganzem Herzen; nur mŸsse man die Sache geheim halten: denn er habe selbst einmal mit einem von ihm verfertigten StŸck die Direktion Ÿberrascht, und es wŠre gewi§ aufgefŸhrt worden, wenn man nicht zu frŸh entdeckt hŠtte, da§ er der Verfasser sei. Ich versprach ihm alles mšgliche Stillschweigen, und sah schon im Geist den Titel meiner Piece an den Ecken der Stra§en und PlŠtze mit gro§en Buchstaben angeschlagen.

So leichtsinnig Ÿbrigens der Freund war, so schien ihm doch die Gelegenheit, den Meister zu spielen, allzu erwŸnscht. Er las das StŸck mit Aufmerksamkeit durch, und indem er sich mit mir hinsetzte, um einige Kleinigkeiten zu Šndern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze StŸck um und um, so da§ auch kein Stein auf dem andern blieb. Er strich aus, setzte zu, nahm eine Person weg, substituierte eine andere, genug, er verfuhr mit der tollsten WillkŸr von der Welt, da§ mir die Haare zu Berge standen. Mein Vorurteil, da§ er es doch verstehen mŸsse, lie§ ihn gewŠhren: denn er hatte mir schon šfter von den drei Einheiten des Aristoteles, von der RegelmŠ§igkeit der franzšsischen BŸhne, von der Wahrscheinlichkeit, von der Harmonie der Verse und allem, was daran hŠngt, so viel vorerzŠhlt, da§ ich ihn nicht nur fŸr unterrichtet, sondern auch fŸr begrŸndet halten mu§te. Er schalt auf die EnglŠnder und verachtete die Deutschen; genug, er trug mir die ganze dramaturgische Litanei vor, die ich in meinem Leben so oft mu§te wiederholen hšren.


Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mit nach Hause, und suchte sie wieder herzustellen, aber vergebens. Weil ich sie jedoch nicht ganz aufgeben wollte, so lie§ ich aus meinem ersten Manuskript, nach wenigen VerŠnderungen, eine saubere Abschrift durch unsern Schreibenden anfertigen, die ich denn meinem Vater Ÿberreichte und dadurch so viel erlangte, da§ er mich nach vollendetem Schauspiel meine Abendkost eine Zeitlang ruhig verzehren lie§.

Dieser mi§lungene Versuch hatte mich nachdenklich gemacht, und ich wollte nunmehr diese Theorien, diese Gesetze, auf die sich jedermann berief, und die mir besonders durch die Unart meines anma§lichen Meisters verdŠchtig geworden waren, unmittelbar an den Quellen kennen lernen, welches mir zwar nicht schwer, doch mŸhsam wurde. Ich las zunŠchst Corneilles "Abhandlung Ÿber die drei Einheiten" und ersah wohl daraus, wie man es haben wollte; warum man es aber so verlangte, ward mir keineswegs deutlich, und, was das Schlimmste war, ich geriet sogleich in noch grš§ere Verwirrung, indem ich mich mit den HŠndeln Ÿber den "Cid" bekannt machte und die Vorreden las, in welchen Corneille und Racine sich gegen Kritiker und Publikum zu verteidigen genštigt sind. Hier sah ich wenigstens auf das deutlichste, da§ kein Mensch wu§te, was er wollte; da§ ein StŸck wie "Cid", das die herrlichste Wirkung hervorgebracht, auf Befehl eines allmŠchtigen Kardinals absolut sollte fŸr schlecht erklŠrt werden; da§ Racine, der Abgott der zu meiner Zeit lebenden Franzosen, der nun auch mein Abgott geworden war (denn ich hatte ihn nŠher kennen lernen, als Schšff von Olenschlager durch uns Kinder den "Britannicus" auffŸhren lie§, worin mir die Rolle des Nero zuteil ward), da§ Racine, sage ich, auch zu seiner Zeit weder mit Liebhabern noch Kunstrichtern fertig werden kšnnen. Durch alles dieses ward ich verworrener als jemals, und nachdem ich mich lange mit diesem Hin- und Herreden, mit dieser theoretischen Salbaderei des vorigen Jahrhunderts gequŠlt hatte, schŸttete ich das Kind mit dem Bade aus, und warf den ganzen Plunder desto entschiedener von mir, je mehr


ich zu bemerken glaubte, da§ die Autoren selbst, welche vortreffliche Sachen hervorbrachten, wenn sie darŸber zu reden anfingen, wenn sie den Grund ihres Handelns angaben, wenn sie sich verteidigen, entschuldigen, beschšnigen wollten, doch auch nicht immer den rechten Fleck zu treffen wu§ten. Ich eilte daher wieder zu dem lebendig Vorhandenen, besuchte das Schauspiel weit eifriger, las gewissenhafter und ununterbrochner, so da§ ich in dieser Zeit Racine und Mollire ganz, und von Corneille einen gro§en Teil durchzuarbeiten die Anhaltsamkeit hatte.

Der Kšnigslieutenant wohnte noch immer in unserm Hause. Er hatte sein Betragen in nichts geŠndert, besonders gegen uns; allein es war merklich, und der Gevatter Dolmetsch wu§te es uns noch deutlicher zu machen, da§ er sein Amt nicht mehr mit der Heiterkeit, nicht mehr mit dem Eifer verwaltete wie anfangs, obgleich immer mit derselben Rechtschaffenheit und Treue. Sein Wesen und Betragen, das eher einen Spanier als einen Franzosen ankŸndigte, seine Launen, die doch mitunter Einflu§ auf ein GeschŠft hatten, seine Unbiegsamkeit gegen die UmstŠnde, seine Reizbarkeit gegen alles, was seine Person oder Charakter berŸhrte, dieses zusammen mochte ihn doch zuweilen mit seinen Vorgesetzten in Konflikt bringen. Hiezu kam noch, da§ er in einem Duell, welches sich im Schauspiel entsponnen hatte, verwundet wurde, und man dem Kšnigslieutenant Ÿbel nahm, da§ er selbst eine verpšnte Handlung als oberster Polizeimeister begangen. Alles dieses mochte, wie gesagt, dazu beitragen, da§ er in sich gezogner lebte und hier und da vielleicht weniger energisch verfuhr.

Indessen war nun schon eine ansehnliche Partie der bestellten GemŠlde abgeliefert. Graf Thoranc brachte seine Freistunden mit der Betrachtung derselben zu, indem er sie in gedachtem Giebelzimmer, Bahne fŸr Bahne, breiter und schmŠler, neben einander und, weil es an Platz mangelte, sogar Ÿber einander nageln, wieder abnehmen und aufrollen lie§. Immer wurden die Arbeiten aufs neue untersucht, man erfreute


sich wiederholt an den Stellen, die man fŸr die gelungensten hielt; aber es fehlte auch nicht an WŸnschen, dieses oder jenes anders geleistet zu sehen.

Hieraus entsprang eine neue und ganz wundersame Operation. Da nŠmlich der eine Maler Figuren, der andere die MittelgrŸnde und Fernen, der dritte die BŠume, der vierte die Blumen am besten arbeitete, so kam der Graf auf den Gedanken, ob man nicht diese Talente in den Bildern vereinigen, und auf diesem Wege vollkommene Werke hervorbringen kšnne. Der Anfang ward sogleich damit gemacht, da§ man z.B. in eine fertige Landschaft noch schšne Herden hineinmalen lie§. Weil nun aber nicht immer der gehšrige Platz dazu da war, es auch dem Tiermaler auf ein paar Schafe mehr oder weniger nicht ankam, so war endlich die weiteste Landschaft zu enge. Nun hatte der Menschenmaler auch noch die Hirten und einige Wandrer hineinzubringen; diese nahmen sich wiederum einander gleichsam die Luft, und man war verwundert, wie sie nicht sŠmtlich in der freiesten Gegend erstickten. Man konnte niemals voraussehen, was aus der Sache werden wŸrde, und wenn sie fertig war, befriedigte sie nicht. Die Maler wurden verdrie§lich. Bei den ersten Bestellungen hatten sie gewonnen, bei diesen Nacharbeiten verloren sie, obgleich der Graf auch diese sehr gro§mŸtig bezahlte. Und da die von mehrern auf einem Bilde durch einander gearbeiteten Teile, bei aller MŸhe, keinen guten Effekt hervorbrachten, so glaubte zuletzt ein jeder, da§ seine Arbeit durch die Arbeiten der andern verdorben und vernichtet worden; daher wenig fehlte, die KŸnstler hŠtten sich hierŸber entzweit und wŠren in unversšhnliche Feindschaft geraten. Dergleichen VerŠnderungen oder vielmehr Zutaten wurden in gedachtem Atelier, wo ich mit den KŸnstlern ganz allein blieb, ausgefertiget; und es unterhielt mich, aus den Studien, besonders der Tiere, dieses und jenes Einzelne, diese oder jene Gruppe auszusuchen, und sie fŸr die NŠhe oder die Ferne in Vorschlag zu bringen; worin man mir denn manchmal aus †berzeugung oder Geneigtheit zu willfahren pflegte.


Die Teilnehmenden an diesem GeschŠft wurden also hšchst mutlos, besonders Seekatz, ein sehr hypochondrischer und in sich gezogner Mann, der zwar unter Freunden durch eine unvergleichlich heitre Laune sich als den besten Gesellschafter bewies, aber, wenn er arbeitete, allein, in sich gekehrt und všllig frei wirken wollte. Dieser sollte nun, wenn er schwere Aufgaben gelšst, sie mit dem grš§ten Flei§ und der wŠrmsten Liebe, deren er immer fŠhig war, vollendet hatte, zu wiederholten Malen von Darmstadt nach Frankfurt reisen, um entweder an seinen eigenen Bildern etwas zu verŠndern, oder fremde zu staffieren, oder gar unter seinem Beistand durch einen Dritten seine Bilder ins Buntscheckige arbeiten wo zu lassen. Sein Mi§mut nahm zu, sein Widerstand entschied sich, und es brauchte gro§er BemŸhungen von unserer Seite, um diesen Gevatter - denn auch er war's geworden - nach des Grafen WŸnschen zu lenken. Ich erinnere mich noch, da§, als schon die Kasten bereit standen, um die sŠmtlichen Bilder in der Ordnung einzupacken, in welcher sie an dem Ort ihrer Bestimmung der Tapezierer ohne weiteres aufheften konnte, da§, sage ich, nur eine kleine doch unumgŠngliche Nacharbeit erfordert wurde, Seekatz aber nicht zu bewegen war herŸberzukommen. Er hatte freilich noch zu guter Letzt das Beste getan, was er vermochte, indem er die vier Elemente in Kindern und Knaben, nach dem Leben, in TŸrstŸcken dargestellt, und nicht allein auf die Figuren, sondern auch auf die Beiwerke den grš§ten Flei§ gewendet hatte. Diese waren abgeliefert, bezahlt, und er glaubte auf immer aus der Sache geschieden zu sein; nun aber sollte er wieder herŸber, um einige Bilder, deren Ma§e etwas zu klein genommen worden, mit wenigen PinselzŸgen zu erweitern. Ein anderer, glaubte er, kšnne das auch tun; er hatte sich schon zu neuer Arbeit eingerichtet; kurz, er wollte nicht kommen. Die Absendung war vor der TŸre, trocknen sollte es auch noch, jeder Verzug war mi§lich; der Graf, in Verzweiflung, wollte ihn militŠrisch abholen lassen. Wir alle wŸnschten die Bilder endlich fort zu sehen, und fanden zuletzt keine Auskunft, als da§ der


Gevatter Dolmetsch sich in einen Wagen setzte und den Widerspenstigen mit Frau und Kind herŸberholte, der dann von dem Grafen freundlich empfangen, wohl gepflegt, und zuletzt reichlich beschenkt entlassen wurde.

Nach den fortgeschafften Bildern zeigte sich ein gro§er Friede im Hause. Das Giebelzimmer im Mansard wurde gereinigt und mir Ÿbergeben, und mein Vater, wie er die Kasten fortschaffen sah, konnte sich des Wunsches nicht erwehren, den Grafen hinterdrein zu schicken. Denn wie sehr die Neigung des Grafen auch mit der seinigen Ÿbereinstimmte; wie sehr es den Vater freuen mu§te, seinen Grundsatz, fŸr lebende Meister zu sorgen, durch einen Reicheren so fruchtbar befolgt zu sehen; wie sehr es ihn schmeicheln konnte, da§ seine Sammlung Anla§ gegeben, einer Anzahl braver KŸnstler in bedrŠngter Zeit einen so ansehnlichen Erwerb zu verschaffen: so fŸhlte er doch eine solche Abneigung gegen den Fremden, der in sein Haus eingedrungen, da§ ihm an dessen Handlungen nichts recht dŸnken konnte. Man solle KŸnstler beschŠftigen, aber nicht zu Tapetenmalern erniedrigen; man solle mit dem, was sie nach ihrer †berzeugung und FŠhigkeit geleistet, wenn es einem auch nicht durchgŠngig behage, zufrieden sein und nicht immer daran markten und mŠkeln: genug, es gab, ungeachtet des Grafen eigner liberaler BemŸhung, ein fŸr allemal kein VerhŠltnis. Mein Vater besuchte jenes Zimmer blo§, wenn sich der Graf bei Tafel befand, und ich erinnere mich nur ein einziges Mal, als Seekatz sich selbst Ÿbertroffen hatte und das Verlangen, diese Bilder zu sehen, das ganze Haus herbeitrieb, da§ mein Vater und der Graf zusammentreffend an diesen Kunstwerken ein gemeinsames Gefallen bezeigten, das sie an einander selbst nicht finden konnten.

Kaum hatten also die Kisten und Kasten das Haus gerŠumt, als der frŸher eingeleitete aber unterbrochne Betrieb, den Grafen zu entfernen, wieder angeknŸpft wurde. Man suchte durch Vorstellungen die Gerechtigkeit, die Billigkeit durch Bitten, durch Einflu§ die Neigung zu gewinnen, und brachte es


endlich dahin, da§ die Quartierherren den Beschlu§ fa§ten: es solle der Graf umlogiert, und unser Haus, in Betracht der seit einigen Jahren unausgesetzt Tag und Nacht getragnen Last, kŸnftig mit Einquartierung verschont werden. Damit sich aber hierzu ein scheinbarer Vorwand finde, so solle man in eben den ersten Stock, den bisher der Kšnigslieutenant besetzt gehabt, Mietleute einnehmen und dadurch eine neue Bequartierung gleichsam unmšglich machen. Der Graf, der nach der Trennung von seinen geliebten GemŠlden kein besonderes Interesse mehr am Hause fand, auch ohnehin bald abgerufen und versetzt zu werden hoffte, lie§ es sich ohne Widerrede gefallen, eine andere gute Wohnung zu beziehen, und schied von uns in Frieden und gutem Willen. Auch verlie§ er bald darauf die Stadt und erhielt stufenweise noch verschiedene Chargen, doch, wie man hšrte, nicht zu seiner Zufriedenheit. Er hatte indes das VergnŸgen, jene so emsig von ihm besorgten GemŠlde in dem Schlosse seines Bruders glŸcklich angebracht zu sehen; schrieb einige Male, sendete Ma§e und lie§ von den mehr genannten KŸnstlern verschiedenes nacharbeiten. Endlich vernahmen wir nichts weiter von ihm, au§er da§ man uns nach mehreren Jahren versichern wollte, er sei in Westindien, auf einer der franzšsischen Kolonien, als Gouverneur gestorben.


 

Viertes Buch

 

So viel Unbequemlichkeit uns auch die franzšsische Einquartierung mochte verursacht haben, so waren wir sie doch zu gewohnt geworden, als da§ wir sie nicht hŠtten vermissen, da§ uns Kindern das Haus nicht hŠtte tot scheinen sollen. Auch war es uns nicht bestimmt, wieder zur všlligen Familieneinheit zu gelangen. Neue Mietleute waren schon besprochen, und nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und Anstreichen war das Haus všllig wieder hergestellt. Der Kanzleidirektor Moritz mit den Seinigen, sehr werte Freunde meiner Eltern, zogen ein. Dieser, kein geborner Frankfurter, aber ein tŸchtiger Jurist und GeschŠftsmann, besorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen FŸrsten, Grafen und Herren. Ich habe ihn niemals anders als heiter und gefŠllig und Ÿber seinen Akten emsig gesehen. Frau und Kinder, sanft, still und wohlwollend, vermehrten zwar nicht die Geselligkeit in unserm Hause: denn sie blieben fŸr sich; aber es war eine Stille, ein Friede zurŸckgekehrt, den wir lange Zeit nicht genossen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein Mansardzimmer, in welchem die Gespenster der vielen GemŠlde mir zuweilen vorschwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu verscheuchen suchte.

Der Legationsrat Moritz, ein Bruder des Kanzleidirektors, kam von jetzt an auch šfters in unser Haus. Er war schon mehr Weltmann, von einer ansehnlichen Gestalt und dabei von bequem gefŠlligem Betragen. Auch er besorgte die Angelegenheiten verschiedener Standespersonen, und kam mit meinem Vater, bei Anla§ von Konkursen und kaiserlichen Kommissionen, mehrmals in BerŸhrung. Beide hielten viel auf einander, und standen gemeiniglich auf der Seite der Kre-


ditoren, mu§ten aber zu ihrem Verdru§ gewšhnlich erfahren, da§ die Mehrheit der bei solcher Gelegenheit Abgeordneten fŸr die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrat teilte seine Kenntnisse gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwŠrtigen Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein VergnŸgen daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, meine architektonischen Risse genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch tŠglich eine Stunde beschŠftigte, besser zu nutzen.

Dieser gute alte Mann war freilich nur ein HalbkŸnstler. Wir mu§ten Striche machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Kšpfe entstehen sollten; allein es war dabei weder an natŸrliche noch kŸnstliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt gequŠlt, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als wir die sogenannten Affekten von Lebrun zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese Zerrbilder fšrderten uns nicht. Nun schwankten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewšhnlichen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geŸbt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Wert des Originals oder dessen Geschmack zu bekŸmmern. In diesem Bestreben ging uns der Vater auf eine musterhafte Weise vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine Kinder diese Kunst trieben, nicht zurŸckbleiben, sondern ihnen, selbst in seinem Alter, ein Beispiel geben, wie sie in ihrer Jugend verfahren sollten. Er kopierte also einige Kšpfe des Piazzetta, nach dessen bekannten BlŠttern in klein Oktav, mit englischem Bleistift auf das feinste hollŠndische Papier. Er beobachtete dabei nicht allein die grš§te Reinlichkeit im Umri§, sondern ahmte auch die Schraffierung des Kupferstichs aufs genauste nach, mit einer leichten


Hand, nur allzu leise, da er denn, weil er die HŠrte vermeiden wollte, keine Haltung in seine BlŠtter brachte. Doch waren sie durchaus zart und gleichfšrmig. Sein anhaltender unermŸdlicher Flei§ ging so weit, da§ er die ganze ansehnliche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indessen wir Kinder von einem Kopf zum andern sprangen und uns nur die auswŠhlten, die uns gefielen.

Um diese Zeit ward auch der schon lŠngst in Beratung gezogne Vorsatz, uns in der Musik unterrichten zu lassen, ausgefŸhrt; und zwar verdient der letzte Ansto§ dazu wohl einige ErwŠhnung. Da§ wir das Klavier lernen sollten, war ausgemacht; allein Ÿber die Wahl des Meisters war man immer streitig gewesen. Endlich komme ich einmal zufŠlligerweise in das Zimmer eines meiner Gesellen, der eben Klavierstunde nimmt, und finde den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. FŸr jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht werden soll. Die schwarzen und wei§en Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Tšne selbst erscheinen unter figŸrlichen Namen. Eine solche bunte Gesellschaft arbeitet nun ganz vergnŸglich durcheinander. Applikatur und Takt scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der SchŸler zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum schšnsten vonstatten.

Kaum war ich nach Hause gekommen, als ich den Eltern anlag, nunmehr Ernst zu machen und uns diesen unvergleichlichen Mann zum Klaviermeister zu geben. Man nahm noch einigen Anstand, man erkundigte sich; man hšrte zwar nichts †bles von dem Lehrer, aber auch nichts sonderlich Gutes. Ich hatte indessen meiner Schwester alle die lustigen Benennungen erzŠhlt, wir konnten den Unterricht kaum erwarten, und setzten es durch, da§ der Mann angenommen wurde.

Das Notenlesen ging zuerst an, und als dabei kein Spa§ vorkommen wollte, tršsteten wir uns mit der Hoffnung, da§, wenn es erst ans Klavier gehen wŸrde, wenn es an die Finger


kŠme, das scherzhafte Wesen seinen Anfang nehmen wŸrde. Allein weder Tastatur noch Fingersetzung schien zu einigem Gleichnis Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren Strichen auf und zwischen den fŸnf Linien, blieben auch die schwarzen und wei§en Claves, und weder von einem DŠumerling noch Deuterling noch Goldfinger war mehr eine Silbe zu hšren; und das Gesicht verzog der Mann so wenig beim trocknen Unterricht, als er es vorher beim trocknen Spa§ verzogen hatte. Meine Schwester machte mir die bittersten VorwŸrfe, da§ ich sie getŠuscht habe, und glaubte wirklich, es sei nur Erfindung von mir gewesen. Ich war aber selbst betŠubt und lernte wenig, ob der Mann gleich ordentlich genug zu Werke ging: denn ich wartete immer noch, die frŸhern SpŠ§e sollten zum Vorschein kommen, und vertršstete meine Schwester von einem Tage zum andern. Aber sie blieben aus, und ich hŠtte mir dieses RŠtsel niemals erklŠren kšnnen, wenn es mir nicht gleichfalls ein Zufall aufgelšst hŠtte.

Einer meiner Gespielen trat herein, mitten in der Stunde, und auf einmal eršffneten sich die sŠmtlichen Ršhren des humoristischen Springbrunnens; die DŠumerlinge und Deuterlinge, die Krabler und Zabler, wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z.B. die Noten f und g, die Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf einmal wieder vorhanden und machten die wundersamsten MŠnnerchen. Mein junger Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute sich, da§ man auf eine so lustige Weise so viel lernen kšnne. Er schwur, da§ er seinen Eltern keine Ruhe lassen wŸrde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben.

Und so war mir, nach den GrundsŠtzen einer neuern Erziehungslehre, der Weg zu zwei KŸnsten frŸh genug eršffnet, blo§ auf gut GlŸck, ohne †berzeugung, da§ ein angebornes Talent mich darin weiter fšrdern kšnne. Zeichnen mŸsse jedermann lernen, behauptete mein Vater, und verehrte deshalb besonders Kaiser Maximilian, welcher dieses ausdrŸcklich solle befohlen haben. Auch hielt er mich ernst-


licher dazu an als zur Musik, welche er dagegen meiner Schwester vorzŸglich empfahl, ja dieselbe au§er ihren Lehrstunden eine ziemliche Zeit des Tages am Klaviere festhielt.

Je mehr ich aber auf diese Weise zu treiben veranla§t wurde, desto mehr wollte ich treiben, und selbst die Freistunden wurden zu allerlei wunderlichen BeschŠftigungen verwendet. Schon seit meinen frŸhsten Zeiten fŸhlte ich einen Untersuchungstrieb gegen natŸrliche Dinge. Man legt es manchmal als eine Anlage zur Grausamkeit aus, da§ Kinder solche GegenstŠnde, mit denen sie eine Zeitlang gespielt, die sie bald so, bald so gehandhabt, endlich zerstŸcken, zerrei§en und zerfetzen. Doch pflegt sich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie solche Dinge zusammenhŠngen, wie sie inwendig aussehen, auf diese Weise an den Tag zu legen. Ich erinnere mich, da§ ich als Kind Blumen zerpflŸckt, um zu sehen, wie die BlŠtter in den Kelch, oder auch Všgel berupft, um zu beobachten, wie die Federn in die FlŸgel eingefŸgt waren. Ist doch Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher šfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und VerknŸpfen, mehr durch Tšten als durch Beleben sich zu unterrichten glauben.

Ein bewaffneter Magnetstein, sehr zierlich in Scharlachtuch eingenŠht, mu§te auch eines Tages die Wirkung einer solchen Forschungslust erfahren. Denn diese geheime Anziehungskraft, die er nicht allein gegen das ihm angepa§te EisenstŠbchen ausŸbte, sondern die noch Ÿberdies von der Art war, da§ sie sich verstŠrken und tŠglich ein grš§res Gewicht tragen konnte, diese geheimnisvolle Tugend hatte mich dergestalt zur Bewunderung hingerissen, da§ ich mir lange Zeit blo§ im Anstaunen ihrer Wirkung gefiel. Zuletzt aber glaubte ich doch einige nŠhere AufschlŸsse zu erlangen, wenn ich die Šu§ere HŸlle wegtrennte. Dies geschah, ohne da§ ich dadurch klŸger geworden wŠre: denn die nackte Armatur belehrte mich nicht weiter. Auch diese nahm ich herab und behielt nun den blo§en Stein in HŠnden, mit dem ich durch FeilspŠne und NŠhnadeln mancherlei Versuche zu


machen nicht ermŸdete, aus denen jedoch mein jugendlicher Geist, au§er einer mannigfaltigen Erfahrung, keinen weiteren Vorteil zog. Ich wu§te die ganze Vorrichtung nicht wieder zusammenzubringen, die Teile zerstreuten sich, und ich verlor das eminente PhŠnomen zugleich mit dem Apparat.

Nicht glŸcklicher ging es mir mit der Zusammensetzung einer Elektrisiermaschine. Ein Hausfreund, dessen Jugend in die Zeit gefallen war, in welcher die ElektrizitŠt alle Geister beschŠftigte, erzŠhlte uns šfter, wie er als Knabe eine solche Maschine zu besitzen gewŸnscht, wie er sich die Hauptbedingungen abgesehen, und mit HŸlfe eines alten Spinnrades und einiger ArzneiglŠser ziemliche Wirkungen hervorgebracht. Da er dieses gern und oft wiederholte, und uns dabei von der ElektrizitŠt Ÿberhaupt unterrichtete, so fanden wir Kinder die Sache sehr plausibel, und quŠlten uns mit einem alten Spinnrade und einigen ArzneiglŠsern lange Zeit herum, ohne auch nur die mindeste Wirkung hervorbringen zu kšnnen. Wir hielten demungeachtet am Glauben fest, und waren sehr vergnŸgt, als zur Me§zeit, unter andern RaritŠten, Zauber- und TaschenspielerkŸnsten, auch eine Elektrisiermaschine ihre KunststŸcke machte, welche, so wie die magnetischen, fŸr jene Zeit schon sehr vervielfŠltigt waren.

Das Mi§trauen gegen den šffentlichen Unterricht vermehrte sich von Tage zu Tage. Man sah sich nach Hauslehrern um, und weil einzelne Familien den Aufwand nicht bestreiten konnten, so traten mehrere zusammen, um eine solche Absicht zu erreichen. Allein die Kinder vertrugen sich selten; der junge Mann hatte nicht AutoritŠt genug, und nach oft wiederholtem Verdru§ gab es nur gehŠssige Trennungen. Kein Wunder daher, da§ man auf andere Anstalten dachte, welche sowohl bestŠndiger als vorteilhafter sein sollten.

Auf den Gedanken, Pensionen zu errichten, war man durch die Notwendigkeit gekommen, welche jedermann empfand, da§ die franzšsische Sprache lebendig gelehrt und Ÿberliefert werden mŸsse. Mein Vater hatte einen jungen Menschen er-


zogen, der bei ihm Bedienter, Kammerdiener, SekretŠr, genug, nach und nach alles in allem gewesen war. Dieser, namens Pfeil, sprach gut Franzšsisch und verstand es grŸndlich. Nachdem er sich verheiratet hatte und seine Gšnner fŸr ihn auf einen Zustand denken mu§ten, so fielen sie auf den Gedanken, ihn eine Pension errichten zu lassen, die sich nach und nach zu einer kleinen Schulanstalt erweiterte, in der man alles Notwendige, ja zuletzt sogar Lateinisch und Griechisch lehrte. Die weitverbreiteten Konnexionen von Frankfurt gaben Gelegenheit, da§ junge Franzosen und EnglŠnder, um Deutsch zu lernen und sonst sich auszubilden, dieser Anstalt anvertraut wurden. Pfeil, der ein Mann in seinen besten Jahren, von der wundersamsten Energie und TŠtigkeit war, stand dem Ganzen sehr lobenswŸrdig vor, und weil er nie genug beschŠftigt sein konnte, so warf er sich bei Gelegenheit, da er seinen SchŸlern Musikmeister halten mu§te, selbst in die Musik, und betrieb das Klavierspielen mit solchem Eifer, da§ er, der niemals vorher eine Taste angerŸhrt hatte, sehr bald recht fertig und brav spielte. Er schien die Maxime meines Vaters angenommen zu haben, da§ junge Leute nichts mehr aufmuntern und anregen kšnne, als wenn man selbst schon in gewissen Jahren sich wieder zum SchŸler erklŠrte, und in einem Alter, worin man sehr schwer neue Fertigkeiten erlangt, dennoch durch Eifer und Anhaltsamkeit JŸngern, von der Natur mehr BegŸnstigten, den Rang abzulaufen suche.

Durch diese Neigung zum Klavierspielen ward Pfeil auf die Instrumente selbst gefŸhrt, und indem er sich die besten zu verschaffen hoffte, kam er in VerhŠltnisse mit Friederici in Gera, dessen Instrumente weit und breit berŸhmt waren. Er nahm eine Anzahl davon in Kommission, und hatte nun die Freude, nicht nur etwa einen FlŸgel, sondern mehrere in seiner Wohnung aufgestellt zu sehen, sich darauf zu Ÿben und hšren zu lassen.

Auch in unser Haus brachte die Lebendigkeit dieses Mannes einen grš§ern Musikbetrieb. Mein Vater blieb mit ihm, bis auf die strittigen Punkte, in einem dauernden guten Ver-


hŠltnisse. Auch fŸr uns ward ein gro§er Friedericischer FlŸgel angeschafft, den ich, bei meinem Klavier verweilend, wenig berŸhrte, der aber meiner Schwester zu desto grš§erer Qual gedieh, weil sie, um das neue Instrument gehšrig zu ehren, tŠglich noch einige Zeit mehr auf ihre †bungen zu wenden hatte; wobei mein Vater als Aufseher, Pfeil aber als Musterbild und antreibender Hausfreund abwechselnd zur Seite standen.

Eine besondere Liebhaberei meines Vaters machte uns Kindern viel Unbequemlichkeit. Es war nŠmlich die Seidenzucht, von deren Vorteil, wenn sie allgemeiner verbreitet wŸrde, er einen gro§en Begriff hatte. Einige Bekanntschaften in Hanau, wo man die Zucht der WŸrmer sehr sorgfŠltig betrieb, gaben ihm die nŠchste Veranlassung. Von dorther wurden ihm zu rechter Zeit die Eier gesendet; und sobald die MaulbeerbŠume genŸgsames Laub zeigten, lie§ man sie ausschlŸpfen, und wartete der kaum sichtbaren Geschšpfe mit gro§er Sorgfalt. In einem Mansardzimmer waren Tische und Gestelle mit Brettern aufgeschlagen, um ihnen mehr Raum und Unterhalt zu bereiten: denn sie wuchsen schnell, und waren nach der letzten HŠutung so hei§hungrig, da§ man kaum BlŠtter genug herbeischaffen konnte, sie zu nŠhren; ja sie mu§ten Tag und Nacht gefŸttert werden, weil eben alles darauf ankommt, da§ sie der Nahrung ja nicht zu einer Zeit ermangeln, wo die gro§e und wundersame VerŠnderung in ihnen vorgehen soll. War die Witterung gŸnstig, so konnte man freilich dieses GeschŠft als eine lustige Unterhaltung ansehen; trat aber KŠlte ein, da§ die MaulbeerbŠume litten, so machte es gro§e Not. Noch unangenehmer aber war es, wenn in der letzten Epoche Regen einfiel: denn diese Geschšpfe kšnnen die Feuchtigkeit gar nicht vertragen; und so mu§ten die benetzten BlŠtter sorgfŠltig abgewischt und getrocknet werden, welches denn doch nicht immer so genau geschehen konnte, und aus dieser oder vielleicht auch einer andern Ursache kamen mancherlei Krankheiten unter die Herde, wodurch die armen Kreaturen zu Tausenden hin-


gerafft wurden. Die daraus entstehende FŠulnis erregte einen wirklich pestartigen Geruch, und da man die toten und kranken wegschaffen und von den gesunden absondern mu§te, um nur einige zu retten, so war es in der Tat ein Šu§erst beschwerliches und widerliches GeschŠft, das uns Kindern manche bšse Stunde verursachte.

Nachdem wir nun eines Jahrs die schšnsten FrŸhlings und Sommerwochen mit Wartung der SeidenwŸrmer hingebracht, mu§ten wir dem Vater in einem andern GeschŠft beistehen, das, obgleich einfacher, uns dennoch nicht weniger beschwerlich ward. Die ršmischen Prospekte nŠmlich, welche in dem alten Hause, in schwarze StŠbe oben und so unten eingefa§t, an den WŠnden mehrere Jahre gehangen hatten, waren durch Licht, Staub und Rauch sehr vergilbt, und durch die Fliegen nicht wenig unscheinbar geworden. War nun eine solche Unreinlichkeit in dem neuen Hause nicht zulŠssig, so hatten diese Bilder fŸr meinen Vater auch durch seine lŠngere Entferntheit von den vorgestellten Gegenden an Wert gewonnen. Denn im Anfange dienen uns dergleichen Abbildungen, die erst kurz vorher empfangenen EindrŸcke aufzufrischen und zu beleben. Sie scheinen uns gering gegen diese und meistens nur ein trauriges Surrogat. Verlischt hingegen das Andenken der Urgestalten immer mehr und mehr, so treten die Nachbildungen unvermerkt an ihre Stelle, sie werden uns so teuer, als es jene waren, und was wir anfangs mi§geachtet, erwirbt sich nunmehr unsre SchŠtzung und Neigung. So geht es mit allen Abbildungen, besonders auch mit PortrŠten. Nicht leicht ist jemand mit dem Konterfei eines GegenwŠrtigen zufrieden, und wie erwŸnscht ist uns jeder Schattenri§ eines Abwesenden oder gar Abgeschiedenen.

Genug, in diesem GefŸhl seiner bisherigen Verschwendung wollte mein Vater jene Kupferstiche so viel wie mšglich wieder hergestellt wissen. Da§ dieses durch Bleichen mšglich sei, war bekannt; und diese bei gro§en BlŠttern immer bedenkliche Operation wurde unter ziemlich ungŸnstigen LokalumstŠnden vorgenommen. Denn die gro§en Bretter,


worauf die angerauchten Kupfer befeuchtet und der Sonne ausgestellt wurden, standen vor Mansardfenstern in den Dachrinnen an das Dach gelehnt, und waren daher manchen UnfŠllen ausgesetzt. Dabei war die Hauptsache, da§ das Papier niemals austrocknen durfte, sondern immer feucht gehalten werden mu§te. Diese Obliegenheit hatte ich und meine Schwester, wobei uns denn wegen der Langenweile und Ungeduld, wegen der Aufmerksamkeit, die uns keine Zerstreuung zulie§, ein sonst so sehr erwŸnschter MŸ§iggang zur hšchsten Qual gereichte. Die Sache ward gleichwohl durchgesetzt, und der Buchbinder, der jedes Blatt auf starkes Papier aufzog, tat sein Bestes, die hier und da durch unsre FahrlŠssigkeit zerrissenen RŠnder auszugleichen und herzustellen. Die sŠmtlichen BlŠtter wurden in einen Band zusammengefa§t und waren fŸr diesmal gerettet.

Damit es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerlei des Lebens und Lernens fehlen mšchte, so mu§te sich gerade um diese Zeit ein englischer Sprachmeister melden, welcher sich anheischig machte, innerhalb vier Wochen einen jeden, der nicht ganz roh in Sprachen sei, die englische zu lehren und ihn so weit zu bringen, da§ er sich mit einigem Flei§ weiter helfen kšnne. Er nahm ein mŠ§iges Honorar; die Anzahl der SchŸler in einer Stunde war ihm gleichgŸltig. Mein Vater entschlo§ sich auf der Stelle, den Versuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwester bei dem expediten Meister Lektion. Die Stunden wurden treulich gehalten, am Repetieren fehlte es auch nicht; man lie§ die vier Wochen Ÿber eher einige andere †bungen liegen; der Lehrer schied von uns und wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er sich lŠnger in der Stadt aufhielt und viele Kunden fand, so kam er von Zeit zu Zeit nachzusehen und nachzuhelfen, dankbar, da§ wir unter die ersten gehšrten, welche Zutrauen ihm gehabt, und stolz, uns den Ÿbrigen als Muster anfŸhren zu kšnnen.

In Gefolg von diesem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, da§ auch das Englische hŸbsch in der Reihe der Ÿbrigen SprachbeschŠftigungen bliebe. Nun bekenne ich, da§ es mir


immer lŠstiger wurde, bald aus dieser bald aus jener Grammatik oder Beispielsammlung, bald aus diesem oder jenem Autor den Anla§ zu meinen Arbeiten zu nehmen, und so meinen Anteil an den GegenstŠnden zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken, alles mit einmal abzutun, und erfand einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die, von einander entfernt und in der Welt zerstreut, sich wechselseitig Nachricht von ihren ZustŠnden und Empfindungen mitteilen. Der Šlteste Bruder gibt in gutem Deutsch Bericht von allerlei GegenstŠnden und Ereignissen seiner Reise. Die Schwester, in einem frauenzimmerlichen Stil, mit lauter Punkten und in kurzen SŠtzen, ungefŠhr wie nachher "Siegwart" geschrieben wurde, erwidert bald ihm, bald den andern Geschwistern, was sie teils von hŠuslichen VerhŠltnissen, teils von Herzensangelegenheiten zu erzŠhlen hat. Ein Bruder studiert Theologie und schreibt ein sehr fšrmliches Latein, dem er manchmal ein griechisches Postskript hinzufŸgt. Einem folgenden, in Hamburg als Handlungsdiener angestellt, ward natŸrlich die englische Korrespondenz zuteil, so wie einem jŸngern, der sich in Marseille aufhielt, die franzšsische. Zum Italienischen fand sich ein Musikus auf seinem ersten Ausflug in die Welt, und der jŸngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen, hatte, da ihm die Ÿbrigen Sprachen abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte durch seine schrecklichen Chiffern die Ÿbrigen in Verzweiflung und die Eltern Ÿber den guten Einfall zum Lachen.

FŸr diese wunderliche Form suchte ich mir einigen Gehalt, indem ich die Geographie der Gegenden, wo meine Geschšpfe sich aufhielten, studierte, und zu jenen trockenen LokalitŠten allerlei Menschlichkeiten hinzu erfand, die mit dem Charakter der Personen und ihrer BeschŠftigung einige Verwandtschaft hatten. Auf diese Weise wurden meine ExerzitienbŸcher viel voluminšser; der Vater war zufriedener, und ich ward eher gewahr, was mir an eigenem Vorrat und an Fertigkeiten abging.


Wie nun dergleichen Dinge, wenn sie einmal im Gange sind, kein Ende und keine Grenzen haben, so ging es auch hier: denn indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es ebenso gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, da§ mir die Kenntnis des HebrŠischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Sicherheit behandeln lie§. Ich eršffnete daher meinem Vater die Notwendigkeit, HebrŠisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft seine Einwilligung: denn ich hatte noch einen hšhern Zweck. †berall hšrte ich sagen, da§ zum VerstŠndnis des Alten Testaments so wie des Neuen die Grundsprachen nštig wŠren. Das letzte las ich ganz bequem, weil die sogenannten Evangelien und Episteln, damit es ja auch Sonntags nicht an †bung fehle, nach der Kirche rezitiert, Ÿbersetzt und einigerma§en erklŠrt werden mu§ten. Ebenso dachte ich es nun auch mit dem Alten Testamente zu halten, das mir wegen seiner EigentŸmlichkeit ganz besonders von jeher zugesagt hatte.

Mein Vater, der nicht gern etwas halb tat, beschlo§, den Rektor unseres Gymnasiums, Doktor Albrecht, um Privatstunden zu ersuchen, die er mir wšchentlich so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Nštigste gefa§t hŠtte; denn er hoffte, sie werde, wo nicht so schnell, doch wenigstens in doppelter Zeit als die englische sich abtun lassen.

Der Rektor Albrecht war eine der originalsten Figuren von der Welt, klein, nicht dick aber breit, unfšrmlich ohne verwachsen zu sein, kurz ein €sop mit Chorrock und PerŸcke. Sein Ÿber-siebzigjŠhriges Gesicht war durchaus zu einem sarkastischen LŠcheln verzogen, wobei seine Augen immer gro§ blieben und, obgleich rot, doch immer leuchtend und geistreich waren. Er wohnte in dem alten Kloster zu den BarfŸ§ern, dem Sitz des Gymnasiums. Ich hatte schon als Kind, meine Eltern begleitend, ihn manchmal besucht, und die langen dunklen GŠnge, die in Visitenzimmer verwandelten Kapellen, das unterbroche


ne treppen- und winkelhafte Lokal mit schaurigem Behagen durchstrichen. Ohne mir unbequem zu sein, examinierte er mich, so oft er mich sah, und lobte und ermunterte mich. Eines Tages, bei der Translokation nach šffentlichem Examen, sah er mich als einen auswŠrtigen Zuschauer, wŠhrend er die silbernen praemia virtutis et diligentize austeilte, nicht weit von seinem Katheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen blicken, aus welchem er die SchaumŸnzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine Freude war gro§, obgleich andre wo diese einem Nicht Schulknaben gewŠhrte Gabe au§er aller Ordnung fanden. Allein daran war dem guten Alten wenig gelegen, der Ÿberhaupt den Sonderling und zwar in einer auffallenden Weise spielte. Er hatte als Schulmann einen sehr guten Ruf und verstand sein Handwerk, ob ihm gleich das Alter solches auszuŸben nicht mehr ganz gestattete. Aber beinahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit fŸhlte er sich durch Šu§ere UmstŠnde gehindert, und wie ich schon frŸher wu§te, war er weder mit dem Konsistorium, noch den Scholarchen, noch den Geistlichen, noch auch den Lehrern zufrieden. Seinem Naturell, das sich zum Aufpassen auf Fehler und MŠngel und zur Satire hinneigte, lie§ er sowohl in Programmen als in šffentlichen Reden freien Lauf, und wie Lucian fast der einzige Schriftsteller war, den er las und schŠtzte, so wŸrzte er alles, was er sagte und schrieb, mit beizenden Ingredienzien.

GlŸcklicherweise fŸr diejenigen, mit welchen er unzufrieden war, ging er niemals direkt zu Werke, sondern schraubte nur mit BezŸgen, Anspielungen, klassischen Stellen und biblischen SprŸchen auf die MŠngel hin, die er zu rŸgen gedachte. Dabei war sein mŸndlicher Vortrag (er las seine Reden jederzeit ab) unangenehm, unverstŠndlich, und Ÿber alles dieses manchmal durch einen Husten, šfters aber durch ein hohles bauchschŸtterndes Lachen unterbrochen, womit er die bei§enden Stellen anzukŸndigen und zu begleiten pflegte. Diesen seltsamen Mann fand ich mild und willig, als ich an-


fing, meine Stunden bei ihm zu nehmen. Ich ging nun tŠglich abends um 6 Uhr zu ihm, und fŸhlte immer ein heimliches Behagen wenn sich die KlingeltŸre hinter mir schlo§, und ich nun den langen dŸsteren Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir sa§en in seiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beschlagenen Tische; ein sehr durchlesener Lucian kam nie von seiner Seite.

Ungeachtet alles Wohlwollens gelangte ich doch nicht ohne Einstand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewisse spšttische Anmerkungen, und was es denn mit dem HebrŠischen eigentlich solle, nicht unterdrŸcken. Ich verschwieg ihm die Absicht auf das Judendeutsch, und sprach von besserem VerstŠndnis des Grundtextes. Darauf lŠchelte er und meinte, ich solle schon zufrieden sein, wenn ich nur lesen lernte. Dies verdro§ mich im stillen, und ich nahm alle meine Aufmerksamkeit zusammen, als es an die Buchstaben kam. Ich fand ein Alphabet, das ungefŠhr dem griechischen zur Seite ging, dessen Gestalten fa§lich, dessen Benennungen mir zum grš§ten Teil nicht fremd waren. Ich hatte dies alles sehr bald begriffen und behalten, und dachte, es sollte nun ans Lesen gehen. Da§ dieses von der rechten zur linken Seite geschehe, war mir wohl bewu§t. Nun aber trat auf einmal ein neues Heer von kleinen BuchstŠbchen und Zeichen hervor, von Punkten und Strichelchen aller Art welche eigentlich die Vokale vorstellen sollten, worŸber ich mich um so mehr verwunderte, als sich in dem grš§ern Alphabete offenbar Vokale befanden, und die Ÿbrigen nur unter fremden Benennungen verborgen zu sein schienen. Auch ward gelehrt, da§ die jŸdische Nation, solange sie geblŸht, wirklich sich mit jenen ersten Zeichen begnŸgt und keine andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt habe. Ich wŠre nun gar zu gern auf diesem altertŸmlichen, wie mir schien bequemeren Wege gegangen; allein mein Alter erklŠrte etwas streng: man mŸsse nach der Grammatik verfahren, wie sie einmal beliebt und verfa§t worden. Das Lesen ohne diese Punkte und Striche sei eine sehr


schwere Aufgabe, und kšnne nur von Gelehrten und den GeŸbtesten geleistet werden. Ich mu§te mich also bequemen, auch diese kleinen Merkzeichen kennen zu lernen; aber die Sache ward mir immer verworrner. Nun sollten einige der ersten grš§ern Urzeichen an ihrer Stelle gar nichts gelten, damit ihre kleinen Nachgebornen doch ja nicht umsonst dastehen mšchten. Dann sollten sie einmal wieder einen leisen Hauch, dann einen mehr oder weniger harten Kehllaut andeuten, bald gar nur als StŸtze und Widerlage dienen. Zuletzt aber, wenn man sich alles wohl gemerkt zu haben glaubte, wurden einige der gro§en sowohl als der kleinen Personnagen in den Ruhestand versetzt, so da§ das Auge immer sehr viel und die Lippe sehr wenig zu tun hatte.

Indem ich nun dasjenige, was mir dem Inhalt nach schon bekannt war, in einem fremden kauderwelschen Idiom herstottern sollte, wobei mir denn ein gewisses NŠseln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig empfohlen wurde, so kam ich gewisserma§en von der Sache ganz ab, und amŸsierte mich auf eine kindische Weise an den seltsamen Namen dieser gehŠuften Zeichen. Da waren Kaiser, Kšnige und Herzoge, die, als Akzente hie und da dominierend, mich nicht wenig unterhielten. Aber auch diese schalen SpŠ§e verloren bald ihren Reiz. Doch wurde ich dadurch schadlos gehalten, da§ mir beim Lesen, †bersetzen, Wiederholen, Auswendiglernen der Inhalt des Buchs um so lebhafter entgegentrat, und dieser war es eigentlich, Ÿber welchen ich von meinem alten Herrn AufklŠrung verlangte. Denn schon vorher waren mir die WidersprŸche der †berlieferung mit dem Wirklichen und Mšglichen sehr auffallend gewesen, und ich hatte meine Hauslehrer durch die Sonne, es die zu Gibeon, und den Mond, der im Tal Ajalon still stand, in manche Not versetzt; gewisser anderer Unwahrscheinlichkeiten und Inkongruenzen nicht zu gedenken. Alles dergleichen ward nun aufgeregt, indem ich mich, um von dem HebrŠischen Meister zu werden, mit dem Alten Testament ausschlie§lich beschŠftigte, und solches nicht mehr in Lu-


thers †bersetzung, sondern in der wšrtlichen beigedruckten Version des Sebastian Schmid, den mir mein Vater sogleich angeschafft hatte, durchstudierte. Hier fingen unsere Stunden leider an, was die SprachŸbungen betrifft, lŸckenhaft zu werden. Lesen, Exponieren, Grammatik, Aufschreiben und Hersagen von Wšrtern dauerte selten eine všllige halbe Stunde: denn ich fing sogleich an, auf den Sinn der Sache loszugehen, und, ob wir gleich noch in dem ersten Buche Mosis befangen waren, mancherlei Dinge zur Sprache zu bringen, welche mir aus den spŠtern BŸchern im Sinne lagen. Anfangs suchte der gute Alte mich von solchen Abschweifungen zurŸckzufŸhren, zuletzt aber schien es ihn selbst zu unterhalten. Er kam nach seiner Art nicht aus dem Husten und Lachen, und wiewohl er sich sehr hŸtete, mir eine Auskunft zu geben, die ihn hŠtte kompromittieren kšnnen, so lie§ meine Zudringlichkeit doch nicht nach; ja da mir mehr daran gelegen war, meine Zweifel vorzubringen als die Auflšsung derselben zu erfahren, so wurde ich immer lebhafter und kŸhner, wozu er mich durch sein Betragen zu berechtigen schien. †brigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als da§ er ein Ÿber das andre Mal mit seinem bauchschŸtternden Lachen ausrief: "Er nŠrrischer Kerl! Er nŠrrischer Junge!"

Indessen mochte ihm meine die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende, kindische Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und einiger NachhŸlfe wert geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das gro§e engIische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereitstand, und in welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Stellen auf eine verstŠndige und kluge Weise unternommen war. Die †bersetzung hatte durch die gro§en BemŸhungen deutscher Gottesgelehrten VorzŸge vor dem Original erhalten. Die verschiedenen Meinungen waren angefŸhrt, und zuletzt eine Art von Vermittelung versucht, wobei die WŸrde des Buchs, der Grund der Religion und der Menschenverstand einigerma§en neben einander bestehen konnten. So oft ich


nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zweifeln auftrat, so oft deutete er auf das Repositorium; ich holte mir den Band, er lie§ mich lesen, blŠtterte in seinem Lucian, und wenn ich Ÿber das Buch meine Anmerkungen machte, war sein gewšhnliches Lachen alles, wodurch er meinen Scharfsinn erwiderte. In den langen Sommertagen lie§ er mich sitzen, solange ich lesen konnte, manchmal allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte, einen Band nach dem andern mit nach Hause zu nehmen.

Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurŸckkehren, den ihm die Natur einmal vorgezeichnet hat. So erging es auch mir im gegenwŠrtigen Falle. Die BemŸhungen um die Sprache, um den Inhalt der Heiligen Schriften selbst endigten zuletzt damit, da§ von jenem schšnen und viel gepriesenen Lande, seiner Umgebung und Nachbarschaft, sowie von den Všlkern und Ereignissen, welche jenen Fleck der Erde durch Jahrtausende hindurch verherrlichten, eine lebhaftere Vorstellung in meiner Einbildungskraft hervorging.

Dieser kleine Raum sollte den Ursprung und das Wachstum des Menschengeschlechts sehen; von dorther sollten die ersten und einzigsten Nachrichten der Urgeschichte zu uns gelangen, und ein solches Lokal sollte zugleich so einfach und fa§lich, als mannigfaltig und zu den wundersamsten Wanderungen und Ansiedelungen geeignet vor unserer Einbildungskraft liegen. Hier zwischen vier benannten FlŸssen war aus der ganzen zu bewohnenden Erde ein kleiner, hšchst anmutiger Raum dem jugendlichen Menschen ausgesondert. Hier sollte er seine ersten FŠhigkeiten entwickeln, und hier sollte ihn zugleich das Los treffen, das seiner ganzen Nachkommenschaft beschieden war, seine Ruhe zu verlieren, indem er nach Erkenntnis strebte. Das Paradies war verscherzt; die Menschen mehrten und verschlimmerten sich; die an die Unarten dieses Geschlechte noch nicht gewohnten Elohim wurden ungeduldig und vernichteten es von Grund


aus. Nur wenige wurden aus der allgemeinen †berschwemmung gerettet; und kaum hatte sich diese greuliche Flut verlaufen, als der bekannte vaterlŠndische Boden schon wieder vor den Blicken der dankbaren Geretteten lag.

Zwei FlŸsse von vieren, Euphrat und Tigris, flossen noch in ihren Betten. Der Name des ersten blieb; den andern schien sein Lauf zu bezeichnen. Genauere Spuren des Paradieses wŠren nach einer so gro§en UmwŠlzung nicht zu fordern gewesen. Das erneute Menschengeschlecht ging von hier zum zweitenmal aus; es fand Gelegenheit, sich auf alle Arten zu nŠhren und zu beschŠftigen, am meisten aber gro§e Herden zahmer Geschšpfe um sich zu versammeln und mit ihnen nach allen Seiten hinzuziehen.

Diese Lebensweise sowie die Vermehrung der StŠmme nštigte die Všlker bald, sich von einander zu entfernen. Sie konnten sich sogleich nicht entschlie§en, ihre Verwandten und Freunde fŸr immer fahren zu lassen; sie kamen auf den Gedanken, einen hohen Turm zu bauen, der ihnen aus weiter Ferne den Weg wieder zurŸck weisen sollte. Aber dieser Versuch mi§lang wie jenes erste Bestreben. Sie sollten nicht zugleich glŸcklich und klug, zahlreich und einig sein. Die Elohim verwirrten sie, der Bau unterblieb, die Menschen zerstreuten sich; die Welt war bevšlkert, aber entzweit.

Unser Blick, unser Anteil bleibt aber noch immer an diese Gegenden geheftet. Endlich geht abermals ein Stammvater von hier aus, der so glŸcklich ist, seinen Nachkommen einen entschiedenen Charakter aufzuprŠgen, und sie dadurch fŸr ewige Zeiten zu einer gro§en, und bei allem GlŸcks- und Ortswechsel zusammenhaltenden Nation zu vereinigen.

Vom Euphrat aus, nicht ohne gšttlichen Fingerzeig, wandert Abraham gegen Westen. Die WŸste setzt seinem Zug kein entschiedenes Hindernis entgegen; er gelangt an den Jordan, zieht Ÿber den Flu§ und verbreitet sich in den schšnen mittŠgigen Gegenden von PalŠstina. Dieses Land war schon frŸher in Besitz genommen und ziemlich bewohnt. Berge, nicht allzu hoch aber steinicht und unfrucht-


bar, waren von vielen bewŠsserten, dem Anbau gŸnstigen TŠlern durchschnitten. StŠdte, Flecken, einzelne Ansiedelungen lagen zerstreut auf der FlŠche, auf AbhŠngen des gro§en Tals, dessen Wasser sich im Jordan sammeln, so bewohnt, so bebaut war das Land, aber die Welt noch gro§ genug, und die Menschen nicht auf den Grad sorgfŠltig, bedŸrfnisvoll und tŠtig, um sich gleich aller ihrer Umgebungen zu bemŠchtigen. Zwischen jenen Besitzungen erstreckten sich gro§e RŠume, in welchen weidende ZŸge sich bequem hin und her bewegen konnten. In solchen RŠumen hŠlt sich Abraham auf, sein Bruder Lot ist bei ihm; aber sie kšnnen nicht lange an solchen Orten verbleiben. Eben jene Verfassung des Landes, dessen Bevšlkerung bald zubald abnimmt, und dessen Erzeugnisse sich niemals mit dem BedŸrfnis im Gleichgewicht erhalten, bringt unversehens eine Hungersnot hervor, und der Eingewanderte leidet mit dem Einheimischen, dem er durch seine zufŠllige Gegenwart die eigne Nahrung verkŸmmert hat. Die beiden chaldŠischen BrŸder ziehen nach €gypten, und so ist uns der Schauplatz vorgezeichnet, auf dem einige tausend Jahre die bedeutendsten Begebenheiten der Welt vorgehen sollten. Vom Tigris zum Euphrat, vom Euphrat zum Nil sehen wir die Erde bevšlkert, und in diesem Raume einen bekannten, den Gšttern geliebten, uns schon wert gewordnen Mann mit Herden und GŸtern hin und wider ziehen und sie in kurzer Zeit aufs reichlichste vermehren. Die BrŸder kommen zurŸck; allein gewitzigt durch die ausgestandene Not, fassen sie den Entschlu§, sich von einander zu trennen. Beide verweilen zwar im mittŠgigen Kanaan; aber indem Abraham zu Hebron gegen den Hain Mamre bleibt, zieht sich Lot nach dem Tale Siddim, das, wenn unsere Einbildungskraft kŸhn genug ist, dem Jordan einen unterirdischen Ausflu§ zu geben, um an der Stelle des gegenwŠrtigen Asphaltsees einen trocknen Boden zu gewinnen, uns als ein zweites Paradies erscheinen kann und mu§; um so mehr, weil die Bewohner und Umwohner desselben, als Weichlinge und Frevler berŸchtigt,


uns dadurch auf ein bequemes und Ÿppiges Leben schlie§en lassen. Lot wohnt unter ihnen, jedoch abgesondert.

Aber Hebron und der Hain Mamre erscheinen uns als die wichtige StŠtte, wo der Herr mit Abraham spricht und ihm alles Land verhei§t, so weit sein Blick nur in vier Weltgegenden reichen mag. Aus diesen stillen Bezirken, von diesen Hirtenvšlkern, die mit den Himmlischen umgehen dŸrfen, sie als GŠste bewirten und manche Zwiesprache mit ihnen halten, werden wir genštigt den Blick abermals gegen Osten zu wenden, und an die Verfassung der Nebenwelt zu denken, die im ganzen wohl der einzelnen Verfassung von Kanaan gleichen mochte.

Familien halten zusammen; sie vereinigen sich, und die Lebensart der StŠmme wird durch das Lokal bestimmt, das sie sich zugeeignet haben oder zueignen. Auf den Gebirgen, die ihr Wasser nach dem Tigris hinuntersenden, finden wir kriegerische Všlker, die schon sehr frŸhe auf jene Welteroberer und Weltbeherrscher hindeuten, und in einem fŸr jene Zeiten ungeheuren Feldzug uns ein Vorspiel kŸnftiger Gro§taten geben. Kedor Laomor, Kšnig von Elam, wirkt schon mŠchtig auf VerbŸndete. Er herrscht lange Zeit: denn schon zwšlf Jahre vor Abrahams Ankunft in Kanaan hatte er bis an den Jordan die Všlker zinsbar gemacht. Sie waren endlich abgefallen, und die VerbŸndeten rŸsten sich zum Kriege. Wir finden sie unvermutet auf einem Wege, auf dem wahrscheinlich auch Abraham nach Kanaan gelangte. Die Všlker an der linken und untern Seite des Jordan werden bezwungen. Kedor Laomor richtet seinen Zug sŸdwŠrts nach den Všlkern der WŸste, sodann sich nordwŠrts wendend schlŠgt er die Amalekiter, und als er auch die Amoriter Ÿberwunden, gelangt er nach Kanaan, ŸberfŠllt die Kšnige des Tals Siddim, schlŠgt und zerstreut sie, und zieht mit gro§er Beute den Jordan aufwŠrts, um seinen Siegerzug bis gegen den Libanon auszudehnen.

Unter den Gefangenen, Beraubten, mit ihrer Habe Fortgeschleppten befindet sich auch Lot, der das Schicksal des


Landes teilt, worin er als Gast sich befindet. Abraham vernimmt es, und hier sehen wir sogleich den Erzvater als Krieger und Helden. Er rafft seine Knechte zusammen, teilt sie in Haufen, fŠllt auf den beschwerlichen Beutetro§, verwirrt die Sieghaften, die im RŸcken keinen Feind mehr vermuten konnten, und bringt seinen Bruder und dessen Habe nebst manchem von der Habe der Ÿberwundenen Kšnige zurŸck. Durch diesen kurzen Kriegszug nimmt Abraham gleichsam von dem Lande Besitz. Den Einwohnern erscheint er als BeschŸtzer, als Retter, und durch UneigennŸtzigkeit als Kšnig. Dankbar empfangen ihn die Kšnige des Tals, segnend Melchisedek der Kšnig und Priester.

Nun werden die Weissagungen einer unendlichen Nachkommenschaft erneut, ja sie gehen immer mehr ins Weite. Vom Wasser des Euphrat bis zum Flu§ €gyptens werden ihm die sŠmtlichen Landstrecken versprochen; aber noch sieht es mit seinen unmittelbaren Leibeserben mi§lich aus. Er ist achtzig Jahr alt und hat keinen Sohn. Sara, weniger den Gšttern vertrauend als er, wird ungeduldig: sie will nach orientalischer Sitte durch ihre Magd einen Nachkommen haben. Aber kaum ist Hagar dem Hausherrn vertraut, kaum ist Hoffnung zu einem Sohne, so zeigt sich der Zwiespalt im Hause. Die Frau begegnet ihrer eignen BeschŸtzten Ÿbel genug, und Hagar flieht, um bei andern Horden einen bessern Zustand zu finden. Nicht ohne hšheren Wink kehrt sie zurŸck, und Ismael wird geboren.

Abraham ist nun neunundneunzig Jahr alt, und die Verhei§ungen einer zahlreichen Nachkommenschaft werden noch immer wiederholt, so da§ am Ende beide Gatten sie lŠcherlich finden. Und doch wird Sara zuletzt guter Hoffnung und bringt einen Sohn, dem der Name Isaak zuteil wird.

Auf gesetzmŠ§iger Fortpflanzung des Menschengeschlechts ruht grš§tenteils die Geschichte. Die bedeutendsten Weltbegebenheiten ist man bis in die Geheimnisse der Familien zu verfolgen genštigt; und so geben uns auch die Ehen der ErzvŠter zu eignen Betrachtungen Anla§. Es ist,


als ob die Gottheiten, welche das Schicksal der Menschen zu leiten beliebten, die ehelichen Ereignisse jeder Art hier gleichsam im Vorbilde hŠtten darstellen wollen. Abraham, so lange Jahre mit einer schšnen, von vielen umworbenen Frau in kinderloser Ehe, findet sich in seinem hundertsten als Gatte zweier Frauen, als Vater zweier Sšhne, und in diesem Augenblick ist sein Hausfriede gestšrt. Zwei Frauen neben einander sowie zwei Sšhne von zwei MŸttern gegen einander Ÿber vertragen sich unmšglich. Derjenige Teil, der durch Gesetze, Herkommen und Meinung weniger begŸnstigt ist, mu§ weichen. Abraham mu§ die Neigung zu Hagar, zu Ismael aufopfern; beide werden entlassen und Hagar genštigt, den Weg, den sie auf einer freiwilligen Flucht eingeschlagen, nunmehr wider Willen anzutreten, anfangs, wie es scheint, zu des Kindes und ihrem Untergang; aber der Engel des Herrn, der sie frŸher zurŸckgewiesen, rettet sie auch diesmal, damit Ismael auch zu einem gro§en Volk werde, und die unwahrscheinlichste aller Verhei§ungen selbst Ÿber ihre Grenzen hinaus in ErfŸllung gehe.

Zwei Eltern in Jahren und ein einziger spŠtgeborner Sohn: hier sollte man doch endlich eine hŠusliche Ruhe, ein irdisches GlŸck erwarten! Keineswegs. Die Himmlischen bereiten dem Erzvater noch die schwerste PrŸfung. Doch von dieser kšnnen wir nicht reden, ohne vorher noch mancherlei Betrachtungen anzustellen.

Sollte eine natŸrliche allgemeine Religion entspringen, und sich eine besondere geoffenbarte daraus entwickeln, so waren die LŠnder, in denen bisher unsere Einbildungskraft verweilt, die Lebensweise, die Menschenart wohl am geschicktesten dazu; wenigstens finden wir nicht, da§ in der ganzen Welt sich etwas Šhnlich GŸnstiges und Heitres hervorgetan hŠtte. Schon zur natŸrlichen Religion, wenn wir annehmen, da§ sie frŸher in dem menschlichen GemŸte entsprungen, gehšrt viel Zartheit der Gesinnung: denn sie ruht auf der †berzeugung einer allgemeinen Vorsehung, welche die Weltordnung im ganzen leite. Eine besondre


Religion, eine von den Gšttern diesem oder jenem Volk geoffenbarte, fŸhrt den Glauben an eine besondre Vorsehung mit sich, die das gšttliche Wesen gewissen begŸnstigten Menschen, Familien, StŠmmen und Všlkern zusagt. Diese scheint sich schwer aus dem Innern des Menschen zu entwickeln, sie verlangt †berlieferung, Herkommen, BŸrgschaft aus uralter Zeit.

Schšn ist es daher, da§ die israelitische †berlieferung gleich die ersten MŠnner, welche dieser besondern Vorsehung vertrauen, als Glaubenshelden darstellt, welche von jenem hohen Wesen, dem sie sich abhŠngig erkennen, alle und jede Gebote ebenso blindlings befolgen, als sie, ohne zu zweifeln, die spŠten ErfŸllungen seiner Verhei§ungen abzuwarten nicht ermŸden.

So wie eine besondere geoffenbarte Religion den Begriff zum Grunde legt, da§ einer mehr von den Gšttern begŸnstigt sein kšnne als der andre, so entspringt sie auch vorzŸglich aus der Absonderung der ZustŠnde. Nahe verwandt schienen sich die ersten Menschen, aber ihre BeschŠftigungen trennten sie bald. Der JŠger war der freieste von allen; aus ihm entwickelte sich der Krieger und der Herrscher. Der Teil, der den Acker baute, sich der Erde verschrieb, Wohnungen und Scheuern auffŸhrte, um das Erworbene zu erhalten, konnte sich schon etwas dŸnken, weil sein Zustand Dauer und Sicherheit versprach. Dem Hirten an seiner Stelle schien der ungemessenste Zustand sowie ein grenzenloser Besitz zuteil geworden. Die Vermehrung der Herden ging ins Unendliche, und der Raum, der sie ernŠhren sollte, erweiterte sich nach allen Seiten. Diese drei StŠnde scheinen sich gleich anfangs mit Verdru§ und Verachtung angesehn zu haben und wie der Hirte dem StŠdter ein Greuel war, so sonderte er auch sich wieder von diesem ab. Die JŠger verlieren sich aus unsern Augen in die Gebirge, und kommen nur als Eroberer wieder zum Vorschein.

Zum Hirtenstande gehšrten die ErzvŠter. Ihre Lebensweise auf dem Meere der WŸsten und Weiden gab ihren


Gesinnungen Breite und Freiheit, das Gewšlbe des Himmels, unter dem sie wohnten, mit allen seinen nŠchtlichen Sternen ihren GefŸhlen Erhabenheit, und sie bedurften mehr als der tŠtige gewandte JŠger, mehr als der sichte sorgfŠltige hausbewohnende Ackersmann des unerschŸtterlichen Glaubens, da§ ein Gott ihnen zur Seite ziehe, da§ er sie besuche, an ihnen Anteil nehme, sie fŸhre und rette.

Zu noch einer andern Betrachtung werden wir genštigt, indem wir zur Geschichtsfolge Ÿbergehen. So menschlich, schšn und heiter auch die Religion der ErzvŠter erscheint, so gehen doch ZŸge von Wildheit und Grausamkeit hindurch, aus welcher der Mensch herankommen, oder worein er wieder versinken kann.

Da§ der Ha§ sich durch das Blut, durch den Tod des Ÿberwundenen Feindes versšhne, ist natŸrlich; da§ man auf dem Schlachtfelde zwischen den Reihen der Getšteten einen Frieden schlo§, lŠ§t sich wohl denken, da§ man ebenso durch geschlachtete Tiere ein BŸndnis zu befestigen glaubte, flie§t aus dem Vorhergehenden; auch da§ man die Gštter, die man doch immer als Partei, als Widersacher oder als Beistand, ansah, durch Getštetes herbeiziehen, sie versšhnen, sie gewinnen kšnne, Ÿber diese Vorstellung hat man sich gleichfalls nicht zu verwundern. Bleiben wir aber bei den Opfern stehen, und betrachten die Art, wie sie in jener Urzeit dargebracht wurden, so finden wir einen seltsamen, fŸr uns ganz widerlichen Gebrauch, der wahrscheinlich auch aus dem Kriege hergenommen, diesen nŠmlich: die geopferten Tiere jeder Art, und wenn ihrer noch so viel gewidmet wurden, mu§ten in zwei HŠlften zerhauen, an zwei Seiten gelegt werden, und in der Stra§e dazwischen befanden sich diejenigen, die mit der Gottheit einen Bund schlie§en wollten.

Wunderbar und ahndungsvoll geht durch jene schšne Welt noch ein anderer schrecklicher Zug, da§ alles, was geweiht, was verlobt war, sterben mu§te: wahrscheinlich auch ein auf den Frieden Ÿbertragener Kriegsgebrauch. Den Be-


wohnern einer Stadt, die sich gewaltsam wehrt, wird mit einem solchen GelŸbde gedroht; sie geht Ÿber, durch Sturm oder sonst; man lŠ§t nichts am Leben, MŠnner keineswegs, und manchmal teilen auch Frauen, Kinder, ja das Vieh ein gleiches Schicksal. †bereilter und aberglŠubischer Weise werden, bestimmter oder unbestimmter, dergleichen Opfer den Gšttern versprochen; und so kommen die, welche man schonen mšchte, ja sogar die NŠchsten, die eigenen Kinder, in den Fall, als SŸhnopfer eines solchen Wahnsinns zu bluten.

In dem sanften, wahrhaft urvŠterlichen Charakter Abrahams konnte eine so barbarische Anbetungsweise nicht entspringen; aber die Gštter, welche manchmal, um uns zu versuchen, jene Eigenschaften hervorzukehren scheinen, die der Mensch ihnen anzudichten geneigt ist, befehlen ihm das Ungeheure. Er soll seinen Sohn opfern, als Pfand des neuen Bundes, und, wenn es nach dem Hergebrachten geht, ihn nicht etwa nur schlachten und verbrennen, sondern ihn in zwei StŸcke teilen, und zwischen seinen rauchenden Eingeweiden sich von den gŸtigen Gšttern eine neue Verhei§ung erwarten. Ohne Zaudern und blindlings schickt Abraham sich an, den Befehl zu vollziehen: den Gšttern ist der Wille hinreichend. Nun sind Abrahams PrŸfungen vorŸber: denn weiter konnten sie nicht gesteigert werden. Aber Sara stirbt, und dies gibt Gelegenheit, da§ Abraham von dem Lande Kanaan vorbildlich Besitz nimmt. Er bedarf eines Grabes, und dies ist das erstemal, da§ er sich nach einem Eigentum auf dieser Erde umsieht. Eine zweifache Hšhle gegen den Hain Mamre mag er sich schon frŸher ausgesucht haben. Diese kauft er mit dem daran sto§enden Acker, und die Form Rechtens, die er dabei beobachtet, zeigt, wie wichtig ihm dieser Besitz ist. Er war es auch, mehr als er sich vielleicht selbst denken konnte: denn er, seine Sšhne und Enkel sollten daselbst ruhen, und der nŠchste Anspruch auf das ganze Land, sowie die immerwŠhrende Neigung seiner Nachkommenschaft, sich hier zu versammeln, dadurch am eigentlichsten begrŸndet werden.


Von nun an gehen die mannigfaltigen Familienszenen abwechselnd vor sich. Noch immer hŠlt sich Abraham streng abgesondert von den Einwohnern, und wenn Ismael, der Sohn einer €gypterin, auch eine Tochter dieses Landes geheiratet hat, so soll nun Isaak sich mit einer Blutsfreundin, einer EbenbŸrtigen, vermŠhlen.

Abraham sendet seinen Knecht nach Mesopotamien zu den Verwandten, die er dort zurŸckgelassen. Der kluge Eleasar kommt unerkannt an, und um die rechte Braut nach Hause zu bringen, prŸft er die Dienstfertigkeit der MŠdchen am Brunnen. Er verlangt zu trinken fŸr sich, und ungebeten trŠnkt Rebekka auch seine Kamele. Er beschenkt sie, er freiet um sie, die ihm nicht versagt wird. So fŸhrt er sie in das Haus seines Herrn, und sie wird Isaak angetraut. Auch hier mu§ die Nachkommenschaft lange Zeit erwartet werden. Erst nach einigen PrŸfungsjahren wird Rebekka gesegnet, und derselbe Zwiespalt, der in Abrahams Doppelehe von zwei MŸttern entstand, entspringt hier von einer. Zwei Knaben von entgegengesetztem Sinne balgen sich schon unter dem Herzen der Mutter. Sie treten ans Licht: der Šltere lebhaft und mŠchtig, der jŸngere zart und klug; jener wird des Vaters, dieser der Mutter Liebling. Der Streit um den Vorrang, der schon bei der Geburt beginnt, setzt sich immer fort. Esau ist ruhig und gleichgŸltig Ÿber die Erstgeburt, die ihm das Schicksal zugeteilt; Jakob vergi§t nicht, da§ ihn sein Bruder zurŸckgedrŠngt. Aufmerksam auf jede Gelegenheit, den erwŸnschten Vorteil zu gewinnen, handelt er seinem Bruder das Recht der Erstgeburt ab, und bevorteilt ihn um des Vaters Segen. Esau ergrimmt und schwšrt dem Bruder den Tod, Jakob entflieht um in dem Lande seiner Vorfahren sein GlŸck zu versuchen.

Nun, zum erstenmal in einer so edlen Familie, erscheint ein Glied, das kein Bedenken trŠgt, durch Klugheit und List die Vorteile zu erlangen, welche Natur und ZustŠnde ihm versagten. Es ist oft genug bemerkt und ausgesprochen


worden, da§ die Heiligen Schriften uns jene ErzvŠter und andere von Gott begŸnstigte MŠnner keineswegs als Tugendbilder aufstellen wollen. Auch sie sind Menschen von den verschiedensten Charaktern, mit mancherlei MŠngeln und Gebrechen; aber eine Haupteigenschaft darf solchen MŠnnern nach dem Herzen Gottes nicht fehlen: es ist der unerschŸtterliche Glaube, da§ Gott sich ihrer und der Ihrigen besonders annehme.

Die allgemeine, die natŸrliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die †berzeugung, da§ ein gro§es, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns fa§lich zu machen, eine solche †berzeugung dringt sich einem jeden auf; ja wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben fŸhrt, manchmal fahren lie§e, so wird er ihn doch gleich und Ÿberall wieder aufnehmen kšnnen. Ganz anders verhŠlt sich's mit der besondern Religion, die uns verkŸndigt, da§ jenes gro§e Wesen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landschaft entschieden und vorzŸglich annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegrŸndet, der unerschŸtterlich sein mu§, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstšrt werden soll. Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr tšdlich. Zur †berzeugung kann man zurŸckkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen PrŸfungen, das Zaudern der ErfŸllung so wiederholter Verhei§ungen, wodurch die GlaubensfŠhigkeit jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird.

Auch in diesem Glauben tritt Jakob seinen Zug an, und wenn er durch List und Betrug unsere Neigung nicht erworben hat, so gewinnt er sie durch die dauernde und unverbrŸchliche Liebe zu Rahel, um die er selbst aus dem Stegreife wirbt, wie Eleasar fŸr seinen Vater um Rebekka geworben hatte. In ihm sollte sich die Verhei§ung eines unerme§lichen Volkes zuerst vollkommen entfalten; er sollte viele Sšhne um sich sehen, aber auch durch sie und ihre MŸtter manches Herzeleid erleben.


Sieben Jahre dient er um die Geliebte, ohne Ungeduld und ohne Wanken. Sein Schwiegervater, ihm gleich an List, gesinnt wie er, um jedes Mittel zum Zweck fŸr rechtmŠ§ig zu halten, betriegt ihn, vergilt ihm, was er an seinem Bruder getan: Jakob findet eine Gattin, die er nicht liebt, in seinen Armen. Zwar, um ihn zu besŠnftigen, gibt Laban nach kurzer Zeit ihm die geliebte dazu, aber unter der Bedingung sieben neuer Dienstjahre; und so entspringt nun Verdru§ aus Verdru§. Die nicht geliebte Gattin ist fruchtbar, die geliebte bringt keine Kinder; diese will wie Sara durch eine Magd Mutter werden, jene mi§gšnnt ihr auch diesen Vorteil. Auch sie fŸhrt ihrem Gatten eine Magd zu, und nun ist der gute Erzvater der geplagteste Mann von der Welt: vier Frauen, Kinder von dreien, und keins von der geliebten! Endlich wird auch diese beglŸckt, und Joseph kommt zur Welt, ein SpŠtling der leidenschaftlichsten Liebe. Jakobs vierzehn Dienstjahre sind um; aber Laban will in ihm den ersten, treusten Knecht nicht entbehren. Sie schlie§en neue Bedingungen und teilen sich in die Herden. Laban behŠlt die von wei§er Farbe, als die der Mehrzahl; die scheckigen, gleichsam nur den Ausschu§, lŠ§t sich Jakob gefallen. Dieser wei§ aber auch hier seinen Vorteil zu wahren, und wie er durch ein schlechtes Gericht die Erstgeburt und durch eine Vermummung den vŠterlichen Segen gewonnen, so versteht er nun durch Kunst und Sympathie den besten und grš§ten Teil der Herde sich zuzueignen, und wird auch von dieser Seite der wahrhaft wŸrdige Stammvater des Volks Israel und ein Musterbild fŸr seine Nachkommen. Laban und die Seinigen bemerken, wo nicht das KunststŸck, doch den Erfolg. Es gibt Verdru§; Jakob flieht mit allen den Seinigen mit aller Habe, und entkommt dem nachsetzenden Laban teils durch GlŸck, teils durch List. Nun soll ihm Rahel noch einen Sohn schenken; sie stirbt aber in der Geburt: der Schmerzensohn Benjamin Ÿberlebt sie, aber noch grš§ern Schmerz soll der Altvater bei dem anscheinenden Verlust seines Sohnes Joseph empfinden.


Vielleicht mšchte jemand fragen, warum ich diese allgemein bekannten, so oft wiederholten und ausgelegten Geschichten hier abermals umstŠndlich vortrage. Diesem dŸrfte zur Antwort dienen, da§ ich auf keine andere Weise darzustellen wŸ§te, wie ich bei meinem zerstreuten Leben, bei meinem zerstŸckelten Lernen dennoch meinen Geist, meine GefŸhle auf einen Punkt zu einer stillen Wirkung versammelte; weil ich auf keine andere Weise den Frieden zu schildern vermšchte, der mich umgab, wenn es auch drau§en noch so wild und wunderlich herging. Wenn eine stets geschŠftige Einbildungskraft, wovon jenes MŠrchen ein Zeugnis ablegen mag, mich bald da- bald dorthin fŸhrte, wenn das Gemisch von Fabel und Geschichte, Mythologie und Religion mich zu verwirren drohte, so flŸchtete ich gern nach jenen morgenlŠndischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten BŸcher Mosis und fand mich dort unter den ausgebreiteten HirtenstŠmmen zugleich in der grš§ten Einsamkeit und in der grš§ten Gesellschaft.

Diese Familienauftritte, ehe sie sich in eine Geschichte des israelitischen Volks verlieren sollten, lassen uns nun zum Schlu§ noch eine Gestalt sehen, an der sich besonders die Jugend mit Hoffnungen und Einbildungen gar artig schmeicheln kann: Joseph, das Kind der leidenschaftlichsten ehelichen Liebe. Ruhig erscheint er uns und klar, und prophezeit sich selbst die VorzŸge, die ihn Ÿber seine Familie erheben sollten. Durch seine Geschwister ins UnglŸck gesto§en, bleibt er standhaft und rechtlich in der Sklaverei, widersteht den gefŠhrlichsten Versuchungen, rettet sich durch Weissagung, und wird zu hohen Ehren nach Verdienst erhoben. Erst zeigt er sich einem gro§en Kšnigreiche, sodann den seinigen hŸlfreich und nŸtzlich. Er gleicht seinem Urvater Abraham an Ruhe und Gro§heit, seinem Gro§vater Isaak an Stille und Ergebenheit. Den von seinem Vater ihm angestammten Gewerbsinn Ÿbt er im gro§en: es sind nicht mehr Herden, die man einem Schwiegervater, die man fŸr sich selbst gewinnt, es sind Všlker mit allen ihren Be-


sitzungen, die man fŸr einen Kšnig einzuhandeln versteht. Hšchst anmutig ist diese natŸrliche ErzŠhlung, nur erscheint sie zu kurz, und man fŸhlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.

Ein solches Ausmalen biblischer, nur im Umri§ angegebener Charaktere und Begebenheiten war den Deutschen nicht mehr fremd. Die Personen des Alten und Neuen Testaments hatten durch Klopstock ein zartes und gefŸhlvolles Wesen gewonnen, das dem Knaben sowie vielen seiner Zeitgenossen hšchlich zusagte. Von den Bodmerischen Arbeiten dieser Art kam wenig oder nichts zu ihm; aber "Daniel in der Lšwengrube", von Moser, machte gro§e Wirkung auf das junge GemŸt. Hier gelangt ein wohldenkender GeschŠfts- und Hofmann durch mancherlei TrŸbsale zu hohen Ehren, und seine Fršmmigkeit, durch die man ihn zu verderben drohte, ward frŸher und spŠter sein Schild und seine Waffe. Die Geschichte Josephs zu bearbeiten war mir lange schon wŸnschenswert gewesen; allein ich konnte mit der Form nicht zurecht kommen, besonders da mir keine Versart gelŠufig war, die zu einer solchen Arbeit gepa§t hŠtte. Aber nun fand ich eine prosaische Behandlung sehr bequem und legte mich mit aller Gewalt auf die Bearbeitung. Nun suchte ich die Charaktere zu sondern und auszumalen, und durch Einschaltung von Inzidenzien und Episoden die alte einfache Geschichte zu einem neuen und selbststŠndigen Werke zu machen. Ich bedachte nicht, was freilich die Jugend nicht bedenken kann, da§ hiezu ein Gehalt nštig sei, und da§ dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen kšnne. Genug, ich vergegenwŠrtigte mir alle Begebenheiten bis ins kleinste Detail, und erzŠhlte sie mir der Reihe nach auf das genauste.

Was mir diese Arbeit sehr erleichterte, war ein Umstand, der dieses Werk und Ÿberhaupt meine Autorschaft hšchst voluminos zu machen drohte. Ein junger Mann von vielen FŠhigkeiten, der aber durch Anstrengung und DŸnkel blšdsinnig geworden war, wohnte als MŸndel in meines Vaters


Hause, lebte ruhig mit der Familie und war sehr still und in sich gekehrt, und, wenn man ihn auf seine gewohnte Weise verfahren lie§, zufrieden und gefŠllig. Dieser hatte seine akademischen Hefte mit gro§er Sorgfalt geschrieben, und sich eine flŸchtige leserliche Hand erworben. Er beschŠftigte sich am liebsten mit Schreiben, und sah es gern, wenn man ihm etwas zu kopieren gab; noch lieber aber, wenn man ihm diktierte, weil er sich alsdann in seine glŸcklichen akademischen Jahre versetzt fŸhlte. Meinem Vater, der keine expedite Hand schrieb, und dessen deutsche Schrift klein und zittrig war, konnte nichts erwŸnschter sein, und er pflegte daher, bei Besorgung eigner sowohl als fremder GeschŠfte, diesem jungen Manne gewšhnlich einige Stunden des Tags zu diktieren. Ich fand es nicht minder bequem, in der Zwischenzeit alles, was mir flŸchtig durch den Kopf ging, von einer fremden Hand auf dem Papier fixiert zu sehen, und meine Erfindungs- und Nachahmungsgabe wuchs mit der Leichtigkeit des Auffassens und Aufbewahrens.

Ein so gro§es Werk als jenes biblische prosaischepische Gedicht hatte ich noch nicht unternommen. Es war eben eine ziemlich ruhige Zeit, und nichts rief meine Einbildungskraft aus PalŠstina und €gypten zurŸck. So quoll mein Manuskript tŠglich um so mehr auf, als das Gedicht streckenweise, wie ich es mir selbst gleichsam in die Luft erzŠhlte, auf dem Papier stand, und nur wenige BlŠtter von Zeit zu Zeit umgeschrieben zu werden brauchten.

Als das Werk fertig war, denn es kam zu meiner eignen Verwunderung wirklich zustande, bedachte ich, da§ von den vorigen Jahren mancherlei Gedichte vorhanden seien, die mir auch jetzt nicht verwerflich schienen, welche, in ein Format mit "Joseph" zusammengeschrieben, einen ganz artigen Quartband ausmachen wŸrden, dem man den Titel "Vermischte Gedichte" geben kšnnte; welches mir sehr wohl gefiel, weil ich dadurch im stillen bekannte und berŸhmte Autoren nachzuahmen Gelegenheit fand. Ich hatte eine gute Anzahl sogenannter anakreontischer Gedichte verfertigt,


die mir wegen der Bequemlichkeit des Silbenma§es und der Leichtigkeit des Inhalts sehr wohl von der Hand gingen. Allein diese durfte ich nicht wohl aufnehmen, weil sie keine Reime hatten, und ich doch vor allem meinem Vater etwas Angenehmes zu erzeigen wŸnschte. Desto mehr schienen mir geistliche Oden hier am Platz, dergleichen ich zur Nachahmung des "JŸngsten Gerichts" von Elias Schlegel sehr eifrig versucht hatte. Eine zur Feier der Hšllenfahrt Christi geschriebene erhielt von meinen Eltern und Freunden viel Beifall, und sie hatte das GlŸck, mir selbst noch einige Jahre zu gefallen. Die sogenannten Texte der sonntŠgigen Kirchenmusiken, welche jedesmal gedruckt zu haben waren, studierte ich flei§ig. Sie waren freilich sehr schwach und ich durfte wohl glauben, da§ die meinigen, deren ich mehrere nach der vorgeschriebenen Art verfertigt hatte, ebensogut verdienten komponiert und zur Erbauung der Gemeinde vorgetragen zu werden. Diese und mehrere dergleichen hatte ich seit lŠnger als einem Jahre mit eigener Hand abgeschrieben, weil ich durch diese PrivatŸbung von den Vorschriften des Schreibemeisters entbunden wurde. Nunmehr aber ward alles redigiert und in gute Ordnung gestellt, und es bedurfte keines gro§en Zuredens, um solche von jenem schreibelustigen jungen Manne reinlich abgeschrieben zu sehen. Ich eilte damit zum Buchbinder, als ich gar bald den saubern Band meinem Vater Ÿberreichte, munterte er mich mit besonderm Wohlgefallen auf, alle Jahre einen solchen Quartanten zu liefern; welches er mit desto grš§erer †berzeugung tat, als ich das alles nur in sogenannten Nebenstunden geleistet hatte.

Noch ein anderer Umstand vermehrte den Hang zu diesen theologischen oder vielmehr biblischen Studien. Der Senior des Ministeriums, Johann Philipp Fresenius, ein sanfter Mann, von schšnem gefŠlligen Ansehen, welcher von seiner Gemeinde, ja von der ganzen Stadt als ein exemplarischer Geistlicher und guter Kanzelredner verehrt ward, der aber, weil er gegen die Herrnhuter aufgetreten, bei den abgeson-


derten Frommen nicht im besten Ruf stand, vor der Menge hingegen sich durch die Bekehrung eines bis zum Tode blessierten freigeistischen Generals berŸhmt und gleichsam heilig gemacht hatte, dieser starb, und sein Nachfolger Plitt, ein gro§er, schšner, wŸrdiger Mann, der jedoch vom Katheder (er war Professor in Marburg gewesen) mehr die Gabe zu lehren als zu erbauen mitgebracht hatte, kŸndigte sogleich eine Art von Religionskursus an, dem er seine Predigten in einem gewissen methodischen Zusammenhang widmen wolle. Schon frŸher, da ich doch einmal in die Kirche gehen mu§te, hatte ich mir die Einteilung gemerkt, und konnte dann und wann mit ziemlich vollstŠndiger Rezitation einer Predigt gro§tun. Da nun Ÿber den neuen Senior manches fŸr und wider in der Gemeine gesprochen wurde, und viele kein sonderliches Zutrauen in seine angekŸndigten didaktischen Predigten setzen wollten, so nahm ich mir vor, sorgfŠltiger nachzuschreiben, welches mir um so eher gelang, als ich auf einem zum Hšren sehr bequemen, Ÿbrigens aber verborgenen Sitz schon geringere Versuche gemacht hatte. Ich war hšchst aufmerksam und behend; in dem Augenblick, da§ er Amen sagte, eilte ich aus der Kirche und wendete ein paar Stunden daran, das, was ich auf dem Papier und im GedŠchtnis fixiert hatte, eilig zu diktieren, so da§ ich die geschriebene Predigt noch vor Tische Ÿberreichen konnte. Mein Vater war sehr glorios Ÿber dieses Gelingen, und der gute Hausfreund, der eben zu Tische kam, mu§te die Freude teilen. Dieser war mir ohnehin hšchst gŸnstig, weil ich mir seinen "Messias" so zu eigen gemacht hatte, da§ ich ihm, bei meinen šftern Besuchen, um SiegelabdrŸcke fŸr meine Wappensammlung zu holen, gro§e Stellen davon vortragen konnte, so da§ ihm die TrŠnen in den Augen standen.

Den nŠchsten Sonntag setzte ich die Arbeit mit gleichem Eifer fort, und weil mich der Mechanismus derselben sogar unterhielt, so dachte ich nicht nach Ÿber das, was ich schrieb und aufbewahrte. Das erste Vierteljahr mochten sich diese


BemŸhungen ziemlich gleich bleiben; als ich aber zuletzt, nach meinem DŸnkel, weder besondere AufklŠrung Ÿber die Bibel selbst, noch eine freiere Ansicht des Dogmas zu finden glaubte, so schien mir die kleine Eitelkeit, die dabei befriedigt wurde, zu teuer erkauft, als da§ ich mit gleichem Eifer das GeschŠft hŠtte fortsetzen sollen. Die erst so blŠtterreichen Kanzelreden wurden immer magerer, und ich hŠtte zuletzt diese BemŸhung ganz abgebrochen, wenn nicht mein Vater, der ein Freund der VollstŠndigkeit war, mich durch gute Worte und Versprechungen dahin gebracht, da§ ich bis auf den letzten Sonntag Trinitatis aushielt, obgleich am Schlusse kaum etwas mehr als der Text, die Proposition und die Einteilung auf kleine BlŠtter verzeichnet wurden.

Was das Vollbringen betrifft, darin hatte mein Vater eine besondere HartnŠckigkeit. Was einmal unternommen ward, sollte ausgefŸhrt werden, und wenn auch inzwischen das Unbequeme, Langweilige, Verdrie§liche, ja UnnŸtze des Begonnenen sich deutlich offenbarte. Es schien, als wenn ihm das Vollbringen der einzige Zweck, das Beharren die einzige Tugend deuchte. Hatten wir in langen Winterabenden im Familienkreise ein Buch angefangen vorzulesen, so mu§ten wir es auch durchbringen, wenn wir gleich sŠmtlich dabei verzweifelten und er mitunter selbst der erste war, der zu gŠhnen anfing. Ich erinnere mich noch eines solchen Winters, wo wir Bowers "Geschichte der PŠpste" so durchzuarbeiten hatten. Es war ein fŸrchterlicher Zustand, indem wenig oder nichts, was in jenen kirchlichen. VerhŠltnissen vorkommt, Kinder und junge Leute ansprechen kann. Indessen ist mir bei aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen doch von jener Vorlesung so viel geblieben, da§ ich in spŠteren Zeiten manches daran zu knŸpfen imstande war.

Bei allen diesen fremdartigen BeschŠftigungen und Arbeiten, die so schnell auf einander folgten, da§ man sich kaum besinnen konnte, ob sie zulŠssig und nŸtzlich wŠren, verlor mein Vater seinen Hauptzweck nicht aus den Augen. Er suchte mein GedŠchtnis, meine Gabe etwas zu fassen und


zu kombinieren, auf juristische GegenstŠnde zu lenken, und gab mir daher ein kleines Buch, in Gestalt eines Katechismus, von Hoppe, nach Form und Inhalt der "Institutionen" gearbeitet, in die HŠnde. Ich lernte Fragen und Antworten damaligen Religionsunterricht eine der HauptŸbungen war, da§ man auf das behendeste in der Bibel aufschlagen lernte, so wurde auch hier eine gleiche Bekanntschaft mit dem "Corpus Juris" fŸr nštig befunden, worin ich auch bald auf das vollkommenste bewandert war. Mein Vater wollte weiter gehen, und der "Kleine Struve" ward vorgenommen; aber hier ging es nicht so rasch. Die Form des Buches war fŸr den AnfŠnger nicht so gŸnstig, da§ er sich selbst hŠtte aushelfen kšnnen, und meines Vaters Art zu dozieren nicht so liberal, da§ sie mich angesprochen hŠtte.

Nicht allein durch die kriegerischen ZustŠnde, in denen wir uns seit einigen Jahren befanden, sondern auch durch das bŸrgerliche Leben selbst, durch Lesen von Geschichten und Romanen war es uns nur allzu deutlich, da§ es sehr viele FŠlle gebe, in welchen die Gesetze schweigen und dem einzelnen nicht zu HŸlfe kommen, der dann sehen mag, wie er sich aus der Sache zieht. Wir waren nun herangewachsen, und dem Schlendriane nach sollten wir auch neben andern Dingen fechten und reiten lernen, um uns gelegentlich unserer Haut zu wehren, und zu Pferde kein schŸlerhaftes Ansehn zu haben. Was den ersten Punkt betrifft, so war uns eine solche †bung sehr angenehm: denn wir hatten uns schon lŠngst Haurapiere von Haselstšcken, mit Kšrben von Weiden sauber geflochten, um die Hand zu schŸtzen, zu verschaffen gewu§t. Nun durften wir uns wirklich stŠhlerne Klingen zulegen, und das Gerassel, was wir damit machten, war sehr lebhaft.

Zwei Fechtmeister befanden sich in der Stadt: ein Šlterer ernster Deutscher, der auf die strenge und tŸchtige Weise zu Werke ging, und ein Franzose, der seinen Vorteil durch Avancieren und Retirieren, durch leichte flŸchtige Stš§e, welche


stets mit einigen Ausrufungen begleitet waren, zu erreichen suchte. Die Meinungen, welche Art die beste sei, waren geteilt. Der kleinen Gesellschaft, mit welcher ich Stunde nehmen sollte, gab man den Franzosen, und wir gewšhnten uns bald, vorwŠrts und rŸckwŠrts zu gehen, auszufallen und uns zurŸckzuziehen, und dabei immer in die herkšmmlichen Schreilaute auszubrechen. Mehrere von unsern Bekannten aber hatten sich zu dem deutschen Fechtmeister gewendet, und Ÿbten gerade das Gegenteil. Diese verschiedenen Arten, eine so wichtige †bung zu behandeln, die †berzeugung eines jeden, da§ sein Meister der bessere sei, brachte wirklich eine Spaltung unter die jungen Leute, die ungefŠhr von einem Alter waren, und es fehlte wenig, so hŠtten die Fechtschulen ganz ernstliche Gefechte veranla§t. Denn fast ward ebensosehr mit Worten gestritten als mit der Klinge gefochten, und um zuletzt der Sache ein Ende zu machen, ward ein Wettkampf zwischen beiden Meistern veranstaltet, dessen Erfolg ich nicht umstŠndlich zu beschreiben brauche. Der Deutsche stand in seiner Positur wie eine Mauer, pa§te auf seinen Vorteil, und wu§te mit Battieren und Ligieren seinen Gegner ein Ÿber das andre Mal zu entwaffnen. Dieser behauptete, das sei nicht Raison, und fuhr mit seiner Beweglichkeit fort, den andern in Atem zu setzen. Auch brachte er dem Deutschen wohl einige Stš§e bei, die ihn aber selbst, wenn es Ernst gewesen wŠre, in die andre Welt geschickt hŠtten.

Im ganzen ward nichts entschieden noch gebessert, nur wendeten sich einige zu dem Landsmann, worunter ich auch gehšrte. Allein ich hatte schon zu viel von dem ersten Meister angenommen, daher eine ziemliche Zeit darŸber hinging, bis der neue mir es wieder abgewšhnen konnte, der Ÿberhaupt mit uns Renegaten weniger als mit seinen UrschŸlern zufrieden war.

Mit dem Reiten ging es mir noch schlimmer. ZufŠlligerweise schickte man mich im Herbst auf die Bahn, so da§ ich in der kŸhlen und feuchten Jahreszeit meinen Anfang machte. Die pedantische Behandlung dieser schšnen Kunst war mir


hšchlich zuwider. Zum ersten und letzten war immer vom Schlie§en die Rede, und es konnte einem doch niemand sagen, worin denn eigentlich der Schlu§ bestehe, worauf doch alles ankommen solle: denn man fuhr ohne SteigbŸgel auf dem Pferde hin und her. †brigens schien der Unterricht nur auf Prellerei und BeschŠmung der Scholaren angelegt. Verga§ man die Kinnkette ein- oder auszuhŠngen, lie§ man die Gerte fallen oder wohl gar den Hut, jedes VersŠumnis, jedes UnglŸck mu§te mit Geld gebŸ§t werden, und man ward noch obenein ausgelacht. Dies gab mir den allerschlimmsten Humor, besonders da ich den †bungsort selbst ganz unertrŠglich fand. Der garstige, gro§e, entweder feuchte oder staubige Raum, die KŠlte, der Modergeruch, alles zusammen war mir im hšchsten Grade zuwider; und da der Stallmeister den andern, weil sie ihn vielleicht durch FrŸhstŸcke und sonstige Gaben, vielleicht auch durch ihre Geschicklichkeit bestachen, immer die besten Pferde, mir aber die schlechtesten zu reiten gab, mich auch wohl warten lie§, und mich, wie es schien, hintansetzte, so brachte ich die allerverdrie§lichsten Stunden Ÿber einem GeschŠft hin, das eigentlich das lustigste von der Welt sein sollte. Ja der Eindruck von jener Zeit, von jenen ZustŠnden ist mir so lebhaft geblieben, da§, ob ich gleich nachher leidenschaftlich und verwegen zu reiten gewohnt war, auch Tage und Wochen lang kaum vom Pferde kam, da§ ich bedeckte Reitbahnen sorgfŠltig vermied, und hšchstens nur wenig Augenblicke darin verweilte. Es kommt Ÿbrigens der Fall oft genug vor, da§, wenn die AnfŠnge einer abgeschlossenen Kunst uns Ÿberliefert werden sollen, dieses auf eine peinliche und abschreckende Art geschieht. Die †berzeugung, wie lŠstig und schŠdlich dieses sei, hat in spŠtern Zeiten die Erziehungsmaxime aufgestellt, da§ alles der Jugend auf eine leichte, lustige und bequeme Art beigebracht werden mŸsse; woraus denn aber auch wieder andere †bel und Nachteile entsprungen sind.

Mit der AnnŠherung des FrŸhlings ward es bei uns auch wieder ruhiger, und wenn ich mir frŸher das Anschauen der


Stadt, ihrer geistlichen und weltlichen, šffentlichen und PrivatgebŠude zu verschaffen suchte, und besonders an dem damals noch vorherrschenden AltertŸmlichen das grš§te VergnŸgen fand, so war ich nachher bemŸht, durch die Lersnersche "Chronik" und durch andre unter meines Vaters Frankofurtensien befindliche BŸcher und Hefte, die Personen vergangner Zeiten mir zu vergegenwŠrtigen; welches mir denn auch durch gro§e Aufmerksamkeit auf das Besondere der Zeiten und Sitten und bedeutender IndividualitŠten ganz gut zu gelingen schien.

Unter den altertŸmlichen Resten war mir, von Kindheit an, der auf dem BrŸckenturm aufgesteckte SchŠdel eines Staatsverbrechers merkwŸrdig gewesen, der von dreien oder vieren, wie die leeren eisernen Spitzen auswiesen, seit 1616 sich durch alle Unbilden der Zeit und Witterung erhalten hatte. So oft man von Sachsenhausen nach Frankfurt zurŸckkehrte, hatte man den Turm vor sich, und der SchŠdel fiel ins Auge. Ich lie§ mir als Knabe schon gern die Geschichte dieser AufrŸhrer, des Fettmilch und seiner Genossen, erzŠhlen, wie sie mit dem Stadtregiment unzufrieden gewesen, sich gegen dasselbe empšrt, Meuterei angesponnen, die Judenstadt geplŸndert und grŠ§liche HŠndel erregt, zuletzt aber gefangen und von kaiserlichen Abgeordneten zum Tode verurteilt worden. SpŠterhin lag mir daran, die nŠhern UmstŠnde zu erfahren und, was es denn fŸr Leute gewesen, zu vernehmen. Als ich nun aus einem alten, gleichzeitigen, mit Holzschnitten versehenen Buche erfuhr, da§ zwar diese Menschen zum Tode verurteilt, aber zugleich auch viele Ratsherrn abgesetzt worden, weil mancherlei Unordnung und sehr viel Unverantwortliches im Schwange gewesen; da ich nun die nŠhern UmstŠnde vernahm, wie alles hergegangen: so bedauerte ich die unglŸcklichen Menschen, welche man wohl als Opfer, die einer kŸnftigen bessern Verfassung gebracht worden, ansehen dŸrfe; denn von jener Zeit schrieb sich die Einrichtung her, nach welcher sowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus einem Klub entsprungene Haus Frauenstein, ferner Juristen,


Kaufleute und Handwerker an einem Regimente teilnehmen sollten, das, durch eine auf venezianische Weise verwickelte Ballotage ergŠnzt, von bŸrgerlichen Kollegien eingeschrŠnkt, das Rechte zu tun berufen war, ohne zu dem Unrechten sonderliche Freiheit zu behalten.

Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den JŸngling bedrŠngten, gehšrte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Stra§e besteht, welche in frŸhen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange, bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurŸck, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler, etwas zu schachern unermŸdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten MŠrchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds "Chronik" grŠ§lich abgebildet gesehen, dŸster vor dem jungen GemŸt. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das gro§e Spott- und SchundgemŠlde, welches unter dem BrŸckenturm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, au§erordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmutwillen, sondern aus šffentlicher Anstalt verfertigt worden.

Indessen blieben sie doch das auserwŠhlte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der Šltesten Zeiten umher. Au§erdem waren sie ja auch Menschen, tŠtig, gefŠllig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren GebrŠuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. †berdies waren die MŠdchen hŸbsch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerk-


sam bewies. €u§erst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich lie§ nicht ab, bis ich ihre Schule šfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem LauberhŸttenfest mir ein Bild gemacht hatte. †berall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einflu§, die mich entweder hinfŸhrten oder empfahlen.

So wurde ich denn als ein junger Bewohner einer gro§en Stadt von einem Gegenstand zum andern hin und wider geworfen, und es fehlte mitten in der bŸrgerlichen Ruhe und Sicherheit nicht an grŠ§lichen Auftritten. Bald weckte ein nŠherer oder entfernter Brand uns aus unserm hŠuslichen Frieden, bald setzte ein entdecktes gro§es Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe. Wir mu§ten Zeugen von verschiedenen Exekutionen sein, und es ist wohl wert zu gedenken, da§ ich auch bei Verbrennung eines Buchs gegenwŠrtig gewesen bin. Es war der Verlag eines franzšsischen komischen Romans, der zwar den Staat, aber nicht Religion und Sitten schonte. Es hatte wirklich etwas FŸrchterliches, eine Strafe an einem leblosen Wesen ausgeŸbt zu sehen. Die Ballen platzten im Feuer, und wurden durch Ofengabeln aus einander geschŸrt und mit den Flammen mehr in BerŸhrung gebracht. Es dauerte nicht lange, so flogen die angebrannten BlŠtter in der Luft herum, und die Menge haschte begierig darnach. Auch ruhten wir nicht, bis wir ein Exemplar auftrieben, und es waren nicht wenige, die sich das verbotne VergnŸgen gleichfalls zu verschaffen wu§ten. Ja, wenn es dem Autor um PublizitŠt zu tun war, so hŠtte er selbst nicht besser dafŸr sorgen kšnnen.

Jedoch auch friedlichere AnlŠsse fŸhrten mich in der Stadt hin und wider. Mein Vater hatte mich frŸh gewšhnt, kleine GeschŠfte fŸr ihn zu besorgen. Besonders trug er mir auf, die Handwerker, die er in Arbeit setzte, zu mahnen, da sie ihn gewšhnlich lŠnger als billig aufhielten, weil er alles genau wollte gearbeitet haben und zuletzt bei prompter Bezahlung


die Preise zu mŠ§igen pflegte. Ich gelangte dadurch fast in alle WerkstŠtten, und da es mir angeboren war, mich in die ZustŠnde anderer zu finden, eine jede besondere Art des menschlichen Daseins zu fŸhlen und mit Gefallen daran teilzunehmen, so brachte ich manche vergnŸgliche Stunde durch Anla§ solcher AuftrŠge zu, lernte eines jeden Verfahrungsart kennen, und was die unerlŠ§lichen Bedingungen dieser und jener Lebensweise fŸr Freude, fŸr Leid, Beschwerliches und GŸnstiges mit sich fŸhren. Ich nŠherte mich dadurch dieser tŠtigen, das Untere und Obere verbindenden Klasse. Denn wenn an der einen Seite diejenigen stehen, die sich mit den einfachen und rohen Erzeugnissen beschŠftigen, an der andern solche, die schon etwas Verarbeitetes genie§en wollen, so vermittelt der Gewerker durch Sinn und Hand, da§ jene beide etwas von einander empfangen und jeder nach seiner Art seiner WŸnsche teilhaft werden kann. Das Familienwesen eines jeden Handwerks, das Gestalt und Farbe von der BeschŠftigung erhielt, war gleichfalls der Gegenstand meiner stillen Aufmerksamkeit, und so entwickelte, so bestŠrkte sich in mir das GefŸhl der Gleichheit, wo nicht aller Menschen, doch aller menschlichen ZustŠnde, indem mir das nackte Dasein als die Hauptbedingung, das Ÿbrige alles aber als gleichgŸltig und zufŠllig erschien.

Da mein Vater sich nicht leicht eine Ausgabe erlaubte, die durch einen augenblicklichen Genu§ sogleich wŠre aufgezehrt worden, wie ich mich denn kaum erinnre, da§ wir zusammen spazieren gefahren und auf einem Lustorte etwas verzehrt hŠtten: so war er dagegen nicht karg mit Anschaffung solcher Dinge, die bei innerm Wert auch einen guten Šu§ern Schein haben. Niemand konnte den Frieden mehr wŸnschen als er, ob er gleich in der letzten Zeit vom Kriege nicht die mindeste Beschwerlichkeit empfand. In diesen Gesinnungen hatte er meiner Mutter eine goldne mit Diamanten besetzte Dose versprochen, welche sie erhalten sollte, sobald der Friede publiziert wŸrde. In Hoffnung dieses glŸcklichen Ereignisses arbeitete man schon einige Jahre an die-


sem Geschenk. Die Dose selbst, von ziemlicher Grš§e, ward in Hanau verfertigt: denn mit den dortigen Goldarbeitern sowie mit den Vorstehern der Seidenanstalt stand mein Vater in gutem Vernehmen. Mehrere Zeichnungen wurden dazu verfertigt; den Deckel zierte ein Blumenkorb, Ÿber welchem eine Taube mit dem …lzweig schwebte. Der Raum fŸr die Juwelen war gelassen, die teils an der Taube, teils an den Blumen, teils auch an der Stelle, wo man die Dose zu šffnen pflegt, angebracht werden sollten. Der Juwelier, dem die všllige AusfŸhrung nebst den dazu nštigen Steinen Ÿbergeben ward, hie§ Laufensack und war ein geschickter muntrer Mann, der, wie mehrere geistreiche KŸnstler, selten das Notwendige, gewšhnlich aber das WillkŸrliche tat, was ihm VergnŸgen machte. Die Juwelen, in der Figur, wie sie auf dem Dosendeckel angebracht werden sollten, waren zwar bald auf schwarzes Wachs gesetzt und nahmen sich ganz gut aus, allein sie wollten sich von da gar nicht ablšsen, um aufs Gold zu gelangen. Im Anfange lie§ mein Vater die Sache noch so anstehen; als aber die Hoffnung zum Frieden immer lebhafter wurde, als man zuletzt schon die Bedingungen, besonders die Erhebung des Erzherzogs Joseph zum Ršmischen Kšnig, genauer wissen wollte, so ward mein Vater immer ungeduldiger, und ich mu§te wšchentlich ein paarmal, ja zuletzt fast tŠglich den saumseligen KŸnstler besuchen. Durch mein unablŠssiges QuŠlen und Zureden rŸckte die Arbeit, wiewohl langsam genug, vorwŠrts: denn weil sie von der Art war, da§ man sie bald vornehmen, bald wieder aus den HŠnden legen konnte, so fand sich immer etwas, wodurch sie verdrŠngt und bei Seite geschoben wurde.

Die Hauptursache dieses Benehmens indes war eine Arbeit, die der KŸnstler fŸr eigene Rechnung unternommen hatte. Jedermann wu§te, da§ Kaiser Franz eine gro§e Neigung zu Juwelen, besonders auch zu farbigen Steinen hege. Lautensack hatte eine ansehnliche Summe, und, wie sich spŠter fand, grš§er als sein Vermšgen, auf dergleichen Edelsteine verwandt, und daraus einen Blumenstrau§ zu bilden


angefangen, in welchem jeder Stein nach seiner Form und Farbe gŸnstig hervortreten und das Ganze ein KunststŸck geben sollte, wert, in dem Schatzgewšlbe eines Kaisers aufbewahrt zu stehen. Er hatte nach seiner zerstreuten Art mehrere Jahre daran gearbeitet, und eilte nun, weil man nach dem bald zu hoffenden Frieden die Ankunft des Kaisers zur Kršnung seines Sohns in Frankfurt erwartete, es vollstŠndig zu machen und endlich zusammenzubringen. Meine Lust, dergleichen GegenstŠnde kennen zu lernen, benutzte er sehr gewandt, um mich als einen Mahnboten zu zerstreuen und von meinem Vorsatz abzulenken. Er suchte mir die Kenntnis dieser Steine beizubringen, machte mich auf ihre Eigenschaften, ihren Wert aufmerksam, so da§ ich sein ganzes Bouquet zuletzt auswendig wu§te, und es ebenso gut wie er einem Kunden hŠtte anpreisend vordemonstrieren kšnnen. Es ist mir noch jetzt gegenwŠrtig, und ich habe wohl kostbarere, aber nicht anmutigere Schau- und PrachtstŸcke dieser Art gesehen. Au§erdem besa§ er noch eine hŸbsche Kupfersammlung und andere Kunstwerke, Ÿber die er sich gern unterhielt, und ich brachte viele Stunden nicht ohne Nutzen bei ihm zu. Endlich, als wirklich der Kongre§ zu Hubertsburg schon festgesetzt war, tat er aus Liebe zu mir ein Ÿbriges, und die Taube zusamt den Blumen gelangte am Friedensfeste wirklich in die HŠnde meiner Mutter.

Manchen Šhnlichen Auftrag erhielt ich denn auch, um bei den Malern bestellte Bilder zu betreiben. Mein Vater hatte bei sich den Begriff festgesetzt, und wenig Menschen waren davon frei, da§ ein Bild auf Holz gemalt einen gro§en Vorzug vor einem andern habe, das nur auf Leinwand aufgetragen sei. Gute eichene Bretter von jeder Form zu besitzen, war deswegen meines Vaters gro§e Sorgfalt, indem er wohl wu§te, da§ die leichtsinnigem KŸnstler sich gerade in dieser wichtigen Sache auf den Tischer verlie§en. Die Šltesten Bohlen wurden aufgesucht, der Tischer mu§te mit Leimen, Hobeln und Zurichten derselben aufs genauste zu Werke gehen, und dann blieben sie Jahre lang in einem obern Zimmer ver-


wahrt, wo sie genugsam austrocknen konnten. Ein solches kšstliches Brett ward dem Maler Juncker anvertraut, der einen verzierten Blumentopf mit den bedeutendsten Blumen nach der Natur in seiner kŸnstlichen und zierlichen Weise darauf darstellen sollte. Es war gerade im FrŸhling, und ich versŠumte nicht, ihm wšchentlich einigemal die schšnsten Blumen zu bringen, die mir unter die Hand kamen; welche er denn auch sogleich einschaltete, und das Ganze nach und nach aus diesen Elementen auf das treulichste und flei§igste zusammenbildete. Gelegentlich hatte ich auch wohl einmal eine Maus gefangen, die ich ihm brachte, und die er als ein gar so zierliches Tier nachzubilden Lust hatte, auch sie wirklich aufs genauste vorstellte, wie sie am Fu§e des Blumentopfes eine KornŠhre benascht. Mehr dergleichen unschuldige NaturgegenstŠnde, als Schmetterlinge und KŠfer, wurden herbeigeschafft und dargestellt, so da§ zuletzt, was Nachahmung und AusfŸhrung betraf, ein hšchst schŠtzbares Bild beisammen war.

Ich wunderte mich daher nicht wenig, als der gute Mann mir eines Tages, da die Arbeit bald abgeliefert werden sollte, umstŠndlich eršffnete, wie ihm das Bild nicht mehr gefalle, indem es wohl im einzelnen ganz gut geraten, im ganzen aber nicht gut komponiert sei, weil es so nach und nach entstanden, und er im Anfange das Versehen begangen, sich nicht wenigstens einen allgemeinen Plan fŸr Licht und Schatten sowie fŸr Farben zu entwerfen, nach welchem man die einzelnen Blumen hŠtte einordnen kšnnen. Er ging mit mir das wŠhrend eines halben Jahrs vor meinen Augen entstandene und mir teilweise gefŠllige Bild umstŠndlich durch, und wu§te mich zu meiner BetrŸbnis vollkommen zu Ÿberzeugen. Auch hielt er die nachgebildete Maus fŸr einen Mi§griff: denn, sagte er, solche Tiere haben fŸr viele Menschen etwas Schauderhaftes, und man sollte sie da nicht anbringen, wo man Gefallen erregen will. Ich hatte nun, wie es demjenigen zu gehen pflegt, der sich von einem Vorurteile geheilt sieht und sich viel klŸger dŸnkt als er vorher gewesen,


eine wahre Verachtung gegen dies Kunstwerk, und stimmte dem KŸnstler všllig bei, als er eine andere Tafel von gleicher Grš§e verfertigen lie§, worauf er, nach dem Geschmack, den er besa§, ein besser geformtes GefŠ§ und einen kunstreicher geordneten Blumenstrau§ anbrachte, auch die lebendigen kleinen Beiwesen zierlich und erfreulich sowohl zu wŠhlen als zu verteilen wu§te. Auch diese Tafel malte er mit der grš§ten Sorgfalt, doch freilich nur nach jener schon abgebildeten oder aus dem GedŠchtnis, das ihm aber bei einer sehr langen und emsigen Praxis gar wohl zu HŸlfe kam. Beide GemŠlde waren nun fertig, und wir hatten eine entschiedene Freude an dem letzten, das wirklich kunstreicher und mehr in die Augen fiel. Der Vater ward anstatt mit einem mit zwei StŸcken Ÿberrascht und ihm die Wahl gelassen. Er billigte unsere Meinung und die GrŸnde derselben, besonders auch den guten Willen und die TŠtigkeit; entschied sich aber, nachdem er beide Bilder einige Tage betrachtet, fŸr das erste, ohne Ÿber diese Wahl weiter viele Worte zu machen. Der KŸnstler, Šrgerlich, nahm sein zweites, wohlgemeintes Bild zurŸck, und konnte sich gegen mich der Bemerkung nicht enthalten, da§ die gute eichne Tafel, worauf das erste gemalt stehe, zum Entschlu§ des Vaters gewi§ das Ihrige beigetragen habe.

Da ich hier wieder der Malerei gedenke, so tritt in meiner Erinnerung eine gro§e Anstalt hervor, in der ich viele Zeit zubrachte, weil sie und deren Vorsteher mich besonders an sich zog. Es war die gro§e Wachstuchfabrik, welche der Maler Nothnagel errichtet hatte: ein geschickter KŸnstler, der aber sowohl durch sein Talent als durch seine Denkweise mehr zum Fabrikwesen als zur Kunst hinneigte. In einem sehr gro§en Raume von Hšfen und GŠrten wurden alle Arten von Wachstuch gefertigt, von dem rohsten an, das mit der Spatel aufgetragen wird und das man zu RŸstwagen und Šhnlichem Gebrauch benutzte, durch die Tapeten hindurch, welche mit Formen abgedruckt wurden, bis zu den feineren und feinsten, auf welchen bald chinesische und phantastische, bald natŸrliche Blumen abgebildet, bald


Figuren, bald Landschaften durch den Pinsel geschickter Arbeiter dargestellt wurden. Diese Mannigfaltigkeit, die ins Unendliche ging, ergetzte mich sehr. Die BeschŠftigung so vieler Menschen von der gemeinsten Arbeit bis zu solchen, denen man einen gewissen Kunstwert kaum versagen konnte, war fŸr mich hšchst anziehend. Ich machte Bekanntschaft mit dieser Menge in vielen Zimmern hinter einander arbeitenden jŸngern und Šlteren MŠnnern, und legte auch wohl selbst mitunter Hand an. Der Vertrieb dieser Ware ging au§erordentlich stark. Wer damals baute oder ein GebŠude mšblierte, wollte fŸr seine Lebenszeit versorgt sein, und diese Wachstuchtapeten waren allerdings unverwŸstlich. Nothnagel selbst hatte genug mit Leitung des Ganzen zu tun, und sa§ in seinem Comptoir, umgeben von Faktoren und Handlungsdienern. Die Zeit, die ihm Ÿbrig blieb, beschŠftigte er sich mit seiner Kunstsammlung, die vorzŸglich aus Kupferstichen bestand, mit denen er, sowie mit GemŠlden, die er besa§, auch wohl gelegentlich Handel trieb. Zugleich hatte er das Radieren lieb gewonnen; er Štzte verschiedene BlŠtter und setzte diesen Kunstzweig bis in seine spŠtesten Jahre fort.

Da seine Wohnung nahe am Eschenheimer Tore lag, so fŸhrte mich, wenn ich ihn besucht hatte, mein Weg gewšhnlich zur Stadt hinaus und zu den GrundstŸcken, welche mein Vater vor den Toren besa§. Das eine war ein gro§er Baumgarten, dessen Boden als Wiese benutzt wurde, und worin mein Vater das Nachpflanzen der BŠume, und was sonst zur Erhaltung diente, sorgfŠltig beobachtete, obgleich das GrundstŸck verpachtet war. Noch mehr BeschŠftigung gab ihm ein sehr gut unterhaltener Weinberg vor dem Friedberger Tore, woselbst zwischen den Reihen der Weinstšcke Spargelreihen mit gro§er Sorgfalt gepflanzt und gewartet wurden. Es verging in der guten Jahrszeit fast kein Tag, da§ nicht mein Vater sich hinausbegab, da wir ihn denn meist begleiten durften, und so von den ersten Erzeugnissen des FrŸhlings bis zu den letzten des Herbstes Genu§ und Freude hatten. Wir lernten nun auch mit den GartengeschŠften umgehen,


die, weil sie sich jŠhrlich wiederholten, uns endlich ganz bekannt und gelŠufig wurden. Nach mancherlei FrŸchten des Sommers und Herbstes war aber doch zuletzt die Weinlese das Lustigste und am meisten ErwŸnschte; ja es ist keine Frage, da§, wie der Wein selbst den Orten und Gegenden, wo er wŠchst und getrunken wird, einen freiem Charakter gibt, so auch diese Tage der Weinlese, indem sie den Sommer schlie§en und zugleich den Winter eršffnen, eine unglaubliche Heiterkeit verbreiten. Lust und Jubel erstreckt sich Ÿber eine ganze Gegend. Des Tages hšrt man von allen Ecken und Enden Jauchzen und schie§en, und des Nachts verkŸnden bald da bald dort Raketen und Leuchtkugeln, da§ man noch Ÿberall wach und munter diese Feier gern so lange als mšglich ausdehnen mšchte. Die nachherigen BemŸhungen beim Keltern und wŠhrend der GŠrung im Keller gaben uns auch zu Hause eine heitere BeschŠftigung, und so kamen wir gewšhnlich in den Winter hinein, ohne es recht gewahr zu werden.

Dieser lŠndlichen Besitzungen erfreuten wir uns im FrŸhling 1763 um so mehr, als uns der 15. Februar dieses Jahrs, durch den Abschlu§ des Hubertsburger Friedens, zum festlichen Tage geworden, unter dessen glŸcklichen Folgen der grš§te Teil meines Lebens verflie§en sollte. Ehe ich jedoch weiter schreite, halte ich es fŸr meine Schuldigkeit, einiger MŠnner zu gedenken, welche einen bedeutenden Einflu§ auf meine Jugend ausgeŸbt.

Von Olenschlager, Mitglied des Hauses Frauenstein, Schšff und Schwiegersohn des oben erwŠhnten Doktor Orth, ein schšner, behaglicher, sanguinischer Mann. Er hŠtte in seiner bŸrgemeisterlichen Festtracht gar wohl den angesehensten franzšsischen PrŠlaten vorstellen kšnnen. Nach seinen akademischen Studien hatte er sich in Hof- und StaatsgeschŠften umgetan, und seine Reisen auch zu diesen Zwecken eingeleitet. Er hielt mich besonders wert und sprach oft mit mir von den Dingen, die ihn vorzŸglich interessierten. Ich war um ihn, als er eben seine ErlŠuterung der GŸldnen Bulle schrieb;


da er mir denn den Wert und die WŸrde dieses Dokuments sehr deutlich herauszusetzen wu§te. Auch dadurch wurde meine Einbildungskraft in jene wilden und unruhigen Zeiten zurŸckgefŸhrt, da§ ich nicht unterlassen konnte, dasjenige, was er mir geschichtlich erzŠhlte, gleichsam als gegenwŠrtig, mit Ausmalung der Charakter und UmstŠnde und manchmal sogar mimisch darzustellen; woran er denn gro§e Freude hatte, und durch seinen Beifall mich zur Wiederholung aufregte.

Ich hatte von Kindheit auf die wunderliche Gewohnheit, immer die AnfŠnge der BŸcher und Abteilungen eines Werks auswendig zu lernen, zuerst der fŸnf BŸcher Mosis, sodann der "€neide" und der "Metamorphosen". So machte ich es nun auch mit der Goldenen Bulle, und reizte meinen Gšnner oft zum LŠcheln, wenn ich ganz ernsthaft unversehens ausrief: "Omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum." Der kluge Mann schŸttelte lŠchelnd den Kopf und sagte bedenklich: "Was mŸssen das fŸr Zeiten gewesen sein, in welchen der Kaiser auf einer gro§en Reichsversammlung seinen FŸrsten dergleichen Worte ins Gesicht publizieren lie§."

Von Olenschlager hatte viel Anmut im Umgang. Man sah wenig Gesellschaft bei ihm, aber zu einer geistreichen Unterhaltung war er sehr geneigt, und er veranla§te uns junge Leute, von Zeit zu Zeit ein Schauspiel aufzufŸhren: denn man hielt dafŸr, da§ eine solche †bung der Jugend besonders nŸtzlich sei. Wir gaben den "Kanut" von Schlegel, worin mir die Rolle des Kšnigs, meiner Schwester die Estriche, und Ulfo dem jŸngern Sohn des Hauses zugeteilt wurde. Sodann wagten wir uns an den "Britannicus", denn wir sollten nebst dem Schauspielertalent auch die Sprache zur †bung bringen. Ich erhielt den Nero, meine Schwester die Agrippine, und der jŸngere Sohn den Britannicus. Wir wurden mehr gelobt, als wir verdienten, und glaubten es noch besser gemacht zu haben, als wie wir gelobt wurden. So stand ich mit dieser Familie in dem besten VerhŠltnis, und bin ihr manches VergnŸgen und eine schnellere Entwicklung schuldig geworden.


Von Reineck, aus einem altadligen Hause, tŸchtig, rechtschaffen, aber starrsinnig, ein hagrer schwarzbrauner Mann, den ich niemals lŠcheln gesehen. Ihm begegnete das UnglŸck, da§ seine einzige Tochter durch einen Hausfreund entfŸhrt wurde. Er verfolgte seinen Schwiegersohn mit dem heftigsten Proze§, und weil die Gerichte, in ihrer Fšrmlichkeit, seiner Rachsucht weder schnell noch stark genug willfahren wollten, Ÿberwarf er sich mit diesen, und es entstanden HŠndel aus HŠndeln, Prozesse aus Prozessen. Er zog sich ganz in sein Haus und einen daransto§enden Garten zurŸck, lebte in einer weitlŠufigen aber traurigen Unterstube, in die seit vielen Jahren kein Pinsel eines TŸnchers, vielleicht kaum der Kehrbesen einer Magd gekommen war. Mich konnte er gar gern leiden, und hatte mir seinen jŸngern Sohn besonders empfohlen. Seine Šltesten Freunde, die sich nach ihm zu richten wu§ten, seine GeschŠftsleute, seine Sachwalter sah er manchmal bei Tische, und unterlie§ dann niemals, auch mich einzuladen. Man a§ sehr gut bei ihm und trank noch besser. Den GŠsten erregte jedoch ein gro§er, aus vielen Ritzen rauchender Ofen die Šrgste Pein. Einer der Vertrautesten wagte einmal, dies zu bemerken, indem er den Hausherrn fragte: ob er denn so eine Unbequemlichkeit den ganzen Winter aushalten kšnne. Er antwortete darauf, als ein zweiter Timon und Heautontimorumenos: "Wollte Gott, dies wŠre das grš§te †bel von es denen, die mich plagen!" Nur spŠt lie§ er sich bereden, Tochter und Enkel wiederzusehen. Der Schwiegersohn durfte ihm nicht wieder vor Augen.

Auf diesen so braven als unglŸcklichen Mann wirkte meine Gegenwart sehr gŸnstig: denn indem er sich gern mit mir unterhielt, und mich besonders von Welt- und StaatsverhŠltnissen belehrte, schien er selbst sich erleichtert und erheitert zu fŸhlen. Die wenigen alten Freunde, die sich noch um ihn versammelten, gebrauchten mich daher oft, wenn sie seinen verdrie§lichen Sinn zu mildern und ihn zu irgend einer Zerstreuung zu bereden wŸnschten. Wirklich fuhr er nunmehr manchmal mit uns aus, und besah sich die Gegend wieder, auf


die er so viele Jahre keinen Blick geworfen hatte. Er gedachte der alten Besitzer, erzŠhlte von ihren Charaktern und Begebenheiten, wo er sich denn immer streng, aber doch šfters heiter und geistreich erwies. Wir suchten ihn nun auch wieder unter andere Menschen zu bringen, welches uns aber beinah Ÿbel geraten wŠre.

Von gleichem, wenn nicht noch von hšherem Alter als er war ein Herr von Malapart, ein reicher Mann, der ein sehr schšnes Haus am Ro§markt besa§ und gute EinkŸnfte von Salinen zog. Auch er lebte sehr abgesondert; doch war er Sommers viel in seinem Garten vor dem Bockenheimer Tore, wo er einen sehr schšnen Nelkenflor wartete und pflegte.

Von Reineck war auch ein Nelkenfreund; die Zeit des Flors war da, und es geschahen einige Anregungen, ob man sich nicht wechselseitig besuchen wollte. Wir leiteten die Sache ein und trieben es so lange, bis endlich von Reineck sich entschlo§, mit uns einen Sonntagnachmittag hinauszufahren. Die BegrŸ§ung der beiden alten Herren war sehr lakonisch, ja blo§ pantomimisch, und man ging mit wahrhaft diplomatischem Schritt an den langen NelkengerŸsten hin und her. Der Flor war wirklich au§erordentlich schšn, und die besondern Formen und Farben der verschiedenen Blumen, die VorzŸge der einen vor der andern und ihre Seltenheit machten denn doch zuletzt eine Art von GesprŠch aus, welches ganz freundlich zu werden schien; worŸber wir andern uns um so mehr freuten, als wir in einer benachbarten Laube den kostbarsten alten Rheinwein in geschliffenen Flaschen, schšnes Obst und andre gute Dinge aufgetischt sahen. Leider aber sollten wir sie nicht genie§en. Denn unglŸcklicherweise sah von Reineck eine sehr schšne Nelke vor sich, die aber den Kopf etwas niedersenkte; er griff daher sehr zierlich mit dem Zeige- und Mittelfinger vom Stengel herauf gegen den Kelch und hob die Blume von hinten in die Hšhe, so da§ er sie wohl betrachten konnte. Aber auch diese zarte BerŸhrung verdro§ den Besitzer. Von Malapart erinnerte, zwar hšflich aber doch steif genug und eher


etwas selbstgefŠllig, an das oculis non manibus. Von Reineck hatte die Blume schon losgelassen, fing aber auf jenes Wort gleich Feuer und sagte, mit seiner gewšhnlichen Trockenheit und Ernst: es sei einem Kenner und Liebhaber wohl gemŠ§, eine Blume auf die Weise zu berŸhren und zu betrachten; worauf er denn jenen Gest wiederholte und sie noch einmal zwischen die Finger nahm. Die beiderseitigen Hausfreunde - denn auch von Malapart hatte einen bei sich - waren nun in der grš§ten Verlegenheit. Sie lie§en einen Hasen nach dem andern laufen (dies war unsre sprŸchwšrtliche Redensart, wenn ein GesprŠch sollte unterbrochen und auf einen andern Gegenstand gelenkt werden); allein es wollte nichts verfangen: die alten Herren waren ganz stumm geworden, und wir fŸrchteten jeden Augenblick, von Reineck mšchte jenen Akt wiederholen; da wŠre es denn um uns alle geschehn gewesen. Die beiden Hausfreunde hielten ihre Herren auseinander, indem sie selbige bald da bald dort beschŠftigten, und das klŸgste war, da§ wir endlich aufzubrechen Anstalt machten, und so mu§ten wir leider den reizenden Kredenztisch ungenossen mit dem RŸcken ansehen.

Hofrat HŸsgen, nicht von Frankfurt gebŸrtig, reformierter Religion und deswegen keiner šffentlichen Stelle noch auch der Advokatur fŠhig, die er jedoch, weil man ihm als vortrefflichem Juristen viel Vertrauen schenkte, unter fremder Signatur ganz gelassen sowohl in Frankfurt als bei den Reichsgerichten zu fŸhren wu§te, war wohl schon sechzig Jahr alt, als ich mit seinem Sohne Schreibstunde hatte und dadurch ins Haus kam. Seine Gestalt war gro§, lang ohne hager, breit ohne beleibt zu sein. Sein Gesicht, nicht allein von den Blattern entstellt, sondern auch des einen Auges beraubt, sah man die erste Zeit nur mit Apprehension. Er trug auf einem kahlen Haupte immer eine ganz wei§e GlockenmŸtze, oben mit einem Bande gebunden. Seine Schlafršcke von Kalmank oder Damast waren durchaus sehr sauber. Er bewohnte eine gar heitre Zimmerflucht auf gleicher Erde an der Allee, und die Reinlichkeit seiner Umgebung entsprach


dieser Heiterkeit. Die grš§te Ordnung seiner Papiere, BŸcher, Landkarten machte einen angenehmen Eindruck. Sein Sohn, Heinrich Sebastian, der sich durch verschiedene Schriften im Kunstfach bekannt gemacht, versprach in seiner Jugend wenig. GutmŸtig aber lŠppisch, nicht roh aber doch geradezu und ohne besondre Neigung sich zu unterrichten, suchte er lieber die Gegenwart der Vaters zu vermeiden, indem er von der Mutter alles, was es wŸnschte, erhalten konnte. Ich hingegen nŠherte mich dem Alten immer mehr, je mehr ich ihn kennen lernte. Da er sich nur bedeutender RechtsfŠlle annahm, so hatte er Zeit genug, sich auf andre Weise zu beschŠftigen und zu unterhalten. Ich hatte nicht lange um ihn gelebt und seine Lehren vernommen, als ich wohl merken konnte, da§ er mit Gott und der Welt in Opposition stehe. Eins seiner LieblingsbŸcher war Agrippa "De vanitate scientiarum", das er mir besonders empfahl, und mein junges Gehirn dadurch eine Zeitlang in ziemliche Verwirrung setzte. Ich war im Behagen der Jugend zu einer Art von Optimismus geneigt, und hatte mich mit Gott oder den Gšttern ziemlich wieder ausgesšhnt: denn durch eine Reihe von Jahren war ich zu der Erfahrung gekommen, da§ es gegen das Bšse manches Gleichgewicht gebe, da§ man sich von den †beln wohl wieder herstelle, und da§ man sich aus Gefahren rette und nicht immer den Hals breche. Auch was die Menschen taten und trieben, sah ich lŠ§lich an, und fand manches LobenswŸrdige, womit mein alter Herr keineswegs zufrieden sein wollte. Ja, als er einmal mir die Welt ziemlich von ihrer fratzenhaften Seite geschildert hatte, merkte ich ihm an, da§ er noch mit einem bedeutenden Trumpfe zu schlie§en gedenke. Er drŸckte, wie in solchen FŠllen seine Art war, das blinde linke Auge stark zu, blickte mit dem andern scharf hervor und sagte mit einer nŠselnden Stimme: "Auch in Gott entdeck ich Fehler."

Mein Timonischer Mentor war auch Mathematiker; aber seine praktische Natur trieb ihn zur Mechanik, ob er gleich nicht selbst arbeitete. Eine, fŸr damalige Zeiten wenigstens, wundersame Uhr, welche neben den Stunden und Tagen auch


die Bewegungen von Sonne und Mond anzeigte, lie§ er nach seiner Angabe verfertigen. Sonntags frŸh um zehn zog er sie jedesmal selbst auf, welches er um so gewisser tun konnte, als er niemals in die Kirche ging. Gesellschaft oder GŠste habe ich nie bei ihm gesehen. Angezogen und aus dem Hause gehend erinnere ich mir ihn in zehn Jahren kaum zweimal.

Die verschiedenen Unterhaltungen mit diesen MŠnnern waren nicht unbedeutend, und jeder wirkte auf mich nach seiner Weise. FŸr einen jeden hatte ich so viel, oft noch mehr Aufmerksamkeit als die eigenen Kinder, und jeder suchte an mir, als an einem geliebten Sohne, sein Wohlgefallen zu vermehren, indem er an mir sein moralisches Ebenbild herzustellen trachtete. Olenschlager wollte mich zum Hofmann, Reineck zum diplomatischen GeschŠftsmann bilden; beide, besonders letzterer, suchten mir Poesie und Schriftstellerei zu verleiden. HŸsgen wollte mich zum Timon seiner Art, dabei aber zum tŸchtigen Rechtsgelehrten haben: ein notwendiges Handwerk, wie er meinte, damit man sich und das seinige gegen das Lumpenpack von Menschen regelmŠ§ig verteidigen, einem UnterdrŸckten beistehen, und allenfalls einem Schelmen etwas am Zeuge flicken kšnne; letzteres jedoch sei weder besonders tunlich noch ratsam.

Hielt ich mich gern an der Seite jener MŠnner, um ihren Rat, ihren Fingerzeig zu benutzen, so forderten jŸngere, an Alter mir nur wenig vorausbeschrittene, mich auf zum unmittelbaren Nacheifern. Ich nenne hier vor allen andern die GebrŸder Schlosser, und Griesbach. Da ich jedoch mit diesen in der Folge in genauere Verbindung trat, welche viele Jahre ununterbrochen dauerte, so sage ich gegenwŠrtig nur so viel, da§ sie uns damals als ausgezeichnet in Sprachen und andern die akademische Laufbahn eršffnenden Studien gepriesen und zum Muster aufgestellt wurden, und da§ jedermann die gewisse Erwartung hegte, sie wŸrden einst im Staat und in der Kirche etwas Ungemeines leisten.

Was mich betrifft, so hatte ich auch wohl im Sinne, etwas Au§erordentliches hervorzubringen; worin es aber bestehen


kšnne, wollte mir nicht deutlich werden. Wie man jedoch eher an den Lohn denkt, den man erhalten mšchte, als an das Verdienst, das man sich erwerben sollte, so leugne ich nicht, da§, wenn ich an ein wŸnschenswertes GlŸck dachte, dieses mir am reizendsten in der Gestalt des Lorbeerkranzes erschien, der den Dichter zu zieren geflochten ist.


 

FŸnftes Buch

 

FŸr alle Všgel gibt es Lockspeisen, und jeder Mensch wird auf seine eigene Art geleitet und verleitet. Natur, Erziehung, Umgebung, Gewohnheit hielten mich von allem Rohen abgesondert, und ob ich gleich mit den untern Volksklassen, besonders den Handwerkern, šfters in BerŸhrung kam, so entstand doch daraus kein nŠheres VerhŠltnis. Etwas Ungewšhnliches, vielleicht GefŠhrliches zu unternehmen, hatte ich zwar Verwegenheit genug, und fŸhlte mich wohl manchmal dazu aufgelegt; allein es mangelte mir die Handhabe, es anzugreifen und zu fassen. Indessen wurde ich auf eine všllig unerwartete Weise in VerhŠltnisse verwickelt, die mich ganz nahe an gro§e Gefahr, und wenigstens fŸr eine Zeitlang in Verlegenheit und Not brachten. Mein frŸheres gutes VerhŠltnis zu jenem Knaben, den ich oben Pylades genannt, hatte sich bis ins JŸnglingsalter fortgesetzt. Zwar sahen wir uns seltener, weil unsre Eltern nicht zum besten mit einander standen; wo wir uns aber trafen, sprang immer sogleich der alte freundschaftliche Jubel hervor. Einst begegneten wir uns in den Alleen, die zwischen dem Innern und Šu§ern Sankt-Gallen Tor einen sehr angenehmen Spaziergang darboten. Wir hatten uns kaum begrŸ§t, als er zu mir sagte: "Es geht mir mit deinen Versen noch immer wie sonst. Diejenigen, die du mir neulich mitteiltest, habe ich einigen lustigen Gesellen vorgelesen, und keiner will glauben, da§ du sie gemacht habest." - "La§ es gut sein," versetzte ich; "wir wollen sie machen, uns daran ergštzen, und die andern mšgen davon denken und sagen, was sie wollen."

"Da kommt eben der UnglŠubige!" sagte mein Freund. - "Wir wollen nicht davon reden," war meine Antwort. "Was hilft's,


man bekehrt sie doch nicht." "Mitnichten," sagte der Freund; "ich kann es ihm nicht so hingehen lassen."

Nach einer kurzen gleichgŸltigen Unterhaltung konnte es der fŸr mich nur allzu wohlgesinnte junge Gesell nicht lassen, und sagte mit einiger Empfindlichkeit gegen jenen: "Hier ist nun der Freund, der die hŸbschen Verse gemacht hat, und die ihr ihm nicht zutrauen wollt." - "Er wird es gewi§ nicht Ÿbel nehmen," versetzte jener; "denn es ist ja eine Ehre, die wir ihm erweisen, wenn wir glauben, da§ weit mehr Gelehrsamkeit dazu gehšre, solche Verse zu machen, als er bei seiner Jugend besitzen kann." - Ich erwiderte etwas GleichgŸltiges; mein Freund aber fuhr fort: "Es wird nicht viel MŸhe kosten, euch zu Ÿberzeugen. Gebt ihm irgend ein Thema auf, und er macht euch ein Gedicht aus dem Stegreif" - Ich lie§ es mir gefallen, wir wurden einig, und der dritte fragte mich: ob ich mich wohl getraue, einen recht artigen Liebesbrief in Versen aufzusetzen, den ein verschŠmtes junges MŠdchen an einen JŸngling schriebe, um ihre Neigung zu offenbaren. - "Nichts ist leichter als das," versetzte ich, "wenn wir nur ein Schreibzeug hŠtten." - Jener brachte seinen Taschenkalender hervor, worin sich wei§e BlŠtter in Menge befanden, und ich setzte mich auf eine Bank, zu schreiben. Sie gingen indes auf und ab und lie§en mich nicht aus den Augen, sogleich fa§te ich die Situation in den Sinn und dachte mir, wie artig es sein mŸ§te, wenn irgend ein hŸbsches Kind mir wirklich gewogen wŠre und es mir in Prosa oder in Versen entdecken wollte. Ich begann daher ohne Anstand meine ErklŠrung, und fŸhrte sie in einem zwischen dem Knittelvers und Madrigal schwebenden Silbenma§e mit mšglichster NaivitŠt in kurzer Zeit dergestalt aus, da§, als ich dies Gedichtchen den beiden vorlas, der Zweifler in Verwunderung und mein Freund in EntzŸcken versetzt wurde. Jenem konnte ich auf sein Verlangen das Gedicht um so weniger verweigern, als es in seinen Kalender geschrieben war, und ich das Dokument meiner FŠhigkeiten gern in seinen HŠnden sah. Er schied unter vielen Versicherungen von Bewunderung


und Neigung, und wŸnschte nichts mehr, als uns šfter zu begegnen, und wir machten aus, bald zusammen aufs Land zu gehen.

Unsere Partie kam zustande, zu der sich noch mehrere junge Leute von jenem Schlage gesellten. Es waren Menschen aus dem mittlern, ja, wenn man will, aus dem niedern Stande, denen es an Kopf nicht fehlte, und die auch, weil sie durch die Schule gelaufen, manche Kenntnis und eine gewisse Bildung hatten. In einer gro§en reichen Stadt gibt es vielerlei Erwerbzweige. Sie halfen sich durch, indem sie fŸr die Advokaten schrieben, Kinder der geringern Klasse durch Hausunterricht etwas weiter brachten, als es in Trivialschulen zu geschehen pflegt. Mit erwachsenern Kindern, welche konfirmiert werden sollten, repetierten sie den Religionsunterricht, liefen dann wieder den MŠklern oder Kaufleuten einige Wege, und taten sich abends, besonders aber an Sonn- und Feiertagen, auf eine frugale Weise etwas zugute.

Indem sie nun unterwegs meine Liebesepistel auf das beste herausstrichen, gestanden sie mir, da§ sie einen sehr lustigen Gebrauch davon gemacht hŠtten: sie sei nŠmlich mit verstellter Hand abgeschrieben, und mit einigen nŠhern Beziehungen einem eingebildeten jungen Manne zugeschoben worden, der nun in der festen †berzeugung stehe, ein Frauenzimmer, dem er von fern den Hof gemacht, sei in ihn aufs Šu§erste verliebt, und suche Gelegenheit, ihm nŠher bekannt zu werden, sie vertrauten mir dabei, er wŸnsche nichts mehr, als ihr auch in Versen antworten zu kšnnen; aber weder bei ihm noch bei ihnen finde sich Geschick dazu, weshalb sie mich instŠndig bŠten, die gewŸnschte Antwort selbst zu verfassen.

Mystifikationen sind und bleiben eine Unterhaltung fŸr mŸ§ige, mehr oder weniger geistreiche Menschen. Eine lŠ§liche Bosheit, eine selbstgefŠllige Schadenfreude sind ein Genu§ fŸr diejenigen, die sich weder mit sich selbst beschŠftigen, noch nach au§en heilsam wirken kšnnen. Kein Alter ist ganz frei von einem solchen Kitzel. Wir hatten uns in unsern Knabenjahren einander oft angefŸhrt; viele Spiele beruhen auf


solchen Mystifikationen und Attrappen; der gegenwŠrtige Scherz schien mir nicht weiter zu gehen: ich willigte ein; sie teilten mir manches Besondere mit, was der Brief enthalten sollte, und wir brachten ihn schon fertig mit nach Hause.

Kurze Zeit darauf wurde ich durch meinen Freund dringend eingeladen, an einem Abendfeste jener Gesellschaft teilzunehmen. Der Liebhaber wolle es diesmal ausstatten, und verlange dabei ausdrŸcklich, dem Freunde zu danken, der sich so vortrefflich als poetischer SekretŠr erwiesen.

Wir kamen spŠt genug zusammen, die Mahlzeit war die frugalste, der Wein trinkbar; und was die Unterhaltung betraf, so drehte sie sich fast gŠnzlich um die Verhšhnung des gegenwŠrtigen, freilich nicht sehr aufgeweckten Menschen, der nach wiederholter Lesung des Briefes nicht weit davon war zu glauben, er habe ihn selbst geschrieben.

Meine natŸrliche GutmŸtigkeit lie§ mich an einer solchen boshaften Verstellung wenig Freude finden, und die Wiederholung desselben Themas ekelte mich bald an. Gewi§, ich brachte einen verdrie§lichen Abend hin, wenn nicht eine unerwartete Erscheinung mich wieder belebt hŠtte. Bei unserer Ankunft stand bereits der Tisch reinlich und ordentlich gedeckt, hinreichender Wein aufgestellt; wir setzten uns und blieben allein, ohne Bedienung nštig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach der Magd; allein statt derselben trat ein MŠdchen herein, von ungemeiner und, wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schšnheit. - "Was verlangt ihr?" sagte sie, nachdem sie auf eine freundliche Weise guten Abend geboten; "die Magd ist krank und zu Bette. Kann ich euch dienen?" - "Es fehlt an Wein," sagte der eine. "Wenn du uns ein paar Flaschen holtest, so wŠre es sehr hŸbsch." - "Tu es, Gretchen," sagte der andre; "es ist ja nur ein Katzensprung." - "Warum nicht!" versetzte sie, nahm ein paar leere Flaschen vom Tisch und eilte fort. Ihre Gestalt war von der RŸckseite fast noch zierlicher. Das HŠubchen sa§ so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmutig mit Nacken und Schultern


verband. Alles an ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Gestalt um so ruhiger folgen, als die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen und den lieblichen Mund allein angezogen und gefesselt wurde. Ich machte den Gesellen VorwŸrfe, da§ sie das Kind in der Nacht allein ausschickten; sie lachten mich aus, und ich war bald getršstet, als sie schon wiederkam: denn der Schenkwirt wohnte nur Ÿber die Stra§e. - "Setze dich dafŸr auch zu uns," sagte der eine. Sie tat es, aber leider kam sie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unsre Gesundheit und entfernte sich bald, indem sie uns riet, nicht gar lange beisammen zu bleiben und Ÿberhaupt nicht so laut zu werden: denn die Mutter wolle sich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, sondern die unserer Wirte.

Die Gestalt dieses MŠdchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen Wegen und Stegen: es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte; und da ich einen Vorwand, sie im Hause zu sehen, weder finden konnte noch suchen mochte, ging ich ihr zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgespart, wo sie sa§; und so konnte ich wŠhrend des langen protestantischen Gottesdienstes mich wohl satt an ihr sehen. Beim Herausgehen getraute ich mich nicht sie anzureden, noch weniger sie zu begleiten, und war schon selig, wenn sie mich bemerkt und gegen einen Gru§ genickt zu haben schien. Doch ich sollte das GlŸck, mich ihr zu nŠhern, nicht lange entbehren. Man hatte jenen Liebenden, dessen poetischer SekretŠr ich geworden war, glauben gemacht, der in seinem Namen geschriebene Brief sei wirklich an das Frauenzimmer abgegeben worden, und zugleich seine Erwartung aufs Šu§erste gespannt, da§ nun bald eine Antwort darauf erfolgen mŸsse. Auch diese sollte ich schreiben, und die schalkische Gesellschaft lie§ mich durch Pylades aufs instŠndigste ersuchen, allen meinen Witz aufzubieten und alle meine Kunst zu verwenden, da§ dieses StŸck recht zierlich und vollkommen werde.

In Hoffnung, meine Schšne wiederzusehen, machte ich mich sogleich ans Werk, und dachte mir nun alles, was mir


hšchst wohlgefŠllig sein wŸrde, wenn Gretchen es mir schriebe. Ich glaubte alles so aus ihrer Gestalt, ihrem Wesen, ihrer Art, ihrem Sinn heraus geschrieben zu haben, da§ ich mich des Wunsches nicht enthalten konnte, es mšchte wirklich so sein, und mich in EntzŸcken verlor, nur zu denken, da§ etwas €hnliches von ihr an mich kšnnte gerichtet werden. So mystifizierte ich mich selbst, indem ich meinte, einen andern zum besten zu haben, und es sollte mir daraus noch manche Freude und manches Ungemach entspringen. Als ich abermals gemahnt wurde, war ich fertig, versprach zu kommen und fehlte nicht zur bestimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu Hause; Gretchen sa§ am Fenster und spann; die Mutter ging ab und zu. Der junge Mensch verlangte, da§ ich's ihm vorlesen sollte; ich tat es, und las nicht ohne RŸhrung, indem ich Ÿber das Blatt weg nach dem schšnen Kinde hinschielte, und da ich eine gewisse Unruhe ihres Wesens, eine leichte Ršte ihrer Wangen zu bemerken glaubte, drŸckte ich nur besser und lebhafter aus, was ich von ihr zu vernehmen wŸnschte. Der Vetter, der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, ersuchte mich zuletzt um einige AbŠnderungen. Sie betrafen einige Stellen, die freilich mehr auf Gretchens Zustand, als auf den jenes Frauenzimmers pa§ten, das von gutem Hause, wohlhabend, in der Stadt bekannt und angesehen war. Nachdem der junge Mann mir die gewŸnschten €nderungen artikuliert und ein Schreibzeug herbeigeholt hatte, sich aber wegen eines GeschŠfts auf kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der Wandbank hinter dem gro§en Tisch sitzen, und probierte die zu machenden VerŠnderungen auf der gro§en, fast den ganzen Tisch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Griffel, der stets im Fenster lag, weil man auf dieser SteinflŠche oft rechnete, sich mancherlei notierte, ja die Gehenden und Kommenden sich sogar Notizen da durch mitteilten.

Ich hatte eine Zeitlang verschiedenes geschrieben und wieder ausgelšscht, als ich ungeduldig ausrief: "Es will nicht


gehen!" - "Desto besser!" sagte das liebe MŠdchen, mit einem gesetzten Tone; "ich wŸnschte, es ginge gar nicht. Sie sollten sich mit solchen HŠndeln nicht befassen." - Sie stand vom Spinnrocken auf, und zu mir an den Tisch tretend, hielt sie mir mit viel Verstand und Freundlichkeit eine Strafpredigt. "Die Sache scheint ein unschuldiger Scherz; es ist ein Scherz, aber nicht unschuldig. Ich habe schon mehrere FŠlle erlebt, wo unsere jungen Leute wegen eines solchen Frevels in gro§e Verlegenheit kamen." - "Was soll ich aber tun?" versetzte ich; "der Brief ist geschrieben, und sie verlassen sich drauf, da§ ich ihn umŠndern werde." - "Glauben sie mir," versetzte sie, "und Šndern ihn nicht um; ja, nehmen sie ihn zurŸck, stecken sie ihn ein, gehen sie fort und suchen die Sache durch Ihren Freund ins gleiche zu bringen. Ich will auch ein Wšrtchen mit drein reden: denn, sehen sie, so ein armes MŠdchen als ich bin, und abhŠngig von diesen Verwandten, die zwar nichts Bšses tun, aber doch oft um der Lust und des Gewinns willen manches Wagehalsige vornehmen, ich habe widerstanden und den ersten Brief nicht abgeschrieben, wie man von mir verlangte; sie haben ihn mit verstellter Hand kopiert, und so mšgen sie auch, wenn es nicht anders ist, mit diesem tun. Und sie, ein junger Mann aus gutem Hause, wohlhabend, unabhŠngig, warum wollen sie sich zum Werkzeug einer Sache gebrauchen lassen, aus der gewi§ nichts Gutes und vielleicht manches Unangenehme fŸr sie entspringen kann?" - Ich war glŸcklich, sie in einer Folge reden zu hšren: denn sonst gab sie nur wenige Worte in das GesprŠch. Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir selbst, und erwiderte: "Ich bin so unabhŠngig nicht, als sie glauben, und was hilft mir wohlhabend zu sein, da mir das Kšstlichste fehlt, was ich wŸnschen dŸrfte."

Sie hatte mein Konzept der poetischen Epistel vor sich hingezogen und las es halb laut, gar hold und anmutig. "Das ist recht hŸbsch," sagte sie, indem sie bei einer Art naiver Pointe innehielt; "nur schade, da§ es nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch bestimmt ist." - "Das wŠre


freilich sehr wŸnschenswert," rief ich aus; "wie glŸcklich mŸ§te der sein, der von einem MŠdchen, das er unendlich liebt, eine solche Vorsicherung ihrer Neigung erhielte!" - "Es gehšrt freilich viel dazu," versetzte sie, "und doch wird manches mšglich." - "Zum Beispiel," fuhr ich fort, "wenn jemand, der sie kennt, schŠtzt, verehrt und anbetet, Ihnen ein solches Blatt vorlegte, und sie recht dringend, recht herzlich und freundlich bŠte, was wŸrden sie tun?" - Ich schob ihr das Blatt nŠher hin, das sie schon wieder mir zugeschoben hatte. Sie lŠchelte, besann sich einen Augenblick, nahm die Feder und unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor EntzŸcken, sprang auf und wollte sie umarmen. - "Nicht kŸssen!" sagte sie; "das ist so was Gemeines; aber lieben, wenn's mšglich ist." Ich hatte das Blatt zu mir genommen und eingesteckt. "Niemand soll es erhalten," sagte ich, "und die Sache ist abgetan! Sie haben mich gerettet." - "Nun vollenden Sie die Rettung," rief sie aus, "und eilen fort, ehe die andern kommen, und sie in Pein und Verlegenheit geraten." Ich konnte mich nicht von ihr losrei§en; sie aber bat mich so freundlich, indem sie mit beiden HŠnden meine Rechte nahm und liebevoll drŸckte. Die TrŠnen waren mir nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu sehen; ich drŸckte mein Gesicht auf ihre HŠnde und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in einer solchen Verwirrung befunden.

Die ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, da§ ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schšne sinnlich gewahr werde. Und so war auch mir durch den Anblick dieses MŠdchens, durch meine Neigung zu ihr eine neue Welt des Schšnen und Vortrefflichen aufgegangen. Ich las meine poetische Epistel hundertmal durch, beschaute die Unterschrift, kŸ§te sie, drŸckte sie an mein Herz und freute mich dieses liebenswŸrdigen Bekenntnisses. Je mehr sich aber mein EntzŸcken steigerte, desto weher tat es mir, sie nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder sehen und sprechen zu kšnnen: denn ich fŸrchtete die VorwŸrfe der


Vettern und ihre Zudringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln konnte, wu§te ich nicht anzutreffen. Ich machte mich daher den nŠchsten Sonntag auf nach Niederrad, wohin jene Gesellen gewšhnlich zu gehen pflegten, und fand sie auch wirklich. Sehr verwundert war ich jedoch, da sie mir, anstatt verdrie§lich und fremd zu tun, mit frohem Gesicht entgegenkamen. Der JŸngste besonders war sehr freundlich, nahm mich bei der Hand und sagte: "Ihr habt uns neulich einen schelmischen Streich gespielt, und wir waren auf Euch recht bšse; doch hat uns Euer Entweichen und das Entwenden der poetischen Epistel auf einen guten Gedanken gebracht, der uns vielleicht sonst niemals aufgegangen wŠre. Zur Versšhnung mšget Ihr uns heute bewirten, und dabei sollt Ihr erfahren, was es denn ist, worauf wir uns etwas einbilden, und was Euch gewi§ auch Freude machen wird." Diese Anrede setzte mich in nicht geringe Verlegenheit: denn ich hatte ungefŠhr so viel Geld bei mir, um mir selbst und einem Freunde etwas zugute zu tun; aber eine Gesellschaft, und besonders eine solche, die nicht immer zur rechten Zeit ihre Grenzen fand, zu gastieren, war ich keineswegs eingerichtet; ja dieser Antrag verwunderte mich um so mehr, als sie sonst durchaus sehr ehrenvoll darauf hielten, da§ jeder nur seine Zeche bezahlte. Sie lŠchelten Ÿber meine Verlegenheit, und der JŸngere fuhr fort: "La§t uns erst in der Laube sitzen, und dann sollt Ihr das Weitre erfahren." Wir sa§en, und er sagte: "Als Ihr die Liebesepistel neulich mitgenommen hattet, sprachen wir die ganze Sache noch einmal durch und machten die Betrachtung, da§ wir so ganz umsonst, andern zum Verdru§ und uns zur Gefahr, aus blo§er leidiger Schadenfreude, Euer Talent mi§brauchen, da wir es doch zu unser aller Vorteil benutzen kšnnten. Seht, ich habe hier eine Bestellung auf ein Hochzeitgedicht, sowie auf ein Leichenkarmen. Das zweite mu§ gleich fertig sein, das erste hat noch acht Tage Zeit. Mšgt Ihr sie machen, welches Euch ein leichtes ist, so traktiert Ihr uns zweimal, und wir bleiben auf lange Zeit Eure Schuldner." - Dieser Vor-


schlag gefiel mir von allen Seiten: denn ich hatte schon von Jugend auf die Gelegenheidsgedichte, deren damals in jeder Woche mehrere zirkulierten, ja besonders bei ansehnlichen Verheiratungen dutzendweise zum Vorschein kamen, mit einem gewissen Neid betrachtet, weil ich solche Dinge ebenso gut, ja noch besser zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und besonders, mich gedruckt zu sehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Personalien, mit den VerhŠltnissen der Familie bekannt; ich ging etwas abseits, machte meinen Entwurf und fŸhrte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch wieder zur Gesellschaft begab und der Wein nicht geschont wurde, so fing das Gedicht an zu stocken, und ich konnte es diesen Abend nicht abliefern. "Es hat noch bis morgen abend Zeit," sagten sie, "und wir wollen Euch nur gestehen, das Honorar, welches wir fŸr das Leichenkarmen erhalten, reicht hin, uns morgen noch einen lustigen Abend zu verschaffen. Kommt zu uns: denn es ist billig, da§ Gretchen auch mit genie§e, die uns eigentlich auf diesen Einfall gebracht hat." - Meine Freude war unsŠglich. Auf dem Heimwege hatte ich nur die noch fehlenden Strophen im Sinne, schrieb das Ganze noch vor Schlafengehn nieder und den andern Morgen sehr sauber ins Reine. Der Tag ward mir unendlich lang, und kaum war es dunkel geworden, so fand ich mich wieder in der kleinen engen Wohnung neben dem allerliebsten MŠdchen.

Die jungen Leute, mit denen ich auf diese Weise immer in nŠhere Verbindung kam, waren nicht eigentlich gemeine, aber doch gewšhnliche Menschen. Ihre TŠtigkeit war lobenswŸrdig, und ich hšrte ihnen mit VergnŸgen zu, wenn sie von den vielfachen Mitteln und Wegen sprachen, wie man sich etwas erwerben kšnne; auch erzŠhlten sie am liebsten von gegenwŠrtig sehr reichen Leuten, die mit nichts angefangen. Andere hŠtten als arme Handlungsdiener sich ihren Patronen notwendig gemacht, und wŠren endlich zu ihren Schwiegersšhnen erhoben worden; noch andre hŠt-


ten einen kleinen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen so erweitert und veredelt, da§ sie nun als reiche Kauf- und HandelsmŠnner erschienen. Besonders sollte jungen Leuten, die gut auf den Beinen wŠren, das BeilŠufer- und MŠklerhandwerk und die †bernahme von allerlei AuftrŠgen und Besorgungen fŸr unbehŸlfliche Wohlhabende durchaus ernŠhrend und eintrŠglich sein. Wir alle hšrten das gern, und jeder dŸnkte sich etwas, wenn er sich in dem Augenblick vorstellte, da§ in ihm selbst so viel vorhanden sei, nicht nur um in der Welt fortzukommen, sondern sogar ein au§erordentliches GlŸck zu machen. Niemand jedoch schien dies GesprŠch ernstlicher zu fŸhren als Pylades, der zuletzt gestand, da§ er ein MŠdchen au§erordentlich liebe und sich wirklich mit ihr versprochen habe. Die VermšgensumstŠnde seiner Eltern litten nicht, da§ er auf Akademien gehe; er habe sich aber einer schšnen Handschrift, des Rechnens und der neuern Sprachen beflei§igt, und wolle nun, in Hoffnung auf jenes hŠusliche GlŸck, sein mšglichstes versuchen. Die Vettern lobten ihn deshalb, ob sie gleich das frŸhzeitige Versprechen an ein MŠdchen nicht billigen wollten, und setzten hinzu, sie mŸ§ten ihn zwar fŸr einen braven und guten Jungen anerkennen, hielten ihn aber weder fŸr tŠtig noch fŸr unternehmend genug, etwas Au§erordentliches zu leisten. Indem er nun, zu seiner Rechtfertigung, umstŠndlich auseinandersetzte, was er sich zu leisten getraue und wie er es anzufangen gedenke, so wurden die Ÿbrigen auch angereizt, und jeder fing nun an zu erzŠhlen, was er schon vermšge, tue, treibe, welchen Weg er zurŸckgelegt und was er zunŠchst vor sich sehe. Die Reihe kam zuletzt an mich. Ich sollte nun auch meine Lebensweise und Aussichten darstellen, und indem ich mich besann, sagte Pylades: "Das einzige behalte ich mir vor, damit wir nicht gar zu kurz kommen, da§ er die Šu§ern Vorteile seiner Lage nicht mit in Anrechnung bringe. Er mag uns lieber ein MŠrchen erzŠhlen, wie er es anfangen wŸrde, wenn er in diesem Augenblick, so wie wir, ganz auf sich selbst gestellt wŠre."


Gretchen, die bis diesen Augenblick fortgesponnen hatte, stand auf und setzte sich wie gewšhnlich ans Ende des Tisches. Wir hatten schon einige Flaschen geleert, und ich fing mit dem besten Humor meine hypothetische Lebensgeschichte zu erzŠhlen an. "Zuvšrderst also empfehle ich mich euch," sagte ich, "da§ ihr mir die Kundschaft erhaltet, welche mir zuzuweisen ihr den Anfang gemacht habt. Wenn ihr mir nach und nach den Verdienst der sŠmtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet, und wir ihn nicht blo§ verschmausen, so will ich schon zu etwas kommen. Alsdann mŸ§t ihr mir nicht Ÿbel nehmen, wenn ich auch in euer Handwerk pfusche." Worauf ich ihnen denn vorerzŠhlte, was ich mir aus ihren BeschŠftigungen gemerkt hatte, und zu welchen ich mich allenfalls fŠhig hielt. Ein jeder hatte vorher sein Verdienst zu Gelde angeschlagen, und ich ersuchte sie, mir auch zu Fertigung meines Etats behŸlflich zu sein. Gretchen hatte alles Bisherige sehr aufmerksam mit angehšrt, und zwar in der Stellung, die sie sehr gut kleidete, sie mochte nun zuhšren oder sprechen, sie fa§te mit beiden HŠnden ihre Ÿber einander geschlagenen Arme und legte sie auf den Rand des Tisches. So konnte sie lange sitzen, ohne etwas anders als den Kopf zu bewegen, welches niemals ohne Anla§ oder Bedeutung geschah. Sie hatte manchmal ein Wšrtchen mit eingesprochen und Ÿber dieses und jenes, wenn wir in unsern Einrichtungen stockten, nachgeholfen; dann war sie aber wieder still und ruhig wie gewšhnlich. Ich lie§ sie nicht aus den Augen, und da§ ich meinen Plan nicht ohne Bezug auf sie gedacht und ausgesprochen, kann man sich leicht denken, und die Neigung zu ihr gab dem, was ich sagte, einen Anschein von Wahrheit und Mšglichkeit, da§ ich mich selbst einen Augenblick tŠuschte, mich so abgesondert und hŸlflos dachte, wie mein MŠrchen mich voraussetzte, und mich dabei in der Aussicht, sie zu besitzen, hšchst glŸcklich fŸhlte. Pylades hatte seine Konfession mit der Heirat geendigt, und bei uns andern war nun auch die Frage, ob wir es in unsern Planen so weit gebracht hŠtten.


"Ich zweifle ganz und gar nicht daran," sagte ich; "denn eigentlich ist einem jeden von uns eine Frau nštig, um das im Hause zu bewahren und uns im ganzen genie§en zu lassen, was wir von au§en auf eine so wunderliche Weise zusammenstoppeln." Ich machte die Schilderung von einer Gattin, wie ich sie wŸnschte, und es mŸ§te seltsam zugegangen sein, wenn sie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild gewesen wŠre.

Das Leichenkarmen war verzehrt, das Hochzeitgedicht stand nun auch wohltŠtig in der NŠhe; ich Ÿberwand alle Furcht und Sorge und wu§te, weil ich viel Bekannte hatte, meine eigentlichen Abendunterhaltungen vor den Meinigen zu verbergen. Das liebe MŠdchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerlŠ§liche Bedingung meines Wesens. Jene hatten sich ebenso an mich gewšhnt, und wir waren fast tŠglich zusammen, als wenn es nicht anders sein kšnnte. Pylades hatte indessen seine Schšne auch in das Haus gebracht, und dieses Paar verlebte manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, obgleich noch sehr im Keime, verbargen doch nicht ihre ZŠrtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich war nur geschickt, mich in Entfernung zu halten. Sie gab niemanden die Hand, auch nicht mir; sie litt keine BerŸhrung: nur setzte sie sich manchmal neben mich, besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und dann legte sie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, sah mir ins Buch oder aufs Blatt; wollte ich mir aber eine Šhnliche Freiheit gegen sie herausnehmen, so wich sie und kam so bald nicht wieder. Doch wiederholte sie oft diese Stellung, so wie alle ihre Gesten und Bewegungen sehr einfšrmig waren, aber immer gleich gehšrig, schšn und reizend. Allein jene Vertraulichkeit habe ich sie gegen niemanden weiter ausŸben sehen.

Eine der unschuldigsten und zugleich unterhaltendsten Lustpartien, die ich mit verschiedenen Gesellschaften junger Leute unternahm, war, da§ wir uns in das Hšchster Marktschiff setzten, die darin eingepackten seltsamen Passagiere beobachteten und uns bald mit diesem bald mit jenem, wie uns Lust oder Mutwille trieb, scherzhaft und neckend ein-


lie§en. Zu Hšchst stiegen wir aus, wo zu gleicher Zeit das Marktschiff von Mainz eintraf. In einem Gasthofe fand man eine gut besetzte Tafel, wo die Besseren der Auf- und Abfahrenden mit einander speisten und alsdann jeder seine Fahrt weiter fortsetzte: denn beide Schiffe gingen wieder zurŸck. Wir fuhren dann jedesmal nach eingenommenem Mittagsessen hinauf nach Frankfurt und hatten in sehr gro§er Gesellschaft die wohlfeilste Wasserfahrt gemacht, die nur mšglich war. Einmal hatte ich auch mit Gretchens Vettern diesen Zug unternommen, als am Tisch in Hšchst sich ein junger Mann zu uns gesellte, der etwas Šlter als wir sein mochte. Jene kannten ihn, und er lie§ sich mir vorstellen. Er hatte in seinem Wesen etwas sehr GefŠlliges, ohne sonst ausgezeichnet zu sein. Von Mainz heraufgekommen, fuhr er nun mit uns nach Frankfurt zurŸck, und unterhielt sich mit mir von allerlei Dingen, welche das innere Stadtwesen, die €mter und Stellen betrafen, worin er mir ganz wohl unterrichtet schien. Als wir uns trennten, empfahl er sich mir und fŸgte hinzu: er wŸnsche, da§ ich gut von ihm denken mšge, weil er sich gelegentlich meiner Empfehlung zu erfreuen hoffe. Ich wu§te nicht, was er damit sagen wollte, aber die Vettern klŠrten mich nach einigen Tagen auf; sie sprachen Gutes von ihm und ersuchten mich um ein Vorwort bei meinem Gro§vater, da jetzt eben eine mittlere Stelle offen sei, zu welcher dieser Freund gern gelangen mšchte. Ich entschuldigte mich anfangs, weil ich mich niemals in dergleichen Dinge gemischt hatte; allein sie setzten mir so lange zu, bis ich mich es zu tun entschlo§. Hatte ich doch schon manchmal bemerkt, da§ bei solchen €mtervergebungen, welche leider oft als Gnadensachen betrachtet werden, die Vorsprache der Gro§mutter oder einer Tante nicht ohne Wirkung gewesen. Ich war so weit herangewachsen, um mir auch einigen Einflu§ anzuma§en. Deshalb Ÿberwand ich, meinen Freunden zu Lieb, welche sich auf alle Weise fŸr eine solche GefŠlligkeit verbunden erklŠrten, die SchŸchternheit eines Enkels, und Ÿbernahm es, ein Bittschreiben, das mir eingehŠndigt wurde, zu Ÿberreichen.


Eines Sonntags nach Tische, als der Gro§vater in seinem Garten beschŠftigt war, um so mehr, als der Herbst herannahte und ich ihm allenthalben behŸlflich zu sein suchte, rŸckte ich nach einigem Zšgern mit meinem Anliegen und dem Bittschreiben hervor. Er sah es an und fragte mich, ob ich den jungen Menschen kenne. Ich erzŠhlte ihm im allgemeinen, was zu sagen war, und er lie§ es dabei bewenden. "Wenn er Verdienst und sonst ein gutes Zeugnis hat, so will ich ihm um seiner- und deinetwillen gŸnstig sein." Mehr sagte er nicht, und ich erfuhr lange nichts von der Sache.

Seit einiger Zeit hatte ich bemerkt, da§ Gretchen nicht mehr spann, und sich dagegen mit NŠhen beschŠftigte und zwar mit sehr feiner Arbeit, welches mich um so mehr wunderte, da die Tage schon abgenommen hatten und der Winter herankam. Ich dachte darŸber nicht weiter nach, nur beunruhigte es mich, da§ ich sie einigemal des Morgens nicht wie sonst zu Hause fand, und ohne Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo sie hingegangen sei. Doch sollte ich eines Tages sehr wunderlich Ÿberrascht werden. Meine Schwester, die sich zu einem Balle vorbereitete, bat mich, ihr bei einer GalanteriehŠndlerin sogenannte italienische Blumen zu holen, sie wurden in Klšstern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten besonders, Zwergršslein und dergleichen fielen gar schšn und natŸrlich aus. Ich tat ihr die Liebe und ging in den Laden, in welchem ich schon šfter mit ihr gewesen war. Kaum war ich hineingetreten und hatte die EigentŸmerin begrŸ§t, als ich im Fenster ein Frauenzimmer sitzen sah, das mir unter einem SpitzenhŠubchen gar jung und hŸbsch, und unter einer seidnen Mantille sehr wohlgebaut schien. Ich konnte leicht an ihr eine GehŸlfin erkennen, denn sie war beschŠftigt, Band und Federn auf ein HŸtchen zu stecken. Die PutzhŠndlerin zeigte mir den langen Kasten mit einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich besah sie, und blickte, indem ich wŠhlte, wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenster; aber wie gro§ war mein Erstaunen, als ich eine unglaubliche €hnlichkeit mit Gretchen gewahr wurde, ja zuletzt mich


Ÿberzeugen mu§te, es sei Gretchen selbst. Auch blieb mir kein Zweifel Ÿbrig, als sie mir mit den Augen winkte und ein Zeichen gab, da§ ich unsre Bekanntschaft nicht verraten sollte. Nun brachte ich mit WŠhlen und Verwerfen die PutzhŠndlerin in Verzweiflung, mehr als ein Frauenzimmer selbst hŠtte tun kšnnen. Ich hatte wirklich keine Wahl, denn ich war aufs Šu§erste verwirrt, und zugleich liebte ich mein Zaudern, weil es mich in der NŠhe des Kindes hielt, dessen Maske mich verdro§, und das mir doch in dieser Maske reizender vorkam als jemals. Endlich mochte die PutzhŠndlerin alle Geduld verlieren, und suchte mir eigenhŠndig einen ganzen Pappenkasten voll Blumen aus, den ich meiner Schwester vorstellen und sie selbst sollte wŠhlen lassen. So wurde ich zum Laden gleichsam hinausgetrieben, indem sie den Kasten durch ihr MŠdchen vorausschickte.

Kaum war ich zu Hause angekommen, als mein Vater mich berufen lie§ und mir die Eršffnung tat, es sei nun ganz gewi§, da§ der Erzherzog Joseph zum Ršmischen Kšnig gewŠhlt und gekršnt werden solle. Ein so hšchst bedeutendes Ereignis mŸsse man nicht unvorbereitet erwarten, und etwa nur gaffend und staunend an sich vorbeigehen lassen. Er wolle daher die Wahl- und Kršnungsdiarien der beiden letzten Kršnungen mit mir durchgehen, nicht weniger die letzten Wahlkapitulationen, um alsdann zu bemerken, was fŸr neue Bedingungen man im gegenwŠrtigen Falle hinzufŸgen werde. Die Diarien wurden aufgeschlagen, und wir beschŠftigten uns den ganzen Tag damit bis tief in die Nacht, indessen mir das hŸbsche MŠdchen, bald in ihrem alten Hauskleide, bald in ihrem neuen KostŸm, immer zwischen den hšchsten GegenstŠnden des Heiligen Ršmischen Reichs hin und wider schwebte. FŸr diesen Abend war es unmšglich, sie zu sehen, und ich durchwachte eine sehr unruhige Nacht. Das gestrige Studium wurde den andern Tag eifrig fortgesetzt, und nur gegen Abend machte ich es mšglich, meine Schšne zu besuchen, die ich wieder in ihrem gewšhnlichen Hauskleide fand. Sie lŠchelte, indem sie mich


ansah, aber ich getraute mich nicht, vor den andern etwas zu erwŠhnen. Als die ganze Gesellschaft wieder ruhig zusammensa§, fing sie an und sagte: "Es ist unbillig, da§ ihr unserm Freunde nicht vertrauet, was in diesen Tagen von uns beschlossen worden." Sie fuhr darauf fort zu erzŠhlen, da§ nach unsrer neulichen Unterhaltung, wo die Rede war, wie ein jeder sich in der Welt wolle geltend machen, auch unter ihnen zur Sprache gekommen, auf welche Art ein weibliches Wesen seine Talente und Arbeiten steigern und seine Zeit vorteilhaft anwenden kšnne. Darauf habe der Vetter vorgeschlagen, sie solle es bei einer Putzmacherin versuchen, die jetzt eben eine GehŸlfin brauche. Man sei mit der Frau einig geworden, sie gehe tŠglich so viele Stunden hin, werde gut gelohnt; nur mŸsse sie dort, um des Anstands willen, sich zu einem gewissen Anputz bequemen, den sie aber jederzeit zurŸcklasse, weil er zu ihrem Ÿbrigen Leben und Wesen sich gar nicht schicken wolle. Durch diese ErklŠrung war ich zwar beruhigt, nur wollte es mir nicht recht gefallen, das hŸbsche Kind in einem šffentlichen Laden und an einem Orte zu wissen, wo die galante Welt gelegentlich ihren Sammelplatz hatte. Doch lie§ ich mir nichts merken, und suchte meine eifersŸchtige Sorge im stillen bei mir zu verarbeiten. Hierzu gšnnte mir der jŸngere Vetter nicht lange Zeit, der alsbald wieder mit dem Auftrag zu einem Gelegenheitsgedicht hervortrat, mir die Personalien erzŠhlte und sogleich verlangte, da§ ich mich zur Erfindung und Disposition des Gedichtes anschicken mšchte. Er hatte schon einigemal Ÿber die Behandlung einer solchen Aufgabe mit mir gesprochen, und, wie ich in solchen FŠllen sehr redselig war, gar leicht von mir erlangt, da§ ich ihm, was an diesen Dingen rhetorisch ist, umstŠndlich auslegte, ihm einen Begriff von der Sache gab und meine eigenen und fremden Arbeiten dieser Art als Beispiele benutzte. Der junge Mensch war ein guter Kopf, obgleich ohne Spur von poetischer Ader, und nun ging er so sehr ins einzelne und wollte von allem Rechenschaft haben, da§ ich mit der Bemerkung laut ward:


"Sieht es doch aus, als wolltet Ihr mir ins Handwerk greifen und mir die Kundschaft entziehen." - "Ich will es nicht leugnen," sagte jener lŠchelnd, "denn ich tue Euch dadurch keinen Schaden. Wie lange wird's wŠhren, so geht Ihr auf die Akademie, und bis dahin la§t mich noch immer etwas bei Euch profitieren." - "Herzlich gern," versetzte ich, und munterte ihn auf, selbst eine Disposition zu machen, ein Silbenma§ nach dem Charakter des Gegenstandes zu wŠhlen, und was etwa sonst noch nštig scheinen mochte. Er ging mit Ernst an die Sache; aber es wollte nicht glŸcken. Ich mu§te zuletzt immer daran so viel umschreiben, da§ ich es leichter und besser von vornherein selbst geleistet hŠtte. Dieses Lehren und Lernen jedoch, dieses Mitteilen, diese Wechselarbeit gab uns eine gute Unterhaltung; Gretchen nahm teil daran und hatte manchen artigen Einfall, so da§ wir alle vergnŸgt, ja, man darf sagen glŸcklich waren. Sie arbeitete des Tags bei der Putzmacherin; abends kamen wir gewšhnlich zusammen, und unsre Zufriedenheit ward selbst dadurch nicht gestšrt, da§ es mit den Bestellungen zu Gelegenheitsgedichten endlich nicht recht mehr fortwollte. Schmerzlich jedoch empfanden wir es, da§ uns eins einmal mit Protest zurŸckkam, weil es dem Besteller nicht gefiel. Indes tršsteten wir uns, weil wir es gerade fŸr unsere beste Arbeit hielten, und jenen fŸr einen schlechten Kenner erklŠren durften. Der Vetter, der ein fŸr allemal etwas lernen wollte, veranla§te nunmehr fingierte Aufgaben, bei deren Auflšsung wir uns zwar noch immer gut genug unterhielten, aber freilich, da sie nichts einbrachten, unsre kleinen Gelage viel mŠ§iger einrichten mu§ten.

Mit jenem gro§en staatsrechtlichen Gegenstande, der Wahl und Kršnung eines Ršmischen Kšnigs, wollte es nun immer mehr Ernst werden. Der anfŠnglich auf Augsburg im Oktober 1763 ausgeschriebene kurfŸrstliche Kollegialtag ward nun nach Frankfurt verlegt, und sowohl zu Ende dieses Jahrs als zu Anfang des folgenden regten sich die Vorbereitungen, welche dieses wichtige GeschŠft einleiten sollten. Den Anfang machte ein von uns noch nie gesehener Aufzug. Eine


unserer Kanzleipersonen zu Pferde, von vier gleichfalls berittnen Trompetern begleitet und von einer Fu§wache umgeben, verlas mit lauter und vernehmlicher Stimme an allen Ecken der Stadt ein weitlŠuftiges Edikt, das uns von dem Bevorstehenden benachrichtigte, und den BŸrgern ein geziemendes und den UmstŠnden angemessenes Betragen einschŠrfte. Bei Rat wurden gro§e †berlegungen gepflogen, und es dauerte nicht lange, so zeigte sich der Reichsquartiermeister vom Erbmarschall abgesendet, um die Wohnungen der Gesandten und ihres Gefolges nach altem Herkommen anzuordnen und zu bezeichnen. Unser Haus lag im kurpfŠlzischen Sprengel, und wir hatten uns einer neuen, obgleich erfreulichern Einquartierung zu versehen. Der mittlere Stock, welchen ehmals Graf Thoranc inne gehabt, wurde einem kurpfŠlzischen Kavalier eingerŠumt, und da Baron von Kšnigsthal, nŸrnbergischer GeschŠftstrŠger, den oberen Stock eingenommen hatte, so waren wir noch mehr als zur Zeit der Franzosen zusammen gedrŠngt. Dieses diente mir zu einem neuen Vorwand, au§er dem Hause zu sein und die meiste Zeit des Tages auf der Stra§e zuzubringen, um das, was šffentlich zu sehen war, ins Auge zu fassen.

Nachdem uns die vorhergegangene VerŠnderung und Einrichtung der Zimmer auf dem Rathause sehenswert geschienen, nachdem die Ankunft der Gesandten eines nach dem andern und ihre erste solenne Gesamtauffahrt den 6. Februar stattgefunden, so bewunderten wir nachher die Ankunft der kaiserlichen Kommissarien und deren Auffahrt, ebenfalls auf den Ršmer, welche mit gro§em Pomp geschah. Die wŸrdige Persšnlichkeit des FŸrsten von Liechtenstein machte einen guten Eindruck; doch wollten Kenner behaupten, die prŠchtigen Livreen seien schon einmal bei einer andern Gelegenheit gebraucht worden, und auch diese Wahl und Kršnung werde schwerlich an Glanz jener von Karl dem Siebenten gleichkommen. Wir JŸngern lie§en uns das gefallen, was wir vor Augen hatten, uns deuchte alles sehr gut und manches setzte uns in Erstaunen.


Der Wahlkonvent war endlich auf den 3. MŠrz anberaumt. Nun kam die Stadt durch neue Fšrmlichkeiten in Bewegung, und die wechselseitigen Zeremoniellbesuche der Gesandten hielten uns immer auf den Beinen. Auch mu§ten wir genau aufpassen, weil wir nicht nur gaffen, sondern alles wohl bemerken sollten, um zu Hause gehšrig Rechenschaft zu geben, ja manchen kleinen Aufsatz auszufertigen, worŸber sich mein Vater und Herr von Kšnigsthal, teils zu unserer †bung teils zu eigner Notiz, beredet hatten. Und wirklich gereichte mir dies zu besondrem Vorteil, indem ich Ÿber das €u§erliche so ziemlich ein lebendiges Wahl- und Kršnungsdiarium vorstellen konnte.

Die Persšnlichkeiten der Abgeordneten, welche auf mich einen bleibenden Eindruck gemacht haben, waren zunŠchst die des kurmainzischen ersten Botschafters, Barons von Erthal, nochmaligen KurfŸrsten. Ohne irgend etwas Auffallendes in der Gestalt zu haben, wollte er mir in seinem schwarzen, mit spitzen besetzten Talar immer gar wohl gefallen. Der zweite Botschafter, Baron von Groschlag, war ein wohlgebauter, im €u§ern bequem aber hšchst anstŠndig sich betragender Weltmann. Er machte Ÿberhaupt einen sehr behaglichen Eindruck. FŸrst Esterhazy, der bšhmische Gesandte, war nicht gro§ aber wohlgebaut, lebhaft und zugleich vornehm anstŠndig, ohne Stolz und KŠlte. Ich hatte eine besondre Neigung zu ihm, weil er mich an den Marschall von Broglio erinnerte. Doch verschwand gewisserma§en die Gestalt und WŸrde dieser trefflichen Personen Ÿber dem Vorurteil, das man fŸr den brandenburgischen Gesandten, Baron von Plotho, gefa§t hatte. Dieser Mann, der durch eine gewisse SpŠrlichkeit, sowohl in eigner Kleidung als in Livreen und Equipagen, sich auszeichnete, war vom SiebenjŠhrigen Kriege her als diplomatischer Held berŸhmt, hatte zu Regensburg den Notarius Aprill, der ihm die gegen seinen Kšnig ergangene AchtserklŠrung von einigen Zeugen begleitet zu insinuieren gedachte, mit der lakonischen Gegenrede: "Was! Er insinuieren?" die Treppe hinunter geworfen oder werfen


lassen. Das erste glaubten wir, weil es uns besser gefiel, und wir es auch dem kleinen gedrungnen, mit schwarzen Feueraugen hin und wider blickenden Manne gar wohl zutrauten. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, besonders wo er ausstieg. Es entstand jederzeit eine Art von frohem Zischeln, und wenig fehlte, da§ man ihm applaudiert, Vivat oder Bravo zugerufen hŠtte. so hoch stand der Kšnig, und alles, was ihm mit Leib und Seele ergeben war, in der Gunst der Menge, unter der sich au§er den Frankfurtern schon Deutsche aus allen Gegenden befanden.

Einerseits hatte ich an diesen Dingen manche Lust: weil alles, was vorging, es mochte sein von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung verbarg, irgend ein innres VerhŠltnis anzeigte, und solche symbolische Zeremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und BŸcher beinah verschŸttete Deutsche Reich wieder fŸr einen Augenblick lebendig darstellten; andrerseits aber konnte ich mir ein geheimes Mi§fallen nicht verbergen, wenn ich nun zu Hause die innern Verhandlungen zum Behuf meines Vaters abschreiben und dabei bemerken mu§te, da§ hier mehrere Gewalten einander gegenŸber standen, die sich das Gleichgewicht hielten, und nur insofern einig waren, als sie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beschrŠnken gedachten; da§ jedermann sich nur insofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und seine UnabhŠngigkeit mehr zu sichern hoffte. Ja man war diesmal noch aufmerksamer als sonst, weil man sich vor Joseph dem Zweiten, vor seiner Heftigkeit und seinen vermutlichen Planen zu fŸrchten anfing.

Bei meinem Gro§vater und den Ÿbrigen Ratsverwandten, deren HŠuser ich zu besuchen pflegte, war es auch keine gute Zeit: denn sie hatten so viel mit Einholen der vornehmen GŠste, mit Bekomplimentieren, mit †berreichung von Geschenken zu tun. Nicht weniger hatte der Magistrat im ganzen wie im einzelnen sich immer zu wehren, zu widerstehn und zu protestieren, weil bei solchen Gelegenheiten ihm jedermann


etwas abzwacken oder aufbŸrden will, und ihm wenige von denen, die er anspricht, beistehn oder zu HŸlfe kommen. Genug, mir trat alles nunmehr lebhaft vor Augen, was ich in der Lersnerschen "Chronik" von Šhnlichen VorfŠllen bei Šhnlichen Gelegenheiten, mit Bewunderung der Geduld und Ausdauer jener guten RatsmŠnner, gelesen hatte.

Mancher Verdru§ entspringt auch daher, da§ sich die Stadt nach und nach mit nštigen und unnštigen Personen anfŸllt. Vergebens werden die Hšfe von seiten der Stadt an die Vorschriften der freilich veralteten Goldnen Bulle erinnert. Nicht allein die zum GeschŠft Verordneten und ihre Begleiter, sondern manche Standes- und andre Personen, die aus Neugier oder zu Privatzwecken herankommen, stehen unter Protektion, und die Frage: wer eigentlich einquartiert wird und wer selbst sich eine Wohnung mieten soll? ist nicht immer sogleich entschieden. Das GetŸmmel wŠchst, und selbst diejenigen, die nichts dabei zu leisten oder zu verantworten haben, fangen an, sich unbehaglich zu fŸhlen.

Selbst wir jungen Leute, die wir das alles wohl mit ansehen konnten, fanden doch immer nicht genug Befriedigung fŸr unsere Augen, fŸr unsre Einbildungskraft. Die spanischen Mantelkleider, die gro§en FederhŸte der Gesandten und hie und da noch einiges andere gaben wohl ein echt altertŸmliches Ansehen; manches dagegen war wieder so halb neu oder ganz modern, da§ Ÿberall nur ein buntes unbefriedigendes, šfter sogar geschmackloses Wesen hervortrat. Sehr glŸcklich machte es uns daher, zu vernehmen, da§ wegen der Herreise des Kaisers und des kŸnftigen Kšnigs gro§e Anstalten gemacht wurden, da§ die kurfŸrstlichen Kollegialhandlungen, bei welchen die letzte Wahlkapitulation zum Grunde lag, eifrig vorwŠrts gingen, und da§ der Wahltag auf den 27. MŠrz festgesetzt sei. Nun ward an die Herbeischaffung der Reichsinsignien von NŸrnberg und Aachen gedacht, und man erwartete zunŠchst den Einzug des KurfŸrsten von Mainz, wŠhrend mit seiner Gesandtschaft die Irrungen wegen der Quartiere immer fortdauerten.


Indessen betrieb ich meine Kanzelistenarbeit zu Hause sehr lebhaft, und wurde dabei freilich mancherlei kleinliche Monita gewahr, die von vielen Seiten einliefen, und bei der neuen Kapitulation berŸcksichtigt werden sollten. Jeder Stand wollte in diesem Dokument seine Gerechtsame gewahrt und sein Ansehen vermehrt wissen. Gar viele solcher Bemerkungen und WŸnsche wurden jedoch beiseite geschoben; vieles blieb, wie es gewesen war: gleichwohl erhielten die Monenten die bŸndigsten Versicherungen, da§ ihnen jene †bergehung keineswegs zum PrŠjudiz gereichen solle.

Sehr vielen und beschwerlichen GeschŠften mu§te sich indessen das Reichsmarschallamt unterziehen: die Masse der Fremden wuchs, es wurde immer schwieriger, sie unterzubringen. †ber die Grenzen der verschiedenen kurfŸrstlichen Bezirke war man nicht einig. Der Magistrat wollte von den BŸrgern die Lasten abhalten, zu denen sie nicht verpflichtet schienen, und so gab es, bei Tag und bei Nacht, stŸndlich Beschwerden, Rekurse, Streit und Mi§helligkeiten.

Der Einzug des KurfŸrsten von Mainz erfolgte den 21. MŠrz. Hier fing nun das Kanonieren an, mit dem wir auf lange Zeit mehrmals betŠubt werden sollten. Wichtig in der Reihe der Zeremonien war diese Festlichkeit: denn alle die MŠnner, die wir bisher auftreten sahen, waren, so hoch sie auch standen, doch immer nur Untergeordnete, hier aber erschien ein SouverŠn, ein selbstŠndiger FŸrst, der Erste nach dem Kaiser, von einem gro§en, seiner wŸrdigen Gefolge eingefŸhrt und begleitet. Von dem Pompe dieses Einzugs wurde ich hier manches zu erzŠhlen haben, wenn ich nicht spŠter wieder darauf zurŸckzukommen gedŠchte, und zwar bei einer Gelegenheit, die niemand leicht erraten sollte.

An demselben Tage nŠmlich kam Lavater, auf seinem RŸckwege von Berlin nach Hause begriffen, durch Frankfurt, und sah diese Feierlichkeit mit an. Ob nun gleich solche weltliche €u§erlichkeiten fŸr ihn nicht den mindesten Wert hatten, so mochte doch dieser Zug mit seiner Pracht und allem Beiwesen deutlich in seine sehr lebhafte Einbildungskraft sich ein-


gedrŸckt haben: denn nach mehreren Jahren, als mir dieser vorzŸgliche, aber eigene Mann eine poetische Paraphrase, ich glaube der Offenbarung Sankt Johannis, mitteilte, fand ich den Einzug des Antichrist Schritt vor Schritt, Gestalt vor Gestalt, Umstand vor Umstand dem Einzug des KurfŸrsten von Mainz in Frankfurt nachgebildet, dergestalt, da§ sogar die Quasten an den Kšpfen der Isabellpferde nicht fehlten. Es wird sich mehr davon sagen lassen, wenn ich zur Epoche jener wunderlichen Dichtungsart gelange, durch welche man die alt- und neutestamentlichen Mythen dem Anschauen und GefŸhl nŠher zu bringen glaubte, wenn man sie všllig ins Moderne travestierte, und ihnen aus dem gegenwŠrtigen Leben, es sei nun gemeiner oder vornehmer, ein Gewand umhinge. Wie diese Behandlungsart sich nach und nach beliebt gemacht, davon mu§ gleichfalls kŸnftig die Rede sein; doch bemerke ich hier so viel, da§ sie weiter als durch Lavater und seine Nacheiferer wohl nicht getrieben worden, indem einer derselben die heiligen drei Kšnige, wie sie zu Betlehem einreiten, so modern schilderte, da§ die FŸrsten und Herren, welche Lavatern zu besuchen pflegten, persšnlich darin nicht zu verkennen waren.

Wir lassen also fŸr diesmal den KurfŸrsten Emmerich Joseph sozusagen inkognito im Kompostell eintreffen, und wenden uns zu Gretchen, die ich, eben als die Volksmenge sich verlief, von Pylades und seiner Schšnen begleitet (denn diese drei schienen nun unzertrennlich zu sein) im GetŸmmel erblickte. Wir hatten uns kaum erreicht und begrŸ§t, als schon ausgemacht war, da§ wir diesen Abend zusammen zubringen wollten, und ich fand mich bei Zeiten ein. Die gewšhnliche Gesellschaft war beisammen, und jedes hatte etwas zu erzŠhlen, zu sagen, zu bemerken; wie denn dem einen dies, dem andern jenes am meisten aufgefallen war. "Eure Reden," sagte Gretchen zuletzt, "machen mich fast noch verworrner als die Begebenheiten dieser Tage selbst. Was ich gesehen, kann ich nicht zusammenreimen, und mšchte von manchem gar zu gern wissen, wie es sich ver-


hŠlt." Ich versetzte, da§ es mir ein leichtes sei, ihr diesen Dienst zu erzeigen, sie solle nur sagen, wofŸr sie sich eigentlich interessiere. Dies tat sie, und indem ich ihr einiges erklŠren wollte, fand sich's, da§ es besser wŠre, in der Ordnung zu verfahren. Ich verglich nicht unschicklich diese Feierlichkeiten und Funktionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelassen wŸrde, indessen die Schauspieler fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer kšnne an jenen Verhandlungen einigerma§en wieder teilnehmen. Weil ich nun sehr redselig war, wenn man mich gewŠhren lie§, so erzŠhlte ich alles von Anfang an bis auf den heutigen Tag, in der besten Ordnung, und versŠumte nicht, um meinen Vortrag anschaulicher zu machen, mich des vorhandenen Griffels und der gro§en Schieferplatte zu bedienen. Nur durch einige Fragen und Rechthabereien der andern wenig gestšrt, brachte ich meinen Vortrag zu allgemeiner Zufriedenheit ans Ende, indem mich Gretchen durch ihre fortgesetzte Aufmerksamkeit hšchlich ermuntert hatte. Sie dankte mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Ausdruck, alle diejenigen, die von den Sachen dieser Welt unterrichtet seien und wŸ§ten, wie dieses und jenes zugehe und was es zu bedeuten habe. Sie wŸnschte sich ein Knabe zu sein, und wu§te mit vieler Freundlichkeit anzuerkennen, da§ sie mir schon manche Belehrung schuldig geworden. "Wenn ich ein Knabe wŠre," sagte sie, "so wollten wir auf UniversitŠten zusammen etwas Rechtes lernen." Das GesprŠch ward in der Art fortgefŸhrt, sie setzte sich bestimmt vor, Unterricht im Franzšsischen zu nehmen, dessen UnerlŠ§lichkeit sie im Laden der PutzhŠndlerin wohl gewahr worden. Ich fragte sie, warum sie nicht mehr dorthin gehe: denn in der letzten Zeit, da ich des Abends nicht viel abkommen konnte, war ich manchmal bei Tage, ihr zu Gefallen, am Laden vorbeigegangen, um sie nur einen Augenblick zu sehen. Sie erklŠrte mir, da§ sie in dieser unruhigen Zeit sich dort nicht hŠtte aussetzen wollen. BefŠnde sich die Stadt wieder in ihrem vorigen Zustande, so denke sie auch wieder hinzugehen.


Nun war von dem nŠchst bevorstehenden Wahltag die Rede. Was und wie es vorgehe, wu§te ich weitlŠufig zu erzŠhlen, und meine Demonstration durch umstŠndliche Zeichnungen auf der Tafel zu unterstŸtzen; wie ich denn den Raum des Konklave mit seinen AltŠren, Thronen, Sesseln und Sitzen vollkommen gegenwŠrtig hatte. - Wir schieden zu rechter Zeit und mit sonderlichem Wohlbehagen.

Denn einem jungen Paare, das von der Natur einigerma§en harmonisch gebildet ist, kann nichts zu einer schšnern Vereinigung gereichen, als wenn das MŠdchen lehrbegierig und der JŸngling lehrhaft ist. Es entsteht daraus ein so grŸndliches als angenehmes VerhŠltnis. Sie erblickt in ihm den Schšpfer ihres geistigen Daseins, und er in ihr ein Geschšpf, das nicht der Natur, dem Zufall, oder einem einseitigen Wollen, sondern einem beiderseitigen Willen seine Vollendung verdankt; und diese Wechselwirkung ist so sŸ§, da§ wir uns nicht wundern dŸrfen, wenn seit dem alten und neuen AbŠlard, aus einem solchen Zusammentreffen zweier Wesen, die gewaltsamsten Leidenschaften und so viel GlŸck als UnglŸck entsprungen sind.

Gleich den nŠchsten Tag war gro§e Bewegung in der Stadt, wegen der Visiten und Gegenvisiten, welche nunmehr mit dem grš§ten Zeremoniell abgestattet wurden. Was mich aber als einen Frankfurter BŸrger besonders interessierte und zu vielen Betrachtungen veranla§te, war die Ablegung des Sicherheitseides, den der Rat, das MilitŠr, die BŸrgerschaft, nicht etwa durch ReprŠsentanten, sondern persšnlich und in Masse, leisteten: erst auf dem gro§en Ršmersaale der Magistrat und die Stabsoffiziere, dann auf dem gro§en Platze, dem Ršmerberg, die sŠmtliche BŸrgerschaft nach ihren verschiedenen Graden, Abstufungen und Quartieren, und zuletzt das Ÿbrige MilitŠr. Hier konnte man das ganze Gemeinwesen mit einem Blick Ÿberschauen, versammelt zu dem ehrenvollen Zweck, dem Haupt und den Gliedern des Reichs Sicherheit, und bei dem bevorstehenden gro§en Werke unverbrŸchliche Ruhe anzugeloben. Nun waren auch Kur-Trier und Kur-


Kšln in Person angekommen. Am Vorabend des Wahltags werden alle Fremden aus der Stadt gewiesen, die Tore sind geschlossen, die Juden in ihrer Gasse eingesperrt, und der Frankfurter BŸrger dŸnkt sich nicht wenig, da§ er allein Zeuge einer so gro§en Feierlichkeit bleiben darf.

Bisher war alles noch ziemlich modern hergegangen: die hšchsten und hohen Personen bewegten sich nur in Kutschen hin und wider; nun aber sollten wir sie, nach uralter Weise, zu Pferde sehen. Der Zulauf und das GedrŠnge war au§erordentlich. Ich wu§te mich in dem Ršmer, den ich, wie eine Maus den heimischen Kornboden, genau kannte, so lange herumzuschmiegen, bis ich an den Haupteingang gelangte, vor welchem die KurfŸrsten und Gesandten, die zuerst in Prachtkutschen herangefahren und sich oben versammelt hatten, nunmehr zu Pferde steigen sollten. Die stattlichsten, wohlzugerittenen Rosse waren mit reich gestickten Waldrappen Ÿberhangen und auf alle Weise geschmŸckt. KurfŸrst Emmerich Joseph, ein schšner behaglicher Mann, nahm sich zu Pferde gut aus. Der beiden andern erinnere ich mich weniger, als nur Ÿberhaupt, da§ uns diese roten mit Hermelin ausgeschlagenen FŸrstenmŠntel, die wir sonst nur auf GemŠlden zu sehen gewohnt waren, unter freiem Himmel sehr romantisch vorkamen. Auch die Botschafter der abwesenden weltlichen KurfŸrsten in ihren goldstoffnen, mit Gold Ÿberstickten, mit goldnen Spitzentressen reich besetzten spanischen Kleidern taten unsern Augen wohl; besonders wehten die gro§en Federn von den altertŸmlich aufgekrempten HŸten aufs prŠchtigste. Was mir aber gar nicht dabei gefallen wollte, waren die kurzen modernen Beinkleider, die wei§seidenen StrŸmpfe und modischen Schuhe. Wir hŠtten Halbstiefelchen, so golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen gewŸnscht, um nur ein etwas konsequenteres KostŸm zu erblicken.

Im Betragen unterschied sich auch hier der Gesandte von Plotho wieder vor allen andern. Er zeigte sich lebhaft und munter, und schien vor der ganzen Zeremonie nicht sonder-


lichen Respekt zu haben. Denn als sein Vordermann, ein Šltlicher Herr, sich nicht sogleich aufs Pferd schwingen konnte, und er deshalb eine Weile an dem gro§en Eingang warten mu§te, enthielt er sich des Lachens nicht, bis sein Pferd auch vorgefŸhrt wurde, auf welches er sich denn sehr behend hinaufschwang und von uns abermals als ein wŸrdiger Abgesandter Friedrichs des Zweiten bewundert wurde.

Nun war fŸr uns der Vorhang wieder gefallen. Ich hatte mich zwar in die Kirche zu drŠngen gesucht; allein es fand sich auch dort mehr Unbequemlichkeit als Lust. Die WŠhlenden hatten sich ins Allerheiligste zurŸckgezogen, in welchem weitlŠufige Zeremonien die Stelle einer bedŠchtigen WahlŸberlegung vertraten. Nach langem Harren, DrŠngen und Wogen vernahm denn zuletzt das Volk den Namen Josephs des Zweiten, der zum Ršmischen Kšnig ausgerufen wurde.

Der Zudrang der Fremden in die Stadt ward nun immer stŠrker. Alles fuhr und ging in Galakleidern, so da§ man zuletzt nur die ganz goldenen AnzŸge bemerkenswert fand. Kaiser und Kšnig waren schon in Heusenstamm, einem grŠflich Schšnbornischen Schlosse, angelangt und wurden dort herkšmmlich begrŸ§t und willkommen gehei§en; die Stadt aber feierte diese wichtige Epoche durch geistliche Feste sŠmtlicher Religionen, durch HochŠmter und Predigten, und von weltlicher Seite, zu Begleitung des Tedeum, durch unablŠssiges Kanonieren.

HŠtte man alle diese šffentlichen Feierlichkeiten von Anfang bis hieher als ein Ÿberlegtes Kunstwerk angesehen, so wŸrde man nicht viel daran auszusetzen gefunden haben. Alles war gut vorbereitet; sachte fingen die šffentlichen Auftritte an und wurden immer bedeutender; die Menschen wuchsen an Zahl, die Personen an WŸrde, ihre Umgebungen wie sie selbst an Pracht, und so stieg es mit jedem Tage, so da§ zuletzt auch ein vorbereitetes gefa§tes Auge in Verwirrung geriet.

Der Einzug des KurfŸrsten von Mainz, welchen ausfŸhrlicher zu beschreiben wir abgelehnt, war prŠchtig und impo-


sant genug, um in der Einbildungskraft eines vorzŸglichen Mannes die Ankunft eines gro§en geweissagten Weltherrschers zu bedeuten. Auch wir waren dadurch nicht wenig geblendet worden. Nun aber spannte sich unsere Erwartung aufs hšchste, als es hie§, der Kaiser und der kŸnftige Kšnig nŠherten sich der Stadt. In einiger Entfernung von Sachsenhausen war ein Zelt errichtet, in welchem der ganze Magistrat sich aufhielt, um dem Oberhaupte des Reichs die gehšrige Verehrung zu bezeigen und die StadtschlŸssel anzubieten. Weiter hinaus, auf einer schšnen gerŠumigen Ebene, stand ein anderes, ein Prachtgezelt, wohin sich die sŠmtlichen KurfŸrsten und Wahlbotschafter zum Empfang der MajestŠten verfŸgten, indessen ihr Gefolge sich den ganzen Weg entlang erstreckte, um nach und nach, wie die Reihe an sie kŠme, sich wieder gegen die Stadt in Bewegung zu setzen und gehšrig in den Zug einzutreten. Nunmehr fuhr der Kaiser bei dem Zelt an, betrat solches, und nach ehrfurchtsvollem Empfange beurlaubten sich die KurfŸrsten und Gesandten, um ordnungsgemŠ§ dem hšchsten Herrscher den Weg zu bahnen.

Wir andern, die wir in der Stadt geblieben, um diese Pracht innerhalb der Mauern und Stra§en noch mehr zu bewundern, als es auf freiem Felde hŠtte geschehen kšnnen, wir waren durch das von der BŸrgerschaft in den Gassen aufgestellte Spalier, durch den Zudrang des Volks, durch mancherlei dabei vorkommende SpŠ§e und Unschicklichkeiten einstweilen gar wohl unterhalten, bis uns das GelŠute der Glocken und der Kanonendonner die unmittelbare NŠhe des Herrschers ankŸndigten. Was einem Frankfurter besonders wohltun mu§te, war, da§ bei dieser Gelegenheit, bei der Gegenwart so vieler SouverŠne und ihrer ReprŠsentanten, die Reichsstadt Frankfurt auch als ein kleiner SouverŠn erschien: denn ihr Stallmeister eršffnete den Zug, Reitpferde mit Wappendecken, worauf der wei§e Adler im roten Felde sich gar gut ausnahm, folgten ihm, Bediente und Offizianten, Pauker und Trompeter, Deputierte des Rats, von Ratsbedienten in der Stadtlivree zu Fu§e begleitet. Hieran


schlossen sich die drei Kompanien der BŸrgerkavallerie, sehr wohl beritten, dieselbigen, die wir von Jugend auf bei Einholung des Geleits und andern šffentlichen Gelegenheiten gekannt hatten. Wir erfreuten uns an dem MitgefŸhl dieser Ehre und an dem Hunderttausendteilchen einer SouverŠnitŠt, welche gegenwŠrtig in ihrem vollen Glanz erschien. Die verschiedenen Gefolge des Reichserbmarschalls und der von den sechs weltlichen KurfŸrsten abgeordneten Wahlgesandten zogen sodann schrittweise daher. Keins derselben bestand aus weniger denn zwanzig Bedienten und zwei Staatswagen; bei einigen aus einer noch grš§ern Anzahl. Das Gefolge der geistlichen KurfŸrsten war nun immer im steigen; die Bedienten und Hausoffizianten schienen unzŠhlig, Kurkšln und Kurtrier hatten Ÿber zwanzig Staatswagen, Kurmainz allein ebenso viel. Die Dienerschaft zu Pferde und zu Fu§ war durchaus aufs prŠchtigste gekleidet, die Herren in den Equipagen, geistliche und weltliche, hatten es auch nicht fehlen lassen, reich und ehrwŸrdig angetan und geschmŸckt mit allen Ordenszeichen, zu erscheinen. Das Gefolg der kaiserlichen MajestŠt Ÿbertraf nunmehr, wie billig, die Ÿbrigen. Die Bereiter, die Handpferde, die Reitzeuge, Schabracken und Decken zogen aller Augen auf sich, und sechzehn sechsspŠnnige GalawŠgen der kaiserlichen Kammerherren, GeheimenrŠte, des OberkŠmmerers, Oberhofmeisters, Oberstallmeisters beschlossen mit gro§em Prunk diese Abteilung des Zugs, welche, ungeachtet ihrer Pracht und Ausdehnung, doch nur der Vortrab sein sollte.

Nun aber konzentrierte sich die Reihe, indem sich WŸrde und Pracht steigerten, immer mehr. Denn unter einer ausgewŠhlten Begleitung eigener Hausdienerschaft, die meisten zu Fu§, wenige zu Pferde, erschienen die Wahlbotschafter sowie die KurfŸrsten in Person, nach aufsteigender Ordnung, jeder in einem prŠchtigen Staatswagen. Unmittelbar hinter Kurmainz kŸndigten zehn kaiserliche Laufer, einundvierzig Lakaien und acht Heiducken die MajestŠten selbst an. Der prŠchtigste Staatswagen, auch im RŸcken mit einem


ganzen Spiegelglas versehen, mit Malerei, Lackierung, Schnitzwerk und Vergoldung ausgeziert, mit rotem gestickten Samt obenher und inwendig bezogen, lie§ uns ganz bequem Kaiser und Kšnig, die lŠngst erwŸnschten HŠupter, in aller ihrer Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug einen weiten Umweg gefŸhrt, teils aus Notwendigkeit, damit er sich nur entfalten kšnne, teils um ihn der gro§en Menge Menschen sichtbar zu machen. Er war durch Sachsenhausen, Ÿber die BrŸcke, die Fahrgasse, sodann die Zeile hinunter gegangen, und wendete sich nach der innern Stadt durch die Katharinenpforte, ein ehmaliges Tor und seit Erweiterung der Stadt ein offner Durchgang. Hier hatte man glŸcklich bedacht, da§ die Šu§ere Herrlichkeit der Welt, seit einer Reihe von Jahren, sich immer mehr in die Hšhe und Breite ausgedehnt. Man hatte gemessen und gefunden, da§ durch diesen Torweg, durch welchen so mancher FŸrst und Kaiser aus- und eingezogen, der jetzige kaiserliche Staatswagen, ohne mit seinem Schnitzwerk und andern €u§erlichkeiten anzusto§en, nicht hindurchkommen kšnne. Man beratschlagte, und zu Vermeidung eines unbequemen Umwegs entschlo§ man sich, das Pflaster aufzuheben, und eine sanfte Abund Auffahrt zu veranstalten. In eben dem Sinne hatte man auch alle WetterdŠcher der LŠden und Buden in den Stra§en ausgehoben, damit weder die Krone, noch der Adler, noch die Genien Ansto§ und Schaden nehmen mšchten.

So sehr wir auch, als dieses kostbare GefŠ§ mit so kostbarem Inhalt sich uns nŠherte, auf die hohen Personen unsere Augen gerichtet hatten, so konnten wir doch nicht umhin, unsern Blick auf die herrlichen Pferde, das Geschirr und dessen Posamentschmuck zu wenden; besonders aber fielen uns die wunderlichen, beide auf den Pferden sitzenden Kutscher und Vorreiter auf. Sie sahen wie aus einer andern Nation, ja wie aus einer andern Welt, in langen schwarz- und gelbsamtnen Ršcken und Kappen mit gro§en FederbŸschen, nach kaiserlicher Hofsitte. Nun drŠngte sich so viel zusammen, da§ man wenig mehr unterscheiden konnte. Die Schwei-


zergarde zu beiden Seiten des Wagens, der Erbmarschall, das sŠchsische Schwert aufwŠrts in der rechten Hand haltend, die FeldmarschŠlle als AnfŸhrer der kaiserlichen Garden hinter dem Wagen reitend, die kaiserlichen Edelknaben in Masse und endlich die Hatschiergarde selbst, in schwarzsamtnen FlŸgelršcken, alle NŠhte reich mit Gold galoniert, darunter rote Leibršcke und lederfarbne Kamisole, gleichfalls reich mit Gold besetzt. Man kam vor lauter Sehen, Deuten und Hinweisen gar nicht zu sich selbst, so da§ die nicht minder prŠchtig gekleideten Leibgarden der KurfŸrsten kaum beachtet wurden; ja wir hŠtten uns vielleicht von den Fenstern zurŸckgezogen, wenn wir nicht noch unsern Magistrat, der in fŸnfzehn zweispŠnnigen Kutschen den Zug beschlo§, und besonders in der letzten den Ratsschreiber mit den StadtschlŸsseln auf rotsamtenem Kissen hŠtten in Augenschein nehmen wollen. Da§ unsere Stadtgrenadierkompanie das Ende deckte, deuchte uns auch ehrenvoll genug, und wir fŸhlten uns als Deutsche und als Frankfurter von diesem Ehrentag doppelt und hšchlich so erbaut.

Wir hatten in einem Hause Platz genommen, wo der Aufzug, wenn er aus dem Dom zurŸckkam, ebenfalls wieder an uns vorbei mu§te. Des Gottesdienstes, der Musik, der Zeremonien und Feierlichkeiten, der Anreden und Antworten, der VortrŠge und Vorlesungen waren in Kirche, Chor und Konklave so viel, bis es zur Beschwšrung der Wahlkapitulation kam, da§ wir Zeit genug hatten, eine vortreffliche Kollation einzunehmen, und auf die Gesundheit des alten und jungen Herrschers manche Flasche zu leeren. Das GesprŠch verlor sich indes, wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, in die vergangene Zeit, und es fehlte nicht an bejahrten Personen, welche jener vor der gegenwŠrtigen den Vorzug gaben, wenigstens in Absicht auf ein gewisses menschliches Interesse und einer leidenschaftlichen Teilnahme, welche dabei vorgewaltet. Bei Franz' des Ersten Kršnung war noch nicht alles so ausgemacht, wie gegenwŠrtig; der Friede war noch nicht abgeschlossen, Frankreich, Kur-


Brandenburg und Kurpfalz widersetzten sich der Wahl; die Truppen des kŸnftigen Kaisers standen bei Heidelberg, wo er sein Hauptquartier hatte, und fast wŠren die von Aachen heraufkommenden Reichsinsignien von den PfŠlzern weggenommen worden. Indessen unterhandelte man doch, und nahm von beiden Seiten die Sache nicht aufs strengste. Maria Theresia selbst, obgleich in gesegneten UmstŠnden, kommt, um die endlich durchgesetzte Kršnung ihres Gemahls in Person zu sehen. Sie traf in Aschaffenburg ein und bestieg eine Jacht, um sich nach Frankfurt zu begeben. Franz, von Heidelberg aus, denkt seiner Gemahlin zu begegnen, allein er kommt zu spŠt, sie ist schon abgefahren. Ungekannt wirft er sich in einen kleinen Nachen, eilt ihr nach, erreicht ihr Schiff, und das liebende Paar erfreut sich dieser Ÿberraschenden Zusammenkunft. Das MŠrchen davon verbreitet sich sogleich, und alle Welt nimmt teil an diesem zŠrtlichen, mit Kindern reich gesegneten Ehepaar, das seit seiner Verbindung so unzertrennlich gewesen, da§ sie schon einmal auf einer Reise von Wien nach Florenz zusammen an der venezianischen Grenze QuarantŠne halten mŸssen. Maria Theresia wird in der Stadt mit Jubel bewillkommt, sie betritt den Gasthof "Zum Ršmischen Kaiser", indessen auf der Bornheimer Heide das gro§e Zelt, zum Empfang ihres Gemahls, errichtet ist. Dort findet sich von den geistlichen KurfŸrsten nur Mainz allein, von den Abgeordneten der weltlichen nur Sachsen, Bšhmen und Hannover. Der Einzug beginnt, und was ihm an VollstŠndigkeit und Pracht abgehen mag, ersetzt reichlich die Gegenwart einer schšnen Frau. Sie steht auf dem Balkon des wohlgelegnen Hauses und begrŸ§t mit Vivatruf und HŠndeklatschen ihren Gemahl: das Volk stimmt ein, zum grš§ten Enthusiasmus aufgeregt. Da die Gro§en nun auch einmal Menschen sind, so denkt sie der BŸrger, wenn er sie lieben will, als seinesgleichen, und das kann er am fŸglichsten, wenn er sie als liebende Gatten, als zŠrtliche Eltern, als anhŠngliche Geschwister, als treue Freunde sich vorstellen darf. Man hatte damals alles Gute gewŸnscht und prophezeit, und


heute sah man es erfŸllt an dem erstgebornen Sohne, dem jedermann wegen seiner schšnen JŸnglingsgestalt geneigt war, und auf den die Welt, bei den hohen Eigenschaften, die er ankŸndigte, die grš§ten Hoffnungen setzte.

Wir hatten uns ganz in die Vergangenheit und Zukunft verloren, als einige hereintretende Freunde uns wieder in die Gegenwart zurŸckriefen. Sie waren von denen, die den Wert einer Neuigkeit einsehen, und sich deswegen beeilen, sie zuerst zu verkŸndigen. Sie wu§ten auch einen schšnen menschlichen Zug dieser hohen Personen zu erzŠhlen, die wir soeben in dem grš§ten Prunk vorbeiziehen gesehn. Es war nŠmlich verabredet worden, da§ unterwegs, zwischen Heusenstamm und jenem gro§en Gezelte, Kaiser und Kšnig den Landgrafen von Darmstadt im Wald antreffen sollten. Dieser alte, dem Grabe sich nŠhernde FŸrst wollte noch einmal den Herrn sehen, dem er in frŸherer Zeit sich gewidmet. Beide mochten sich jenes Tages erinnern, als der Landgraf das Dekret der KurfŸrsten, das Franzen zum Kaiser erwŠhlte, nach Heidelberg Ÿberbrachte, und die erhaltenen kostbaren Geschenke mit Beteuerung einer unverbrŸchlichen AnhŠnglichkeit erwiderte. Diese hohen Personen standen in einem Tannicht, und der Landgraf, vor Alter schwach, hielt sich an eine Fichte, um das GesprŠch noch lŠnger fortsetzen zu kšnnen, das von beiden Teilen nicht ohne RŸhrung geschah. Der Platz ward nachher auf eine unschuldige Weise bezeichnet, und wir jungen Leute sind einigemal hingewandert.

So hatten wir mehrere Stunden mit Erinnerung des Alten mit ErwŠgung des Neuen hingebracht, als der Zug abermals, jedoch abgekŸrzt und gedrŠngter, vor unsern Augen vorbeiwogte; und wir konnten das einzelne nŠher beobachten, bemerken und uns fŸr die Zukunft einprŠgen.

Von dem Augenblick an war die Stadt in ununterbrochener Bewegung: denn bis alle und jede, denen es zukommt und von denen es gefordert wird, den hšchsten HŠuptern ihre Aufwartung gemacht und sich einzeln denselben dargestellt hatten, war des Hin- und Widerziehens kein Ende,


und man konnte den Hofstaat eines jeden der hohen GegenwŠrtigen ganz bequem im einzelnen wiederholen.

Nun kamen auch die Reichsinsignien heran. Damit es aber auch hier nicht an hergebrachten HŠndeln fehlen mšge, so mu§ten sie auf freiem Felde den halben Tag bis in die spŠte Nacht zubringen, wegen einer Territorial- und Geleitsstreitigkeit zwischen Kurmainz und der Stadt. Die letzte gab nach, die Mainzischen geleiteten die Insignien bis an den Schlagbaum, und somit war die Sache fŸr diesmal abgetan.

In diesen Tagen kam ich nicht zu mir selbst. Zu Hause gab es zu schreiben und zu kopieren; sehen wollte und sollte man alles, und so ging der MŠrz zu Ende, dessen zweite HŠlfte fŸr uns so festreich gewesen war. Von dem, was zuletzt vorgegangen und was am Kršnungstag zu erwarten sei, hatte ich Gretchen eine treuliche und ausfŸhrliche Belehrung versprochen. Der gro§e Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es ihr sagen wollte, als was eigentlich zu sagen sei; ich verarbeitete alles, was mir unter die Augen und unter die Kanzleifeder kam, nur geschwind zu diesem nŠchsten und einzigen Gebrauch. Endlich erreichte ich noch eines Abends ziemlich spŠt ihre Wohnung, und tat mir schon im voraus nicht wenig darauf zugute, wie mein diesmaliger Vortrag noch viel besser als der erste, unvorbereitete gelingen sollte. Allein gar oft bringt uns selbst, und andern durch uns, ein augenblicklicher Anla§ mehr Freude, als der entschiedenste Vorsatz nicht gewŠhren kann. Zwar fand ich ziemlich dieselbe Gesellschaft, allein es waren einige Unbekannte darunter. Sie setzten sich hin zu spielen; nur Gretchen und der jŸngere Vetter hielten sich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe MŠdchen Šu§erte gar anmutig ihr Behagen, da§ sie, als eine Fremde, am Wahltage fŸr eine BŸrgerin gegolten habe, und ihr dieses einzige Schauspiel zuteil geworden sei. Sie dankte mir aufs verbindlichste, da§ ich fŸr sie zu sorgen gewu§t, und ihr zeither durch Pylades allerlei EinlŠsse mittels Billette, Anweisungen, Freunde und FŸrsprache zu verschaffen die Aufmerksamkeit gehabt.


Von den Reichskleinodien hšrte sie gern erzŠhlen. Ich versprach ihr, da§ wir diese wo mšglich zusammen sehen wollten. Sie machte einige scherzhafte Anmerkungen, als sie erfuhr, da§ man GewŠnder und Krone dem jungen Kšnig anprobiert habe. Ich wu§te, wo sie den Feierlichkeiten des Kršnungstages zusehen wŸrde, und machte sie aufmerksam auf alles, was bevorstand und was besonders von ihrem Platze genau beobachtet werden konnte.

So verga§en wir an die Zeit zu denken; es war schon Ÿber Mitternacht geworden, und ich fand, da§ ich unglŸcklicherweise den HausschlŸssel nicht bei mir hatte. Ohne das grš§te Aufsehen zu erregen, konnte ich nicht ins Haus. Ich teilte ihr meine Verlegenheit mit. "Am Ende," sagte sie, "ist es das beste, die Gesellschaft bleibt beisammen." Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken gehabt, weil man nicht wu§te, wo man diese fŸr die Nacht unterbringen sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging, um Kaffee zu kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine gro§e messingene Familienlampe mit Docht und …l versehen und angezŸndet hereingebracht hatte.

Der Kaffee diente fŸr einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel, das GesprŠch ging aus; die Mutter schlief im gro§en Sessel; die Fremden, von der Reise mŸde, nickten da und dort, Pylades und seine Schšne sa§en in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der jŸngere Vetter, gegen uns Ÿber am Schiefertische sitzend, hatte seine Arme vor sich Ÿber einander geschlagen und schlief mit aufliegendem Gesichte. Ich sa§ in der Fensterecke hinter dem Tische und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leise; aber endlich Ÿbermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte ihr Kšpfchen an meine Schulter und war gleich eingeschlummert. So sa§ ich nun allein, wachend, in der wunderliebsten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wu§te. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag. Gretchen


stand vor dem Spiegel und rŸckte ihr HŠubchen zurechte; sie war liebenswŸrdiger als je, und drŸckte mir, als ich schied, gar herzlich die HŠnde. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm. Hause: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermieden wir, wenn wir nach Hause kommend von ihm nicht bemerkt sein wollten. Meine Mutter, deren Vermittelung uns immer zugute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens beim Tee durch ein frŸhzeitiges Ausgehen meiner zu beschšnigen gesucht, und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine unangenehmen Folgen.

†berhaupt und im ganzen genommen machte diese unendlich mannigfaltige Welt, die mich umgab, auf mich nur sehr einfachen Eindruck. Ich hatte kein Interesse, als das €u§ere der GegenstŠnde genau zu bemerken, kein GeschŠft, als das mir mein Vater und Herr von Kšnigsthal auftrugen, wodurch ich freilich den innern Gang der Dinge gewahr ward. Ich hatte keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Absicht, als nur alles recht gut zu sehen und zu fassen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklŠren zu kšnnen. Ja, ich beschrieb oft, indem ein solcher Zug vorbeiging, diesen Zug halb laut vor mir selbst, um mich alles einzelnen zu versichern, und dieser Aufmerksamkeit und Genauigkeit wegen von meiner Schšnen gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe betrachtete ich den Beifall und die Anerkennung der anderen.

Zwar ward ich manchen hohen und vornehmen Personen vorgestellt; aber teils hatte niemand Zeit, sich um andere zu bekŸmmern, und teils wissen auch €ltere nicht gleich, wie sie sich mit einem jungen Menschen unterhalten und ihn prŸfen sollen. Ich von meiner Seite war auch nicht sonderlich geschickt, mich den Leuten bequem darzustellen. Gewšhnlich erwarb ich ihre Gunst, aber nicht ihren Beifall. Was mich beschŠftigte, war mir vollkommen gegenwŠrtig; aber ich fragte nicht, ob es auch andern gemŠ§ sein kšnne. Ich war meist zu lebhaft oder zu still, und schien entweder zudringlich oder


stšckig, je nachdem die Menschen mich anzogen oder abstie§en; und so wurde ich zwar fŸr hoffnungsvoll gehalten, aber dabei fŸr wunderlich erklŠrt.

Der Kršnungstag brach endlich an, den 3. April 1764; das Wetter war gŸnstig und alle Menschen in Bewegung. Man hatte mir, nebst mehrern Verwandten und Freunden, in dem Ršmer selbst, in einer der obern Etagen, einen guten Platz angewiesen, wo wir das Ganze vollkommen Ÿbersehen konnten. Mit dem frŸhsten begaben wir uns an Ort und Stelle, und beschauten nunmehr von oben, wie in der Vogelperspektive, die Anstalten, die wir tags vorher in nŠheren Augenschein genommen hatten. Da war der neuerrichtete Springbrunnen mit zwei gro§en Kufen rechts und links, in welche der Doppeladler auf dem StŠnder wei§en Wein hŸben und roten Wein drŸben aus seinen zwei SchnŠbeln ausgie§en sollte. AufgeschŸttet zu einem Haufen lag dort der Haber, hier stand die gro§e BretterhŸtte, in der man schon einige Tage den ganzen fetten Ochsen an einem ungeheuren Spie§e bei Kohlenfeuer braten und schmoren sah. Alle ZugŠnge, die vom Ršmer aus dahin, und von andern Stra§en nach dem Ršmer fŸhren, waren zu beiden Seiten durch Schranken und Wachen gesichert. Der gro§e Platz fŸllte sich nach und nach, und das Wogen und DrŠngen ward immer stŠrker und bewegter, weil die Menge wo mšglich immer nach der Gegend hinstrebte, wo ein neuer Auftritt erschien und etwas Besonderes angekŸndigt wurde.

Bei alledem herrschte eine ziemliche Stille, und als die Sturmglocke gelŠutet wurde, schien das ganze Volk von Schauer und Erstaunen ergriffen. Was nun zuerst die Aufmerksamkeit aller, die von oben herab den Platz Ÿbersehen konnten, erregte, war der Zug, in welchem die Herren von Aachen und NŸrnberg die Reichskleinodien nach dem Dome brachten. Diese hatten als SchutzheiligtŸmer den ersten Platz im Wagen eingenommen, und die Deputierten sa§en vor ihnen in anstŠndiger Verehrung auf dem RŸcksitz. Nunmehr begeben sich die drei KurfŸrsten in den Dom. Nach †berreichung der Insignien an Kurmainz werden Krone und Schwert so-


gleich nach dem kaiserlichen Quartier gebracht. Die weiteren Anstalten und mancherlei Zeremoniell beschŠftigen mittlerweile die Hauptpersonen sowie die Zuschauer in der Kirche, wie wir andern Unterrichteten uns wohl denken konnten.

Vor unsern Augen fuhren indessen die Gesandten auf den Ršmer, aus welchem der Baldachin von Unteroffizieren in das kaiserliche Quartier getragen wird. Sogleich besteigt der Erbmarschall Graf von Pappenheim sein Pferd; ein sehr schšner schlankgebildeter Herr, den die spanische Tracht, das reiche Wams, der goldne Mantel, der hohe Federhut und die gestrŠhlten fliegenden Haare sehr wohl kleideten. Er setzt sich in Bewegung, und unter dem GelŠute aller Glocken folgen ihm zu Pferde die Gesandten nach dem kaiserlichen Quartier in noch grš§erer Pracht als am Wahltage. Dort hŠtte man auch sein mšgen, wie man sich an diesem Tage zu vervielfŠltigen wŸnschte. Wir erzŠhlten einander indessen, was dort vorgehe. "Nun zieht der Kaiser seinen Hausornat an," sagten wir, "eine neue Bekleidung nach dem Muster der alten Karolingischen verfertigt. Die ErbŠmter erhalten die Reichsinsignien und setzen sich damit zu Pferde. Der Kaiser im Ornat, der Ršmische Kšnig im spanischen Habit besteigen gleichfalls ihre Rosse, und indem dieses geschieht, hat sie uns der vorausbeschrittene unendliche Zug bereits angemeldet."

Das Auge war schon ermŸdet durch die Menge der reichgekleideten Dienerschaft und der Ÿbrigen Behšrden, durch den stattlich einherwandelnden Adel; und als nunmehr die Wahlbotschafter, die ErbŠmter und zuletzt unter dem reichgestickten, von zwšlf Schšffen und Ratsherrn getragenen Baldachin der Kaiser in romantischer Kleidung, zur Linken, etwas hinter ihm, sein Sohn in spanischer Tracht, langsam auf prŠchtig geschmŸckten Pferden einherschwebten, war das Auge nicht mehr sich selbst genug. Man hŠtte gewŸnscht, durch eine Zauberformel die Erscheinung nur einen Augenblick zu fesseln, aber die Herrlichkeit zog unaufhaltsam vorbei, und den kaum verlassenen Raum erfŸllte sogleich wieder das hereinwogende Volk.


Nun aber entstand ein neues GedrŠnge: denn es mu§te ein anderer Zugang, von dem Markte her, nach der RšmertŸre eršffnet und ein Bretterweg aufgebrŸckt werden, welchen der aus dem Dom zurŸckkehrende Zug beschreiten sollte.

Was in dem Dome vorgegangen, die unendlichen Zeremonien, welche die Salbung, die Kršnung, den Ritterschlag vorbereiten und begleiten, alles dieses lie§en wir uns in der Folge gar gern von denen erzŠhlen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in der Kirche gegenwŠrtig zu sein.

Wir andern verzehrten mittlerweile auf unsern PlŠtzen eine frugale Mahlzeit: denn wir mu§ten an dem festlichsten Tage, den wir erlebten, mit kalter KŸche vorlieb nehmen. Dagegen aber war der beste und Šlteste Wein aus allen Familienkellern herangebracht worden, so da§ wir von dieser Seite wenigstens dies altertŸmliche Fest altertŸmlich feierten.

Auf dem Platze war jetzt das SehenswŸrdigste die fertig gewordene und mit rot, gelb und wei§em Tuch Ÿberlegte BrŸcke, und wir sollten den Kaiser, den wir zuerst im Wagen, dann zu Pferde sitzend angestaunt, nun auch zu Fu§e wandelnd bewundern; und sonderbar genug, auf das letzte freuten wir uns am meisten; denn uns deuchte diese Weise sich darzustellen so wie die natŸrlichste, so auch die wŸrdigste.

€ltere Personen, welche der Kršnung Franz' des Ersten beigewohnt, erzŠhlten: Maria Theresia, Ÿber die Ma§en schšn, habe jener Feierlichkeit an einem Balkonfenster des Hauses Frauenstein, gleich neben dem Ršmer, zugesehen. Als nun ihr Gemahl in der seltsamen Verkleidung aus dem Dome zurŸckgekommen, und sich ihr sozusagen als ein Gespenst Karls des Gro§en dargestellt, habe er wie zum Scherz beide HŠnde erhoben und ihr den Reichsapfel, den Szepter und die wundersamen Handschuh hingewiesen, worŸber sie in ein unendliches Lachen ausgebrochen; welches dem ganzen zuschauenden Volke zur grš§ten Freude und Erbauung gedient, indem es darin das gute und natŸrliche EhgattenverhŠltnis des allerhšchsten Paares der Christenheit mit Augen zu sehen gewŸrdiget worden. Als aber die Kaiserin, ihren Gemahl zu begrŸ-


§en, das Schnupftuch geschwungen und ihm selbst ein lautes Vivat zugerufen, sei der Enthusiasmus und der Jubel des Volks aufs hšchste gestiegen, so da§ das Freudengeschrei gar kein Ende finden kšnnen.

Nun verkŸndigte der Glockenschall und nun die Vordersten des langen Zuges, welche Ÿber die bunte BrŸcke ganz sachte einherschritten, da§ alles getan sei. Die Aufmerksamkeit war grš§er denn je, der Zug deutlicher als vorher, besonders fŸr uns, da er jetzt gerade nach uns zuging. Wir sahen ihn sowie den ganzen volkserfŸllten Platz beinah im Grundri§. Nur zu sehr drŠngte sich am Ende die Pracht: denn die Gesandten, die ErbŠmter, Kaiser und Kšnig unter dem Baldachin, die drei geistlichen KurfŸrsten, die sich anschlossen, die schwarz gekleideten Schšffen und Ratsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu sein, die, nur von einem Willen bewegt, prŠchtig harmonisch, und soeben unter dem GelŠute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte.

Eine politisch-religišse Feierlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen die irdische MajestŠt vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer Macht; aber indem sie sich vor der himmlischen beugt, bringt sie uns die Gemeinschaft beider vor die Sinne. Denn auch der einzelne vermag seine Verwandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu betŠtigen, da§ er sich unterwirft und anbetet.

Der von dem Markt her ertšnende Jubel verbreitete sich nun auch Ÿber den gro§en Platz, und ein ungestŸmes Vivat erscholl aus tausend und aber tausend Kehlen, und gewi§ auch aus den Herzen. Denn dieses gro§e Fest sollte ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden, der auch wirklich lange Jahre hindurch Deutschland beglŸckte.

Mehrere Tage vorher war durch šffentlichen Ausruf bekannt gemacht, da§ weder die BrŸcke noch der Adler Ÿber dem Brunnen preisgegeben, und also nicht vom Volke wie sonst angetastet werden solle. Es geschah dies, um manches bei solchen AnstŸrmen unvermeidliche UnglŸck zu ver-


hŸten. Allein um doch einigerma§en dem Genius des Pšbels zu opfern, gingen eigens bestellte Personen hinter dem Zuge her, lšsten das Tuch von der BrŸcke, wickelten es bahnenweise zusammen und warfen es in die Luft. Hiedurch entstand nun zwar kein UnglŸck, aber ein lŠcherliches Unheil: denn das Tuch entrollte sich in der Luft und bedeckte, wie es niederfiel, eine grš§ere oder geringere Anzahl Menschen. Diejenigen nun, welche die Enden fa§ten und solche an sich zogen, rissen alle die Mittleren zu Boden, umhŸllten und Šngstigten sie so lange, bis sie sich durchgerissen oder durchgeschnitten, und jeder nach seiner Weise einen Zipfel dieses durch die Fu§tritte der MajestŠten geheiligten Gewebes davongetragen hatte.

Dieser wilden Belustigung sah ich nicht lange zu, sondern eilte von meinem hohen Standorte durch allerlei Treppchen und GŠnge hinunter an die gro§e Ršmerstiege, wo die aus der Ferne angestaunte so vornehme als herrliche Masse heraufwallen sollte. Das GedrŠng war nicht gro§, weil die ZugŠnge des Rathauses wohl besetzt waren, und ich kam glŸcklich unmittelbar oben an das eiserne GelŠnder. Nun stiegen die Hauptpersonen an mir vorŸber, indem das Gefolge in den untern GewšlbgŠngen zurŸckblieb, und ich konnte sie auf der dreimal gebrochnen Treppe von allen Seiten und zuletzt ganz in der NŠhe betrachten.

Endlich kamen auch die beiden MajestŠten herauf. Vater und Sohn waren wie MenŠchmen Ÿberein gekleidet. Des Kaisers Hausornat von purpurfarbner Seide, mit Perlen und Steinen reich geziert, sowie Krone, Szepter und Reichsapfel fielen wohl in die Augen: denn alles war neu daran, und die Nachahmung des Altertums geschmackvoll. So bewegte er sich auch in seinem Anzuge ganz bequem, und sein treuherzig wŸrdiges Gesicht gab zugleich den Kaiser und den Vater zu erkennen. Der junge Kšnig hingegen schleppte sich in den ungeheuren GewandstŸcken mit den Kleinodien Karls des Gro§en, wie in einer Verkleidung, einher, so da§ er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des LŠchelns nicht


enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte fŸttern mŸssen, stand wie ein Ÿbergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatika, die Stola, so gut sie auch angepa§t und eingenŠht worden, gewŠhrte doch keineswegs ein vorteilhaftes Aussehen. Szepter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man konnte sich nicht leugnen, da§ man lieber eine mŠchtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der gŸnstigem Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmŸckt gesehen hŠtte.

Kaum waren die Pforten des gro§en Saales hinter diesen Gestalten wieder geschlossen, so eilte ich auf meinen vorigen Platz, der, von andern bereits eingenommen, nur mit einiger Not mir wieder zuteil wurde.

Es war eben die rechte Zeit, da§ ich von meinem Fenster wieder Besitz nahm: denn das MerkwŸrdigste, was šffentlich zu erblicken war, sollte eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Ršmer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, da§ Kaiser und Kšnig an dem Balkonfenster des gro§en Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern vor ihren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vorgehen. Vor allen schwang sich nun der schšne schlanke Erbmarschall auf sein Ro§; er hatte das Schwert abgelegt, in seiner Rechten hielt er ein silbernes gehenkeltes GemŠ§, und ein Streichblech in der Linken, so ritt er in den Schranken auf den gro§en Haferhaufen zu, sprengte hinein, schšpfte das GefŠ§ Ÿbervoll, strich es ab und trug es mit gro§em Anstande wieder zurŸck. Der kaiserliche Marstall war nunmehr versorgt. Der ErbkŠmmerer ritt sodann gleichfalls auf jene Gegend zu und brachte ein Handbecken nebst Gie§fa§ und Handquehle zurŸck. Unterhaltender aber fŸr die Zuschauer war der Erbtruchse§, der ein StŸck von dem gebratnen Ochsen zu holen kam. Auch er ritt mit einer silbernen SchŸssel durch die Schranken bis zu der gro§en BretterkŸche, und kam bald mit verdecktem Gericht wieder hervor, um seinen Weg nach dem Ršmer zu nehmen. Die Reihe traf nun den


Erbschenken, der zu dem Springbrunnen ritt und Wein holte. So war nun auch die kaiserliche Tafel bestellt, und aller Augen warteten auf den Erbschatzmeister, der das Geld auswerfen sollte. Auch er bestieg ein schšnes Ro§, dem zu beiden Seiten des Sattels anstatt der Pistolenhalftern ein paar prŠchtige mit dem kurpfŠlzischen Wappen gestickte Beutel befestigt hingen. Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, als er in diese Taschen griff und rechts und links Gold- und SilbermŸnzen freigebig ausstreute, welche jedesmal in der Luft als ein metallner Regen gar lustig glŠnzten. Tausend HŠnde zappelten augenblicklich in der Hšhe, um die Gaben aufzufangen; kaum aber waren die MŸnzen niedergefallen, so wŸhlte die Masse in sich selbst gegen den Boden und rang gewaltig um die StŸcke, welche zur Erde mochten gekommen sein. Da nun diese Bewegung von beiden Seiten sich immer wiederholte, wie der Geber vorwŠrts ritt, so war es fŸr die Zuschauer ein sehr belustigender Anblick. Zum Schlusse ging es am allerlebhaftesten her, als er die Beutel selbst auswarf, und ein jeder noch diesen hšchsten Preis zu erhaschen trachtete.

Die MajestŠten hatten sich vom Balkon zurŸckgezogen, und nun sollte dem Pšbel abermals ein Opfer gebracht werden, der in solchen FŠllen lieber die Gaben rauben als sie gelassen und dankbar empfangen will. In rohem und derberen Zeiten herrschte der Gebrauch, den Hafer, gleich nachdem der Erbmarschall das Teil weggenommen, den Springbrunnen, nachdem der Erbschenk, die KŸche, nachdem der Erbtruchse§ sein Amt verrichtet, auf der Stelle preiszugeben. Diesmal aber hielt man, um alles UnglŸck zu verhŸten, so viel es sich tun lie§, Ordnung und Ma§. Doch fielen die alten schadenfrohen SpŠ§e wieder vor, da§, wenn einer einen Sack Hafer aufgepackt hatte, der andre ihm ein Loch hineinschnitt, und was dergleichen Artigkeiten mehr waren. Um den gebratnen Ochsen aber wurde diesmal wie sonst ein ernsterer Kampf gefŸhrt. Man konnte sich denselben nur in Masse streitig machen. Zwei Innungen, die Metzger und Weinschršter, hatten sich hergebrachterma§en wieder so po-


stiert, da§ einer von beiden dieser ungeheure Braten zuteil werden mu§te. Die Metzger glaubten das grš§te Recht an einen Ochsen zu haben, den sie unzerstŸckt in die KŸche geliefert; die Weinschršter dagegen machten Anspruch, weil die KŸche in der NŠhe ihres zunftmŠ§igen Aufenthalts erbaut war, und weil sie das letztemal obgesiegt hatten; wie denn aus dem vergitterten Giebelfenster ihres Zunft- und Versammlungshauses die Hšrner jenes erbeuteten Stiers als Siegeszeichen hervorstarrend zu sehen waren. Beide zahlreichen Innungen hatten sehr krŠftige und tŸchtige Mitglieder; wer aber diesmal den Sieg davongetragen, ist mir nicht mehr erinnerlich.

Wie nun aber eine Feierlichkeit dieser Art mit etwas GefŠhrlichem und Schreckhaften schlie§en soll, so war es wirklich ein fŸrchterlicher Augenblick, als die bretterne KŸche selbst preisgemacht wurde. Das Dach derselben wimmelte sogleich von Menschen, ohne da§ man wu§te, wie sie hinaufgekommen; die Bretter wurden losgerissen und heruntergestŸrzt, so da§ man, besonders in der Ferne denken mu§te, ein jedes werde ein paar der Zudringenden totschlagen. In einem Nu war die HŸtte abgedeckt, und einzelne Menschen hingen an Sparren und Balken, um auch diese aus den Fugen zu rei§en, ja manche schwebten noch oben herum, als schon unten die Pfosten abgesŠgt waren, das Gerippe hin und wider schwankte und jŠhen Einsturz drohte. Zarte Personen wandten die Augen hinweg, und jedermann erwartete sich ein gro§es UnglŸck; allein man hšrte nicht einmal von irgend einer BeschŠdigung, und alles war, obgleich heftig und gewaltsam, doch glŸcklich vorŸbergegangen.

Jedermann wu§te nun, da§ Kaiser und Kšnig aus dem Kabinett, wohin sie vom Balkon abgetreten, sich wieder hervorbegeben und in dem gro§en Ršmersaale speisen wŸrden. Man hatte die Anstalten dazu Tages vorher bewundern kšnnen, und mein sehnlichster Wunsch war, heute wo mšglich nur einen Blick hinein zu tun. Ich begab mich daher auf gewohnten Pfaden wieder an die gro§e Treppe, welcher die TŸre des


Saales gerade gegenŸber steht. Hier staunte ich nun die vornehmen Personen an, welche sich heute als Diener des Reichsoberhauptes bekannten. Vierundvierzig Grafen, die Speisen aus der KŸche herantragend, zogen an mir vorbei, alle prŠchtig gekleidet, so da§ der Kontrast ihres Anstandes mit der Handlung fŸr einen Knaben wohl sinnverwirrend sein konnte. Das GedrŠnge war nicht gro§, doch wegen des kleinen Raums merklich genug. Die SaaltŸre war bewacht, indes gingen die Befugten hŠufig aus und ein. Ich erblickte einen pfŠlzischen Hausoffizianten, den ich anredete, ob er mich nicht mit hineinbringen kšnne. Er besann sich nicht lange, gab mir eins der silbernen GefŠ§e, die er eben trug, welches er um so eher konnte, als ich sauber gekleidet war; und so gelangte ich denn in das Heiligtum. Das pfŠlzische BŸffet stand links, unmittelbar an der TŸre, und mit einigen Schritten befand ich mich auf der Erhšhung desselben hinter den Schranken.

Am andern Ende des Saals, unmittelbar an den Fenstern, sa§en auf Thronstufen erhšht, unter Baldachinen, Kaiser und Kšnig in ihren Ornaten; Krone und Szepter aber lagen auf goldnen Kissen rŸckwŠrts in einiger Entfernung. Die drei geistlichen KurfŸrsten hatten, ihre BŸffette hinter sich, auf einzelnen Estraden Platz genommen: Kurmainz den MajestŠten gegenŸber, Kurtrier zur Rechten und Kurkšln zur Linken. Dieser obere Teil des Saals war wŸrdig und erfreulich anzusehen, und erregte die Bemerkung, da§ die Geistlichkeit sich so lange als mšglich mit dem Herrscher halten mag. Dagegen lie§en die zwar prŠchtig aufgeputzten aber herrenleeren BŸffette und Tische der sŠmtlichen weltlichen KurfŸrsten an das Mi§verhŠltnis denken, welches zwischen ihnen und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmŠhlich entstanden war. Die Gesandten derselben hatten sich schon entfernt, um in einem Seitenzimmer zu speisen; und wenn dadurch der grš§te Teil des Saales ein gespensterhaftes Ansehn bekam, da§ so viele unsichtbare GŠste auf das prŠchtigste bedient wurden, so war eine gro§e unbesetzte Tafel in der Mitte noch betrŸbter anzusehen: denn hier standen auch so viele


Couverte leer, weil alle die, welche allenfalls ein Recht hatten sich daran zu setzen, anstandshalber, um an dem grš§ten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben, ausblieben, wenn sie sich auch dermalen in der Stadt befanden.

Viele Betrachtungen anzustellen erlaubten mir weder meine Jahre noch das GetrŠnk der Gegenwart. Ich bemŸhte mich, alles mšglichst ins Auge zu fassen, und wie der Nachtisch aufgetragen wurde, da die Gesandten, um ihren Hof zu machen, wieder hereintraten, suchte ich das Freie, und wu§te mich bei guten Freunden in der Nachbarschaft nach dem heutigen Halbfasten wieder zu erquicken und zu den Illuminationen des Abends vorzubereiten.

Diesen glŠnzenden Abend gedachte ich auf eine gemŸtliche Weise zu feiern: denn ich hatte mit Gretchen, mit Pylades und der Seinigen angeredet, da§ wir uns zur nŠchtigen Stunde irgendwo treffen wollten. Schon leuchtete die Stadt an allen Ecken und Enden, als ich meine Geliebten antraf. Ich reichte Gretchen den Arm, wir zogen von einem Quartier zum andern, und befanden uns zusammen sehr glŸcklich. Die Vettern waren anfangs auch bei der Gesellschaft, verloren sich aber nachher unter der Masse des Volks. Vor den HŠusern einiger Gesandten, wo man prŠchtige Illuminationen angebracht hatte (die kurpfŠlzische zeichnete sich vorzŸglich aus), war es so hell, wie es am Tage nur sein kann. Um nicht erkannt zu werden, hatte ich mich einigerma§en vermummt, und Gretchen fand es nicht Ÿbel. Wir bewunderten die verschiedenen glŠnzenden Darstellungen und die feenmŠ§igen FlammengebŠude, womit immer ein Gesandter den andern zu Ÿberbieten gedacht hatte. Die Anstalt des FŸrsten Esterhazy jedoch Ÿbertraf alle die Ÿbrigen. Unsere kleine Gesellschaft war von der Erfindung und AusfŸhrung entzŸckt, und wir wollten eben das einzelne recht genie§en, als uns die Vettern wieder begegneten und von der herrlichen Erleuchtung sprachen, womit der brandenburgische Gesandte sein Quartier ausgeschmŸckt habe. Wir lie§en uns nicht verdrie§en, den weiten Weg von dem Ro§markte bis zum Saalhof


zu machen, fanden aber, da§ man uns auf eine frevle Weise zum besten gehabt hatte.

Der Saalhof ist nach dem Main zu ein regelmŠ§iges und ansehnliches GebŠude, dessen nach der Stadt gerichteter Teil aber uralt, unregelmŠ§ig und unscheinbar. Kleine, weder in Form noch Grš§e Ÿbereinstimmende, noch auf eine Linie, noch in gleicher Entfernung gesetzte Fenster, unsymmetrisch angebrachte Tore und TŸren, ein meist in KramlŠden verwandeltes Untergescho§ bilden eine verworrene Au§enseite, die von niemand jemals betrachtet wird. Hier war man nun der zufŠlligen, unregelmŠ§igen, unzusammenhŠngenden Architektur gefolgt, und hatte jedes Fenster, jede TŸre, jede …ffnung fŸr sich mit Lampen umgeben, wie man es allenfalls bei einem wohlgebauten Hause tun kann, wodurch aber hier die schlechteste und mi§gebildetste aller Fassaden ganz unglaublich in das hellste Licht gesetzt wurde. Hatte man sich nun hieran wie etwa an den SpŠ§en des Pagliasso ergetzt, obgleich nicht ohne Bedenklichkeiten, weil jedermann etwas VorsŠtzliches darin erkennen mu§te; wie man denn schon vorher Ÿber das sonstige Šu§re Benehmen des Ÿbrigens sehr geschŠtzten Plotho glossiert, und, da man ihm nun einmal gewogen war, auch Schalk in ihm bewundert hatte, der sich Ÿber alles Zeremoniell wie sein Kšnig hinauszusetzen pflege: so ging man doch lieber in das Esterhazysche Feenreich wieder zurŸck.

Dieser hohe Botschafter hatte, diesen Tag zu ehren, sein ungŸnstig gelegenes Quartier ganz Ÿbergangen, und dafŸr die gro§e Lindenesplanade am Ro§markt vorn mit einem farbig erleuchteten Portal, im Hintergrund aber mit einem wohl noch prŠchtigern Prospekte verzieren lassen. Die ganze Einfassung bezeichneten Lampen. Zwischen den BŠumen standen Lichtpyramiden und Kugeln auf durchscheinenden Piedestalen; von einem Baum zum andern zagen sich leuchtende Girlanden, an welchen HŠngeleuchter schwebten. An mehreren Orten verteilte man Brot und WŸrste unter das Volk und lie§ es an Wein nicht fehlen.


Hier gingen wir nun zu vieren an einander geschlossen hšchst behaglich auf und ab, und ich an Gretchens Seite deuchte mir wirklich in jenen glŸcklichen Gefilden Elysiums zu wandeln, wo man die kristallnen GefŠ§e vom Baume wo bricht, die sich mit dem gewŸnschten Wein sogleich fŸllen, und wo man FrŸchte schŸttelt, die sich in jede beliebige Speise verwandeln. Ein solches BedŸrfnis fŸhlten wir denn zuletzt auch, und geleitet von Pylades fanden wir ein ganz artig eingerichtetes Speisehaus; und da wir keine GŠste weiter antrafen, indem alles auf den Stra§en umherzog, lie§en wir es uns um so wohler sein, und verbrachten den grš§ten Teil der Nacht im GefŸhl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das heiterste und glŸcklichste. Als ich Gretchen bis an ihre TŸre begleitet hatte, kŸ§te sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, da§ sie mir diese Gunst erwies: denn leider sollte ich sie nicht wiedersehen.

Den andern Morgen lag ich noch im Bette, als meine Mutter verstšrt und Šngstlich hereintrat. Man konnte es ihr gar leicht ansehen, wenn sie sich irgend bedrŠngt fŸhlte. - "Steh auf," sagte sie, "und mache dich auf etwas Unangenehmes gefa§t. Es ist herausgekommen, da§ du sehr schlechte Gesellschaft besuchst und dich in die gefŠhrlichsten und schlimmsten HŠndel verwickelt hast. Der Vater ist au§er sich, und wir haben nur so viel von ihm erlangt, da§ er die Sache durch einen Dritten untersuchen will. Bleib auf deinem Zimmer und erwarte, was bevorsteht. Der Rat Schneider wird zu dir kommen, er hat sowohl vom Vater als von der Obrigkeit den Auftrag: denn die Sache ist schon anhŠngig und kann eine sehr bšse Wendung nehmen."

Ich sah wohl, da§ man die Sache viel schlimmer nahm, als sie war; doch fŸhlte ich mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur das eigentliche VerhŠltnis entdeckt werden sollte. Der alte messianische Freund trat endlich herein, die TrŠnen standen ihm in den Augen; er fa§te mich beim Arm und sagte: "Es tut mir herzlich leid, da§ ich in solcher Angelegenheit zu Ihnen komme. Ich hŠtte nicht gedacht,


da§ Sie sich so weit verirren kšnnten. Aber was tut nicht schlechte Gesellschaft und bšses Beispiel; und so kann ein junger unerfahrner Mensch Schritt vor Schritt bis zum Verbrechen gefŸhrt werden." - "Ich bin mir keines Verbrechens bewu§t," versetzte ich darauf, "so wenig, als schlechte Gesellschaft besucht zu haben." - "Es ist jetzt nicht von einer Verteidigung die Rede," fiel er mir ins Wort, "sondern von einer Untersuchung, und Ihrerseits von einem aufrichtigen Bekenntnis." - "Was verlangen sie zu wissen?" sagte ich dagegen. Er setzte sich und zog ein Blatt hervor und fing zu fragen an: "Haben sie nicht den N. N. Ihrem Gro§vater als einen Klienten zu einer *** Stelle empfohlen?" Ich antwortete: "Ja." - "Wo haben sie ihn kennen gelernt?" - "Auf SpaziergŠngen." - "In welcher Gesellschaft?" - Ich stutzte: denn ich wollte nicht gern meine Freunde verraten. - "Das Verschweigen wird nichts helfen," fuhr er fort, "denn es ist alles schon genugsam bekannt." - "Was ist denn bekannt?" sagte ich. - "Da§ Ihnen dieser Mensch durch andere seinesgleichen ist vorgefŸhrt worden, und zwar durch ***." Hier nannte er die Namen von drei Personen, die ich niemals gesehen noch gekannt hatte; welches ich dem Fragenden denn auch sogleich erklŠrte. - "Sie wollen," fuhr jener fort, "diese Menschen nicht kennen, und haben doch mit ihnen šftre ZusammenkŸnfte gehabt!" - "Auch nicht die geringste," versetzte ich; "denn wie gesagt, au§er dem ersten kenne ich keinen und habe auch den niemals in einem Hause gesehen." - "Sind sie nicht oft in der *** Stra§e gewesen?" - "Niemals," versetzte ich. Dies war nicht ganz der Wahrheit gemŠ§. Ich hatte Pylades einmal zu seiner Geliebten begleitet, die in der Stra§e wohnte; wir waren aber zur HintertŸre hereingegangen und im Gartenhause geblieben. Daher glaubte ich mir die Ausflucht erlauben zu kšnnen, in der Stra§e selbst nicht gewesen zu sein.

Der gute Mann tat noch mehr Fragen, die ich alle verneinen konnte: denn es war mir von alledem, was er zu wissen verlangte, nichts bekannt. Endlich schien er verdrie§lich zu


werden und sagte: " Sie belohnen mein Vertrauen und meinen guten Willen sehr schlecht; ich komme, um sie zu retten. Sie kšnnen nicht leugnen, da§ sie fŸr diese Leute selbst oder fŸr ihre Mitschuldigen Briefe verfa§t, AufsŠtze gemacht und so zu ihren schlechten Streichen behŸlflich gewesen. Ich komme, um sie zu retten: denn es ist von nichts Geringerem als nachgemachten Handschriften, falschen Testamenten, untergeschobnen Schuldscheinen und Šhnlichen Dingen die Rede. Ich komme nicht allein als Hausfreund; ich komme im Namen und auf Befehl der Obrigkeit, die in Betracht Ihrer Familie und Ihrer Jugend sie und einige andre JŸnglinge verschonen will, die gleich Ihnen ins Netz gelockt worden." - Es war mir auffallend, da§ unter den Personen, die er nannte, sich gerade die nicht befanden, mit denen ich Umgang gepflogen. Die VerhŠltnisse trafen nicht zusammen, aber sie berŸhrten sich, und ich konnte noch immer hoffen, meine jungen Freunde zu schonen. Allein der wackre Mann ward immer dringender. Ich konnte nicht leugnen, da§ ich manche NŠchte spŠt nach Hause gekommen war, da§ ich mir einen HausschlŸssel zu verschaffen gewu§t, da§ ich mit Personen von geringem Stand und verdŠchtigem Aussehen an Lustorten mehr als einmal bemerkt worden, da§ MŠdchen mit in die Sache verwickelt seien; genug, alles schien entdeckt bis auf die Namen. Dies gab mir Mut, standhaft im Schweigen zu sein. - "Lassen sie mich," sagte der brave Freund, "nicht von Ihnen weggehen. Die Sache leidet keinen Aufschub; unmittelbar nach mir wird ein andrer kommen, der Ihnen nicht so viel Spielraum lŠ§t. Verschlimmern sie die ohnehin bšse Sache nicht durch Ihre HartnŠckigkeit."

Nun stellte ich mir die guten Vettern, und Gretchen besonders, recht lebhaft vor; ich sah sie gefangen, verhšrt, bestraft, geschmŠht, und mir fuhr wie ein Blitz durch die Seele, da§ die Vettern denn doch, ob sie gleich gegen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, sich in so bšse HŠndel konnten eingelassen haben, wenigstens der Šlteste, der mir niemals recht gefallen wollte, der immer spŠter nach Hause kam und wenig


Heiteres zu erzŠhlen wu§te. Noch immer hielt ich mein Bekenntnis zurŸck. - "Ich bin mir," sagte ich, "persšnlich nichts Bšses bewu§t, und kann von der Seite ganz ruhig sein; aber es wŠre nicht unmšglich, da§ diejenigen, mit denen ich umgegangen bin, sich einer verwegnen oder gesetzwidrigen Handlung schuldig gemacht hŠtten. Man mag sie suchen, man mag sie finden, sie ŸberfŸhren und bestrafen, ich habe mir bisher nichts vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts verschulden, die sich freundlich und gut gegen mich benommen haben." - Er lie§ mich nicht ausreden, sondern rief mit einiger Bewegung: "Ja, man wird sie finden. In drei HŠusern kamen diese Bšsewichter zusammen." (Er nannte die Stra§en, er bezeichnete die HŠuser, und zum UnglŸck befand sich auch das darunter, wohin ich zu gehen pflegte.) "Das erste Nest ist schon aus gehoben," fuhr er fort, "und in diesem Augenblick werden es die beiden andern. In wenig Stunden wird alles im klaren sein. Entziehen sie sich, durch ein redliches Bekenntnis, einer gerichtlichen Untersuchung, einer Konfrontation und wie die garstigen Dinge alle hei§en." - Das Haus war genannt und bezeichnet. Nun hielt ich alles Schweigen fŸr unnŸtz; ja, bei der Unschuld unsrer ZusammenkŸnfte konnte ich hoffen, jenen noch mehr als mir nŸtzlich zu sein. - "Setzen sie sich," rief ich aus, und holte ihn von der TŸre zurŸck; "ich will Ihnen alles erzŠhlen, und zugleich mir und Ihnen das Herz erleichtern: nur das eine bitte ich, von nun an keine Zweifel in meine Wahrhaftigkeit."

Ich erzŠhlte nun dem Freunde den ganzen Hergang der Sache, anfangs ruhig und gefa§t; doch je mehr ich mir die Personen, GegenstŠnde, Begebenheiten ins GedŠchtnis rief und vergegenwŠrtigte, und so manche unschuldige Freude, so manchen heitern Genu§ gleichsam vor einem Kriminalgericht deponieren sollte, desto mehr wuchs die schmerzlichste Empfindung, so da§ ich zuletzt in TrŠnen ausbrach und mich einer unbŠndigen Leidenschaft Ÿberlie§. Der Hausfreund, welcher hoffte, da§ eben jetzt das rechte Geheimnis auf dem Wege sein mšchte sich zu offenbaren (denn


er hielt meinen Schmerz fŸr ein Symptom, da§ ich im Begriff stehe, mit Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen), suchte mich, da ihm an der Entdeckung alles gelegen war, aufs beste zu beruhigen; welches ihm zwar nur zum Teil gelang, aber doch insofern, da§ ich meine Geschichte notdŸrftig auserzŠhlen konnte. Er war, obgleich zufrieden Ÿber die Unschuld der VorgŠnge, doch noch einigerma§en zweifelhaft, und erlie§ neue Fragen an mich, die mich abermals aufregten und in Schmerz und Wut versetzten. Ich versicherte endlich, da§ ich nichts weiter zu sagen habe, und wohl wisse, da§ ich nichts zu fŸrchten brauche: denn ich sei unschuldig, von gutem Hause und wohl empfohlen; aber jene kšnnten ebenso unschuldig sein, ohne da§ man sie dafŸr anerkenne oder sonst begŸnstige. Ich erklŠrte zugleich, da§, wenn man jene nicht wie mich schonen, ihren Torheiten nachsehen und ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur im mindesten hart und ungerecht geschehe, so wŸrde ich mir ein Leids antun, und daran solle mich niemand hindern. Auch hierŸber suchte mich der Freund zu beruhigen; aber ich traute ihm nicht, und war, als er mich zuletzt verlie§, in der entsetzlichsten Lage. Ich machte mir nun doch VorwŸrfe, die Sache erzŠhlt und alle die VerhŠltnisse ans Licht gebracht zu haben. Ich sah voraus, da§ man die kindlichen Handlungen, die jugendlichen Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders auslegen wŸrde, und da§ ich vielleicht den guten Pylades mit in diesen Handel verwickeln und sehr unglŸcklich machen kšnnte. Alle diese Vorstellungen drŠngten sich lebhaft hinter einander vor meiner Seele, schŠrften und spornten meinen Schmerz, so da§ ich mir vor Jammer nicht zu helfen wu§te, mich die LŠnge lang auf die Erde warf, und den Fu§boden mit meinen TrŠnen benetzte.

Ich wei§ nicht, wie lange ich mochte gelegen haben, als meine Schwester hereintrat, Ÿber meine GebŠrde erschrak und alles mšgliche tat, mich aufzurichten. Sie erzŠhlte mir, da§ eine Magistratsperson unten beim Vater die RŸckkunft des Hausfreundes erwartet, und nachdem sie sich eine Zeit-


lang eingeschlossen gehalten, seien die beiden Herren weggegangen, und hŠtten unter einander sehr zufrieden, ja mit Lachen geredet, und sie glaube die Worte verstanden zu haben: es ist recht gut, die Sache hat nichts zu bedeuten. - "Freilich," fuhr ich auf, "hat die Sache nichts zu bedeuten, fŸr mich, fŸr uns: denn ich habe nichts verbrochen, und wenn ich es hŠtte, so wŸrde man mir durchzuhelfen wissen; aber jene, jene," rief ich aus, "wer wird ihnen beistehn!" - Meine Schwester suchte mich umstŠndlich mit dem Argumente zu tršsten, da§, wenn man die Vornehmeren retten wolle, man auch Ÿber die Fehler der Geringern einen Schleier werfen mŸsse. Das alles half nichts. Sie war kaum weggegangen, als ich mich wieder meinem Schmerz Ÿberlie§, und sowohl die Bilder meiner Neigung und Leidenschaft als auch des gegenwŠrtigen und mšglichen UnglŸcks immer wechselsweise hervorrief. Ich erzŠhlte mir MŠrchen auf MŠrchen, sah nur UnglŸck auf UnglŸck, und lie§ es besonders daran nicht fehlen, Gretchen und mich recht elend zu machen.

Der Hausfreund hatte mir geboten, auf meinem Zimmer zu bleiben und mit niemand mein GeschŠft zu pflegen, au§er den Unsrigen. Es war mir ganz recht, denn ich befand mich am liebsten allein. Meine Mutter und Schwester besuchten mich von Zeit zu Zeit, und ermangelten nicht, mir mit allerlei gutem Trost auf das krŠftigste beizustehen; ja, sie kamen sogar schon den zweiten Tag, im Namen des nun besser unterrichteten Vaters mir eine všllige Amnestie anzubieten, die ich zwar dankbar annahm, allein den Antrag, da§ ich mit ihm ausgehen und die Reichsinsignien, welche man nunmehr den Neugierigen vorzeigte, beschauen sollte, hartnŠckig ablehnte, und versicherte, da§ ich weder von der Welt, noch von dem Ršmischen Reiche etwas weiter wissen wolle, bis mir bekannt geworden, wie jener verdrie§liche Handel, der fŸr mich weiter keine Folgen haben wŸrde, fŸr meine armen Bekannten ausgegangen. Sie wu§ten hierŸber selbst nichts zu sagen und lie§en mich allein. Doch machte man die folgenden Tage noch einige Versuche, mich aus dem


Hause und zur Teilnahme an den šffentlichen Feierlichkeiten zu bewegen. Vergebens! weder der gro§e Galatag, noch was bei Gelegenheit so vieler Standeserhšhungen vorfiel, noch die šffentliche Tafel des Kaisers und Kšnigs, nichts konnte mich rŸhren. Der KurfŸrst von der Pfalz mochte kommen, um den beiden MajestŠten aufzuwarten, diese mochten die KurfŸrsten besuchen, man mochte zur letzten kurfŸrstlichen Sitzung zusammenfahren, um die rŸckstŠndigen Punkte zu erledigen und den Kurverein zu erneuern, nichts konnte mich aus meiner leidenschaftlichen Einsamkeit hervorrufen. Ich lie§ am Dankfeste die Glocken lŠuten, den Kaiser sich in die Kapuzinerkirche begeben, die KurfŸrsten und den Kaiser abreisen, ohne deshalb einen Schritt von meinem Zimmer zu tun. Das letzte Kanonieren, so unmŠ§ig es auch sein mochte, regte mich nicht auf, und wie der Pulverdampf sich verzog und der Schall verhallte, war auch alle diese Herrlichkeit vor meiner Seele weggeschwunden.

Ich empfand nun keine Zufriedenheit, als im WiederkŠuen meines Elends und in der tausendfachen imaginŠren VervielfŠltigung desselben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In diesem traurigen Zustande kam mir nichts mehr wŸnschenswert, nichts begehrenswert mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein unendliches Verlangen zu wissen, wie es meinen armen Freunden und Geliebten ergehe, was sich bei nŠherer Untersuchung ergeben, inwiefern sie mit in jene Verbrechen verwickelt oder unschuldig mšchten erfunden sein. Auch dies malte ich mir auf das mannigfaltigste umstŠndlich aus, und lie§ es nicht fehlen, sie fŸr unschuldig und recht unglŸcklich zu halten. Bald wŸnschte ich mich von dieser Ungewi§heit befreit zu sehen, und schrieb heftig drohende Briefe an den Hausfreund, da§ er mir den weitern Gang der Sache nicht vorenthalten solle. Bald zerri§ ich sie wieder, aus Furcht, mein UnglŸck recht deutlich zu erfahren und des


phantastischen Trostes zu entbehren, mit dem ich mich bis jetzt wechselsweise gequŠlt und aufgerichtet hatte.

So verbrachte ich Tag und Nacht in gro§er Unruhe, in Rasen und Ermattung, so da§ ich mich zuletzt glŸcklich fŸhlte, als eine kšrperliche Krankheit mit ziemlicher Heftigkeit eintrat, wobei man den Arzt zu HŸlfe rufen und darauf denken mu§te, mich auf alle Weise zu beruhigen. Man glaubte es im allgemeinen tun zu kšnnen, indem man mir heilig versicherte, da§ alle in jene Schuld mehr oder weniger Verwickelten mit der grš§ten Schonung behandelt worden, da§ meine nŠchsten Freunde, so gut wie ganz schuldlos, mit einem leichten Verweise entlassen worden, und da§ Gretchen sich aus der Stadt entfernt habe und wieder in ihre Heimat gezogen sei. Mit dem letztem zauderte man am lŠngsten, und ich nahm es auch nicht zum besten auf: denn ich konnte darin keine freiwillige Abreise, sondern nur eine schmŠhliche Verbannung entdecken. Mein kšrperlicher und geistiger Zustand verbesserte sich dadurch nicht: die Not ging nun erst recht an, und ich hatte Zeit genug, mir den seltsamsten Roman von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen Katastrophe selbstquŠlerisch auszumalen.



ZWEITER TEIL

Was man in der Jugend wŸnscht, hat man im Alter die FŸlle



 

Sechstes Buch

 

So trieb es mich wechselsweise, meine Genesung zu befšrdern und zu verhindern, und ein gewisser heimlicher €rger gesellte sich noch zu meinen Ÿbrigen Empfindungen: denn ich bemerkte wohl, da§ man mich beobachtete, da§ man mir nicht leicht etwas Versiegeltes zustellte, ohne darauf achtzuhaben, was es fŸr Wirkungen hervorbringe, ob ich es geheim hielt oder ob ich es offen hinlegte, und was dergleichen mehr war. Ich vermutete daher, da§ Pylades, ein Vetter, oder wohl gar Gretchen selbst den Versuch mšchte gemacht haben mir zu schreiben, um Nachricht zu geben oder zu erhalten. Ich war nun erst recht verdrie§lich neben meiner BekŸmmernis, und hatte wieder neue Gelegenheit, meine Vermutungen zu Ÿben und mich in die seltsamsten VerknŸpfungen zu verirren.

Es dauerte nicht lange, so gab man mir noch einen besondern Aufseher. GlŸcklicherweise war es ein Mann, den ich liebte und schŠtzte: er hatte eine Hofmeisterstelle in einem befreundeten Hause bekleidet, sein bisheriger Zšgling war allein auf die Akademie gegangen. Er besuchte mich šfters in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natŸrlicher, als ihm ein Zimmer neben dem meinigen einzurŠumen: da er mich denn beschŠftigen, beruhigen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten sollte. Weil ich ihn jedoch von Herzen schŠtzte und ihm auch frŸher gar manches, nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte, so beschlo§ ich um so mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu sein, als es mir unertrŠglich war, mit jemand tŠglich zu leben und auf einem unsicheren gespannten Fu§ mit ihm zu stehen. Ich sŠumte daher nicht lange, sprach ihm von der Sache, erquickte mich in ErzŠhlung und Wieder-


holung der kleinsten UmstŠnde meines vergangenen GlŸcks, und erreichte dadurch so viel, da§ er, als ein verstŠndiger Mann, einsah, es sei besser, mich mit dem Ausgang der Geschichte bekannt zu machen, und zwar im einzelnen und besonderen, damit ich klar Ÿber das Ganze wŸrde und man mir mit Ernst und Eifer zureden kšnne, da§ ich mich fassen, das Vergangene hinter mich werfen und ein neues Leben anfangen mŸsse. Zuerst vertraute er mir, wer die anderen jungen Leute von Stande gewesen, die sich anfangs zu verwegenen Mystifikationen, dann zu possenhaften Polizeiverbrechen, ferner zu lustigen Geldschneidereien und anderen solchen verfŠnglichen Dingen hatten verleiten lassen. Es war dadurch wirklich eine kleine Verschwšrung entstanden, zu der sich gewissenlose Menschen gesellten, durch VerfŠlschung von Papieren, Nachbildung von Unterschriften manches StrafwŸrdige begingen und noch StrafwŸrdigeres vorbereiteten. Die Vettern, nach denen ich zuletzt ungeduldig fragte, waren ganz unschuldig, nur im allgemeinsten mit jenen andern bekannt, keineswegs aber vereinigt befunden worden. Mein Klient, durch dessen Empfehlung an den Gro§vater man mir eigentlich auf die Spur gekommen, war einer der Schlimmsten, und bewarb sich um jenes Amt hauptsŠchlich, um gewisse BubenstŸcke unternehmen oder bedecken zu kšnnen. Nach allem diesem konnte ich mich zuletzt nicht halten und fragte, was aus Gretchen geworden sei, zu der ich ein fŸr allemal die grš§te Neigung bekannte. Mein Freund schŸttelte den Kopf und lŠchelte: "Beruhigen Sie sich," versetzte er, "dieses MŠdchen ist sehr wohl bestanden und hat ein herrliches Zeugnis davon getragen. Man konnte nichts als Gutes und Liebes an ihr finden, die Herren Examinatoren selbst wurden ihr gewogen, und haben ihr die Entfernung aus der Stadt, die sie wŸnschte, nicht versagen kšnnen. Auch das, was sie in RŸcksicht auf Sie, mein Freund, bekannt hat, macht ihr Ehre; ich habe ihre Aussage in den geheimen Akten selbst gelesen und ihre Unterschrift gesehen." "Die Unterschrift!" rief ich aus, "die


mich so glŸcklich und so unglŸcklich macht. Was hat sie denn bekannt? was hat sie unterschrieben?" Der Freund zauderte zu antworten, aber die Heiterkeit seines Gesichts zeigte mir an, da§ er nichts GefŠhrliches verberge. "Wenn Sie's denn wissen wollen," versetzte er endlich, "als von Ihnen und Ihrem Umgang mit ihr die Rede war, sagte sie ganz freimŸtig: 'Ich kann es nicht leugnen, da§ ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich. In manchen FŠllen habe ich ihn gut beraten, und anstatt ihn zu einer zweideutigen Handlung aufzuregen, habe ich ihn verhindert, an mutwilligen Streichen teilzunehmen, die ihm hŠtten Verdru§ bringen kšnnen.'"

Der Freund fuhr noch weiter fort, Gretchen als eine Hofmeisterin reden zu lassen; ich hšrte ihm aber schon lange nicht mehr zu: denn da§ sie mich fŸr ein Kind zu den Akten erklŠrt, nahm ich ganz entsetzlich Ÿbel, und glaubte mich auf einmal von aller Leidenschaft fŸr sie geheilt, ja, ich versicherte hastig meinen Freund, da§ nun alles abgetan sei! Auch sprach ich nicht mehr von ihr, nannte ihren Namen nicht mehr; doch konnte ich die bšse Gewohnheit nicht lassen, an sie zu denken, mir ihre Gestalt, ihr Wesen, ihr Betragen zu vergegenwŠrtigen, das mir denn nun freilich jetzt in einem ganz anderen Lichte erschien. Ich fand es unertrŠglich, da§ ein MŠdchen, hšchstens ein paar Jahre Šlter als ich, mich fŸr ein Kind halten sollte, der ich doch fŸr einen ganz gescheuten und geschickten Jungen zu gelten glaubte. Nun kam mir ihr kaltes absto§endes Wesen, das mich sonst so angereizt hatte, ganz widerlich vor, die FamiliaritŠten, die sie sich gegen mich erlaubte, mir aber zu erwidern nicht gestattete, waren mir ganz verha§t. Das alles wŠre jedoch noch gut gewesen, wenn ich sie nicht wegen des Unterschreibens jener poetischen Liebesepistel, wodurch sie mir denn doch eine fšrmliche Neigung erklŠrte, fŸr eine verschmitzte und selbstsŸchtige Kokette zu halten berechtigt gewesen wŠre. Auch maskiert zur Putzmacherin kam sie


mir nicht mehr so unschuldig vor, und ich kehrte diese Šrgerlichen Betrachtungen so lange bei mir hin und wider, bis ich ihr alle liebenswŸrdigen Eigenschaften sŠmtlich abgestreift hatte. Dem Verstande nach war ich Ÿberzeugt und glaubte sie verwerfen zu mŸssen; nur ihr Bild strafte mich LŸgen, so oft es mir wieder vorschwebte, welches freilich noch oft genug geschah.

Indessen war denn doch dieser Pfeil mit seinen Widerhaken aus dem Herzen gerissen, und es fragte sich, wie man der inneren jugendlichen Heilkraft zu HŸlfe kŠme? Ich ermannte mich wirklich, und das erste, was sogleich abgetan wurde, war das Weinen und Rasen, welches ich nun fŸr hšchst kindisch ansah. Ein gro§er Schritt zur Besserung! Denn ich hatte, oft halbe NŠchte durch, mich mit dem grš§ten UngestŸm diesen Schmerzen Ÿberlassen, so da§ es durch TrŠnen und Schluchzen zuletzt dahin kam, da§ ich kaum mehr schlingen konnte und der Genu§ von Speise und Trank mir schmerzlich ward, auch die so nah verwandte Brust zu leiden schien. Der Verdru§, den ich Ÿber jene Entdeckung immerfort empfand, lie§ mich jede Weichheit verbannen; ich fand es schrecklich, da§ ich um eines MŠdchens willen Schlaf und Ruhe und Gesundheit aufgeopfert hatte, die sich darin gefiel, mich als einen SŠugling zu betrachten und sich hšchst ammenhaft weise gegen mich zu dŸnken.

Diese krŠnkenden Vorstellungen waren, wie ich mich leicht Ÿberzeugte, nur durch TŠtigkeit zu verbannen; aber was sollte ich ergreifen? Ich hatte in gar vielen Dingen freilich manches nachzuholen, und mich in mehr als einem Sinne auf die Akademie vorzubereiten, die ich nun beziehen sollte; aber nichts wollte mir schmecken noch gelingen. Gar manches erschien mir bekannt und trivial; zu mehrerer BegrŸndung fand ich weder eigne Kraft noch Šu§ere Gelegenheit, und lie§ mich daher durch die Liebhaberei meines braven Stubennachbarn zu einem Studium bewegen, das mir ganz neu und fremd war und fŸr lange Zeit ein weites Feld von Kenntnissen und Betrachtungen darbot. Mein Freund fing


nŠmlich an, mich mit den philosophischen Geheimnissen bekannt zu machen. Er hatte unter Daries in Jena studiert und als ein sehr wohlgeordneter Kopf den Zusammenhang jener Lehre scharf gefa§t, und so suchte er sie auch mir beizubringen. Aber leider wollten diese Dinge in meinem Gehirn auf eine solche Weise nicht zusammenhŠngen. Ich tat Fragen, die er spŠter zu beantworten, ich machte Forderungen, die er kŸnftig zu befriedigen versprach. Unsere wichtigste Differenz war jedoch diese, da§ ich behauptete, eine abgesonderte Philosophie sei nicht nštig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei. Dieses wollte er nun keinesweges gelten lassen, sondern suchte mir vielmehr zu beweisen, da§ erst diese durch jene begrŸndet werden mŸ§ten; welches ich hartnŠckig leugnete, und im Fortgange unserer Unterhaltung bei jedem Schritt Argumente fŸr meine Meinung fand. Denn da in der Poesie ein gewisser Glaube an das Unmšgliche, in der Religion ein ebensolcher Glaube an das UnergrŸndliche stattfinden mu§, so schienen mir die Philosophen in einer sehr Ÿblen Lage zu sein, die auf ihrem Felde beides beweisen und erklŠren wollten; wie sich denn auch aus der Geschichte der Philosophie sehr geschwind dartun lie§, da§ immer einer einen andern Grund suchte als der andre, und der Skeptiker zuletzt alles fŸr grund- und bodenlos ansprach.

Eben diese Geschichte der Philosophie jedoch, die mein Freund mit mir zu treiben sich genštigt sah, weil ich dem dogmatischen Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, unterhielt mich sehr, aber nur in dem Sinne, da§ mir eine Lehre, eine Meinung so gut wie die andre vorkam, insofern ich nŠmlich in dieselbe einzudringen fŠhig war. An den Šltesten MŠnnern und Schulen gefiel mir am besten, da§ Poesie, Religion und Philosophie ganz in eins zusammenfielen, und ich behauptete jene meine erste Meinung nur um desto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe Lied und die SprŸchwšrter Salomonis ebenso gut als die Orphischen und Hesiodischen GesŠnge dafŸr ein gŸltiges Zeugnis abzulegen schie-


nen. Mein Freund hatte den Kleinen Brucker zum Grunde seines Vortrags gelegt, und je weiter wir vorwŠrts kamen, je weniger wu§te ich daraus zu machen. Was die ersten griechischen Philosophen wollten, konnte mir nicht deutlich werden. Sokrates galt mir fŸr einen trefflichen weisen Mann, der wohl, im Leben und Tod, sich mit Christo vergleichen lasse. Seine SchŸler hingegen schienen mir gro§e €hnlichkeit mit den Aposteln zu haben, die sich nach des Meisters Tode sogleich entzweiten und offenbar jeder nur eine beschrŠnkte Sinnesart fŸr das Rechte erkannte. Weder die SchŠrfe des Aristoteles, noch die FŸlle des Plato fruchteten bei mir im mindesten. Zu den Stoikern hingegen hatte ich schon frŸher einige Neigung gefa§t, und schallte nun den Epiktet herbei, den ich mit vieler Teilnahme studierte. Mein Freund lie§ mich ungern in dieser Einseitigkeit hingehen, von der er mich nicht abzuziehen vermochte: denn ohngeachtet seiner mannigfaltigen Studien wu§te er doch die Hauptfrage nicht ins Enge zu bringen. Er hŠtte mir nur sagen dŸrfen, da§ es im Leben blo§ aufs Tun ankomme, das Genie§en und Leiden finde sich von selbst. Indessen darf man die Jugend nur gewŠhren lassen; nicht sehr lange haftet sie an falschen Maximen; das Leben rei§t oder lockt sie bald davon wieder los.

Die Jahrszeit war schšn geworden, wir gingen oft zusammen ins Freie und besuchten die Lustšrter, die in gro§er Anzahl um die Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte es mir am wenigsten wohl sein: denn ich sah noch die Gespenster der Vettern Ÿberall, und fŸrchtete, bald da bald dort einen hervortreten zu sehen. Auch waren mir die gleichgŸltigsten Blicke der Menschen beschwerlich. Ich hatte jene bewu§tlose GlŸckseligkeit verloren, unbekannt und unbescholten umherzugehen und in dem grš§ten GewŸhle an keinen Beobachter zu denken. Jetzt fing der hypochondrische DŸnkel an mich zu quŠlen, als erregte ich die Aufmerksamkeit der Leute, als wŠren ihre Blicke auf mein Wesen gerichtet, es festzuhalten, zu untersuchen und zu tadeln.


Ich zog daher meinen Freund in die WŠlder, und indem ich die einfšrmigen Fichten floh, sucht' ich jene schšnen belaubten Haine, die sich zwar nicht weit und breit in der Gegend erstrecken, aber doch immer von solchem Umfange sind, da§ ein armes verwundetes Herz sich darin verbergen kann. In der grš§ten Tiefe des Waldes hatte ich mir einen ernsten Platz ausgesucht, wo die Šltesten Eichen und Buchen einen herrlich gro§en beschatteten Raum bildeten. Etwas abhŠngig war der Boden und machte das Verdienst der alten StŠmme nur desto bemerkbarer. Rings an diesen freien Kreis schlossen sich die dichtesten GebŸsche, aus denen bemooste Felsen mŠchtig und wŸrdig hervorblickten und einem wasserreichen Bach einen raschen Fall verschafften.

Kaum hatte ich meinen Freund, der sich lieber in freier Landschaft am Strom unter Menschen befand, hierher genštiget, als er mich scherzend versicherte, ich erweise mich wie ein wahrer Deutscher. UmstŠndlich erzŠhlte er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere UrvŠter an den GefŸhlen begnŸgt, welche uns die Natur in solchen Einsamkeiten mit ungekŸnstelter Bauart so herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzŠhlt, als ich ausrief: "O! warum liegt dieser kšstliche Platz nicht in tiefer Wildnis, warum dŸrfen wir nicht einen Zaun umher fŸhren, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewi§, es ist keine schšnere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die blo§ aus dem WechselgesprŠch mit der Natur in unserem Busen entspringt!" - Was ich damals fŸhlte, ist mir noch gegenwŠrtig; was ich sagte, wŸ§te ich nicht wieder zu finden. So viel ist aber gewi§, da§ die unbestimmten, sich weit ausdehnenden GefŸhle der Jugend und ungebildeter Všlker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch, Šu§ere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfa§lichen Formen gebildet, uns mit einer Grš§e umgeben mu§, der wir nicht gewachsen sind.

Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen, sowie sie dieses edle BedŸrfnis auf


mancherlei Weise zu befriedigen suchen. Aber wie das Erhabene von DŠmmerung und Nacht, wo sich die Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom Tage verscheucht, der alles sondert und trennt, und so mu§ es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glŸcklich genug ist, sich zu dem Schšnen zu flŸchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwŸstlich sind.

Die kurzen Augenblicke solcher GenŸsse verkŸrzte mir noch mein denkender Freund; aber ganz umsonst versuchte es ich, wenn ich heraus an die Welt trat, in der lichten und mageren Umgebung ein solches GefŸhl bei mir wieder zu erregen: ja, kaum die Erinnerung davon vermochte ich zu erhalten. Mein Herz war jedoch zu verwšhnt, als da§ es sich hŠtte beruhigen kšnnen: es hatte geliebt, der Gegenstand war ihm entrissen; es hatte gelebt, und das Leben war ihm verkŸmmert. Ein Freund, der es zu deutlich merken lŠ§t, da§ er an euch zu bilden gedenkt, erregt kein Behagen; indessen eine Frau, die euch bildet, indem sie euch zu verwšhnen scheint, wie ein himmlisches freudebringendes Wesen angebetet wird. Aber jene Gestalt, an der sich der Begriff des Schšnen mir hervortat, war in die Ferne weggeschwunden; sie besuchte mich oft unter den Schatten meiner Eichen aber ich konnte sie nicht festhalten, und ich fŸhlte einen gewaltigen Trieb, etwas €hnliches in der Weite zu suchen.

Ich hatte meinen Freund und Aufseher unvermerkt gewšhnt, ja genštigt, mich allein zu lassen; denn selbst in meinem heiligen Walde taten mir jene unbestimmten riesenhaften GefŸhle nicht genug. Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt fa§te. Ich hatte von Kindheit auf zwischen Malern gelebt, und mich gewšhnt, die GegenstŠnde wie sie in Bezug auf die Kunst anzusehen. Jetzt, da ich mir selbst und der Einsamkeit Ÿberlassen war, trat diese Gabe, halb natŸrlich, halb erworben, hervor; wo ich hinsah, erblickte ich ein Bild, und was mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich festhalten, und ich fing an, auf die un-


geschickteste Weise nach der Natur zu zeichnen. Es fehlte mir hierzu nichts weniger als alles; doch blieb ich hartnŠckig daran, ohne irgend ein technisches Mittel, das Herrlichste nachbilden zu wollen, was sich meinen Augen darstellte. Ich gewann freilich dadurch eine gro§e Aufmerksamkeit auf die GegenstŠnde, aber ich fa§te sie nur im ganzen, insofern sie Wirkung taten; und so wenig mich die Natur zu einem deskriptiven Dichter bestimmt hatte, ebenso wenig wollte sie mir die FŠhigkeit eines Zeichners fŸrs einzelne verleihen. Da jedoch nur dies allein die Art war, die mir Ÿbrig blieb, mich zu Šu§ern, so hing ich mit ebenso viel HartnŠckigkeit, ja mit TrŸbsinn daran, da§ ich immer eifriger meine Arbeiten fortsetzte, je weniger ich etwas dabei herauskommen sah.

Leugnen will ich jedoch nicht, da§ sich eine gewisse Schelmerei mit einmischte: denn ich hatte bemerkt, da§, wenn ich einen halbbeschatteten alten Stamm, an dessen mŠchtig gekrŸmmte Wurzeln sich wohlbeleuchtete FarrenkrŠuter anschmiegten, von blinkenden Graslichtern begleitet, mir zu einem qualreichen Studium ausgesucht hatte, mein Freund, der aus Erfahrung wu§te, da§ unter einer Stunde da nicht loszukommen sei, sich gewšhnlich entschlo§, mit einem Buche ein anderes gefŠlliges PlŠtzchen zu suchen. Nun stšrte mich nichts, meiner Liebhaberei nachzuhŠngen, die um desto emsiger war, als mir meine BlŠtter dadurch lieb wurden, da§ ich mich gewšhnte, an ihnen nicht sowohl das zu sehen, was darauf stand, als dasjenige, was ich zu jeder Zeit und Stunde dabei gedacht hatte. So kšnnen uns KrŠuter und Blumen der gemeinsten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil nichts, was die Erinnerung eines glŸcklichen Moments zurŸckruft, unbedeutend sein kann; und noch jetzt wŸrde es mir schwer fallen, manches dergleichen, was mir aus verschiedenen Epochen Ÿbrig geblieben, als wertlos zu vertilgen, weil es mich unmittelbar in jene Zeiten versetzt, deren ich mich zwar mit Wehmut, doch nicht ungern erinnere.

Wenn aber solche BlŠtter irgend ein Interesse an und fŸr sich haben kšnnten, so wŠren sie diesen Vorzug der Teil-


nahme und Aufmerksamkeit meines Vaters schuldig. Dieser, durch meinen Aufseher benachrichtiget, da§ ich mich nach und nach in meinen Zustand finde und besonders mich leidenschaftlich auf das Zeichnen nach der Natur gewendet habe, war damit gar wohl zufrieden, teils weil er selbst sehr viel auf Zeichnung und Malerei hielt, teils weil Gevatter Seekatz ihm einigemal gesagt hatte, es sei schade, da§ ich nicht zum Maler bestimmt sei. Allein hier kamen die Eigenheiten des Vaters und Sohns wieder zum Konflikt: denn es war mir fast unmšglich, bei meinen Zeichnungen ein gutes, wei§es, všllig reines Papier zu gebrauchen; graue veraltete, ja schon von einer Seite beschriebene BlŠtter reizten mich am meisten, eben als wenn meine UnfŠhigkeit sich vor dem PrŸfstein eines wei§en Grundes gefŸrchtet hŠtte. So war auch keine Zeichnung ganz ausgefŸllt; und wie hŠtte ich denn ein Ganzes leisten sollen, das ich wohl mit Augen sah, aber nicht begriff, und wie ein Einzelnes, das ich zwar kannte, aber dem zu folgen ich weder Fertigkeit noch Geduld hatte. Wirklich war auch in diesem Punkte die PŠdagogik meines Vaters zu bewundern. Er fragte wohlwollend nach meinen Versuchen, und zog Linien um jede unvollkommene Skizze: er wollte mich dadurch zur VollstŠndigkeit und AusfŸhrlichkeit nštigen; die unregelmŠ§igen BlŠtter schnitt er zurechte, und machte damit den Anfang zu einer Sammlung, in der er sich dereinst der Fortschritte seines Sohnes freuen wollte. Es war ihm daher keineswegs unangenehm, wenn mich mein wildes unstetes Wesen in der Gegend umhertrieb, vielmehr zeigte er sich zufrieden, wenn ich nur irgend ein Heft zurŸckbrachte, an dem er seine Geduld Ÿben und seine Hoffnungen einigerma§en stŠrken konnte.

Man sorgte nicht mehr, da§ ich in meine frŸheren Neigungen und VerhŠltnisse zurŸckfallen kšnnte, man lie§ mir nach und nach vollkommene Freiheit. Durch zufŠllige Anregung, sowie in zufŠlliger Gesellschaft stellte ich manche Wanderungen nach dem Gebirge an, das von Kindheit auf so fern und ernsthaft vor mir gestanden hatte. So besuchten


wir Homburg, Kronberg, bestiegen den Feldberg, von dem uns die weite Aussicht immer mehr in die Ferne lockte. Da blieb denn Kšnigstein nicht unbesucht; Wiesbaden, Schwalbach mit seinen Umgebungen beschŠftigten uns mehrere Tage; wir gelangten an den Rhein, den wir, von den Hšhen herab, weither schlŠngeln gesehen. Mainz setzte uns in Verwunderung, doch konnte es den jugendlichen Sinn nicht fesseln, der ins Freie ging; wir erheiterten uns an der Lage von Biebrich, und nahmen zufrieden und froh unseren RŸckweg.

Diese ganze Tour, von der sich mein Vater manches Blatt versprach, wŠre beinahe ohne Frucht gewesen: denn welcher Sinn, welches Talent, welche †bung gehšrt nicht dazu, eine weite und breite Landschaft als Bild zu begreifen! Unmerklich wieder zog es mich jedoch ins Enge, wo ich einige Ausbeute fand: denn ich traf kein verfallenes Schlo§, kein GemŠuer, das auf die Vorzeit hindeutete, da§ ich es nicht fŸr einen wŸrdigen Gegenstand gehalten und so gut als mšglich nachgebildet hŠtte. Selbst den Drusenstein auf dem Walle zu Mainz zeichnete ich mit einiger Gefahr und mit Unstatten, die ein jeder erleben mu§, der sich von Reisen einige bildliche Erinnerungen mit nach Hause nehmen will. Leider hatte ich abermals nur das schlechteste Konzeptpapier mitgenommen, und mehrere GegenstŠnde unschicklich auf ein Blatt gehŠuft; aber mein vŠterlicher Lehrer lie§ sich dadurch nicht irre machen; er schnitt die BlŠtter auseinander, lie§ das Zusammenpassende durch den Buchbinder aufziehen, fa§te die einzelnen BlŠtter in Linien und nštigte mich dadurch wirklich, die Umrisse verschiedener Berge bis an den Rand zu ziehen und den Vordergrund mit einigen KrŠutern und Steinen auszufŸllen.

Konnten seine treuen BemŸhungen auch mein Talent nicht steigern, so hatte doch dieser Zug seiner Ordnungsliebe einen geheimen Einflu§ auf mich, der sich spŠterhin auf mehr als eine Weise lebendig erwies.

Von solchen halb lebenslustigen, halb kŸnstlerischen Streifpartien, welche sich in kurzer Zeit vollbringen und šfters wie-


derholen lie§en, ward ich jedoch wieder nach Hause gezogen, und zwar durch einen Magneten, der von jeher stark auf mich wirkte; es war meine Schwester. Sie, nur ein Jahr jŸnger als ich, hatte mein ganzes bewu§tes Leben mit mir herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden. Zu diesen natŸrlichen AnlŠssen gesellte sich noch ein aus unserer hŠuslichen Lage hervorgehender Drang; ein zwar liebevoller und wohlgesinnter, aber ernster Vater, der, weil er innerlich ein sehr zartes GemŸt hegte, Šu§erlich mit unglaublicher Konsequenz eine eherne Strenge vorbildete, damit er zu dem Zwecke gelangen mšge, seinen Kindern die beste Erziehung zu geben, sein wohlgegrŸndetes Haus zu erbauen, zu ordnen und zu erhalten; dagegen eine Mutter fast noch Kind, welche erst mit und in ihren beiden €ltesten zum Bewu§tsein heranwuchs; diese drei, so wie sie die Welt mit gesundem Blicke gewahr wurden, lebensfŠhig und nach gegenwŠrtigem Genu§ verlangend. Ein solcher in der Familie schwebender Widerstreit vermehrte sich mit den Jahren. Der Vater verfolgte seine Absicht unerschŸttert und ununterbrochen; Mutter und Kinder konnten ihre GefŸhle, ihre Anforderungen, ihre WŸnsche nicht aufgeben.

Unter diesen UmstŠnden war es natŸrlich, da§ Bruder und Schwester sich fest aneinanderschlossen und sich zur Mutter hielten, um die im ganzen versagten Freuden wenigstens zu erhaschen. Da aber die Stunden der Eingezogenheit und MŸhe sehr lang und weit waren gegen die Augenblicke der Erholung und des VergnŸgens, besonders fŸr meine Schwester, die das Haus niemals auf so lange Zeit als ich verlassen konnte, so ward ihr BedŸrfnis, sich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnsucht geschŠrft, mit der sie mich in die Ferne begleitete.

Und so wie in den ersten Jahren Spiel und Lernen, Wachstum und Bildung den Geschwistern všllig gemein war, so da§ sie sich wohl fŸr Zwillinge halten konnten, so blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft, dieses Vertrauen bei Entwickelung physischer und moralischer KrŠfte. Jenes In-


teresse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, die sich in geistige Formen, geistiger BedŸrfnisse, die sich in sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darŸber, die uns eher verdŸstern als aufklŠren, wie ein Nebel das Tal, woraus er sich emporheben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und Verirrungen, die daraus entspringen, teilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand, und wurden Ÿber ihre seltsamen ZustŠnde um desto weniger aufgeklŠrt, als die heilige Scheu der nahen Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nŠhern, ins Klare treten wollten, nur immer gewaltiger auseinander hielt.

Ungern spreche ich dies im allgemeinen aus, was ich vor Jahren darzustellen unternahm, ohne da§ ich es hŠtte ausfŸhren kšnnen. Da ich dieses geliebte unbegreifliche Wesen nur zu bald verlor, fŸhlte ich genŸgsamen Anla§, mir ihren Wert zu vergegenwŠrtigen, und so entstand bei mir der Begriff eines dichterischen Ganzen, in welchem es mšglich gewesen wŠre, ihre IndividualitŠt darzustellen: allein es lie§ sich dazu keine andere Form denken als die der Richardsonschen Romane. Nur durch das genauste Detail, durch unendliche Einzelheiten, die lebendig alle den Charakter des Ganzen tragen und, indem sie aus einer wundersamen Tiefe hervorspringen, eine Ahndung von dieser Tiefe geben; nur auf solche Weise hŠtte es einigerma§en gelingen kšnnen, eine Vorstellung dieser merkwŸrdigen Persšnlichkeit mitzuteilen: denn die Quelle kann nur gedacht werden, insofern sie flie§t. Aber von diesem schšnen und frommen Vorsatz zog mich, wie von so vielen anderen, der Tumult der Welt zurŸck, und nun bleibt mir nichts Ÿbrig, als den Schatten jenes seligen Geistes nur, wie durch HŸlfe eines magischen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen.

Sie war gro§, wohl und zart gebaut und hatte etwas NatŸrlich-WŸrdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die ZŸge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schšn, sprachen von einem Wesen, das weder


mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schšnsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete, und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrŸckten, einen Glanz hatten ohnegleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich nicht zŠrtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas SehnsŸchtiges und Verlangendes mit sich fŸhrt; dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur geben zu wollen, nicht des Empfangens zu bedŸrfen.

Was ihr Gesicht aber ganz eigentlich entstellte, so da§ sie manchmal wirklich hŠ§lich aussehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche nicht allein die Stirn entblš§te, sondern auch alles tat, um sie scheinbar oder wirklich, zufŠllig oder vorsŠtzlich zu vergrš§ern. Da sie nun die weiblichste reingewšlbteste Stirn hatte und dabei ein Paar starke schwarze Augenbrauen und vorliegende Augen, so entstand aus diesen VerhŠltnissen ein Kontrast, der einen jeden Fremden fŸr den ersten Augenblick, wo nicht abstie§, doch wenigstens nicht anzog. Sie empfand es frŸh, und dies GefŸhl ward immer peinlicher, je mehr sie in die Jahre trat, wo beide Geschlechter eine unschuldige Freude empfinden, sich wechselseitig angenehm zu werden.

Niemanden kann seine eigne Gestalt zuwider sein, der HŠ§lichste wie der Schšnste hat das Recht, sich seiner Gegenwart zu freuen; und da das Wohlwollen verschšnt, und sich jedermann mit Wohlwollen im Spiegel besieht so kann man behaupten, da§ jeder sich auch mit Wohlgefallen erblicken mŸsse, selbst wenn er sich dagegen strŠuben wollte. Meine Schwester hatte jedoch eine so entschiedene Anlage zum Verstand, da§ sie hier unmšglich blind und albern sein konnte; sie wu§te vielmehr vielleicht deutlicher als billig, da§ sie hinter ihren Gespielinnen an Šu§erer Schšnheit sehr weit zurŸckstehe, ohne zu ihrem Troste zu fŸhlen, da§ sie ihnen an inneren VorzŸgen unendlich Ÿberlegen sei.

Kann ein Frauenzimmer fŸr den Mangel von Schšnheit entschŠdigt werden, so war sie es reichlich durch das unbegrenzte


Vertrauen, die Achtung und Liebe, welche sŠmtliche Freundinnen zu ihr trugen; sie mochten Šlter oder jŸnger sein, alle hegten die gleichen Empfindungen. Eine sehr angenehme Gesellschaft hatte sich um sie versammelt, es fehlte nicht an jungen MŠnnern, die sich einzuschleichen wu§ten, fast jedes MŠdchen fand einen Freund; nur sie war ohne HŠlfte geblieben. Freilich, wenn ihr €u§eres einigerma§en absto§end war, so wirkte das Innere, das hindurchblickte, mehr ablehnend als anziehend: denn die Gegenwart einer jeden WŸrde weist den andern auf sich selbst zurŸck. Sie fŸhlte es lebhaft, sie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete sich desto krŠftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Vertraute, denen man ein LiebesverstŠndnis offenbart, durch aufrichtige Teilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern: denn indem mein VerhŠltnis zu Gretchen zerri§, tršstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein; und so mu§te auch ich mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir Gerechtigkeit widerfahren lie§, da§ ich der einzige sei, der sie wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre. Wenn sich nun bei mir von Zeit zu Zeit der Schmerz Ÿber Gretchens Verlust erneuerte und ich aus dem Stegreife zu weinen, zu klagen und mich ungebŠrdig zu stellen anfing, so erregte meine Verzweifelung Ÿber das Verlorene bei ihr eine gleichfalls verzweifelnde Ungeduld Ÿber das Niebesessene, Mi§lungene und VorŸbergestrichene solcher jugendlichen Neigungen, da§ wir uns beide grenzenlos unglŸcklich hielten, und um so mehr, als in diesem seltsamen Falle die Vertrauenden sich nicht in Liebende umwandeln durften.

GlŸcklicherweise mischte sich jedoch der wunderliche Liebesgott, der ohne Not so viel Unheil anrichtet, hier einmal wohltŠtig mit ein, um uns aus aller Verlegenheit zu ziehen. Mit einem jungen EnglŠnder, der sich in der Pfeilischen Pension bildete, hatte ich viel Verkehr. Er konnte von seiner


Sprache gute Rechenschaft geben, ich Ÿbte sie mit ihm und erfuhr dabei manches von seinem Lande und Volke. Er ging lange genug bei uns aus und ein, ohne da§ ich eine Neigung zu meiner Schwester an ihm bemerkte, doch mochte er sie im stillen bis zur Leidenschaft genŠhrt haben: denn endlich erklŠrte sich's unversehens und auf einmal. Sie kannte ihn, sie schŠtzte ihn, und er verdiente es. Sie war oft bei unseren englischen Unterhaltungen die Dritte gewesen, wir hatten aus seinem Munde uns beide die Wunderlichkeiten der englischen Aussprache anzueignen gesucht, und uns dadurch nicht nur das Besondere ihres Tones und Klanges, sondern sogar das Besonderste der persšnlichen Eigenheiten unseres Lehrers angewšhnt, so da§ es zuletzt seltsam genug klang, wenn wir zusammen wie aus einem Munde zu reden schienen. Seine BemŸhung, von uns auf gleiche Weise so viel vom Deutschen zu lernen, wollte nicht gelingen, und ich glaube bemerkt zu haben, da§ auch jener kleine Liebeshandel, sowohl schriftlich als mŸndlich, in englischer Sprache durchgefŸhrt wurde. Beide junge Personen schickten sich recht gut fŸr einander: er war gro§ und wohlgebaut, wie sie, nur noch schlanker; sein Gesicht, klein und eng beisammen, hŠtte wirklich hŸbsch sein kšnnen, wŠre es durch die Blattern nicht allzusehr entstellt gewesen; sein Betragen war ruhig, bestimmt, man durfte es wohl manchmal trocken und kalt nennen; aber sein Herz war voll GŸte und Liebe, seine Seele voll Edelmut und seine Neigungen so dauernd als entschieden und gelassen. Nun zeichnete sich dieses ernste Paar, das sich erst neuerlich zusammengefunden hatte, unter den anderen ganz eigen aus, die, schon mehr mit einander bekannt, von leichteren Charakteren, sorglos wegen der Zukunft, sich in jenen VerhŠltnissen leichtsinnig herumtrieben, die gewšhnlich nur als ein fruchtloses Vorspiel kŸnftiger ernsterer Verbindungen vorŸbergehen, und sehr selten eine dauernde Folge auf das Leben bewirken.

Die gute Jahrszeit, die schšne Gegend blieb fŸr eine so muntere Gesellschaft nicht unbenutzt; Wasserfahrten stellte man hŠufig an, weil diese die geselligsten von allen Lustpar-


tien sind. Wir mochten uns jedoch zu Wasser oder zu Lande bewegen, so zeigten sich gleich die einzelnen anziehenden KrŠfte; jedes Paar schlo§ sich zusammen, und fŸr einige MŠnner, die nicht versagt waren, worunter ich auch gehšrte, blieb entweder gar keine weibliche Unterhaltung, oder eine solche, die man an einem lustigen Tage nicht wŸrde gewŠhlt haben. Ein Freund, der sich in gleichem Falle befand, und dem es an einer HŠlfte hauptsŠchlich deswegen ermangeln mochte, weil es ihm, bei dem besten Humor, an ZŠrtlichkeit, und bei viel Verstand an jener Aufmerksamkeit fehlte, ohne welche sich Verbindungen solcher Art nicht denken lassen; dieser, nachdem er šfters seinen Zustand launig und geistreich beklagt, versprach, bei der nŠchsten Versammlung einen Vorschlag zu tun, wodurch ihm und dem Ganzen geholfen werden sollte. Auch verfehlte er nicht, sein Versprechen zu erfŸllen: denn als wir, nach einer glŠnzenden Wasserfahrt und einem sehr anmutigen Spaziergang, zwischen schattigen HŸgeln gelagert im Gras, oder sitzend auf bemoosten Felsen und Baumwurzeln, heiter und froh ein lŠndliches Mahl verzehrt hatten und uns der Freund alle heiter und guter Dinge sah, gebot er mit schalkhafter WŸrde einen Halbkreis sitzend zu schlie§en, vor den er hintrat und folgenderma§en emphatisch zu perorieren anfing:

"Hšchst werte Freunde und Freundinnen, Gepaarte und Ungepaarte! - Schon aus dieser Anrede erhellet, wie nštig es sei da§ ein Bu§prediger auftrete und der Gesellschaft das Gewissen schŠrfe. Ein Teil meiner edlen Freunde ist gepaart, und mag sich dabei ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart, der befindet sich hšchst schlecht, wie ich aus eigner Erfahrung versichern kann; und wenn nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehrzahl ausmachen, so gebe ich ihnen doch zu bedenken, ob es nicht eben gesellige Pflicht sei, fŸr alle zu sorgen? Warum vereinigen wir uns zahlreich, als um an einander wechselseitig teilzunehmen? und wie kann das geschehen, wenn sich in unserem Kreise wieder so viele kleine Absonderungen bemerken lassen? Weit entfernt bin ich, et-


was gegen so schšne VerhŠltnisse meinen, oder nur daran rŸhren zu wollen; aber alles hat seine Zeit! ein schšnes gro§es Wort, woran freilich niemand denkt, wenn ihm fŸr Zeitvertreib hinreichend gesorgt ist."

Er fuhr darauf immer lebhafter und lustiger fort, die geselligen Tugenden den zŠrtlichen Empfindungen gegenŸberzustellen. "Diese," sagte er, "kšnnen uns niemals fehlen, wir tragen sie immer bei uns, und jeder wird darin leicht ohne †bung ein Meister; aber jene mŸssen wir aufsuchen, wir mŸssen uns um sie bemŸhen, und wir mšgen darin, so viel wir wollen, fortschreiten, so lernt man sie doch niemals ganz aus." - Nun ging er ins Besondere. Mancher mochte sich getroffen fŸhlen, und man konnte nicht unterlassen, sich unter einander anzusehen; doch hatte der Freund das Privilegium, da§ man ihm nichts Ÿbel nahm, und so konnte er ungestšrt fortfahren.

"Die MŠngel aufdecken ist nicht genug; ja, man hat unrecht solches zu tun, wenn man nicht zugleich das Mittel zu dem besseren Zustande anzugeben wei§. Ich will euch, meine Freunde, daher nicht etwa, wie ein Karwochenprediger, zur Bu§e und Besserung im allgemeinen ermahnen, vielmehr wŸnsche ich sŠmtlichen liebenswŸrdigen Paaren das lŠngste und dauerhafteste GlŸck, und um hiezu selbst auf das sicherste beizutragen, tue ich den Vorschlag, fŸr unsere geselligen Stunden diese kleinen allerliebsten Absonderungen zu trennen und aufzuheben. Ich habe," fuhr er fort, "schon fŸr die AusfŸhrung gesorgt, wenn ich Beifall finden sollte. Hier ist ein Beutel, in dem die Namen der Herren befindlich sind; ziehen Sie nun, meine Schšnen, und lassen Sie sich's gefallen, denjenigen auf acht Tage als Diener zu begŸnstigen, den Ihnen das Los zuweist. Dies gilt nur innerhalb unseres Kreises; sobald er aufgehoben ist, sind auch diese Verbindungen aufgehoben, und wer Sie nach Hause fŸhren soll, mag das Herz entscheiden."

Ein gro§er Teil der Gesellschaft war Ÿber diese Anrede und die Art, wie er sie vortrug, froh geworden und schien den Einfall zu billigen; einige Paare jedoch sahen vor sich


hin, als glaubten sie dabei nicht ihre Rechnung zu finden: deshalb rief er mit launiger Heftigkeit:

"FŸrwahr! es Ÿberrascht mich, da§ nicht jemand aufspringt, und, obgleich noch andere zaudern, meinen Vorschlag anpreist, dessen Vorteile auseinandersetzt, und mir erspart, mein eigner Lobredner zu sein. Ich bin der €lteste unter Ihnen; das mir Gott verzeihe. Schon habe ich eine Glatze, daran ist mein gro§es Nachdenkern schuld"

Hier nahm er den Hut ab -

"aber ich wŸrde sie mit Freuden und Ehren zur Schau stellen, wenn meine eignen †berlegungen, die mir die Haut austrocknen und mich des schšnsten Schmucks berauben, nur auch mir und anderen einigerma§en fšrderlich sein kšnnten. Wir sind jung, meine Freunde, das ist schšn; wir werden Šlter werden, das ist dumm; wir nehmen uns unter einander wenig Ÿbel, das ist hŸbsch und der Jahreszeit gemŠ§. Aber bald, meine Freunde, werden die Tage kommen wo wir uns selbst manches Ÿbel zu nehmen haben: da mag denn jeder sehen, wie er mit sich zurechte kommt; aber zugleich werden uns andre manches Ÿbel nehmen, und zwar wo wir es gar nicht begreifen; darauf mŸssen wir uns vorbereiten, und dieses soll nunmehr geschehen."

Er hatte die ganze Rede, besonders aber die letzte Stelle, mit Ton und GebŠrden eines Kapuziners vorgetragen: denn da er katholisch war, so mochte er genŸgsame Gelegenheit gehabt haben, die Redekunst dieser VŠter zu studieren. Nun schien er au§er Atem, trocknete sein jung-kahles Haupt, das ihm wirklich das Ansehen eines Pfaffen gab, und setzte durch diese Possen die leichtgesinnte SozietŠt in so gute Laune, da§ jedermann begierig war, ihn weiter zu hšren. Allein anstatt fortzufahren, zog er den Beutel und wendete sich zur nŠchsten Dame: "Es kommt auf einen Versuch an!" rief er aus, "das Werk wird den Meister loben. Wenn es in acht Tagen nicht gefŠllt, so geben wir es auf und es mag bei dem alten bleiben."

Halb willig, halb genštigt zogen die Damen ihre Ršllchen, und gar leicht bemerkte man, da§ bei dieser geringen Hand-


lung mancherlei Leidenschaften im Spiel waren. GlŸcklicherweise traf sich's, da§ die Heitergesinnten getrennt wurden, die Ernsteren zusammenblieben; und so behielt auch meine Schwester ihren EnglŠnder, welches sie beiderseits dem Gott der Liebe und des GlŸcks sehr gut aufnahmen. Die neuen Zufallspaare wurden sogleich von dem Antistes zusammengegeben, auf ihre Gesundheit getrunken und allen um so mehr Freude gewŸnscht als ihre Dauer nur kurz sein sollte. Gewi§ aber war dies der heiterste Moment, den unsere Gesellschaft seit langer Zeit genossen. Die jungen MŠnner, denen kein Frauenzimmer zuteil geworden, erhielten nunmehr das Amt, diese Woche Ÿber fŸr Geist, Seele und Leib zu sorgen, wie sich unser Redner ausdrŸckte, besonders aber, meinte er, fŸr die Seele, weil die beiden anderen sich schon eher selbst zu helfen wŸ§ten.

Die Vorsteher, die sich gleich Ehre machen wollten, brachten ganz artige neue Spiele schnell in Gang, bereiteten in einiger Ferne eine Abendkost, auf die man nicht gerechnet hatte, illuminierten bei unserer nŠchtlichen RŸckkehr die Jacht, ob es gleich, bei dem hellen Mondschein, nicht nštig gewesen wŠre; sie entschuldigten sich aber damit, da§ es der neuen geselligen Einrichtung ganz gemŠ§ sei, die zŠrtlichen Blicke des himmlischen Mondes durch irdische Lichter zu Ÿberscheinen. In dem Augenblick, als wir ans Land stiegen, rief unser Solon: "Ite, missa est!" Ein jeder fŸhrte die ihm durchs Los zugefallene Dame noch aus dem Schiffe und Ÿbergab sie alsdann ihrer eigentlichen HŠlfte, wogegen er sich wieder die seinige eintauschte.

Bei der nŠchsten Zusammenkunft ward diese wšchentliche Einrichtung fŸr den Sommer festgesetzt und die Verlosung abermals vorgenommen. Es war keine Frage, da§ durch diesen Scherz eine neue und unerwartete Wendung in die Gesellschaft kam, und ein jeder angeregt ward, was ihm von Geist und Anmut beiwohnte, an den Tag zu bringen und seiner augenblicklichen Schšnen auf das verbindlichste den Hof zu machen, indem er sich wohl zutraute, wenigstens fŸr eine Woche genŸgsamen Vorrat zu GefŠlligkeiten zu haben.


Man hatte sich kaum eingerichtet, als man unserem Redner, statt ihm zu danken, den Vorwurf machte, er habe das Beste seiner Rede, den Schlu§, fŸr sich behalten. Er versicherte darauf, das Beste einer Rede sei die †berredung, und wer nicht zu Ÿberreden gedenke, mŸsse gar nicht reden: denn mit der †berzeugung sei es eine mi§liche Sache. Als man ihm demohngeachtet keine Ruhe lie§, begann er sogleich eine Kapuzinade, fratzenhafter als je, vielleicht gerade darum, weil er die ernsthaftesten Dinge zu sagen gedachte. Er fŸhrte nŠmlich mit SprŸchen aus der Bibel, die nicht zur Sache pa§ten, mit Gleichnissen, die nicht trafen, mit Anspielungen, die nichts erlŠuterten, den Satz aus, da§, wer seine Leidenschaften, Neigungen, WŸnsche, VorsŠtze, Plane nicht zu verbergen wisse, in der Welt zu nichts komme, sondern aller Orten und Enden gestšrt und zum besten gehabt werde; vorzŸglich aber, wenn man in der Liebe glŸcklich sein wolle, habe man sich des tiefsten Geheimnisses zu beflei§igen.

Dieser Gedanke schlang sich durch das Ganze durch, ohne da§ eigentlich ein Wort davon wŠre gesprochen worden. Will man sich einen Begriff von diesem seltsamen Menschen machen, so bedenke man, da§ er, mit viel Anlage geboren, seine Talente und besonders seinen Scharfsinn in Jesuiterschulen ausgebildet und eine gro§e Welt- und Menschenkenntnis, aber nur von der schlimmen Seite, zusammengewonnen hatte. Er war etwa zweiundzwanzig Jahr alt, und hŠtte mich gern zum Proselyten seiner Menschenverachtung gemacht; aber es wollte nicht bei mir greifen, denn ich hatte noch immer gro§e Lust, gut zu sein und andere gut zu finden. Indessen bin ich durch ihn auf vieles aufmerksam geworden.

Das Personal einer jeden heiteren Gesellschaft vollstŠndig zu machen, gehšrt notwendig ein Akteur, welcher Freude daran hat, wenn die Ÿbrigen, um so manchen gleichgŸltigen Moment zu beleben, die Pfeile des Witzes gegen ihn richten mšgen. Ist er nicht blo§ ein ausgestopfter Sarazene, wie derjenige, an dem bei LustkŠmpfen die Ritter ihre Lanzen Ÿbten, sondern versteht er selbst zu scharmutzieren, zu necken und


aufzufordern, leicht zu verwunden und sich zurŸckzuziehen, und, indem er sich preiszugeben scheint, anderen eins zu versetzen, so kann nicht wohl etwas Anmutigeres gefunden werden. Einen solchen besa§en wir an unserem Freund Horn, dessen Name schon zu allerlei Scherzen Anla§ gab und der, wegen seiner kleinen Gestalt, immer nur Hšrnchen genannt wurde. Er war wirklich der Kleinste in der Gesellschaft, von derben, aber gefŠlligen Formen; eine Stumpfnase, ein etwas aufgeworfener Mund, kleine funkelnde Augen bildeten ein schwarzbraunes Gesicht, das immer zum Lachen aufzufordern schien. Sein kleiner gedrungener SchŠdel war mit krausen schwarzen Haaren reich besetzt, sein Bart frŸhzeitig blau, den er gar zu gern hŠtte wachsen lassen, um als komische Maske die Gesellschaft immer im Lachen zu erhalten. †brigens war er nett und behend, behauptete aber krumme Beine zu haben, welches man ihm zugab, weil er es gern so wollte, worŸber denn mancher Scherz entstand: denn weil er als ein sehr guter TŠnzer gesucht wurde, so rechnete er es unter die Eigenheiten des Frauenzimmers, da§ sie die krummen Beine immer auf dem Plane sehen wollten. Seine Heiterkeit war unverwŸstlich und seine Gegenwart bei jeder Zusammenkunft unentbehrlich. Wir beide schlossen uns um so enger an einander, als er mir auf die Akademie folgen sollte; und er verdient wohl, da§ ich seiner in allen Ehren gedenke, da er viele Jahre mit unendlicher Liebe, Treue und Geduld an mir gehalten hat.

Durch meine Leichtigkeit, zu reimen und gemeinen GegenstŠnden eine poetische Seite abzugewinnen, hatte er sich gleichfalls zu solchen Arbeiten verfŸhren lassen. Unsere kleinen geselligen Reisen, Lustpartien und die dabei vorkommenden ZufŠlligkeiten stutzten wir poetisch auf, und so entstand durch die Schilderung einer Begebenheit immer eine neue Begebenheit. Weil aber gewšhnlich dergleichen gesellige Scherze auf Verspottung hinauslaufen, und Freund Horn mit seinen burlesken Darstellungen nicht immer in den gehšrigen Grenzen blieb, so gab es manchmal Verdru§, der aber bald wieder gemildert und getilgt werden konnte.


So versuchte er sich auch in einer Dichtungsart, welche sehr an der Tagesordnung war, im komischen Heldengedicht. Popes "Lockenraub" hatte viele Nachahmungen erweckt; ZachariŠ kultivierte diese Dichtart auf deutschem Grund und Boden, und jedermann gefiel sie, weil der gewšhnliche Gegenstand derselben irgend ein lŠppischer Mensch war, den die Genien zum besten hatten, indem sie den besseren begŸnstigten.

Es ist nicht wunderbar, aber es erregt doch Verwunderung, wenn man bei Betrachtung einer Literatur, besonders der deutschen, beobachtet, wie eine ganze Nation von einem einmal gegebenen und in einer gewissen Form mit GlŸck behandelten Gegenstand nicht wieder loskommen kann, sondern ihn auf alle Weise wiederholt haben will; da denn zuletzt, unter den angehŠuften Nachahmungen, das Original selbst verdeckt und erstickt wird.

Das Heldengedicht meines Freundes war ein Beleg zu dieser Bemerkung. Bei einer gro§en Schlittenfahrt wird einem tŠppischen Menschen ein Frauenzimmer zuteil, das ihn nicht mag; ihm begegnet neckisch genug ein UnglŸck nach dem andern, das bei einer solchen Gelegenheit sich ereignen kann, bis er zuletzt, als er sich das Schlittenrecht erbittet, von der Pritsche fŠllt, wobei ihm denn, wie natŸrlich, die Geister ein Bein gestellt haben. Die Schšne ergreift die ZŸgel und fŠhrt allein nach Hause; ein begŸnstigter Freund empfŠngt sie und triumphiert Ÿber den anma§lichen Nebenbuhler. †brigens war es sehr artig ausgedacht, wie ihn die vier verschiedenen Geister nach und nach beschŠdigen, bis ihn endlich die Gnomen gar aus dem Sattel heben. Das Gedicht, in Alexandrinern geschrieben, auf eine wahre Geschichte gegrŸndet, ergetzte unser kleines Publikum gar sehr, und man war Ÿberzeugt, da§ es sich mit der "Walpurgisnacht" von Lšwen oder dem "Renommisten" von ZachariŠ gar wohl messen kšnne.

Indem nun unsere geselligen Freuden nur einen Abend und die Vorbereitungen dazu wenige Stunden erforderten, so hatte ich Zeit genug zu lesen und, wie ich glaubte, zu studieren. Meinem Vater zu Liebe repetierte ich flei§ig den Kleinen Hoppe,


und konnte mich vorwŠrts und rŸckwŠrts darin examinieren lassen, wodurch ich mir denn den Hauptinhalt der "Institutionen" vollkommen zu eigen machte. Allein unruhige Wi§begierde trieb mich weiter, ich geriet in die Geschichte der alten Literatur und von da in einen EnzyklopŠdismus, indem ich Gesners "Isagoge" und Morhofs "Polyhistor" durchlief, und mir dadurch einen allgemeinen Begriff erwarb, wie manches Wunderliche in Lehr und Leben schon mochte vorgekommen sein. Durch diesen anhaltenden und hastigen, Tag und Nacht fortgesetzten Flei§ verwirrte ich mich eher, als ich mich bildete; ich verlor mich aber in ein noch grš§eres Labyrinth, als ich Baylen in meines Vaters Bibliothek fand und mich in denselben vertiefte.

Eine HauptŸberzeugung aber, die sich immer in mir erneuerte, war die Wichtigkeit der alten Sprachen: denn so viel drŠngte sich mir aus dem literarischen Wirrwarr immer wieder entgegen, da§ in ihnen alle Muster der RedekŸnste und zugleich alles andere WŸrdige, was die Welt jemals besessen, aufbewahrt sei. Das HebrŠische sowie die biblischen Studien waren in den Hintergrund getreten, das Griechische gleichfalls, da meine Kenntnisse desselben sich nicht Ÿber das Neue Testament hinaus erstreckten. Desto ernstlicher hielt ich mich ans Lateinische, dessen Musterwerke uns nŠher liegen und das uns, nebst so herrlichen Originalproduktionen, auch den Ÿbrigen Erwerb aller Zeiten in †bersetzungen und Werken der grš§ten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in dieser Sprache mit gro§er Leichtigkeit, und durfte glauben die Autoren zu verstehen, weil mir am buchstŠblichen Sinne nichts abging. Ja, es verdro§ mich gar sehr, als ich vernahm, Grotius habe ŸbermŸtig geŠu§ert, er lese den Terenz anders als die Knaben. GlŸckliche BeschrŠnkung der Jugend! ja der Menschen Ÿberhaupt, da§ sie sich in jedem Augenblicke ihres Daseins fŸr vollendet halten kšnnen, und weder nach Wahrem noch Falschem, weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern blo§ nach dem, was ihnen gemŠ§ ist.

So hatte ich denn das Lateinische gelernt wie das Deut-


sche, das Franzšsische, das Englische, nur aus dem Gebrauch, ohne Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zustand des Schulunterrichts kennt, wird nicht seltsam finden, da§ ich die Grammatik Ÿbersprang, sowie die Redekunst: mir schien alles natŸrlich zuzugehen, ich behielt die Worte, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr und Sinn, und bediente mich der Sprache mit Leichtigkeit zum Schreiben und SchwŠtzen.

Michael, die Zeit, da ich die Akademie besuchen sollte, rŸckte heran, und mein Inneres ward ebenso sehr vom Leben als von der Lehre bewegt. Eine Abneigung gegen meine Vaterstadt ward mir immer deutlicher. Durch Gretchens Entfernung war der Knaben - und JŸnglingspflanze das Herz ausgebrochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen und den ersten Schaden durch neues Wachstum zu Ÿberwinden. Meine Wanderungen durch die Stra§en hatten aufgehšrt, ich ging nur, wie andere, die notwendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam ich nie wieder, nicht einmal in die Gegend; und wie mir meine alten Mauern und TŸrme nach und nach verleideten, so mi§fiel mir auch die Verfassung der Stadt, alles, was mir sonst so ehrwŸrdig vorkam, erschien mir in verschobenen Bildern. Als Enkel des Schulthei§en waren mir die heimlichen Gebrechen einer solchen Republik nicht unbekannt geblieben, um so weniger, als Kinder ein ganz eignes Erstaunen fŸhlen und zu emsigen Untersuchungen angereizt werden, sobald ihnen etwas, das sie bisher unbedingt verehrt, einigerma§en verdŠchtig wird. Der vergebliche Verdru§ rechtschaffener MŠnner im Widerstreit mit solchen, die von Parteien zu gewinnen, wohl gar zu bestechen sind, war mir nur zu deutlich geworden, ich ha§te jede Ungerechtigkeit Ÿber die Ma§en: denn die Kinder sind alle moralische Rigoristen. Mein Vater, in die Angelegenheiten der Stadt nur als Privatmann verflochten, Šu§erte sich im Verdru§ Ÿber manches Mi§lungene sehr lebhaft. Und sah ich ihn nicht, nach so viel Studien, BemŸhungen, Reisen und mannigfaltiger Bildung, endlich zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben fŸhren, wie ich mir es nicht wŸnschen konnte? Dies zu-


sammen lag als eine entsetzliche Last auf meinem GemŸte, von der ich mich nur zu befreien wu§te, indem ich mir einen ganz anderen Lebensplan, als den mir vorgeschriebenen, zu ersinnen trachtete. Ich warf in Gedanken die juristischen Studien weg und widmete mich allein den Sprachen, den AltertŸmern, der Geschichte und allem, was daraus hervorquillt.

Zwar machte mir jederzeit die poetische Nachbildung dessen, was ich an mir selbst, an anderen und an der Natur gewahr geworden, das grš§te VergnŸgen. Ich tat es mit immer wachsender Leichtigkeit, weil es aus Instinkt geschah und keine Kritik mich irre gemacht hatte; und wenn ich auch meinen Produktionen nicht recht traute, so konnte ich sie wohl als fehlerhaft, aber nicht als ganz verwerflich ansehen. Ward mir dieses oder jenes daran getadelt, so blieb es doch im stillen meine †berzeugung, da§ es nach und nach immer besser werden mŸ§te, und da§ ich wohl einmal neben Hagedorn, Gellert und anderen solchen MŠnnern mit Ehre dŸrfte genannt werden. Aber eine solche Bestimmung allein schien mir allzu leer und unzulŠnglich; ich wollte mich mit Ernst zu jenen grŸndlichen Studien bekennen, und, indem ich, bei einer vollstŠndigeren Ansicht des Altertums, in meinen eigenen Werken rascher vorzuschreiten dachte, mich zu einer akademischen Lehrstelle fŠhig machen, welche mir das WŸnschenswerteste schien fŸr einen jungen Mann, der sich selbst auszubilden und zur Bildung anderer beizutragen gedachte.

Bei diesen Gesinnungen hatte ich immer Gšttingen im Auge. Auf MŠnnern wie Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren FŸ§en zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich. Was auch einige Hausfreunde, die meiner Meinung waren, auf ihn zu wirken suchten: er bestand darauf, da§ ich nach Leipzig gehen mŸsse. Nun hielt ich den Entschlu§, da§ ich, gegen seine Gesinnungen und Willen, eine eigne Studien- und Lebensweise ergreifen wollte, erst recht fŸr Notwehr. Die HartnŠckigkeit meines Vaters, der, ohne es zu wissen, sich meinen PlŠnen ent-


gegensetzte, bestŠrkte mich in meiner ImpietŠt, da§ ich mir gar kein Gewissen daraus machte, ihm Stunden lang zuzuhšren, wenn er mir den Kursus der Studien und des Lebens, wie ich ihn auf Akademien und in der Welt zu durchlaufen hŠtte, vorerzŠhlte und wiederholte.

Da mir alle Hoffnung nach Gšttingen abgeschnitten war, wendete ich nun meinen Blick nach Leipzig. Dort erschien mir Ernesti als ein helles Licht, auch Morus erregte schon viel Vertrauen. Ich ersann mir im stillen einen Gegenkursus, oder vielmehr ich baute ein Luftschlo§ auf einen ziemlich soliden Grund; und es schien mir sogar romantisch ehrenvoll, sich seine eigne Lebensbahn vorzuzeichnen, die mir um so weniger phantastisch vorkam, als Griesbach auf dem Šhnlichen Wege schon gro§e Fortschritte gemacht hatte und deshalb von jedermann gerŸhmt wurde. Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelšst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht grš§er sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober herannahen sah. Die unfreundliche Jahreszeit, die bšsen Wege, von denen jedermann zu erzŠhlen wu§te, schreckten mich nicht. Der Gedanke, an einem fremden Orte zu Winterszeit Einstand geben zu mŸssen, machte mich nicht trŸbe; genug, ich sah nur meine gegenwŠrtigen VerhŠltnisse dŸster, und stellte mir die Ÿbrige unbekannte Welt licht und heiter vor. So bildete ich mir meine TrŠume, denen ich ausschlie§lich nachhing, und versprach mir in der Ferne nichts als GlŸck und Zufriedenheit.

So sehr ich auch gegen jedermann von diesen meinen VorsŠtzen ein Geheimnis machte, so konnte ich sie doch meiner Schwester nicht verbergen, die, nachdem sie anfangs darŸber sehr erschrocken war, sich zuletzt beruhigte, als ich ihr versprach sie nachzuholen, damit sie sich meines erworbenen glŠnzenden Zustandes mit mir erfreuen und an meinem Wohlbehagen teilnehmen kšnnte.

Michael kam endlich, sehnlich erwartet, heran, da ich denn mit dem BuchhŠndler Fleischer und dessen Gattin, einer ge-


borenen Triller, welche ihren Vater in Wittenberg besuchen wollte, mit VergnŸgen abfuhr, und die werte Stadt, die mich geboren und erzogen, gleichgŸltig hinter mir lie§, als wenn ich sie nie wieder betreten wollte.

So lšsen sich in gewissen Epochen Kinder von Eltern, Diener von Herren, BegŸnstigte von Gšnnern los, und ein solcher Versuch, sich auf seine FŸ§e zu stellen, sich unabhŠngig zu machen, fŸr sein eigen Selbst zu leben, er gelinge oder nicht, ist immer dem Willen der Natur gemŠ§.

Wir waren zur Allerheiligenpforte hinausgefahren und hatten bald Hanau hinter uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die durch ihre Neuheit meine Aufmerksamkeit erregten, wenn sie auch in der jetzigen Jahrszeit wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender Regen hatte die Wege Šu§erst verdorben, welche Ÿberhaupt noch nicht in den guten Stand gesetzt waren, in welchem wir sie nachmals finden; und unsere Reise war daher weder angenehm noch glŸcklich. Doch verdankte ich dieser feuchten Witterung den Anblick eines NaturphŠnomens, das wohl hšchst selten sein mag; denn ich habe nichts €hnliches jemals wieder gesehen, noch auch von anderen, da§ sie es gewahrt hŠtten, vernommen. Wir fuhren nŠmlich zwischen Hanau und Gelnhausen bei Nachtzeit eine Anhšhe hinauf, und wollten, ob es gleich finster war, doch lieber zu Fu§e gehen, als uns der Gefahr und Beschwerlichkeit dieser Wegstrecke aussetzen. Auf einmal sah ich an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe, eine Art von wundersam erleuchtetem Amphitheater. Es blinkten nŠmlich in einem trichterfšrmigen Raume unzŠhlige Lichtchen stufenweise Ÿber einander, und leuchteten so lebhaft, da§ das Auge davon geblendet wurde. Was aber den Blick noch mehr verwirrte, war, da§ sie nicht etwa still sa§en, sondern hin und wider hŸpften, sowohl von oben nach unten, als umgekehrt und nach allen Seiten. Die meisten jedoch blieben ruhig und flimmerten fort. Nur hšchst ungern lie§ ich mich von diesem Schauspiel abrufen, das ich genauer zu beobachten gewŸnscht hŠtte. Auf Befragen wollte der Postillon zwar von einer solchen Er-


scheinung nichts wissen, sagte aber, da§ in der NŠhe sich ein alter Steinbruch befinde, dessen mittlere Vertiefung mit Wasser angefŸllt sei. Ob dieses nun ein PandŠmonium von Irrlichtern oder eine Gesellschaft von leuchtenden Geschšpfen gewesen, will ich nicht entscheiden.

Durch ThŸringen wurden die Wege noch schlimmer, und leider blieb unser Wagen in der Gegend von AuerstŠdt bei einbrechender Nacht stecken. Wir waren von allen Menschen entfernt, und taten das mšgliche, uns los zu arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich mit Eifer anzustrengen, und mochte mir dadurch die BŠnder der Brust ŸbermŠ§ig ausgedehnt haben; denn ich empfand bald nachher einen Schmerz, der verschwand und wiederkehrte und erst nach vielen Jahren mich všllig verlie§.

Doch sollte ich noch in derselbigen Nacht, als wenn sie recht zu abwechselnden Schicksalen bestimmt gewesen wŠre, nach einem unerwartet glŸcklichen Ereignis einen neckischen Verdru§ empfinden. Wir trafen nŠmlich in AuerstŠdt ein vornehmes Ehepaar, das, durch Šhnliche Schicksale verspŠtet, eben auch erst angekommen war; einen ansehnlichen wŸrdigen Mann in den besten Jahren mit einer sehr schšnen Gemahlin. Zuvorkommend veranla§ten sie uns, in ihrer Gesellschaft zu speisen, und ich fand mich sehr glŸcklich, als die treffliche Dame ein freundliches Wort an mich wenden wollte. Als ich aber hinausgesandt ward, die gehoffte Suppe zu beschleunigen, Ÿberfiel mich, der ich freilich des Wachens und der Reisebeschwerden nicht gewohnt war, eine so unŸberwindliche Schlafsucht, da§ ich ganz eigentlich im Gehen schlief, mit dem Hut auf dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich, ohne zu bemerken, da§ die anderen ihr Tischgebet verrichteten, bewu§tlos gelassen gleichfalls hinter den Stuhl stellte, und mir nicht trŠumen lie§, da§ ich durch mein Betragen ihre Andacht auf eine sehr lustige Weise zu stšren gekommen sei. Madame Fleischer, der es weder an Geist und Witz, noch an Zunge fehlte, ersuchte die Fremden, noch ehe man sich setzte, sie mšchten nicht auffallend finden, was sie


hier mit Augen sŠhen; der junge ReisegefŠhrte habe gro§e Anlage zum QuŠker, welche Gott und den Kšnig nicht besser zu verehren glaubten, als mit bedecktem Haupte. Die schšne Dame, die sich des Lachens nicht enthalten konnte, ward dadurch nur noch schšner, und ich hŠtte alles in der Welt darum gegeben, nicht Ursache an einer Heiterkeit gewesen zu sein, die ihr so fŸrtrefflich zu Gesicht stand. Ich hatte jedoch den Hut kaum beiseitegebracht, als die Personen, nach ihrer Weltsitte, den Scherz sogleich fallen lie§en, und durch den besten Wein aus ihrem Flaschenkeller Schlaf, Mi§mut und das Andenken an alle vergangenen †bel všllig auslšschten.

Als ich in Leipzig ankam, war es gerade Me§zeit, woraus mir ein besonderes VergnŸgen entsprang: denn ich sah hier die Fortsetzung eines vaterlŠndischen Zustandes vor mir, bekannte Waren und VerkŠufer, nur an anderen PlŠtzen und in einer anderen Folge. Ich durchstrich den Markt und die Buden mit vielem Anteil; besonders aber zogen meine Aufmerksamkeit an sich, in ihren seltsamen Kleidern, jene Bewohner der šstlichen Gegenden, die Polen und Russen, vor allen aber die Griechen, deren ansehnlichen Gestalten und wŸrdigen Kleidungen ich gar oft zu Gefallen ging.

Diese lebhafte Bewegung war jedoch bald vorŸber, und nun trat mir die Stadt selbst mit ihren schšnen, hohen und unter einander gleichen GebŠuden entgegen. Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich, und es ist nicht zu leugnen, da§ sie Ÿberhaupt, besonders aber in stillen Momenten der Sonn- und Feiertage, etwas Imposantes hat, so wie denn auch im Mondschein die Stra§en, halb beschattet, halb erleuchtet, mich oft zu nŠchtlichen Promenaden einluden.

Indessen genŸgte mir gegen das, was ich bisher gewohnt war, dieser neue Zustand keineswegs. Leipzig ruft dem Beschauer keine altertŸmliche Zeit zurŸck; es ist eine neue, kurz vergangene, von HandelstŠtigkeit, Wohlhabenheit, Reichtum zeugende Epoche, die sich uns in diesen Denkmalen ankŸndet. Jedoch ganz nach meinem Sinn waren die mir ungeheuer scheinenden GebŠude, die, nach zwei Stra§en ihr Gesicht wen-


dend, in gro§en, himmelhoch umbauten HofrŠumen eine bŸrgerliche Welt umfassend, gro§en Burgen, ja HalbstŠdten Šhnlich sind. In einem dieser seltsamen RŠume quartierte ich mich ein, und zwar in der "Feuerkugel" zwischen dem Alten und Neuen Neumarkt. Ein paar artige Zimmer, die in den Hof sahen, der wegen des Durchgangs nicht unbelebt war, bewohnte der BuchhŠndler Fleischer wŠhrend der Messe, und ich fŸr die Ÿbrige Zeit um einen leidlichen Preis. Als Stubennachbarn fand ich einen Theologen, der in seinem Fache grŸndlich unterrichtet, wohldenkend, aber arm war, und, was ihm gro§e Sorge fŸr die Zukunft machte, sehr an den Augen litt. Er hatte sich dieses †bel durch ŸbermŠ§iges Lesen bis in die tiefste DŠmmerung, ja sogar, um das wenige zu ersparen, bei Mondschein zugezogen. Unsere alte Wirtin erzeigte sich wohltŠtig gegen ihn, gegen mich jederzeit freundlich, und gegen beide sorgsam.

Nun eilte ich mit meinem Empfehlungsschreiben zu Hofrat Bšhme, der, ein Zšgling von Mascov, nunmehr sein Nachfolger, Geschichte und Staatsrecht lehrte. Ein kleiner, untersetzter, lebhafter Mann empfing mich freundlich genug und stellte mich seiner Gattin vor. Beide, sowie die Ÿbrigen Personen, denen ich aufwartete, gaben mir die beste Hoffnung wegen meines kŸnftigen Aufenthaltes; doch lie§ ich mich anfangs gegen niemand merken, was ich im Schilde fŸhrte, ob ich gleich den schicklichen Moment kaum erwarten konnte, wo ich mich von der Jurisprudenz frei und dem Studium der Alten verbunden erklŠren wollte. Vorsichtig wartete ich ab, bis Fleischers wieder abgereist waren, damit mein Vorsatz nicht allzu geschwind den Meinigen verraten wŸrde. Sodann aber ging ich ohne Anstand zu Hofrat Bšhmen, dem ich vor allen die Sache glaubte vertrauen zu mŸssen, und erklŠrte ihm, mit vieler Konsequenz und Parrhesie, meine Absicht. Allein ich fand keineswegs eine gute Aufnahme meines Vortrags. Als Historiker und Staatsrechtler hatte er einen erklŠrten Ha§ gegen alles, was nach schšnen Wissenschaften schmeckte. UnglŸcklicherweise stand er mit denen, welche sie kultivierten,


nicht im besten Vernehmen, und Gellerten besonders, fŸr den ich, ungeschickt genug, viel Zutrauen geŠu§ert hatte, konnte er nun gar nicht leiden. Jenen MŠnnern also einen treuen Zuhšrer zuzuweisen, sich selbst aber einen zu entziehen, und noch dazu unter solchen UmstŠnden, schien ihm ganz und gar unzulŠssig. Er hielt mir daher aus dem Stegreif eine gewaltige Strafpredigt, worin er beteuerte, da§ er ohne Erlaubnis meiner Eltern einen solchen Schritt nicht zugeben kšnne, wenn er ihn auch, wie hier der Fall nicht sei, selbst billigte. Er verunglimpfte darauf leidenschaftlich Philologie und Sprachstudien, noch mehr aber die poetischen †bungen, die ich freilich im Hintergrunde hatte durchblicken lassen. Er schlo§ zuletzt, da§, wenn ich ja dem Studium der Alten mich nŠhern wolle, solches viel besser auf dem Wege der Jurisprudenz geschehen kšnne. Er brachte mir so manchen eleganten Juristen, Everhard Otto und Heineccius, ins GedŠchtnis, versprach mir von den ršmischen AltertŸmern und der Rechtsgeschichte goldne Berge, und zeigte mir sonnenklar, da§ ich hier nicht einmal einen Umweg mache, wenn ich auch spŠterhin noch jenen Vorsatz, nach reiferer †berlegung und mit Zustimmung meiner Eltern, auszufŸhren gedŠchte. Er ersuchte mich freundlich, die Sache nochmals zu Ÿberlegen und ihm meine Gesinnungen bald zu eršffnen, weil es nštig sei, wegen bevorstehenden Anfangs der Kollegien, sich zunŠchst zu entschlie§en.

Es war noch ganz artig von ihm, nicht auf der Stelle in mich zu dringen. Seine Argumente und das Gewicht, womit er sie vortrug, hatten meine biegsame Jugend schon Ÿberzeugt, und ich sah nun erst die Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten einer Sache, die ich mir im stillen so tulich ausgebildet hatte. Frau Hofrat Bšhme lie§ mich kurz darauf zu sich einladen. Ich fand sie allein. Sie war nicht mehr jung und sehr krŠnklich, unendlich sanft und zart, und machte gegen ihren Mann, dessen GutmŸtigkeit sogar polterte, einen entschiedenen Kontrast. Sie brachte mich auf das von ihrem Manne neulich gefŸhrte GesprŠch, und stellte mir die Sache nochmals so freundlich, liebevoll und verstŠndig im ganzen Umfange vor,


da§ ich mich nicht enthalten konnte nachzugeben; die wenigen Reservationen, auf denen ich bestand, wurden von jener Seite denn auch bewilligt.

Der Gemahl regulierte darauf meine Stunden: da sollte ich denn Philosophie, Rechtsgeschichte und Institutionen und noch einiges andere hšren. Ich lie§ mir das gefallen; doch setzte ich durch, Gellerts Literargeschichte Ÿber Stockhausen und au§erdem sein Praktikum zu frequentieren.

Die Verehrung und Liebe, welche Gellert von allen jungen Leuten geno§, war au§erordentlich. Ich hatte ihn schon besucht und war freundlich von ihm aufgenommen worden. Nicht gro§ von Gestalt, zierlich aber nicht hager, sanfte, eher traurige Augen, eine sehr schšne Stirn, eine nicht Ÿbertriebene Habichtsnase, ein feiner Mund, ein gefŠlliges Oval des Gesichts: alles machte seine Gegenwart angenehm und wŸnschenswert. Es kostete einige MŸhe, zu ihm zu gelangen. Seine zwei Famuli schienen Priester, die ein Heiligtum bewahren, wozu nicht jedem, noch zu jeder Zeit, der Zutritt erlaubt ist; und eine solche Vorsicht war wohl notwendig: denn er wŸrde seinen ganzen Tag aufgeopfert haben, wenn er alle die Menschen, die sich ihm vertraulich zu nŠhern gedachten, hŠtte aufnehmen und befriedigen wollen.

Meine Kollegia besuchte ich anfangs emsig und treulich; die Philosophie wollte mich jedoch keineswegs aufklŠren. In der Logik kam es mir wunderlich vor, da§ ich diejenigen Geistesoperationen, die ich von Jugend auf mit der grš§ten Bequemlichkeit verrichtete, so aus einander zerren, vereinzelnen und gleichsam zerstšren sollte, um den rechten Gebrauch derselben einzusehen. Von dem Dinge, von der Welt, von Gott glaubte ich ungefŠhr so viel zu wissen als der Lehrer selbst, und es schien mir an mehr als einer Stelle gewaltig zu hapern. Doch ging alles noch in ziemlicher Folge bis gegen Fastnacht, wo in der NŠhe des Professor Winckler auf dem Thomasplan, gerade um die Stunde, die kšstlichsten KrŠpfel hei§ aus der Pfanne kamen, welche uns denn dergestalt verspŠteten, da§ unsere Hefte locker wurden, und das Ende derselben gegen


das FrŸhjahr mit dem Schnee zugleich verschmolz und sich verlor.

Mit den juristischen Kollegien ward es bald ebenso schlimm: denn ich wu§te gerade schon so viel, als uns der Lehrer zu Ÿberliefern fŸr gut fand. Mein erst hartnŠckiger Flei§ im Nachschreiben wurde nach und nach gelŠhmt, indem ich es hšchst langweilig fand, dasjenige nochmals aufzuzeichnen, was ich bei meinem Vater, teils fragend, teils antwortend, oft genug wiederholt hatte, um es fŸr immer im GedŠchtnis zu behalten. Der Schaden, den man anrichtet, wenn man junge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu weit fŸhrt, hat sich spŠterhin noch mehr ergeben, da man den SprachŸbungen und der BegrŸndung in dem, was eigentliche Vorkenntnisse sind, Zeit und Aufmerksamkeit abbrach, um sie an sogenannte RealitŠten zu wenden, welche mehr zerstreuen als bilden, wenn sie nicht methodisch und vollstŠndig Ÿberliefert werden.

Noch ein anderes †bel, wodurch Studierende sehr bedrŠngt sind, erwŠhne ich hier beilŠufig. Professoren, so gut wie andere in €mtern angestellte MŠnner, kšnnen nicht alle von einem Alter sein; da aber die jŸngeren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn sie gute Kšpfe sind, dem Zeitalter voreilen, so erwerben sie ihre Bildung durchaus auf Unkosten der Zuhšrer, weil diese nicht in dem unterrichtet werden, was sie eigentlich brauchen, sondern in dem, was der Lehrer fŸr sich zu bearbeiten nštig findet. Unter den Šltesten Professoren dagegen sind manche schon lange Zeit stationŠr; sie Ÿberliefern im ganzen nur fixe Ansichten, und, was das einzelne betrifft, vieles, was die Zeit schon als unnŸtz und falsch verurteilt hat. Durch beides entsteht ein trauriger Konflikt, zwischen welchem junge Geister hin und her gezerrt werden, und welcher kaum durch die Lehrer des mittleren Alters, die, obschon genugsam unterrichtet und gebildet, doch immer noch ein tŠtiges Streben zum Wissen und Nachdenken bei sich empfinden, ins gleiche gebracht werden kann.

Wie ich nun auf diesem Wege viel mehreres kennen als zurechte legen lernte, wodurch sich ein immer wachsendes Mi§-


behagen in mir hervordrang, so hatte ich auch vom Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie man denn, wenn man den Ort verŠndert und in neue VerhŠltnisse tritt, immer Einstand geben mu§. Das erste, was die Frauen an mir tadelten, bezog sich auf die Kleidung; denn ich war vom Hause freilich etwas wunderlich equipiert auf die Akademie gelangt.

Mein Vater, dem nichts so sehr verha§t war, als wenn etwas vergeblich geschah, wenn jemand seine Zeit nicht zu brauchen wu§te, oder sie zu benutzen keine Gelegenheit fand, trieb seine …konomie mit Zeit und KrŠften so weit, da§ ihm nichts mehr VergnŸgen machte, als zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er hatte deswegen niemals einen Bedienten, der nicht im Hause zu noch etwas nŸtzlich gewesen wŠre. Da er nun von jeher alles mit eigener Hand schrieb und spŠter die Bequemlichkeit hatte, jenem jungen Hausgenossen in die Feder zu diktieren, so fand er am vorteilhaftesten, Schneider zu Bedienten zu haben, welche die Stunden gut anwenden mu§ten, indem sie nicht allein ihre Livreien, sondern auch die Kleider fŸr Vater und Kinder zu fertigen, nicht weniger alles Flickwerk zu besorgen hatten. Mein Vater war selbst um die besten TŸcher und Zeuge bemŸht, indem er auf den Messen von auswŠrtigen Handelsherren feine Ware bezog und sie in seinen Vorrat legte; wie ich mich denn noch recht wohl erinnere, da§ er die Herrn von Loewenich von Aachen jederzeit besuchte, und mich von meiner frŸhesten Jugend an mit diesen und anderen vorzŸglichen Handelsherren bekannt machte.

FŸr die TŸchtigkeit des Zeugs war also gesorgt und genugsamer Vorrat verschiedener Sorten TŸcher, Sarschen, Gšttinger Zeug, nicht weniger das nštige Unterfutter vorhanden, so da§ wir, dem Stoff nach, uns wohl hŠtten dŸrfen sehen lassen; aber die Form verdarb meist alles: denn wenn ein solcher Hausschneider allenfalls ein guter Geselle gewesen wŠre, um einen meisterhaft zugeschnittenen Rock wohl zu nŠhen und zu fertigen, so sollte er nun auch das Kleid selbst zuschneiden, und dieses geriet nicht immer zum besten. Hiezu kam


noch, da§ mein Vater alles, was zu seinem Anzuge gehšrte, sehr gut und reinlich hielt und viele Jahre mehr bewahrte als benutzte, daher eine Vorliebe fŸr gewissen alten Zuschnitt und Verzierungen trug, wodurch unser Putz mitunter ein wunderliches Ansehen bekam.

Auf eben diesem Wege hatte man auch meine Garderobe, die ich mit auf die Akademie nahm, zustande gebracht; sie war recht vollstŠndig und ansehnlich und sogar ein Tressenkleid darunter. Ich, diese Art von Aufzug schon gewohnt, hielt mich fŸr geputzt genug; allein es wŠhrte nicht lange, so Ÿberzeugten mich meine Freundinnen, erst durch leichte Neckereien, dann durch vernŸnftige Vorstellungen, da§ ich wie aus einer fremden Welt hereingeschneit aussehe. So viel Verdru§ ich auch hierŸber empfand, sah ich doch anfangs nicht, wie ich mir helfen sollte. Als aber Herr von Masuren, der so beliebte poetische Dorfjunker, einst auf dem Theater in einer Šhnlichen Kleidung auftrat, und mehr wegen seiner Šu§eren als inneren Abgeschmacktheit herzlich belacht wurde, fa§te ich Mut und wagte, meine sŠmtliche Garderobe gegen eine neumodische, dem Ort gemŠ§e auf einmal umzutauschen, wodurch sie aber freilich sehr zusammenschrumpfte.

Nach dieser Ÿberstandenen PrŸfung sollte abermals eine neue eintreten, welche mir weit unangenehmer auffiel, weil sie eine Sache betraf, die man nicht so leicht ablegt und umtauscht.

Ich war nŠmlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befli§ und uns Kinder auf das, was man wirklich MŠngel jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer NaivetŠt wegen gefielen, mit Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen MitbŸrgern jedesmal einen strengen Verweis zuzog. Der Oberdeutsche nŠmlich, und vielleicht vorzŸglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt (denn gro§e FlŸsse haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes),


drŸckt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer inneren menschenverstŠndigen TŸchtigkeit bedient er sich sprŸchwšrtlicher Redensarten. In beiden FŠllen ist er šfters derb, doch, wenn man auf den Zweck des Ausdruckes sieht, immer gehšrig; nur mag freilich manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr sich anstš§ig erweist.

Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schšpft. Mit welchem Eigensinn aber die mei§nische Mundart die Ÿbrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschlie§en gewu§t hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sŠmtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger lebhafter Mensch unter diesem bestŠndigen Hofmeistern ausgestanden habe, wird derjenige leicht ermessen, der bedenkt, da§ nun mit der Aussprache, in deren VerŠnderung man sich endlich wohl ergŠbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, GefŸhl, vaterlŠndischer Charakter sollten aufgeopfert werden. Und diese unertrŠgliche Forderung wurde von gebildeten MŠnnern und Frauen gemacht, deren †berzeugung ich mir nicht zueignen konnte, deren Unrecht ich zu empfinden glaubte, ohne mir es deutlich machen zu kšnnen. Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger ChronikenausdrŸcke. Ich sollte vergessen, da§ ich den Geiler von Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der SprŸchwšrter entbehren, die doch, statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf treffen; alles dies, das ich mir mit jugendlicher Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen, ich fŸhlte mich in meinem Innersten paralysiert und wu§te kaum mehr, wie ich mich Ÿber die gemeinsten Dinge zu Šu§ern hatte. Daneben hšrte ich, man solle reden wie man schreibt, und schreiben wie man spricht; da mir Reden und Schreiben ein fŸr allemal zweierlei Dinge schienen, von denen jedes wohl seine eignen Rechte behaupten mšchte. Und hatte ich doch auch im Mei§ner Dialekt man-


ches zu hšren, was sich auf dem Papier nicht sonderlich wŸrde ausgenommen haben.

Jedermann, der hier vernimmt, welchen Einflu§ auf einen jungen Studierenden gebildete MŠnner und Frauen, Gelehrte und sonst in einer feinen SozietŠt sich gefallende Personen so entschieden ausŸben, wŸrde, wenn es auch nicht ausgesprochen wŠre, sich sogleich Ÿberzeugt halten, da§ wir uns in Leipzig befinden. Jede der deutschen Akademien hat eine besondere Gestalt: denn weil in unserem Vaterlande keine allgemeine Bildung durchdringen kann, so beharrt jeder Ort auf seiner Art und Weise und treibt seine charakteristischen Eigenheiten bis aufs letzte, eben dieses gilt von den Akademien. In Jena und Halle war die Roheit aufs hšchste gestiegen, kšrperliche StŠrke, Fechtergewandtheit, die wildeste SelbsthŸlfe war dort an der Tagesordnung; und ein solcher Zustand kann sich nur durch den gemeinsten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen. Das VerhŠltnis der Studierenden zu den Einwohnern jener StŠdte, so verschieden es auch sein mochte, kam doch darin Ÿberein, da§ der wilde Fremdling keine Achtung vor dem BŸrger hatte und sich als ein eignes, zu aller Freiheit und Frechheit privilegiertes Wesen ansah. Dagegen konnte in Leipzig ein Student kaum anders als galant sein, sobald er mit reichen, wohl und genau gesitteten Einwohnern in einigem Bezug stehen wollte.

Alle Galanterie freilich, wenn sie nicht als BlŸte einer gro§en und weiten Lebensweise hervortritt, mu§ beschrŠnkt stationŠr und aus gewissen Gesichtspunkten vielleicht albern erscheinen; und so glaubten jene wilden JŠger von der Saale Ÿber die zahmen SchŠfer an der Plei§e ein gro§es †bergewicht zu haben. ZachariŠs "Renommist" wird immer ein schŠtzbares Dokument bleiben, woraus die damalige Lebens - und Sinnesart anschaulich hervortritt; wie Ÿberhaupt seine Gedichte jedem willkommen sein mŸssen, der sich einen Begriff von dem zwar schwachen, aber wegen seiner Unschuld und Kindlichkeit liebenswŸrdigen Zustande des damaligen geselligen Lebens und Wesens machen will.


Alle Sitten, die aus einem gegebenen VerhŠltnis eines gemeinen Wesens entspringen, sind unverwŸstlich, und zu meiner Zeit erinnerte noch manches an ZachariŠs Heldengedicht. Ein einziger unserer akademischen MitbŸrger hielt sich fŸr reich und unabhŠngig genug, der šffentlichen Meinung ein Schnippchen zu schlagen. Er trank SchwŠgerschaft mit allen Lohnkutschern, die er, als wŠren's die Herren, sich in die Wagen setzen lie§ und selbst vom Bocke fuhr, sie einmal umzuwerfen fŸr einen gro§en Spa§ hielt, die zerbrochenen Halbchaisen, sowie die zufŠlligen Beulen zu vergŸten wu§te, Ÿbrigens aber niemanden beleidigte, sondern nur das Publikum in Masse zu verhšhnen schien. Einst bemŠchtigte er und ein Spie§gesell sich, am schšnsten Promenadentage, der Esel des ThomasmŸllers, sie ritten wohl gekleidet, in Schuhen und StrŸmpfen mit dem grš§ten Ernst um die Stadt, angestaunt von allen SpaziergŠngern, wo von denen das Glacis wimmelte. Als ihm einige Wohldenkende hierŸber Vorstellungen taten, versicherte er ganz unbefangen, er habe nur sehen wollen, wie sich der Herr Christus in einem Šhnlichen Falle mšchte ausgenommen haben. Nachahmer fand er jedoch keinen und wenig Gesellen.

Denn der Studierende von einigem Vermšgen und Ansehen hatte alle Ursache, sich gegen den Handelsstand ergeben zu erweisen, und sich um so mehr schicklicher Šu§erer Formen zu beflei§igen, als die Kolonie ein Musterbild franzšsischer Sitten darstellte. Die Professoren, wohlhabend durch eignes Vermšgen und gute PfrŸnden, waren von ihren SchŸlern nicht abhŠngig, und der Landeskinder mehrere, auf den FŸrstenschulen oder sonstigen Gymnasien gebildet und Befšrderung hoffend, wagten es nicht, sich von der herkšmmlichen Sitte loszusagen. Die NŠhe von Dresden, die Aufmerksamkeit von daher, die wahre Fršmmigkeit der Oberaufseher des Studienwesens konnte nicht ohne sittlichen, ja religišsen Einflu§ bleiben.

Mir war diese Lebensart im Anfange nicht zuwider; meine Empfehlungsbriefe hatten mich in gute HŠuser ein-


gefŸhrt, deren verwandte Zirkel mich gleichfalls wohl aufnahmen. Da ich aber bald empfinden mu§te, da§ die Gesellschaft gar manches an mir auszusetzen hatte, und ich, nachdem ich mich ihrem Sinne gemŠ§ gekleidet, ihr nun auch nach dem Munde reden sollte, und dabei doch deutlich sehen konnte, da§ mir dagegen von alledem wenig geleistet wurde, was ich mir von Unterricht und Sinnesfšrderung bei meinem akademischen Aufenthalt versprochen hatte, so fing ich an lŠssig zu werden und die geselligen Pflichten der Besuche und sonstigen Attentionen zu versŠumen, und ich wŠre noch frŸher aus allen solchen VerhŠltnissen herausgetreten, hŠtte mich nicht an Hofrat Bšhmen Scheu und Achtung und an seine Gattin Zutrauen und Neigung festgeknŸpft. Der Gemahl hatte leider nicht die glŸckliche Gabe, mit jungen Leuten umzugehen, sich ihr Vertrauen zu erwerben und sie fŸr den Augenblick nach BedŸrfnis zu leiten. Ich fand niemals Gewinn davon, wenn ich ihn besuchte; seine Gattin dagegen zeigte ein aufrichtiges Interesse an mir. Ihre KrŠnklichkeit hielt sie stets zu Hause. Sie lud mich manchen Abend zu sich und wu§te mich, der ich zwar gesittet war, aber doch eigentlich, was man Lebensart nennt, nicht besa§, in manchen kleinen €u§erlichkeiten zurecht zu fŸhren und zu verbessern. Nur eine einzige Freundin brachte die Abende bei ihr zu; diese war aber schon herrischer und schulmeisterlicher, deswegen sie mir Šu§erst mi§fiel und ich ihr zum Trutz šfters jene Unarten wieder annahm, welche mir die andere schon abgewšhnt hatte. Sie Ÿbten unterdessen noch immer Geduld genug an mir, lehrten mich Piquet, L'hombre und was andere dergleichen Spiele sind, deren Kenntnis und AusŸbung in der Gesellschaft fŸr unerlŠ§lich gehalten wird.

Worauf aber Madame Bšhme den grš§ten Einflu§ bei mir hatte, war auf meinen Geschmack, freilich auf eine negative Weise, worin sie jedoch mit den Kritikern vollkommen Ÿbereintraf. Das Gottschedische GewŠsser hatte die deutsche Welt mit einer wahren SŸndflut Ÿberschwemmt, welche sogar Ÿber die hšchsten Berge hinaufzusteigen drohte. Bis sich eine solche


Flut wieder verlŠuft, bis der Schlamm austrocknet, dazu gehšrt viele Zeit, und da es der nachŠffenden Poeten in jeder Epoche eine Unzahl gibt, so brachte die Nachahmung des Seichten, WŠ§rigen einen solchen Wust hervor, von dem gegenwŠrtig kaum ein Begriff mehr geblieben ist. Das Schlechte schlecht zu finden, war daher der grš§te Spa§, ja der Triumph damaliger Kritiker. Wer nur einigen Menschenverstand besa§, oberflŠchlich mit den Alten, etwas nŠher mit den Neueren bekannt war, glaubte sich schon mit einem Ma§stabe versehen, den er Ÿberall anlegen kšnne. Madame Bšhme war eine gebildete Frau, welcher das Unbedeutende, Schwache und Gemeine widerstand; sie war noch Ÿberdies Gattin eines Mannes, der mit der Poesie Ÿberhaupt in Unfrieden lebte und dasjenige nicht gelten lie§, was sie allenfalls noch gebilligt hŠtte. Nun hšrte sie mir zwar einige Zeit mit Geduld zu, wenn ich ihr Verse oder Prose von namhaften, schon in gutem Ansehen stehenden Dichtern zu rezitieren mir herausnahm: denn ich behielt nach wie vor alles auswendig, was mir nur einigerma§en gefallen mochte; allein ihre Nachgiebigkeit war nicht von langer Dauer. Das erste, was sie mir ganz entsetzlich heruntermachte, waren die "Poeten nach der Mode" von Wei§e, welche soeben mit gro§em Beifall šfters wiederholt wurden, und mich ganz besonders ergetzt hatten. Besah ich nun freilich die Sache nŠher, so konnte ich ihr nicht unrecht geben. Auch einigemal hatte ich gewagt, ihr etwas von meinen eigenen Gedichten, jedoch anonym vorzutragen, denen es denn nicht besser ging als der Ÿbrigen Gesellschaft. Und so waren mir in kurzer Zeit die schšnen bunten Wiesen in den GrŸnden des deutschen Parnasses, wo ich so gern lustwandelte, unbarmherzig niedergemŠht und ich sogar genštigt, das trocknende Heu selbst mit umzuwenden und dasjenige als tot zu verspotten, was mir kurz vorher eine so lebendige Freude gemacht hatte.

Diesen ihren Lehren kam, ohne es zu wissen, der Professor Morus zu HŸlfe, ein ungemein sanfter und freundlicher Mann, den ich an dem Tische des Hofrats Ludwig kennen


lernte und der mich sehr gefŠllig aufnahm, wenn ich mir die Freiheit ausbat, ihn zu besuchen. Indem ich mich nun bei ihm um das Altertum erkundigte, so verbarg ich ihm nicht, was mich unter den Neuern ergetzte; da er denn mit mehr Ruhe als Madame Bšhme, was aber noch schlimmer war, mit mehr GrŸndlichkeit Ÿber solche Dinge sprach und mir, anfangs zum grš§ten Verdru§, nachher aber doch zum Erstaunen und zuletzt zur Erbauung die Augen šffnete.

Hiezu kamen noch die Jeremiaden, mit denen uns Gellert in seinem Praktikum von der Poesie abzumahnen pflegte. Er wŸnschte nur prosaische AufsŠtze und beurteilte auch diese immer zuerst. Die Verse behandelte er nur als eine traurige Zugabe, und, was das Schlimmste war, selbst meine Prose fand wenig Gnade vor seinen Augen: denn ich pflegte, nach meiner alten Weise, immer einen kleinen Roman zum Grunde zu legen, den ich in Briefen auszufŸhren liebte. Die GegenstŠnde waren leidenschaftlich, der Stil ging Ÿber die gewšhnliche Prose hinaus, und der Inhalt mochte freilich nicht sehr fŸr eine tiefe Menschenkenntnis des Verfassers zeugen, und so war ich denn von unserem Lehrer sehr wenig begŸnstigt, ob er gleich meine Arbeiten, so gut als die der andern, genau durchsah, mit roter Tinte korrigierte und hie und da eine sittliche Anmerkung hinzufŸgte. Mehrere BlŠtter dieser Art, welche ich lange Zeit mit VergnŸgen bewahrte, sind leider endlich im Lauf der Jahre aus meinen Papieren verschwunden.

Wenn Šltere Personen recht pŠdagogisch verfahren wollten, so sollten sie einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es sei von welcher Art es wolle, weder verbieten noch verleiden, wenn sie nicht zu gleicher Zeit ihm etwas anderes dafŸr einzusetzen hŠtten oder unterzuschieben wŸ§ten. Jedermann protestierte gegen meine Liebhabereien und Neigungen, und das, was man mir dagegen anpries, lag teils so weit von mir ab, da§ ich seine VorzŸge nicht erkennen konnte, oder es stand mir so nah, da§ ich es eben nicht fŸr besser hielt als das Gescholtene. Ich kam darŸber


durchaus in Verwirrung, und hatte mir aus einer Vorlesung Ernestis Ÿber Ciceros "Orator" das Beste versprochen; ich lernte wohl auch etwas in diesem Kollegium, jedoch Ÿber das, woran mir eigentlich gelegen war, wurde ich nicht aufgeklŠrt. Ich forderte einen Ma§stab des Urteils, und glaubte gewahr zu werden, da§ ihn gar niemand besitze: denn keiner war mit dem andern einig, selbst wenn sie Beispiele vorbrachten; und wo sollten wir ein Urteil hernehmen, wenn man einem Manne wie Wieland so manches Tadelhafte in seinen liebenswŸrdigen, uns JŸngere všllig einnehmenden Schriften aufzuzŠhlen wu§te.

In solcher vielfachen Zerstreuung, ja ZerstŸckelung meines Wesens und meiner Studien traf sich's, da§ ich bei Hofrat Ludwig den Mittagstisch hatte. Er war Medikus, Botaniker, und die Gesellschaft bestand, au§er Morus, in lauter angehenden oder der Vollendung nŠheren €rzten. Ich hšrte nun in diesen Stunden gar kein ander GesprŠch als von Medizin oder Naturhistorie, und meine Einbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld hinŸbergezogen. Die Namen Haller, LinnŽ, Buffon hšrte ich mit gro§er Verehrung nennen; und wenn auch manchmal wegen IrrtŸmer, in die sie gefallen sein sollten, ein Streit entstand, so kam doch zuletzt, dem anerkannten †berma§ ihrer Verdienste zu Ehren, alles wieder ins gleiche. Die GegenstŠnde waren unterhaltend und bedeutend, und spannten meine Aufmerksamkeit. Viele Benennungen und eine weitlŠuftige Terminologie wurden mir nach und nach bekannt, die ich um so lieber auffa§te, weil ich mich fŸrchtete einen Reim niederzuschreiben, wenn er sich mir auch noch so freiwillig darbot, oder ein Gedicht zu lesen, indem mir bange war, es mšchte mir gegenwŠrtig gefallen und ich mŸsse es denn doch, wie so manches andere, vielleicht nŠchstens fŸr schlecht erklŠren.

Diese Geschmacks- und Urteilsungewi§heit beunruhigte mich tŠglich mehr, so da§ ich zuletzt in Verzweiflung geriet. Ich hatte von meinen Jugendarbeiten, was ich fŸr das Beste hielt, mitgenommen, teils weil ich mir denn doch einige Ehre


dadurch zu verschaffen hoffte, teils um meine Fortschritte desto sicherer prŸfen zu kšnnen; aber ich befand mich in dem schlimmen Falle, in den man gesetzt ist, wenn eine vollkommene SinnesŠnderung verlangt wird, eine Entsagung alles dessen, was man bisher geliebt und fŸr gut befunden hat. Nach einiger Zeit und nach manchem Kampfe warf ich jedoch eine so gro§e Verachtung auf meine begonnenen und geendigten Arbeiten, da§ ich eines Tags Poesie und Prose, Plane, Skizzen und EntwŸrfe sŠmtlich zugleich auf dem KŸchenherd verbrannte, und durch den das ganze Haus erfŸllenden Rauchqualm unsre gute alte Wirtin in nicht geringe Furcht und Angst versetzte.


 

Siebentes Buch

 

†ber den Zustand der deutschen Literatur jener Zeit ist so vieles und Ausreichendes geschrieben worden, da§ wohl jedermann, der einigen Anteil hieran nimmt, vollkommen unterrichtet sein kann; wie denn auch das Urteil darŸber wohl ziemlich Ÿbereinstimmen dŸrfte; und was ich gegenwŠrtig stŸck- und sprungweise davon zu sagen gedenke, ist nicht sowohl wie sie an und fŸr sich beschaffen sein mochte, als vielmehr wie sie sich zu mir verhielt. Ich will deshalb zuerst von solchen Dingen sprechen, durch welche das Publikum besonders aufgeregt wird, von den beiden Erbfeinden alles behaglichen Lebens und aller heiteren, selbstgenŸgsamen, lebendigen Dichtkunst: von der Satire und der Kritik. In ruhigen Zeiten will jeder nach seiner Weise leben, der BŸrger sein Gewerb, sein GeschŠft treiben und sich nachher vergnŸgen: so mag auch der Schriftsteller gern etwas verfassen, seine Arbeiten bekannt machen, und wo nicht Lohn doch Lob dafŸr hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes und NŸtzliches getan zu haben. In dieser Ruhe wird der BŸrger durch den Satiriker, der Autor durch den Kritiker gestšrt, und so die friedliche Gesellschaft in eine unangenehme Bewegung gesetzt.

Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch. Deutschland, so lange von auswŠrtigen Všlkern Ÿberschwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in gelehrten und diplomatischen Verhandlungen an fremde Sprachen gewiesen, konnte seine eigne unmšglich ausbilden. Es drangen sich ihr, zu so manchen neuen Begriffen, auch unzŠhlige fremde Worte nštiger und unnštiger Weise mit auf, und auch fŸr schon be-


kannte GegenstŠnde ward man veranla§t sich auslŠndischer AusdrŸcke und Wendungen zu bedienen. Der Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten in einem unglŸcklichen tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Ršmern, um sich wŸrdig auszudrŸcken. Dies sollte aber auch in der Muttersprache geschehen; da denn die unmittelbare Anwendung jener Idiome und deren Halbverdeutschung sowohl den Welt- als GeschŠftsstil lŠcherlich machte. †berdies fa§te man die Gleichnisreden der sŸdlichen Sprachen unmŠ§ig auf und bediente sich derselben hšchst Ÿbertrieben. Ebenso zog man den vornehmen Anstand der fŸrstengleichen ršmischen BŸrger auf deutsche kleinstŠdtische GelehrtenverhŠltnisse herŸber, und war eben nirgends, am wenigsten bei sich zu Hause.

Wie aber schon in dieser Epoche genialische Werke entsprangen, so regte sich auch hier der deutsche Freiund Frohsinn. Dieser, begleitet von einem aufrichtigen Ernste, drang darauf, da§ rein und natŸrlich, ohne Einmischung fremder Worte, und wie es der gemeine verstŠndliche Sinn gab, geschrieben wŸrde. Durch diese lšblichen BemŸhungen ward jedoch der vaterlŠndischen breiten Plattheit TŸr und Tor gešffnet, ja der Damm durchstochen, durch welchen das gro§e GewŠsser zunŠchst eindringen sollte. Indessen hielt ein steifer Pedantismus in allen vier FakultŠten lange Stand, bis er sich endlich viel spŠter aus einer in die andere flŸchtete.

Gute Kšpfe, freiaufblickende Naturkinder hatten daher zwei GegenstŠnde, an denen sie sich Ÿben, gegen die sie wirken und, da die Sache von keiner gro§en Bedeutung war, ihren Mutwillen auslassen konnten; diese waren eine durch fremde Worte, Wortbildungen und Wendungen verunzierte Sprache, und sodann die Wertlosigkeit solcher Schriften, die sich von jenem Fehler frei zu erhalten besorgt waren; wobei niemanden einfiel, da§, indem man ein †bel bekŠmpfte, das andere zu HŸlfe gerufen ward.


Liscow, ein junger kŸhner Mensch, wagte zuerst, einen seichten, albernen Schriftsteller persšnlich anzufallen, dessen ungeschicktes Benehmen ihm bald Gelegenheit gab, heftiger zu verfahren. Er griff sodann weiter um sich und richtete seinen Spott immer gegen bestimmte Personen und GegenstŠnde, die er verachtete und verŠchtlich zu machen suchte, ja mit leidenschaftlichem Ha§ verfolgte. Allein seine Laufbahn war kurz; er starb gar bald, verschollen als ein unruhiger, unregelmŠ§iger JŸngling. In dem, was er getan, ob er gleich wenig geleistet, mochte seinen Landsleuten das Talent, der Charakter schŠtzenswert vorkommen: wie denn die Deutschen immer gegen frŸhabgeschiedene, Gutes versprechende Talente eine besondere Fršmmigkeit bewiesen haben; genug, uns ward Liscow sehr frŸh als ein vorzŸglicher Satiriker, der sogar den Rang vor dem allgemein beliebten Rabener verlangen kšnnte, gepriesen und anempfohlen. Hierbei sahen wir uns freilich nicht gefšrdert: denn wir konnten in seinen Schriften weiter nichts erkennen, als da§ er das Alberne albern gefunden habe, welches uns eine ganz natŸrliche Sache schien.

Rabener, wohl erzogen, unter gutem Schulunterricht aufgewachsen, von heiterer und keineswegs leidenschaftlicher oder gehŠssiger Natur, ergriff die allgemeine Satire. Sein Tadel der sogenannten Laster und Torheiten entspringt aus reinen Ansichten des ruhigen Menschenverstandes und aus einem bestimmten sittlichen Begriff, wie die Welt sein sollte. Die RŸge der Fehler und MŠngel ist harmlos und heiter; und damit selbst die geringe KŸhnheit seiner Schriften entschuldigt werde, so wird vorausgesetzt, da§ die Besserung der Toren durchs LŠcherliche kein fruchtloses Unternehmen sei.

Rabeners Persšnlichkeit wird nicht leicht wieder erscheinen. Als tŸchtiger genauer GeschŠftsmann tut er seine Pflicht, und erwirbt sich dadurch die gute Meinung seiner MitbŸrger und das Vertrauen seiner Oberen; nebenher ŸberlŠ§t er sich zur Erholung einer heiteren Nichtachtung alles dessen,


was ihn zunŠchst umgibt. Pedantische Gelehrte, eitle JŸnglinge, jede Art von BeschrŠnktheit und DŸnkel bescherzt er mehr, als da§ er sie bespottete, und selbst sein Spott drŸckt keine Verachtung aus. Ebenso spa§t er Ÿber seinen eignen Zustand, Ÿber sein UnglŸck, sein Leben und seinen Tod.

Die Art, wie dieser Schriftsteller seine GegenstŠnde behandelt, hat wenig €sthetisches. In den Šu§eren Formen ist er zwar mannigfaltig genug, aber durchaus bedient er sich der direkten Ironie zu viel, da§ er nŠmlich das TadelnswŸrdige lobt und das LobenswŸrdige tadelt, welches rednerische Mittel nur hšchst selten angewendet werden sollte: denn auf die Dauer fŠllt es einsichtigen Menschen verdrie§lich, die schwachen macht es irre, und behagt freilich der gro§en Mittelklasse, welche, ohne besondern Geistesaufwand, sich klŸger dŸnken kann als andere. Was er aber und wie er es auch vorbringt, zeugt von seiner Rechtlichkeit, Heiterkeit und GleichmŸtigkeit, wodurch wir uns immer eingenommen fŸhlen; der unbegrenzte Beifall seiner Zeit war eine Folge solcher sittlichen VorzŸge.

Da§ man zu seinen allgemeinen Schilderungen Musterbilder suchte und fand, war natŸrlich; da§ einzelne sich Ÿber ihn beschwerten, folgte daraus; seine allzulangen Verteidigungen, da§ seine Satire keine persšnliche sei, zeugen von dem Verdru§, den man ihm erregt hat. Einige seiner Briefe setzen ihm als Menschen und Schriftsteller den Kranz auf. Das vertrauliche Schreiben, worin er die Dresdner Belagerung schildert, wie er sein Haus, seine Habseligkeiten, seine Schriften und PerŸcken verliert, ohne auch im mindesten seinen Gleichmut erschŸttert, seine Heiterkeit getrŸbt zu sehen, ist hšchst schŠtzenswert, ob ihm gleich seine Zeit- und Stadtgenossen diese glŸckliche GemŸtsart nicht verzeihen konnten. Der Brief, wo er von der Abnahme seiner KrŠfte, von seinem nahen Tode spricht, ist Šu§erst respektabel, und Rabener verdient, von allen heiteren, verstŠndigen, in die irdischen Ereignisse froh ergebenen Menschen als Heiliger verehrt zu werden.


Ungern rei§e ich mich von ihm los, nur das bemerke ich noch: seine Satire bezieht sich durchaus auf den Mittelstand; er lŠ§t hie und da vermerken, da§ er die hšheren auch wohl kenne, es aber nicht fŸr rŠtlich halte, sie zu berŸhren. Man kann sagen, da§ er keinen Nachfolger gehabt, da§ sich niemand gefunden, der sich ihm gleich oder Šhnlich hŠtte halten dŸrfen.

Nun zur Kritik! und zwar vorerst zu den theoretischen Versuchen. Wir holen nicht zu weit aus, wenn wir sagen, da§ damals das Ideelle sich aus der Welt in die Religion geflŸchtet hatte, ja sogar in der Sittenlehre kaum zum Vorschein kam; von einem hšchsten Prinzip der Kunst hatte niemand eine Ahndung. Man gab uns Gottscheds "Kritische Dichtkunst" in die HŠnde; sie war brauchbar und belehrend genug: denn sie Ÿberlieferte von allen Dichtungsarten eine historische Kenntnis, sowie vom Rhythmus und den verschiedenen Bewegungen desselben; das poetische Genie ward vorausgesetzt! †brigens aber sollte der Dichter Kenntnisse haben, ja gelehrt sein, er sollte Geschmack besitzen, und was dergleichen mehr war. Man wies uns zuletzt auf Horazens "Dichtkunst"; wir staunten einzelne GoldsprŸche dieses unschŠtzbaren Werks mit Ehrfurcht an, wu§ten aber nicht im geringsten, was wir mit dem Ganzen machen, noch wie wir es nutzen sollten.

Die Schweizer traten auf als Gottscheds Antagonisten; sie mu§ten doch also etwas anderes tun, etwas Besseres leisten wollen: so hšrten wir denn auch, da§ sie wirklich vorzŸglicher seien. Breifingers "Kritische Dichtkunst" ward vorgenommen. Hier gelangten wir nun in ein weiteres Feld, eigentlich aber nur in einen grš§eren Irrgarten, der desto ermŸdender war, als ein tŸchtiger Mann, dem wir vertrauten, uns darin herumtrieb. Eine kurze †bersicht rechtfertige diese Worte.

FŸr die Dichtkunst an und fŸr sich hatte man keinen Grundsatz finden kšnnen; sie war zu geistig und flŸchtig. Die Malerei, eine Kunst, die man mit den Augen festhalten, der man mit den Šu§eren Sinnen Schritt vor Schritt nach-


gehen konnte, schien zu solchem Ende gŸnstiger; EnglŠnder und Franzosen hatten schon Ÿber die bildende Kunst theoretisiert, und man glaubte nun durch ein Gleichnis von daher die Poesie zu begrŸnden. Jene stellte Bilder vor die Augen, diese vor die Phantasie; die poetischen Bilder also waren das erste, was in Betrachtung gezogen wurde. Man fing von den Gleichnissen an, Beschreibungen folgten, und was nur immer den Šu§eren Sinnen darstellbar gewesen wŠre, kam zur Sprache.

Bilder also! Wo sollte man nun aber diese Bilder anders hernehmen als aus der Natur? Der Maler ahmte die Natur offenbar nach; warum der Dichter nicht auch? Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt werden: sie enthŠlt so vieles Unbedeutende, UnwŸrdige, man mu§ also wŠhlen; was bestimmt aber die Wahl? man mu§ das Bedeutende aufsuchen; was ist aber bedeutend?

Hierauf zu antworten mšgen sich die Schweizer lange bedacht haben: denn sie kommen auf einen zwar wunderlichen, doch artigen, ja lustigen Einfall, indem sie sagen, am bedeutendsten sei immer das Neue; und nachdem sie dies eine Weile Ÿberlegt haben, so finden sie, das Wunderbare sei immer neuer als alles andere.

Nun hatten sie die poetischen Erfordernisse ziemlich beisammen; allein es kam noch zu bedenken, da§ ein Wunderbares auch leer sein kšnne und ohne Bezug auf den Menschen. Ein solcher notwendig geforderter Bezug mŸsse aber moralisch sein, woraus denn offenbar die Besserung des Menschen folge, und so habe ein Gedicht das letzte Ziel erreicht, wenn es, au§er allem anderen Geleisteten, noch nŸtzlich werde. Nach diesen sŠmtlichen Erfordernissen wollte man nun die verschiedenen Dichtungsarten prŸfen, und diejenige, welche die Natur nachahmte, sodann wunderbar und zugleich auch von sittlichem Zweck und Nutzen sei, sollte fŸr die erste und oberste gelten. Und nach vieler †berlegung ward endlich dieser gro§e Vorrang, mit hšchster †berzeugung, der €sopischen Fabel zugeschrieben.


So wunderlich uns jetzt eine solche Ableitung vorkommen mag, so hatte sie doch auf die besten Kšpfe den entschiedensten Einflu§.. Da§ Gellert und nachher Lichtwer sich diesem Fache widmeten, da§ selbst Lessing darin zu arbeiten versuchte, da§ so viele andere ihr Talent dahin wendeten, spricht fŸr das Zutrauen, welches sich diese Gattung erworben hatte. Theorie und Praxis wirken immer auf einander; aus den Werken kann man sehen, wie es die Menschen meinen, und aus den Meinungen voraussagen, was sie tun werden.

Doch wir dŸrfen unsere Schweizer Theorie nicht verlassen, ohne da§ ihr von uns auch Gerechtigkeit widerfahre. Bodmer, so viel er sich auch bemŸht, ist theoretisch und praktisch zeitlebens ein Kind geblieben. Breitinger war ein tŸchtiger, gelehrter, einsichtsvoller Mann, dem, als er sich recht umsah, die sŠmtlichen Erfordernisse einer Dichtung nicht entgingen, ja, es lŠ§t sich nachweisen, da§ er die MŠngel seiner Methode dunkel fŸhlen mochte. MerkwŸrdig ist z.B. seine Frage: ob ein gewisses beschreibendes Gedicht von Kšnig auf das Lustlager Augusts des Zweiten wirklich ein Gedicht sei? so wie die Beantwortung derselben guten Sinn zeigt. Zu seiner všlligen Rechtfertigung aber mag dienen, da§ er, von einem falschen Punkte ausgehend, nach beinahe schon durchlaufenem Kreise, doch noch auf die Hauptsache stš§t, und die Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren Menschen, auf den die Dichtkunst doch wohl vorzŸglich angewiesen ist, am Ende seines Buchs gleichsam als Zugabe anzuraten sich genštigt findet.

In welche Verwirrung junge Geister durch solche ausgerenkte Maximen, halb verstandene Gesetze und zersplitterte Lehren sich versetzt fŸhlten, lŠ§t sich wohl denken. Man hielt sich an Beispiele, und war auch da nicht gebessert; die auslŠndischen standen zu weit ab, so sehr wie die alten, und aus den besten inlŠndischen blickte jedesmal eine entschiedene IndividualitŠt hervor, deren Tugenden man sich nicht anma§en konnte, und in deren Fehler zu fallen man


fŸrchten mu§te. FŸr den, der etwas Produktives in sich fŸhlte, war es ein verzweiflungsvoller Zustand.

Betrachtet man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt, und zwar ein nationeller; an Talenten war niemals Mangel. Hier gedenken wir nur GŸnthers, der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden darf. Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, Einbildungskraft, GedŠchtnis, Gabe des Fassens und VergegenwŠrtigens, fruchtbar im hšchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besa§ alles, was dazu gehšrt, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine gro§e Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle ZustŠnde durchs GefŸhl zu erhšhen und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften †berlieferungen zu schmŸcken. Das Rohe und Wilde daran gehšrt seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter, oder, wenn man will, seiner Charakterlosigkeit. Er wu§te sich nicht zu zŠhmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten.

Durch ein unfertiges Betragen hatte sich GŸnther das GlŸck verscherzt, an dem Hofe Augusts des Zweiten angestellt zu werden, wo man, zu allem Ÿbrigen Prunk, sich auch nach einem Hofpoeten umsah, der den Festlichkeiten Schwung und Zierde geben und eine vorŸbergehende Pracht verewigen kšnnte. Von Kšnig war gesitteter und glŸcklicher, er bekleidete diese Stelle mit WŸrde und Beifall.

In allen souverŠnen Staaten kommt der Gehalt fŸr die Dichtkunst von oben herunter, und vielleicht war das Lustlager bei MŸhlberg der erste wŸrdige, wo nicht nationelle, doch provinzielle Gegenstand, der vor einem Dichter auftrat. Zwei Kšnige, die sich in Gegenwart eines gro§en Heers begrŸ§en, ihr sŠmtlicher Hof- und Kriegsstaat um sie her, wohlgehaltene Truppen, ein Scheinkrieg, Feste aller Art; BeschŠftigung genug fŸr den Šu§eren Sinn und Ÿberflie§ender Stoff fŸr schildernde und beschreibende Poesie.


Freilich hatte dieser Gegenstand einen inneren Mangel; eben da§ es nur Prunk und Schein war, aus dem keine Tat hervortreten konnte. Niemand, au§er den Ersten, machte sich bemerkbar, und wenn es ja geschehen wŠre, durfte der Dichter den einen nicht hervorheben, um andere nicht zu verletzen. Er mu§te den Hof- und Staatskalender zu Rate ziehen, und die Zeichnung der Personen lief daher ziemlich trocken ab; ja schon die Zeitgenossen machten ihm den Vorwurf, er habe die Pferde besser geschildert als die Menschen. Sollte dies aber nicht gerade zu seinem Lobe gereichen, da§ er seine Kunst gleich da bewies, wo sich ein Gegenstand fŸr dieselbe darbot? Auch scheint die Hauptschwierigkeit sich ihm bald offenbart zu haben: denn das Gedicht hat sich nicht Ÿber den ersten Gesang hinaus erstreckt.

Unter solchen Studien und Betrachtungen Ÿberraschte mich ein unvermutetes Ereignis und vereitelte das lšbliche Vorhaben, unsere neuere Literatur von vorne herein kennen zu lernen. Mein Landsmann Johann Georg Schlosser hatte, nachdem er seine akademischen Jahre mit Flei§ und Anstrengung zugebracht, sich zwar in Frankfurt am Main auf den gewšhnlichen Weg der Advokatur begeben; allein sein strebender und das Allgemeine suchender Geist konnte sich aus mancherlei Ursachen in diese VerhŠltnisse nicht finden. Er nahm eine Stelle als GeheimsekretŠr bei dem Herzog Ludwig von WŸrttemberg, der sich in Treptow aufhielt, ohne Bedenken an: denn der FŸrst war unter denjenigen Gro§en genannt, die auf eine edle und selbstŠndige Weise sich, die Ihrigen und das Ganze aufzuklŠren, zu bessern und zu hšheren Zwecken zu vereinigen gedachten. Dieser FŸrst Ludwig ist es, welcher, um sich wegen der Kinderzucht Rats zu erholen, an Rousseau geschrieben hatte, dessen bekannte Antwort mit der bedenklichen Phrase anfŠngt: "Si j'avois le malheur d'etre nŽ prince." -

Den GeschŠften des FŸrsten nicht allein, sondern auch der Erziehung seiner Kinder sollte nun Schlosser wo nicht


vorstehen, doch mit Rat und Tat willig zu HŠnden sein. Dieser junge, edle, den besten Willen hegende Mann, der sich einer vollkommenen Reinigkeit der Sitten befli§, hŠtte durch eine gewisse trockene Strenge die Menschen leicht von sich entfernt, wenn nicht eine schšne und seltene literarische Bildung, seine Sprachkenntnisse, seine Fertigkeit, sich schriftlich, sowohl in Versen als in Prosa, auszudrŸcken, jedermann angezogen und das Leben mit ihm erleichtert hŠtte. Da§ dieser durch Leipzig kommen wŸrde, war mir angekŸndigt, und ich erwartete ihn mit Sehnsucht. Er kam und trat in einem kleinen Gast- oder Weinhause ab, das im BrŸhl lag und dessen Wirt Schšnkopf hie§. Dieser hatte eine Frankfurterin zur Frau, und ob er gleich die Ÿbrige Zeit des Jahres wenig Personen bewirtete, und in das kleine Haus keine GŠste aufnehmen konnte, so war er doch Messenzeits von vielen Frankfurtern besucht, welche dort zu speisen und im Notfall auch wohl Quartier zu nehmen pflegten. Dorthin eilte ich, um Schlossern aufzusuchen, als er mir seine Ankunft melden lie§. Ich erinnerte mich kaum, ihn frŸher gesehen zu haben, und fand einen jungen wohlgebauten Mann, mit einem runden zusammengefa§ten Gesicht, ohne da§ die ZŸge deshalb stumpf gewesen wŠren. Die Form seiner gerundeten Stirn, zwischen schwarzen Augenbrauen und Locken, deutete auf Ernst, Strenge und vielleicht Eigensinn. Er war gewisserma§en das Gegenteil von mir, und eben dies begrŸndete wohl unsere dauerhafte Freundschaft. Ich hatte die grš§te Achtung fŸr seine Talente, um so mehr, als ich gar wohl bemerkte, da§ er mir in der Sicherheit dessen, was er tat und leistete, durchaus Ÿberlegen war. Die Achtung und das Zutrauen, das ich ihm bewies, bestŠtigten seine Neigung, und vermehrten die Nachsicht, die er mit meinem lebhaften, fahrigen und immer regsamen Wesen, im Gegensatz mit dem Seinigen, haben mu§te. Er studierte die EnglŠnder flei§ig, Pope war, wo nicht sein Muster, doch sein Augenmerk, und er hatte, im Widerstreit mit dem "Versuch Ÿber den Menschen" jenes Schriftstellers, ein Ge-


dicht in gleicher Form und Silbenma§ geschrieben, welches der christlichen Religion Ÿber jenen Deismus den Triumph verschaffen sollte. Aus dem gro§en Vorrat von Papieren, die er bei sich fŸhrte, lie§ er mir sodann poetische und prosaische AufsŠtze in allen Sprachen sehen, die, indem sie mich zur Nachahmung aufriefen, mich abermals unendlich beunruhigten. Doch wu§te ich mir durch TŠtigkeit sogleich zu helfen. Ich schrieb an ihn gerichtete deutsche, franzšsische, englische, italienische Gedichte, wozu ich den Stoff aus unseren Unterhaltungen nahm, welche durchaus bedeutend und unterrichtend waren.

Schlosser wollte nicht Leipzig verlassen, ohne die MŠnner, welche Namen hatten, von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Ich fŸhrte ihn gern zu denen mir bekannten; die von mir noch nicht besuchten lernte ich auf diese Weise ehrenvoll kennen, weil er als ein unterrichteter, schon charakterisierter Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand des GesprŠchs recht gut zu bestreiten wu§te. Unsern Besuch bei Gottsched darf ich nicht Ÿbergehen, indem die Sinnes- und Sittenweise dieses Mannes daraus hervortritt. Er wohnte sehr anstŠndig in dem ersten Stock des "Goldenen BŠren", wo ihm der Šltere Breitkopf, wegen des gro§en Vorteils, den die Gottschedischen Schriften, †bersetzungen und sonstigen Assistenzen der Handlung gebracht, eine lebenslŠngliche Wohnung zugesagt hatte.

Wir lie§en uns melden. Der Bediente fŸhrte uns in ein gro§es Zimmer, indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine GebŠrde, die er machte, nicht recht verstanden, wŸ§te ich nicht zu sagen; genug, wir glaubten, er habe uns in das ansto§ende Zimmer gewiesen. Wir traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat Gottsched, der gro§e, breite, riesenhafte Mann, in einem grŸndamastnen, mit rotem Taft gefŸtterten Schlafrock zur entgegengesetzten TŸre herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. DafŸr sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente


sprang mit einer gro§en AllongeperŸcke auf der Hand (die Locken fielen bis an den Ellenbogen) zu einer SeitentŸre herein und reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockner GebŠrde. Gottsched, ohne den mindesten Verdru§ zu Šu§ern, hob mit der linken Hand die PerŸcke von dem Arme des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so da§ dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur TŸre hinaus wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitŠtisch zu sitzen nštigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchfŸhrte.

Solange Schlosser in Leipzig blieb, speiste ich tŠglich mit ihm, und lernte eine sehr angenehme Tischgesellschaft kennen. Einige LivlŠnder und der Sohn des Oberhofpredigers Hermann in Dresden, nachheriger Burgemeister zu Leipzig, und ihre Hofmeister, Hofrat Pfeil, Verfasser des "Grafen von P.", eines Pendants zu Gellerts "schwedischer GrŠfin", ZachariŠ, ein Bruder des Dichters, und Krebel, Redakteur geographischer und genealogischer HandbŸcher, waren gesittete, heitre und freundliche Menschen. ZachariŠ der stillste; Pfeil ein feiner, beinahe etwas Diplomatisches an sich habender Mann, doch ohne Ziererei und mit gro§er GutmŸtigkeit; Krebel ein wahrer Falstaff, gro§, wohlbeleibt, blond, vorliegende, heitere, himmelhelle Augen, immer froh und guter Dinge. Diese Personen begegneten mir sŠmtlich, teils wegen Schlossers, teils auch wegen meiner eignen offenen GutmŸtigkeit und ZutŠtigkeit, auf das allerartigste, und es brauchte kein gro§es Zureden, kŸnftig mit ihnen den Tisch zu teilen. Ich blieb wirklich nach Schlossers Abreise bei ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf, und befand mich in dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom Hause, ein gar hŸbsches nettes MŠdchen, sehr wohl gefiel, und mir Gelegenheit ward, freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufŠllig gefunden


hatte. Die Stunden des Mittagsessens brachte ich mit meinen Freunden heiter und nŸtzlich zu. Krebel hatte mich wirklich lieb und wu§te mich mit Ma§en zu necken und anzuregen; Pfeil hingegen bewies mir eine ernste Neigung, indem er mein Urteil Ÿber manches zu leiten und zu bestimmen suchte.

Bei diesem Umgange wurde ich durch GesprŠche, durch Beispiele und durch eignes Nachdenken gewahr, da§ der erste Schritt, um aus der wŠ§rigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszureiten, nur durch Bestimmtheit, PrŠzision und KŸrze getan werden kšnne. Bei dem bisherigen Stil konnte man das Gemeine nicht vom Besseren unterscheiden, weil alles unter einander ins Flache gezogen wird. Schon hatten Schriftsteller diesem breiten Unheil zu entgehen gesucht, und es gelang ihnen mehr oder weniger. Haller und Ramler waren von Natur zum GedrŠngten geneigt; Lessing und Wieland sind durch Reflexion dazu gefŸhrt worden. Der erste wurde nach und nach ganz epigrammatisch in seinen Gedichten, knapp in der "Minna", lakonisch in "Emilia Galotti", spŠter kehrte er erst zu einer heiteren NaivetŠt zurŸck, die ihn so wohl kleidet im "Nathan". Wieland, der noch im "Agathon", "Don Sylvio", den "Komischen ErzŠhlungen" mitunter prolix gewesen war, wird in "Musarion" und "Idris" auf eine wundersame Weise gefa§t und genau, mit gro§er Anmut. Klopstock, in den ersten GesŠngen der "Messiade", ist nicht ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und anderen kleinen Gedichten erscheint er gedrŠngt, so auch in seinen Tragšdien. Durch seinen Wettstreit mit den Alten, besonders dem Tacitus, sieht er sich immer mehr ins Enge genštigt, wodurch er zuletzt unverstŠndlich und ungenie§bar wird. Gerstenberg, ein schšnes aber bizarres Talent, nimmt sich auch zusammen, sein Verdienst wird geschŠtzt, macht aber im ganzen wenig Freude. Gleim, weitschweifig, behaglich von Natur, wird kaum einmal konzis in den Kriegsliedern. Ramler ist eigentlich mehr Kritiker als Poet. Er fŠngt an, was Deutsche im


Lyrischen geleistet, zu sammeln. Nun findet er, da§ ihm kaum ein Gedicht všllig genug tut; er mu§ auslassen, redigieren, verŠndern, damit die Dinge nur einige Gestalt bekommen. Hierdurch macht er sich fast so viel Feinde, als es Dichter und Liebhaber gibt; da sich jeder eigentlich nur an seinen MŠngeln wiedererkennt, und das Publikum sich eher fŸr ein fehlerhaftes Individuelle interessiert als fŸr das, was nach einer allgemeinen Geschmacksregel hervorgebracht oder verbessert wird. Die Rhythmik lag damals noch in der Wiege, und niemand wu§te ein Mittel, ihre Kindheit zu verkŸrzen. Die poetische Prosa nahm Ÿberhand. Ge§ner und Klopstock erregten manche Nachahmer; andere wieder forderten doch ein Silbenma§ und Ÿbersetzten diese Prose in fa§liche Rhythmen. Aber auch diese machten es niemand zu Dank: denn sie mu§ten auslassen und zusetzen, und das prosaische Original galt immer fŸr das Bessere. Je mehr aber bei allem diesem das Gedrungene gesucht wird, desto mehr wird Beurteilung mšglich, weil das Bedeutende, enger zusammengebracht, endlich eine sichere Vergleichung zulŠ§t. Es ergab sich auch zugleich, da§ mehrere Arten von wahrhaft poetischen Formen entstanden: denn indem man von einem jeden Gegenstande, den man nachbilden wollte, nur das Notwendige darzustellen suchte, so mu§te man einem jeden Gerechtigkeit widerfahren lassen, und auf diese Weise, ob es gleich niemand mit Bewu§tsein tat, vermannigfaltigten sich die Darstellungsweisen, unter welchen es freilich auch fratzenhafte gab, und mancher Versuch unglŸcklich ablief.

Ganz ohne Frage besa§ Wieland unter allen das schšnste Naturell. Er hatte sich frŸh in jenen ideellen Regionen ausgebildet, wo die Jugend so gern verweilt; da ihm aber diese durch das, was man Erfahrung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern verleidet wurden, so warf er sich auf die Seite des Wirklichen, und gefiel sich und andern im Widerstreit beider Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im leichten Gefecht, sein Talent am allerschšnsten zeigte.


Wie manche seiner glŠnzenden Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre. "Musarion" wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der Stelle erinnern, wo ich den ersten AushŠngebogen zu Gesicht bekam, welchen mir Oeser mitteilte. Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wieder zu sehen glaubte. Alles, was in Wielands Genie plastisch ist, zeigte sich hier aufs vollkommenste, und da jener zur unglŸcklichen NŸchternheit verdammte Phanias-Timon sich zuletzt wieder mit seinem MŠdchen und der Welt versšhnt, so mag man die menschenfeindliche Epoche wohl auch mit ihm durchleben. †brigens gab man diesen Werken sehr gern einen heiteren Widerwillen gegen erhšhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter Anwendung aufs Leben, šfters der SchwŠrmerei verdŠchtig werden. Man verzieh dem Autor, wenn er das, was man fŸr wahr und ehrwŸrdig hielt, mit Spott verfolgte, um so eher, als er dadurch zu erkennen gab, da§ es ihm selbst immerfort zu schaffen mache.

Wie kŸmmerlich die Kritik solchen Arbeiten damals entgegen kam, lŠ§t sich aus den ersten BŠnden der "Allgemeinen deutschen Bibliothek" ersehen. Der "Komischen ErzŠhlungen" geschieht ehrenvolle ErwŠhnung; aber hier ist keine Spur von Einsicht in den Charakter der Dichtart selbst. Der Rezensent hatte seinen Geschmack, wie damals alle, an Beispielen gebildet. Hier ist nicht bedacht, da§ man vor allen Dingen bei Beurteilung solcher parodistischen Werke den originalen, edlen, schšnen Gegenstand vor Augen haben mŸsse, um zu sehen, ob der Parodist ihm wirklich eine schwache und komische Seite abgewonnen, ob er ihm etwas geborgt, oder, unter dem Schein einer solchen Nachahmung, vielleicht gar selbst eine treffliche Erfindung geliefert? Von allem dem ahndet man nichts, sondern die Gedichte werden stellenweit gelobt und getadelt. Der Rezensent hat, wie er selbst gesteht, so viel, was ihm gefallen, angestrichen, da§ er nicht einmal im Druck alles anfŸhren kann. Kommt man nun gar der hšchst verdienstlichen †bersetzung Shake-


speares mit dem Ausruf entgegen: "Von Rechts wegen sollte man einen Mann wie Shakespeare gar nicht Ÿbersetzt haben," so begreift sich ohne weiteres, wie unendlich weit die "Allgemeine deutsche Bibliothek" in Sachen des Geschmacks zurŸck war, und da§ junge Leute, von wahrem GefŸhl belebt, sich nach anderen Leitsternen umzusehen hatten.

Den Stoff, der auf diese Weise mehr oder weniger die Form bestimmte, suchten die Deutschen Ÿberall auf. Sie hatten wenig oder keine NationalgegenstŠnde behandelt. Schlegels "Herrmann" deutete nur darauf hin. Die idyllische Tendenz verbreitete sich unendlich. Das Charakterlose der Ge§nerschen, bei gro§er Anmut und kindlicher Herzlichkeit, machte jeden glauben, da§ er etwas €hnliches vermšge. Ebenso blo§ aus dem Allgemeinmenschlichen gegriffen waren jene Gedichte, die ein Fremdnationelles darstellen sollten, z.B. die "JŸdischen SchŠfergedichte", Ÿberhaupt die patriarchalischen und was sich sonst auf das Alte Testament bezog. Bodmers "Noachide" war ein vollkommenes Symbol der um den deutschen Parna§ angeschwollenen Wasserflut, die sich nur langsam verlief. Das Anakreontische GegŠngel lie§ gleichfalls unzŠhlige mittelmŠ§ige Kšpfe im Breiten herumschwanken. Die PrŠzision des Horaz nštigte die Deutschen, doch nur langsam, sich ihm gleichzustellen. Komische Heldengedichte, meist nach dem Vorbild von Popes "Lockenraub", dienten auch nicht, eine bessere Zeit herbeizufŸhren.

Noch mu§ ich hier eines Wahnes gedenken, der so ernsthaft wirkte, als er lŠcherlich sein mu§, wenn man ihn nŠher beleuchtet. Die Deutschen hatten nunmehr genugsam historische Kenntnis von allen Dichtarten, worinne sich die verschiedenen Nationen ausgezeichnet hatten. Von Gottsched war schon dieses FŠcherwerk, welches eigentlich den inneren Begriff von Poesie zu Grunde richtet, in seiner "Kritischen Dichtkunst" ziemlich vollstŠndig zusammengezimmert und zugleich nachgewiesen, da§ auch schon deutsche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken auszufŸllen gewu§t.


Und so ging es denn immer fort. Jedes Jahr wurde die Kollektion ansehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus dem Lokal, in dem sie bisher geglŠnzt hatte. Wir besa§en nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch einen Horaz; an Theokriten war kein Mangel; und so wiegte man sich mit Vergleichungen nach au§en, indem die Masse poetischer Werke immer wuchs, damit auch endlich eine Vergleichung nach innen stattfinden konnte.

Stand es nun mit den Sachen des Geschmacks auf einem sehr schwankenden Fu§e, so konnte man jener Epoche auf keine Weise streitig machen, da§ innerhalb des protestantischen Teils von Deutschland und der Schweiz sich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing, was man Menschenverstand zu nennen pflegt. Die Schulphilosophie, welche jederzeit das Verdienst hat, alles dasjenige, wonach der Mensch nur fragen kann, nach angenommenen GrundsŠtzen, in einer beliebten Ordnung, unter bestimmten Rubriken vorzutragen, hatte sich durch das oft Dunkle und UnnŸtzscheinende ihres Inhalts, durch unzeitige Anwendung einer an sich respektabeln Methode und durch die allzu gro§e Verbreitung Ÿber so viele GegenstŠnde der Menge fremd, ungenie§bar und endlich entbehrlich gemacht. Mancher gelangte zur †berzeugung, da§ ihm wohl die Natur so viel guten und geraden Sinn zur Ausstattung gegšnnt habe, als er ungefŠhr bedŸrfe, sich von den GegenstŠnden einen so deutlichen Begriff zu machen, da§ er mit ihnen fertig werden, und zu seinem und anderer Nutzen damit gebaren kšnne, ohne gerade sich um das Allgemeinste mŸhsam zu bekŸmmern und zu forschen, wie doch die entferntesten Dinge, die uns nicht sonderlich berŸhren, wohl zusammenhangen mšchten? Man machte den Versuch, man tat die Augen auf, sah gerade vor sich hin, war aufmerksam, flei§ig, tŠtig, und glaubte, wenn man in seinem Kreis richtig urteile und handle, sich auch wohl herausnehmen zu dŸrfen, Ÿber anderes, was entfernter lag, mitzusprechen.


Nach einer solchen Vorstellung war nun jeder berechtiget, nicht allein zu philosophieren, sondern sich auch nach und nach fŸr einen Philosophen zu halten. Die Philosophie war also ein mehr oder weniger gesunder und geŸbter Menschenverstand, der es wagte, ins Allgemeine zu gehen und Ÿber innere und Šu§ere Erfahrungen abzusprechen. Ein heller Scharfsinn und eine besondere MŠ§igkeit, indem man durchaus die Mittelstra§e und Billigkeit gegen alle Meinungen fŸr das Rechte hielt, verschaffte solchen Schriften und mŸndlichen €u§erungen Ansehen und Zutrauen, und so fanden sich zuletzt Philosophen in allen FakultŠten, ja in allen StŠnden und Hantierungen.

Auf diesem Wege mu§ten die Theologen sich zu der sogenannten natŸrlichen Religion hinneigen, und wenn zur Sprache kam, inwiefern das Licht der Natur uns in der Erkenntnis Gottes, der Verbesserung und Veredlung unserer selbst zu fšrdern hinreichend sei, so wagte man gewšhnlich sich zu dessen Gunsten ohne viel Bedenken zu entscheiden. Aus jenem MŠ§igkeitsprinzip gab man sodann sŠmtlichen positiven Religionen gleiche Rechte, wodurch denn eine mit der andern gleichgŸltig und unsicher wurde. †brigens lie§ man denn doch aber alles bestehen, und weil die Bibel so voller Gehalt ist, da§ sie mehr als jedes andere Buch Stoff zum Nachdenken und Gelegenheit zu Betrachtungen Ÿber die menschlichen Dinge darbietet, so konnte sie durchaus nach wie vor bei allen Kanzelreden und sonstigen religiosen Verhandlungen zum Grunde gelegt werden.

Allein diesem Werke stand, so wie den sŠmtlichen Profanskribenten, noch ein eigenes Schicksal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war. Man hatte nŠmlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, da§ dieses Buch der BŸcher in einem Geiste verfa§t, ja da§ es von dem gšttlichen Geiste eingehaucht und gleichsam diktiert sei. Doch waren schon lŠngst von GlŠubigen und UnglŠubigen die Ungleichheiten der verschiedenen Teile desselben bald gerŸgt, bald verteidigt worden. EnglŠnder, Franzosen, Deut-


sche hatten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit, Scharfsinn, Frechheit, Mutwillen angegriffen, und ebenso war sie wieder von ernsthaften, wohldenkenden Menschen einer jeden Nation in Schutz genommen worden. Ich fŸr meine Person hatte sie lieb und wert: denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrŸckt und war auf eine oder die andere Weise wirksam gewesen. Mir mi§fielen daher die ungerechten, spšttlichen und verdrehenden Angriffe; doch war man damals schon so weit, da§ man teils als einen Hauptverteidigungsgrund vieler Stellen sehr willig annahm, Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen gerichtet, ja, die vom Geiste Getriebenen hŠtten doch deswegen nicht ihren Charakter, ihre IndividualitŠt verleugnen kšnnen, und Amos als Kuhhirte fŸhre nicht die Sprache Jesaias, welcher ein Prinz solle gewesen sein.

Aus solchen Gesinnungen und †berzeugungen entwickelte sich, besonders bei immer wachsenden Sprachkenntnissen, gar natŸrlich jene Art des Studiums, da§ man die orientalischen LokalitŠten, NationalitŠten, Naturprodukte und Erscheinungen genauer zu studieren und sich auf diese Weise jene alte Zeit zu vergegenwŠrtigen suchte. Michaelis legte die ganze Gewalt seines Talents und seiner Kenntnisse auf diese Seite. Reisebeschreibungen wurden ein krŠftiges HŸlfsmittel zu ErklŠrung der Heiligen Schriften, und neuere Reisende, mit vielen Fragen ausgerŸstet, sollten durch Beantwortung derselben fŸr die Propheten und Apostel zeugen.

Indessen aber man von allen Seiten bemŸht war, die Heiligen Schriften zu einem natŸrlichen Anschauen heranzufŸhren, und die eigentliche Denk- und Vorstellungsweise derselben allgemeiner fa§lich zu machen, damit durch diese historisch-kritische Ansicht mancher Einwurf beseitigt, manches Anstš§ige getilgt und jede schale Spštterei unwirksam gemacht wŸrde: so trat in einigen MŠnnern gerade


die entgegengesetzte Sinnesart hervor, indem solche die dunkelsten, geheimnisvollsten Schriften zum Gegenstand ihrer Betrachtungen wŠhlten, und solche aus sich selbst durch Konjekturen, Rechnungen und andere geistreiche und seltsame Kombinationen zwar nicht aufhellen, aber doch bekrŠftigen und, insofern sie Weissagungen enthielten, durch den Erfolg begrŸnden und dadurch einen Glauben an das NŠchstzuerwartende rechtfertigen wollten.

Der ehrwŸrdige Bengel hatte seinen BemŸhungen um die Offenbarung Johannis dadurch einen entschiedenen Eingang verschafft, da§ er als ein verstŠndiger, rechtschaffener, gottesfŸrchtiger, als ein Mann ohne Tadel bekannt war. Tiefe GemŸter sind genštigt, in der Vergangenheit so wie in der Zukunft zu leben. Das gewšhnliche Treiben der Welt kann ihnen von keiner Bedeutung sein, wenn sie nicht, in dem Verlauf der Zeiten bis zur Gegenwart, enthŸllte Prophezeiungen, und in der nŠchsten wie in der fernsten Zukunft verhŸllte Weissagungen verehren. Hierdurch entspringt ein Zusammenhang, der in der Geschichte vermi§t wird, die uns nur ein zufŠlliges Hin- und Widerschwanken in einem notwendig geschlossenen Kreise zu Ÿberliefern scheint. Doktor Crusius gehšrte zu denen, welchen der prophetische Teil der Heiligen Schriften am meisten zusagte, indem er die zwei entgegengesetzten Eigenschaften des menschlichen Wesens zugleich in TŠtigkeit setzt, das GemŸt und den Scharfsinn. Dieser Lehre hatten sich viele JŸnglinge gewidmet, und bildeten schon eine ansehnliche Masse, die um desto mehr in die Augen fiel, als Ernesti mit den Seinigen das Dunkel, in welchem jene sich gefielen, nicht aufzuhellen, sondern všllig zu vertreiben drohte. Daraus entstanden HŠndel, Ha§ und Verfolgung und manches Unannehmliche. Ich hielt mich zur klaren Partei und suchte mir ihre GrundsŠtze und Vorteile zuzueignen, ob ich mir gleich zu ahnden erlaubte, da§ durch diese hšchst lšbliche, verstŠndige Auslegungsweise zuletzt der poetische Gehalt jener Schriften mit dem prophetischen verloren gehen mŸsse.


NŠher aber lag denen, welche sich mit deutscher Literatur und schšnen Wissenschaften abgaben, die BemŸhung solcher MŠnner, die, wie Jerusalem, Zollikofer, Spalding, in Predigten und Abhandlungen, durch einen guten und reinen Stil, der Religion und der ihr so nah verwandten Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack, Beifall und AnhŠnglichkeit zu erwerben suchten. Eine gefŠllige Schreibart fing an, durchaus nštig zu werden, und weil eine solche vor allen Dingen fa§lich sein mu§, so standen von vielen Seiten Schriftsteller auf, welche von ihren Studien, ihrem Metier klar, deutlich, eindringlich, und sowohl fŸr die Kenner als fŸr die Menge zu schreiben unternahmen.

Nach dem Vorgange eines AuslŠnders, Tissot, fingen nunmehr auch die €rzte mit Eifer an, auf die allgemeine Bildung zu wirken. Sehr gro§en Einflu§ hatten Haller, Unzer, Zimmermann, und was man im einzelnen gegen sie, besonders gegen den letzten, auch sagen mag, sie waren zu ihrer Zeit sehr wirksam. Und davon sollte in der Geschichte, vorzŸglich aber in der Biographie, die Rede sein: denn nicht insofern der Mensch etwas zurŸcklŠ§t, sondern insofern er wirkt und genie§t und andere zu wirken und zu genie§en anregt, bleibt er von Bedeutung.

Die Rechtsgelehrten, von Jugend auf gewšhnt an einen abstrusen Stil, welcher sich in allen Expeditionen, von der Kanzelei des unmittelbaren Ritters bis auf den Reichstag zu Regensburg, auf die barockste Weise erhielt, konnten sich nicht leicht zu einer gewissen Freiheit erheben, um so weniger, als die GegenstŠnde, welche sie zu behandeln hatten, mit der Šu§eren Form und folglich auch mit dem Stil aufs genaueste zusammenhingen. Doch hatte der jŸngere von Moser sich schon als ein freier und eigentŸmlicher Schriftsteller bewiesen und PŸtter durch die Klarheit seines Vortrags auch Klarheit in seinen Gegenstand und den Stil gebracht, womit er behandelt werden sollte. Alles, was aus seiner Schule hervorging, zeichnete sich dadurch aus. Und nun fanden die Philosophen selbst sich genštigt, um popular


zu sein, auch deutlich und fa§lich zu schreiben. Mendelsohn, Garve traten auf und erregten allgemeine Teilnahme und Bewunderung.

Mit der Bildung der deutschen Sprache und des Stils in jedem Fache wuchs auch die UrteilsfŠhigkeit, und wir bewundern in jener Zeit Rezensionen von Werken Ÿber religiose und sittliche GegenstŠnde, sowie Ÿber Šrztliche; wenn wir dagegen bemerken, da§ die Beurteilungen von Gedichten und was sich sonst auf schšne Literatur beziehen mag, wo nicht erbŠrmlich, doch wenigstens sehr schwach befunden werden. Dieses gilt sogar von den "Literaturbriefen" und von der "Allgemeinen deutschen Bibliothek", wie von der "Bibliothek der schšnen Wissenschaften", wovon man gar leicht bedeutende Beispiele anfŸhren kšnnte.

Dieses alles mochte jedoch so bunt durch einander gehen, als es wollte, so blieb einem jeden, der etwas aus sich zu produzieren gedachte, der nicht seinen VorgŠngern die Worte und Phrasen nur aus dem Munde nehmen wollte, nichts weiter Ÿbrig, als sich frŸh und spŠt nach einem Stoffe umzusehen, den er zu benutzen gedŠchte. Auch hier wurden wir sehr in der Irre herumgefŸhrt. Man trug sich mit einem Worte von Kleist, das wir oft genug hšren mu§ten. Er hatte nŠmlich gegen diejenigen, welche ihn wegen seiner šftern einsamen SpaziergŠnge beriefen, scherzhaft, geistreich und wahrhaft geantwortet: er sei dabei nicht mŸ§ig, er gehe auf die Bilderjagd. Einem Edelmann und Soldaten ziemte dies Gleichnis wohl, der sich dadurch MŠnnern seines Standes gegenŸberstellte, die mit der Flinte im Arm auf die Hasen und HŸhnerjagd, so oft sich nur Gelegenheit zeigte, aus zugehen nicht versŠumten. Wir finden daher in Kleistens Gedichten von solchen einzelnen, glŸcklich aufgehaschten, obgleich nicht immer glŸcklich verarbeiteten Bildern gar manches, was uns freundlich an die Natur erinnert. Nun aber ermahnte man uns auch ganz ernstlich, auf die Bilderjagd auszugehen, die uns denn doch zuletzt nicht ganz ohne Frucht lie§, obgleich Apels Garten, die KuchengŠrten, das


Rosental, Gohlis, Raschwitz und Connewitz das wunderlichste Revier sein mochte, um poetisches Wildbret darin aufzusuchen. Und doch ward ich aus jenem Anla§ šfters bewogen, meinen Spaziergang einsam anzustellen, und weil weder von schšnen, noch erhabenen GegenstŠnden dem Beschauer viel entgegentrat, und in dem wirklich herrlichen Rosentale zur besten Jahrszeit die MŸcken keinen zarten Gedanken aufkommen lie§en: so ward ich, bei unermŸdet fortgesetzter BemŸhung, auf das Kleinleben der Natur (ich mšchte dieses Wort nach der Analogie von Stilleben gebrauchen) hšchst aufmerksam, und weil die zierlichen Begebenheiten, die man in diesem Kreise gewahr wird, an und fŸr sich wenig vorstellen, so gewšhnte ich mich, in ihnen eine Bedeutung zu sehen, die sich bald gegen die symbolische, bald gegen die allegorische Seite hinneigte, je nachdem Anschauung, GefŸhl oder Reflexion das †bergewicht behielt. Ein Ereignis, statt vieler, gedenke ich zu erzŠhlen.

Ich war, nach Menschenweise, in meinen Namen verliebt und schrieb ihn, wie junge und ungebildete Leute zu tun pflegen, Ÿberall an. Einst hatte ich ihn auch sehr schšn und genau in die glatte Rinde eines Lindenbaums von mŠ§igem Alter geschnitten. Den Herbst darauf, als meine Neigung zu Annetten in ihrer besten BlŸte war, gab ich mir die MŸhe, den ihrigen oben darŸber zu schneiden. Indessen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein launischer Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um sie zu quŠlen und ihr Verdru§ zu machen: FrŸhjahrs besuchte ich zufŠllig die Stelle, und der Saft, der mŠchtig in die BŠume trat, war durch die Einschnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht verharscht waren, hervorgequollen und benetzte mit unschuldigen PflanzentrŠnen die schon hart gewordenen ZŸge des meinigen. Sie also hier Ÿber mich weinen zu sehen, der ich oft ihre TrŠnen durch meine Unarten hervorgerufen hatte, setzte mich in BestŸrzung. In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Liebe kamen mir selbst die TrŠnen in die Augen, ich eilte, ihr alles dop-


pelt und dreifach abzubitten, verwandelte dies Ereignis in eine Idylle, die ich niemals ohne Neigung lesen und ohne RŸhrung anderen vortragen konnte.

Indem ich nun, als ein SchŠfer an der Plei§e, mich in solche zarte GegenstŠnde kindlich genug vertiefte, und immer nur solche wŠhlte, die ich geschwind in meinen Busen zurŸckfŸhren konnte, so war fŸr deutsche Dichter von einer grš§eren und wichtigeren Seite her lŠngst gesorgt gewesen.

Der erste wahre und hšhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Gro§en und die Taten des SiebenjŠhrigen Kriegs in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung mu§ schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Všlker und ihrer Hirten, wenn beide fŸr einen Mann stehe. Kšnige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen, und dadurch viel interessanter werden als die Gštter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Teilnahme derselben entziehen. In diesem Sinne mu§ jede Nation, wenn sie fŸr irgend etwas gelten will, eine Epopše besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts nštig ist.

Die "Kriegslieder", von Gleim angestimmt, behaupten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch Ÿberdies, weil an ihnen die glŸckliche Form, als hŠtte sie ein Mitstreitender in den hšchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden lŠ§t. Ramler singt auf eine andere, hšchst wŸrdige Weise die Taten seines Kšnigs. Alle seine Gedichte sind gehaltvoll, beschŠftigen uns mit gro§en, herzerhebenden GegenstŠnden und behaupten schon dadurch einen unzerstšrlichen Wert.

Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, da§ das Genie, das ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und den wider-


spenstigsten Stoff bezwingen kšnne. Genau besehen, entsteht aber alsdann immer mehr ein KunststŸck als ein Kunstwerk, welches auf einem wŸrdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die Behandlung, durch Geschick, MŸhe und Flei§, die WŸrde des Stoffes nur desto glŸcklicher und herrlicher entgegenbringe.

Die Preu§en und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen also fŸr ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen Mangel sie durch keine nachherige BemŸhung hat ersetzen kšnnen. An dem gro§en Begriff, den die preu§ischen Schriftsteller von ihrem Kšnig hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um desto eifriger, als derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein fŸr allemal nichts von ihnen wissen wollte. Schon frŸher war durch die franzšsische Kolonie, nachher durch die Vorliebe des Kšnigs fŸr die Bildung dieser Nation und fŸr ihre Finanzanstalten eine Masse franzšsischer Kultur nach Preu§en gekommen, welche den Deutschen hšchst fšrderlich ward, indem sie dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgefordert wurden; ebenso war die Abneigung Friedrichs gegen das Deutsche fŸr die Bildung des Literarwesens ein GlŸck. Man tat alles, um sich von dem Kšnig bemerken zu machen, nicht etwa, um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer †berzeugung, man tat, was man fŸr recht erkannte, und wŸnschte und wollte, da§ der Kšnig dieses deutsche Rechte anerkennen und schŠtzen solle. Dies geschah nicht und konnte nicht geschehen: denn wie kann man von einem Kšnig, der geistig leben und genie§en will, verlangen, da§ er seine Jahre verliere, um das, was er fŸr barbarisch hŠlt, nur allzu spŠt entwickelt und genie§bar zu sehen? In Handwerks- und Fabriksachen mochte er wohl sich, besonders aber seinem Volke, statt fremder vortrefflicher Waren, sehr mŠ§ige Surrogate aufnštigen; aber hier geht alles geschwinder zur Vollkommenheit, und es braucht kein Menschenleben, um solche Dinge zur Reife zu bringen.


Eines Werks aber, der wahrsten Ausgeburt des SiebenjŠhrigen Krieges, von vollkommenem norddeutschem Nationalgehalt, mu§ ich hier vor allen ehrenvoll erwŠhnen; es ist die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporŠrem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat: "Minna von Barnhelm". Lessing, der, im Gegensatze von Klopstock und Gleim, die persšnliche WŸrde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu kšnnen, gefiel sich in einem zerstreuten Wirtshaus- und Weltleben, da er gegen sein mŠchtig arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte, und so hatte er sich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien begeben. Man erkennt leicht, wie genanntes StŸck zwischen Krieg und Frieden, Ha§ und Neigung erzeugt ist. Diese Produktion war es, die den Blick in eine so hšhere, bedeutendere Welt aus der literarischen und bŸrgerlichen, in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glŸcklich eršffnete.

Die gehŠssige Spannung, in welcher Preu§en und Sachsen sich wŠhrend dieses Kriegs gegen einander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fŸhlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die ihm der Ÿberstolz gewordene Preu§e geschlagen hatte Durch den politischen Frieden konnte der Friede zwischen den GemŸtern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmut und LiebenswŸrdigkeit der SŠchsinnen Ÿberwindet den Wert, die WŸrde, den Starrsinn der Preu§en, und sowohl an den Hauptpersonen als den Subalternen wird eine glŸckliche Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemŠ§ dargestellt.

Habe ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen Ÿber deutsche Literatur meine Leser in einige Verwirrung gesetzt, so ist es mir geglŸckt, eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben, in welchem sich mein armes Gehirn befand, als, im Konflikt zweier fŸr das


literarische Vaterland so bedeutender Epochen, so viel Neues auf mich eindrŠngte, ehe ich mich mit dem Alten hatte abfinden kšnnen, so viel Altes sein Recht noch Ÿber mich gelten machte, da ich schon Ursache zu haben glaubte, ihm všllig entsagen zu dŸrfen. Welchen Weg ich einschlug, mich aus dieser Not, wenn auch nur Schritt vor Schritt, zu retten, will ich gegenwŠrtig mšglichst zu Ÿberliefern suchen.

Die weitschweifige Periode, in welche meine Jugend gefallen war, hatte ich treuflei§ig, in Gesellschaft so vieler wŸrdigen MŠnner, durchgearbeitet. Die mehreren QuartbŠnde Manuskript, die ich meinem Vater zurŸcklie§, konnten zum genŸgsamen Zeugnisse dienen, und welche Masse von Versuchen, EntwŸrfen, bis zur HŠlfte ausgefŸhrten VorsŠtzen war mehr aus Mi§mut als aus †berzeugung in Rauch aufgegangen! Nun lernte ich durch Unterredung Ÿberhaupt, durch Lehre, durch so manche widerstreitende Meinung, besonders aber durch meinen Tischgenossen, den Hofrat Pfeil, das Bedeutende des Stoffs und das Konzise der Behandlung mehr und mehr schŠtzen, ohne mir jedoch klar machen zu kšnnen, wo jenes zu suchen und wie dieses zu erreichen sei. Denn bei der gro§en BeschrŠnktheit meines Zustandes, bei der GleichgŸltigkeit der Gesellen, dem ZurŸckhalten der Lehrer, der Abgesondertheit gebildeter Einwohner, bei ganz unbedeutenden NaturgegenstŠnden war ich genštigt, alles in mir selbst zu suchen. Verlangte ich nun zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mu§te ich in meinen Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus dem Kreise heraustreten, der mich zu berŸhren, mir ein Interesse einzuflš§en geeignet war. In diesem Sinne schrieb ich zuerst gewisse kleine Gedichte in Liederform oder freierem Silbenma§; sie entspringen aus Reflexion, handeln vom Vergangenen und nehmen meist eine epigrammatische Wendung.

Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben Ÿber nicht abweichen konnte, nŠmlich dasjenige,


was mich erfreute oder quŠlte, oder sonst beschŠftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darŸber mit mir selbst abzuschlie§en, um sowohl meine Begriffe von den Šu§eren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nštiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur BruchstŸcke einer gro§en Konfession, welche vollstŠndig zu machen dieses BŸchlein ein gewagter Versuch ist.

Meine frŸhere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein €nnchen Ÿbergetragen, von der ich nicht mehr zu sagen wŸ§te, als da§ sie jung, hŸbsch, munter, liebevoll und so angenehm war, da§ sie wohl verdiente, in dem Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie tŠglich ohne Hindernisse, sie half die Speisen bereiten, die ich geno§, sie brachte mir wenigstens abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittŠgige abgeschlossene Tischgesellschaft war BŸrge, da§ das kleine, von wenig GŠsten au§er der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente. Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von ZachariŠ, spielten den "Herzog Michel" von KrŸger, wobei ein zusammengeknŸpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mu§te, und so ging es eine Zeitlang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen VerhŠltnisse, je unschuldiger sie sind, desto weniger Mannigfaltigkeit auf die Dauer gewŠhren, so ward ich von jener bšsen Sucht befallen, die uns verleitet, aus der QuŠlerei der Geliebten eine Unterhaltung zu schaffen und die Ergebenheit eines MŠdchens mit willkŸrlichen und tyrannischen Grillen zu beherrschen. Die bšse Laune Ÿber das Mi§lingen meiner poetischen Versuche, Ÿber die anscheinende Unmšglichkeit, hierŸber ins


klare zu kommen, und Ÿber alles, was mich hie und da sonst kneipen mochte, glaubte ich an ihr auslassen zu dŸrfen, weil sie mich wirklich von Herzen liebte und, was sie nur immer konnte, mir zu Gefallen tat. Durch ungegrŸndete und abgeschmackte EifersŸchteleien verdarb ich mir und ihr die schšnsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs €u§erste zu treiben. Allein zu meiner BeschŠmung und Verzweiflung mu§te ich endlich bemerken, da§ sich ihr GemŸt von mir entfernt habe, und da§ ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt sein mšchte, die ich mir ohne Not und Ursache erlaubt hatte. Es gab auch schreckliche Szenen unter uns, bei welchen ich nichts gewann; und nun fŸhlte ich erst, da§ ich sie wirklich liebte und da§ ich sie nicht entbehren kšnne. Meine Leidenschaft wuchs und nahm alle Formen an, deren sie unter solchen UmstŠnden fŠhig ist; ja zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des MŠdchens. Alles mšgliche suchte ich hervor, um ihr gefŠllig zu sein, ihr sogar durch andere Freude zu verschaffen: denn ich konnte mir die Hoffnung, sie wieder zu gewinnen, nicht versagen. Allein es war zu spŠt! ich hatte sie wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir selbst rŠchte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine physische Natur stŸrmte, um der sittlichen etwas zu Leide zu tun, hat sehr viel zu den kšrperlichen †beln beigetragen, unter denen ich einige der besten Jahre meines Lebens verlor; ja, ich wŠre vielleicht an diesem Verlust všllig zugrunde gegangen, hŠtte sich nicht hier das poetische Talent mit seinen HeilkrŠften besonders hŸlfreich erwiesen.

Schon frŸher hatte ich in manchen Intervallen meine Unart deutlich genug wahrgenommen. Das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich sie so ganz ohne Not von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige und dagegen den zufriedenen Zustand eines anderen Paares aus unserer Gesellschaft so oft und so umstŠndlich vor, da§ ich endlich nicht lassen konnte, diese Situation, zu einer quŠlenden und


belehrenden Bu§e, dramatisch zu behandeln. Daraus entsprang die Šlteste meiner Ÿberbliebenen dramatischen Arbeiten, das kleine StŸck "Die Laune des Verliebten", an dessen unschuldigem Wesen man zugleich den Drang einer siedenden Leidenschaft gewahr wird.

Allein mich hatte eine tiefe, bedeutende, drangvolle Welt schon frŸher angesprochen. Bei meiner Geschichte mit Gretchen und an den Folgen derselben hatte ich zeitig in die seltsamen IrrgŠnge geblickt, mit welchen die bŸrgerliche SozietŠt unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, VerhŠltnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die OberflŠche des stŠdtischen Daseins. Die von herrlichen HŠusern eingefa§ten Stra§en werden reinlich gehalten, und jedermann betrŠgt sich daselbst anstŠndig genug; aber im Innern sieht es šfters um desto wŸster aus, und ein glattes €u§ere ŸbertŸncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche GemŠuer, das Ÿber Nacht zusammenstŸrzt, und eine desto schrecksichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht. Wie viele Familien hatte ich nicht schon nŠher und ferner durch Banqueroute, Ehescheidungen, verfŸhrte Tšchter, Morde, HausdiebstŠhle, Vergiftungen entweder ins Verderben stŸrzen, oder auf dem Rande kŸmmerlich erhalten sehen, und hatte, so jung ich war, in solchen FŠllen zu Rettung und HŸlfe šfters die Hand geboten: denn da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine Verschwiegenheit erprobt war, meine TŠtigkeit keine Opfer scheute und in den gefŠhrlichsten FŠllen am liebsten wirken mochte: so fand ich oft genug Gelegenheit, zu vermitteln, zu vertuschen, den Wetterstrahl abzuleiten, und was sonst nur alles geleistet werden kann; wobei es nicht fehlen konnte, da§ ich sowohl an mir selbst, als durch andere zu manchen krŠnkenden und demŸtigenden Erfahrungen gelangen mu§te. Um mir Luft zu verschaffen, entwarf ich mehrere Schauspiele und schrieb die Expositionen von den meisten. Da aber die Verwicklungen jederzeit Šngstlich werden mu§ten, und fast alle diese StŸcke mit einem tragischen Ende


drohten, lie§ ich eins nach dem anderen fallen. Die "Mitschuldigen" sind das einzige fertig gewordene, dessen heiteres und burleskes Wesen auf dem dŸsteren Familiengrunde als von etwas BŠnglichem begleitet erscheint, so da§ es bei der Vorstellung im ganzen Šngstiget, wenn es im einzelnen ergetzt. Die hart ausgesprochenen widergesetzlichen Handlungen verletzen das Šsthetische und moralische GefŸhl, und deswegen konnte das StŸck auf dem deutschen Theater keinen Eingang gewinnen, obgleich die Nachahmungen desselben, welche sich fern von jenen Klippen gehalten, mit Beifall aufgenommen worden.

Beide genannte StŸcke jedoch sind, ohne da§ ich mir dessen bewu§t gewesen wŠre, in einem hšheren Gesichtspunkt geschrieben. Sie deuten auf eine vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung, und sprechen in etwas herben und derben ZŸgen jenes hšchst christliche Wort spielend aus: Wer sich ohne SŸnde fŸhlt, der hebe den ersten Stein auf.

†ber diesen Ernst, der meine ersten StŸcke verdŸsterte, beging ich den Fehler, sehr gŸnstige Motive zu versŠumen, welche ganz entschieden in meiner Natur lagen. Es entwickelte sich nŠmlich unter jenen ernsten, fŸr einen jungen Menschen fŸrchterlichen Erfahrungen in mir ein verwegner Humor, der sich dem Augenblick Ÿberlegen fŸhlt, nicht allein keine Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig herbeilockt. Der Grund davon lag in dem †bermute, in welchem sich das krŠftige Alter so sehr gefŠllt, und der, wenn er sich possenhaft Šu§ert, sowohl im Augenblick als in der Erinnerung viel VergnŸgen macht. Diese Dinge sind so gewšhnlich, da§ sie in dem Wšrterbuche unserer jungen akademischen Freunde Suiten genannt werden, und da§ man, wegen der nahen Verwandtschaft, ebenso gut Suiten rei§en sagt als Possen rei§en.

Solche humoristische KŸhnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht, sind von der grš§ten Wirkung. Sie unterscheiden sich von der Intrige dadurch, da§ sie momentan sind, und da§ ihr Zweck, wenn sie ja einen haben


sollten, nicht in der Ferne liegen darf. Beaumarchais hat ihren ganzen Wert gefa§t, die Wirkungen seiner Figaros entspringen vorzŸglich daher. Wenn nun solche gutmŸtige Schalks- und Halbschelmenstreiche zu edlen Zwecken, mit persšnlicher Gefahr ausgeŸbt werden, so sind die daraus entspringenden Situationen, Šsthetisch und moralisch betrachtet, fŸr das Theater von dem grš§ten Wert wie denn z. B. die Oper "Der WassertrŠger" vielleicht das glŸcklichste Sujet behandelt, das wir je auf dem Theater gesehen haben.

Um die unendliche Langeweile des tŠglichen Lebens zu erheitern, Ÿbte ich unzŠhlige solcher Streiche, teils ganz vergeblich, teils zu Zwecken meiner Freunde, denen ich gern gefŠllig war. FŸr mich selbst wŸ§te ich nicht, da§ ich ein einzig Mal hiebei absichtlich gehandelt hŠtte, auch kam ich niemals darauf, ein Unterfangen dieser Art als einen Gegenstand fŸr die Kunst zu betrachten; hŠtte ich aber solche Stoffe, die mir so nahe zur Hand lagen, ergriffen und ausgebildet, so wŠren meine ersten Arbeiten heiterer und brauchbarer gewesen. Einiges, was hierher gehšrt, kommt zwar spŠter bei mir vor, aber einzeln und absichtlos.

Denn da uns das Herz immer nŠher liegt als der Geist, und uns dann zu schaffen macht, wenn dieser sich wohl zu helfen wei§, so waren mir die Angelegenheiten des Herzens immer als die wichtigsten erschienen. Ich ermŸdete nicht Ÿber FlŸchtigkeit der Neigungen, Wandelbarkeit des menschlichen Wesens, sittliche Sinnlichkeit und Ÿber alle das Hohe und Tiefe nachzudenken, dessen VerknŸpfung in unserer Natur als das RŠtsel des Menschenlebens betrachtet werden kann. Auch hier suchte ich das, was mich quŠlte, in einem Lied, einem Epigramm, in irgend einem Reim loszuwerden, die, weil sie sich auf die eigensten GefŸhle und auf die besondersten UmstŠnde bezogen, kaum jemand anderes interessieren konnten als mich selbst.

Meine Šu§eren VerhŠltnisse hatten sich indessen nach Verlauf weniger Zeit gar sehr verŠndert. Madame Bšhme


war nach einer langen und traurigen Krankheit endlich gestorben; sie hatte mich zuletzt nicht mehr vor sich gelassen. Ihr Mann konnte nicht sonderlich mit mir zufrieden sein; ich schien ihm nicht flei§ig genug und zu leichtsinnig. Besonders nahm er es mir sehr Ÿbel, als ihm verraten wurde, da§ ich im deutschen Staatsrechte, anstatt gehšrig nachzuschreiben, die darin aufgefŸhrten Personen, als den Kammerrichter, die PrŠsidenten und Beisitzer, mit seltsamen PerŸcken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch diese Possen meine aufmerksamen Nachbarn zerstreut und zum Lachen gebracht hatte. Er lebte nach dem Verlust seiner Frau noch eingezogner als vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um seinen VorwŸrfen auszuweichen. Besonders aber war es ein UnglŸck, da§ Gellert sich nicht der Gewalt bedienen wollte, die er Ÿber uns hŠtte ausŸben kšnnen. Freilich hatte er nicht Zeit, den Beichtvater zu machen, und sich nach der Sinnesart und den Gebrechen eines jeden zu erkundigen; daher nahm er die Sache sehr im ganzen und glaubte uns mit den kirchlichen Anstalten zu bezwingen; deswegen er gewšhnlich, wenn er uns einmal vor sich lie§, mit gesenkten Kšpfchen und der weinerlich angenehmen Stimme zu fragen pflegte, ob wir denn auch flei§ig in die Kirche gingen, wer unser Beichtvater sei und ob wir das heilige Abendmahl genossen? Wenn wir nun bei diesem Examen schlecht bestanden, so wurden wir mit Wehklagen entlassen; wir waren mehr verdrie§lich als erbaut, konnten aber doch nicht umhin, den Mann herzlich lieb zu haben.

Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht unterlassen, aus meiner frŸheren Jugend etwas nachzuholen, um anschaulich zu machen, wie die gro§en Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang behandelt werden mŸssen, wenn sie sich fruchtbar, wie man von ihr erwartet, beweisen soll. Der protestantische Gottesdienst hat zu wenig FŸlle und Konsequenz, als da§ er die Gemeine zusammen halten kšnnte; daher geschieht es leicht, da§ Glieder sich von ihr absondern und entweder kleine Gemeinen bilden,


oder, ohne kirchlichen Zusammenhang, neben einander geruhig ihr bŸrgerliches Wesen treiben. So klagte man schon vor geraumer Zeit, die KirchengŠnger verminderten sich von Jahr zu Jahr und in eben dem VerhŠltnis die Personen, welche den Genu§ des Nachtmahls verlangten. Was beides, besonders aber das letztere betrifft, liegt die Ursache sehr nah; doch wer wagt sie auszusprechen? Wir wollen es versuchen.

In sittlichen und religiosen Dingen, ebensowohl als in physischen und bŸrgerlichen, mag der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegreife tun; eine Folge, woraus Gewohnheit entspringt, ist ihm nštig; das, was er lieben und leisten soll, kann er sich nicht einzeln, nicht abgerissen denken, und um etwas gern zu wiederholen, mu§ es ihm nicht fremd geworden sein. Fehlt es dem protestantischen Kultus im ganzen an FŸlle, so untersuche man das einzelne, und man wird finden, der Protestant hat zu wenig Sakramente, ja er hat nur eins, bei dem er sich tŠtig erweist, das Abendmahl: denn die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen, und es wird ihm nicht wohl dabei. Die Sakramente sind das Hšchste der Religion, das sinnliche Symbol einer au§erordentlichen gšttlichen Gunst und Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein gšttliches Wesen verkšrpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer himmlischen teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen Kirchen ebenderselbe, es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger Ergebung in das Geheimnis, mit mehr oder weniger Akkommodation an das, was verstŠndlich ist, genossen; immer bleibt es eine heilige, gro§e Handlung, welche sich in der Wirklichkeit an die Stelle des Mšglichen oder Unmšglichen, an die Stelle desjenigen setzt, was der Mensch weder erlangen noch entbehren kann. Ein solches Sakrament dŸrfte aber nicht allein stehen; kein Christ kann es mit wahrer Freude, wozu es gegeben ist, genie§en, wenn nicht der symbolische oder sakramentliche Sinn in ihm genŠhrt ist. Er mu§ gewohnt sein, die innere Religion des Herzens und die der Šu§eren Kirche als vollkommen


eins anzusehen, als das gro§e allgemeine Sakrament, das sich wieder in so viel andere zergliedert und diesen Teilen seine Heiligkeit, Unzerstšrlichkeit und Ewigkeit mitteilt.

Hier reicht ein jugendliches Paar sich einander die HŠnde, nicht zum vorŸbergehenden Gru§ oder zum Tanze; der Priester spricht seinen Segen darŸber aus, und das Band ist unauflšslich. Es wŠhrt nicht lange, so bringen diese Gatten ein Ebenbild an die Schwelle des Altars; es wird mit heiligem Wasser gereinigt und der Kirche dergestalt einverleibt, da§ es diese Wohltat nur durch den ungeheuersten Abfall verscherzen kann. Das Kind Ÿbt sich im Leben an den irdischen Dingen selbst heran, in himmlischen mu§ es unterrichtet werden. Zeigt sich bei der PrŸfung, da§ dies vollstŠndig geschehen sei, so wird es nunmehr als wirklicher BŸrger, als wahrhafter und freiwilliger Bekenner in den Scho§ der Kirche aufgenommen, nicht ohne Šu§ere Zeichen der Wichtigkeit dieser Handlung. Nun ist er erst entschieden ein Christ, nun kennt er erst die Vorteile, jedoch auch die Pflichten. Aber inzwischen ist ihm als Menschen manches Wunderliche begegnet, durch Lehren und Strafen ist ihm aufgegangen, wie bedenklich es mit seinem Innern aussehe, und immerfort wird noch von Lehren und von †bertretungen die Rede sein; aber die Strafe soll nicht mehr stattfinden. Hier ist ihm nun in der unendlichen Verworrenheit, in die er sich, bei dem Widerstreit natŸrlicher und religioser Forderungen, verwickeln mu§, ein herrliches Auskunftsmittel gegeben, seine Taten und Untaten, seine Gebrechen und seine Zweifel einem wŸrdigen, eigens dazu bestellten Manne zu vertrauen, der ihn zu beruhigen, zu warnen, zu stŠrken, durch gleichfalls symbolische Strafen zu zŸchtigen und ihn zuletzt, durch ein všlliges Auslšschen seiner Schuld, zu beseligen und ihm rein und abgewaschen die Tafel seiner Menschheit wieder zu Ÿbergeben wei§. So, durch mehrere sakramentliche Handlungen, welche sich wieder, bei genauerer Ansicht, in sakramentliche kleinere ZŸge verzweigen, vorbereitet und rein beruhigt, kniet er


hin, die Hostie zu empfangen; und da§ ja das Geheimnis dieses hohen Akts noch gesteigert werde, sieht er den Kelch nur in der Ferne, es ist kein gemeines Essen und Trinken, was befriedigt, es ist eine Himmelsspeise, die nach himmlischem Tranke durstig macht.

Jedoch glaube der JŸngling nicht, da§ es damit abgetan sei; selbst der Mann glaube es nicht! Denn wohl in irdischen VerhŠltnissen gewšhnen wir uns zuletzt, auf uns selber zu stehen, und auch da wollen nicht immer Kenntnisse, Verstand und Charakter hinreichen; in himmlischen Dingen dagegen lernen wir nie aus. Das hšhere GefŸhl in uns, das sich oft selbst nicht einmal recht zu Hause findet, wird noch Ÿberdies von so viel €u§erem bedrŠngt, da§ unser eignes Vermšgen wohl schwerlich alles darreicht, was zu Rat, Trost und HŸlfe nštig wŠre. Dazu aber verordnet findet sich nun auch jenes Heilmittel fŸr das ganze Leben, und stets harrt ein einsichtiger, frommer Mann, um Irrende zurecht zu weisen und GequŠlte zu erledigen.

Und was nun durch das ganze Leben so erprobt worden, soll an der Pforte des Todes alle seine HeilkrŠfte zehnfach tŠtig erweisen. Nach einer von Jugend auf eingeleiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der HinfŠllige jene symbolischen, deutsamen Versicherungen mit Inbrunst an, und ihm wird da, wo jede irdische Garantie verschwindet, durch eine himmlische fŸr alle Ewigkeit ein seliges Dasein zugesichert. Er fŸhlt sich entschieden Ÿberzeugt, da§ weder ein feindseliges Element, noch ein mi§wollender Geist ihn hindern kšnne, sich mit einem verklŠrten Leibe zu umgeben, um in unmittelbaren VerhŠltnissen zur Gottheit an den unerme§lichen Seligkeiten teilzunehmen, die von ihr ausflie§en.

Zum Schlusse werden sodann, damit der ganze Mensch geheiligt sei, auch die FŸ§e gesalbt und gesegnet. Sie sollen, selbst bei mšglicher Genesung, einen Widerwillen empfinden, diesen irdischen, harten, undurchdringlichen Boden zu berŸhren. Ihnen soll eine wundersame Schnellkraft mitgeteilt werden, wodurch sie den Erdschollen, der sie bisher


anzog, unter sich absto§en. Und so ist durch einen glŠnzenden Zirkel gleichwŸrdig heiliger Handlungen, deren Schšnheit von uns nur kurz angedeutet worden, Wiege und Grab, sie mšgen zufŠllig noch so weit aus einander gerŸckt liegen, in einem stetigen Kreise verbunden.

Aber alle diese geistigen Wunder entsprie§en nicht, wie andere FrŸchte, dem natŸrlichen Boden, da kšnnen sie weder gesŠet noch gepflanzt noch gepflegt werden. Aus einer anderen Region mu§ man sie herŸberflehen, welches nicht jedem, noch zu jeder Zeit gelingen wŸrde. Hier entgegnet uns nun das hšchste dieser Symbole aus alter frommer †berlieferung. Wir hšren, da§ ein Mensch vor dem andern von oben begŸnstigt, gesegnet und geheiligt werden kšnne. Damit aber dies ja nicht als Naturgabe erscheine, so mu§ diese gro§e, mit einer schweren Pflicht verbundene Gunst von einem Berechtigten auf den anderen Ÿbergetragen, und das grš§te Gut, was ein Mensch erlangen kann, ohne da§ er jedoch dessen Besitz von sich selbst weder erringen, noch ergreifen kšnne, durch geistige Erbschaft auf Erden erhalten und verewigt werden. Ja, in der Weihe des Priesters ist alles zusammengefa§t, was nštig ist, um diejenigen heiligen Handlungen wirksam zu begehen, wodurch die Menge begŸnstigt wird, ohne da§ sie irgend eine andere TŠtigkeit dabei nštig hŠtte, als die des Glaubens und des unbedingten Zutrauens. Und so tritt der Priester in der Reihe seiner Vorfahren und Nachfolger, in dem Kreise seiner Mitgesalbten, den hšchsten Segnenden darstellend, um so herrlicher auf, als es nicht er ist, den wir verehren, sondern sein Amt, nicht sein Wink, vor dem wir die Kniee beugen, sondern der Segen, den er erteilt, und der um desto heiliger, unmittelbarer vom Himmel zu kommen scheint, weil ihn das irdische Werkzeug nicht einmal durch sŸndhaftes, ja lasterhaftes Wesen schwŠchen oder gar entkrŠften kšnnte.

Wie ist nicht dieser wahrhaft geistige Zusammenhang im Protestantismus zersplittert! indem ein Teil gedachter Symbole fŸr apokryphisch und nur wenige fŸr kanonisch er-


klŠrt werden, und wie will man uns durch das GleichgŸltige der einen zu der hohen WŸrde der anderen vorbereiten?

Ich ward zu meiner Zeit bei einem guten, alten, schwachen Geistlichen, der aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hauses gewesen, in den Religionsunterricht gegeben. Den Katechismus, eine Paraphrase desselben, die Heilsordnung wu§te ich an den Fingern herzuerzŠhlen, von den krŠftig beweisenden biblischen SprŸchen fehlte mir keiner; aber von alledem erntete ich keine Frucht; denn als man mir versicherte, da§ der brave alte Mann seine HauptprŸfung nach einer alten Formel einrichte, so verlor ich alle Lust und Liebe zur Sache, lie§ mich die letzten acht Tage in allerlei Zerstreuungen ein, legte die von einem Šlteren Freund erborgten, dem Geistlichen abgewonnenen BlŠtter in meinen Hut und las gemŸt- und sinnlos alles dasjenige her, was ich mit GemŸt und †berzeugung wohl zu Šu§ern gewu§t hŠtte.

Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufstreben in diesem wichtigen Falle durch trocknen, geistlosen Schlendrian noch schlimmer paralysiert, als ich mich nunmehr dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner gro§en Fehler bewu§t, und gerade das Bewu§tsein verringerte sie, weil es mich auf die moralische Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt Ÿber den alten Adam Herr werden sollte. Wir waren belehrt, da§ wir eben darum viel besser als die Katholiken seien, weil wir im Beichtstuhl nichts Besonderes zu bekennen brauchten, ja, da§ es auch nicht einmal schicklich wŠre, selbst wenn wir es tun wollten. Dieses letzte war mir gar nicht recht: denn ich hatte die seltsamsten religišsen Zweifel, die ich gern bei einer solchen Gelegenheit berichtiget hŠtte. Da nun dieses nicht sein sollte, so verfa§te ich mir eine Beichte, die, indem sie meine ZustŠnde wohl ausdrŸckte, einem verstŠndigen Manne dasjenige im allgemeinen bekennen sollte, was mir im einzelnen zu sagen verboten war. Aber als ich in das alte BarfŸ§erchor hinein-


trat, mich den wunderlichen vergitterten SchrŠnken nŠherte, in welchen die geistlichen Herren sich zu diesem Akte einzufinden pflegten, als mir der Glšckner die TŸre eršffnete und ich mich nun gegen meinen geistlichen Gro§vater in dem engen Raume eingesperrt sah, und er mich mit seiner schwachen, nŠselnden Stimme willkommen hie§, erlosch auf einmal alles Licht meines Geistes und Herzens, die wohl memorierte Beichtrede wollte mir nicht Ÿber die Lippen, ich schlug in der Verlegenheit das Buch auf, das ich in HŠnden haue, und las daraus die erste beste kurze Formel, die so allgemein war, da§ ein jeder sie ganz geruhig hŠtte aussprechen kšnnen. Ich empfing die Absolution und entfernte mich weder warm noch kalt, ging den andern Tag mit meinen Eltern zu dem Tische des Herrn, und betrug mich ein paar Tage, wie es sich nach einer so heiligen Handlung wohl ziemte.

In der Folge trat jedoch bei mir das †bel hervor, welches aus unserer durch mancherlei Dogmen komplizierten, auf BibelsprŸche, die mehrere Auslegungen zulassen, gegrŸndeten Religion bedenkliche Menschen dergestalt anfŠllt, da§ es hypochondrische ZustŠnde nach sich zieht und diese, bis zu ihrem hšchsten Gipfel, zu fixen Ideen steigert. Ich habe mehrere Menschen gekannt, die, bei einer ganz verstŠndigen Sinnes- und Lebensweise, sich von dem Gedanken an die SŸnde in den heiligen Geist und von der Angst, solche begangen zu haben, nicht losmachen konnten. Ein gleiches Unheil drohte mir in der Materie von dem Abendmahl. Es hatte nŠmlich schon sehr frŸh der Spruch, da§ einer, der das Sakrament unwŸrdig genie§e, sich selbst das Gericht esse und trinke, einen ungeheueren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furchtbare was ich in den Geschichten der Mittelzeit von Gottesurteilen, den seltsamsten PrŸfungen durch glŸhendes Eisen, flammendes Feuer, schwellendes Wasser gelesen hatte, selbst was uns die Bibel von der Quelle erzŠhlt, die dem Unschuldigen wohl bekommt, den Schuldigen aufblŠht und bersten macht, das alles stellte sich


meiner Einbildungskraft dar und vereinigte sich zu dem hšchsten Furchtbaren, indem falsche Zusage, Heuchelei, Meineid, GotteslŠsterung, alles bei der heiligsten Handlung auf dem UnwŸrdigen zu lasten schien, welches um so schrecklicher war, als ja niemand sich fŸr wŸrdig erklŠren durfte, und man die Vergebung der SŸnden, wodurch zuletzt alles ausgeglichen werden sollte, doch auf so manche Weise bedingt fand, da§ man nicht sicher war, sie sich mit Freiheit zueignen zu dŸrfen.

Dieser dŸstre Skrupel quŠlte mich dergestalt, und die Auskunft, die man mir als hinreichend vorstellen wollte, schien mir so kahl und schwach, da§ jenes Schreckbild nur an furchtbarem Ansehen dadurch gewann und ich mich, sobald ich Leipzig erreicht hatte, von der kirchlichen Verbindung ganz und gar loszuwinden suchte. Wie drŸckend mu§ten mir daher Gellerts Anmahnungen werden! den ich, bei seiner ohnehin lakonischen Behandlungsart, womit er unsere Zudringlichkeit abzulehnen genštigt war, mit solchen wunderlichen Fragen nicht belŠstigen wollte, um so weniger, als ich mich derselben in heiteren Stunden selbstschŠmte, und zuletzt diese seltsame Gewissensangst mit Kirche und Altar všllig hinter mir lie§.

Gellert hatte sich nach seinem frommen GemŸt eine Moral aufgesetzt, welche er von Zeit zu Zeit šffentlich ablas und sich dadurch gegen das Publikum auf eine ehrenvolle Weise seiner Pflicht entledigte. Gellerts Schriften waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen Kultur, und jedermann wŸnschte sehnlich, jenes Werk gedruckt zu sehen, und da dieses nur nach des guten Mannes Tode geschehen sollte, so hielt man sich sehr glŸcklich, es bei seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hšren. Das philosophische Auditorium war in solchen Stunden gedrŠngt voll, und die schšne Seele, der reine Wille, die Teilnahme des edlen Mannes an unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnungen und Bitten, in einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl einen augen-


blicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um so weniger, als sich doch manche Spštter fanden, welche diese weiche und, wie sie glaubten, entnervende Manier uns verdŠchtig zu machen wu§ten. Ich erinnere mich eines durchreisenden Franzosen, der sich nach den Maximen und Gesinnungen des Mannes erkundigte, welcher einen so ungeheueren Zulauf hatte. Als wir ihm den nštigen Bericht gegeben, schŸttelte er den Kopf und sagte lŠchelnd: "Laissez le faire, il nous forme des dupes."

Und so wu§te denn auch die gute Gesellschaft, die nicht leicht etwas WŸrdiges in ihrer NŠhe dulden kann, den sittlichen Einflu§, welchen Gellert auf uns haben mochte, gelegentlich zu verkŸmmern. Bald wurde es ihm Ÿbel genommen, da§ er die vornehmen und reichen DŠnen, die ihm besonders empfohlen waren, besser als die Ÿbrigen Studierenden unterrichte, und eine ausgezeichnete Sorge fŸr sie trage; bald wurde es ihm als Eigennutz und Nepotismus angerechnet, da§ er eben fŸr diese jungen MŠnner einen Mittagstisch bei seinem Bruder einrichten lassen. Dieser, ein gro§er, ansehnlicher, derber, kurz gebundener, etwas roher Mann, sollte Fechtmeister gewesen sein und, bei allzu gro§er Nachsicht seines Bruders, die edlen Tischgenossen manchmal hart und rauh behandeln; daher glaubte man nun wieder sich dieser jungen Leute annehmen zu mŸssen, und zerrte so den guten Namen des trefflichen Gellert dergestalt hin und wider, da§ wir zuletzt, um nicht irre an ihm zu werden, gleichgŸltig gegen ihn wurden und uns nicht mehr vor ihm sehen lie§en; doch grŸ§ten wir ihn immer auf das beste, wenn er auf seinem zahmen Schimmel einhergeritten kam. Dieses Pferd hatte ihm der KurfŸrst geschenkt, um ihn zu einer seiner Gesundheit so nštigen Bewegung zu verbinden; eine Auszeichnung, die ihm nicht leicht zu verzeihen war.

Und so rŸckte nach und nach der Zeitpunkt heran, wo mir alle AutoritŠt verschwinden und ich selbst an den grš§ten und besten Individuen, die ich gekannt oder mir gedacht hatte, zweifeln, ja verzweifeln sollte.


Friedrich der Zweite stand noch immer Ÿber allen vorzŸglichen MŠnnern des Jahrhunderts in meinen Gedanken, und es mu§te mir daher sehr befremdend vorkommen, da§ ich ihn so wenig vor den Einwohnern von Leipzig als sonst in meinem gro§vŠterlichen Hause loben durfte. Sie hatten freilich die Hand des Krieges schwer gefŸhlt, und es war ihnen deshalb nicht zu verargen, da§ sie von demjenigen, der ihn begonnen und fortgesetzt, nicht das Beste dachten. Sie wollten ihn daher wohl fŸr einen vorzŸglichen, aber keineswegs fŸr einen gro§en Mann gelten lassen. Es sei keine Kunst, sagten sie, mit gro§en Mitteln einiges zu leisten; und wenn man weder LŠnder, noch Geld, noch Blut schone, so kšnne man zuletzt schon seinen Vorsatz ausfŸhren. Friedrich habe sich in keinem seiner Plane und in nichts, was er sich eigentlich vorgenommen, gro§ bewiesen. So lange es von ihm abgehangen, habe er nur immer Fehler gemacht, und das Au§erordentliche sei nur alsdann zum Vorschein gekommen, wenn er genštigt gewesen, eben diese Fehler wieder gutzumachen; und blo§ daher sei er zu dem gro§en Rufe gelangt, weil jeder Mensch sich dieselbige Gabe wŸnsche, die Fehler, die man hŠufig begeht, auf eine geschickte Weise wieder ins gleiche zu bringen. Man dŸrfe den SiebenjŠhrigen Krieg nur Schritt vor Schritt durchgehen, so werde man finden, da§ der Kšnig seine treffliche Armee ganz unnŸtzer Weise aufgeopfert und selbst schuld daran gewesen, da§ diese verderbliche Fehde sich so sehr in die LŠnge gezogen. Ein wahrhaft gro§er Mann und HeerfŸhrer wŠre mit seinen Feinden viel geschwinder fertig geworden. Sie hatten, um diese Gesinnungen zu behaupten, ein unendliches Detail anzufŸhren, welches ich nicht zu leugnen wu§te, und nach und nach die unbedingte Verehrung erkalten fŸhlte, die ich diesem merkwŸrdigen FŸrsten von Jugend auf gewidmet hatte.

Wie mich nun die Einwohner von Leipzig um das angenehme GefŸhl brachten, einen gro§en Mann zu verehren, so verminderte ein neuer Freund, den ich zu der Zeit ge-


wann, gar sehr die Achtung, welche ich fŸr meine gegenwŠrtigen MitbŸrger hegte. Dieser Freund war einer der wunderliebsten KŠuze, die es auf der Welt geben kann. Er hie§ Behrisch und befand sich als Hofmeister bei dem jungen Grafen Lindenau. Schon sein €u§eres war sonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Drei§igen, eine sehr gro§e Nase und Ÿberhaupt markierte ZŸge; eine Haartour, die man wohl eine PerŸcke hŠtte nennen kšnnen, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete sich sehr nett und ging niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. Er war einer von den Menschen, die eine ganz besondere Gabe haben, die Zeit zu verderben, oder vielmehr, die aus nichts etwas zu machen wissen, um sie zu vertreiben. Alles, was er tat, mu§te mit Langsamkeit und einem gewissen Anstand geschehen, den man affektiert hŠtte nennen kšnnen, wenn Behrisch nicht schon von Natur etwas Affektiertes in seiner Art gehabt hŠtte. Er Šhnelte einem alten Franzosen, auch sprach und schrieb er sehr gut und leicht franzšsisch. Seine grš§te Lust war, sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschŠftigen, und irgend einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen. So trug er sich bestŠndig grau, und weil die verschiedenen Teile seines Anzugs von verschiedenen Zeugen und also auch Schattierungen waren, so konnte er tagelang daraufsinnen, wie er sich noch ein Grau mehr auf den Leib schaffen wollte, und war glŸcklich, wenn ihm das gelang und er uns beschŠmen konnte, die wir daran gezweifelt oder es fŸr unmšglich erklŠrt hatten. Alsdann hielt er uns lange Strafpredigten Ÿber unseren Mangel an Erfindungskraft und Ÿber unsern Unglauben an seine Talente.

†brigens hatte er gute Studien, war besonders in den neueren Sprachen und ihren Literaturen bewandert und schrieb eine vortreffliche Hand. Mir war er sehr gewogen, und ich, der ich immer gewohnt und geneigt war, mit Šlteren Personen umzugehen, attackierte mich bald an ihn. Mein Umgang diente auch ihm zur besonderen Unterhaltung, in-


dem er VergnŸgen daran fand, meine Unruhe und Ungeduld zu zŠhmen, womit ich ihm dagegen auch genug zu Schaffen machte. In der Dichtkunst hatte er dasjenige, was man Geschmack nannte, ein gewisses allgemeines Urteil Ÿber das Gute und Schlechte, das MittelmŠ§ige und ZulŠssige; doch war sein Urteil mehr tadelnd, und er zerstšrte noch den wenigen Glauben, den ich an gleichzeitige Schriftsteller bei mir hegte, durch lieblose Anmerkungen, die er Ÿber die Schriften und Gedichte dieses und jenes mit Witz und Laune vorzubringen wu§te. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht auf und lie§ mich gewŠhren; nur unter der Bedingung, da§ ich nichts sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, da§ er diejenigen StŸcke, die er fŸr gut hielt, selbst abschreiben und in einem schšnen Bande mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem grš§tmšglichsten Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit sich Ÿber das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedern herbeigeschafft, geschnitten und Tusche eingerieben war, vergingen ganze Wochen, ohne da§ auch das mindeste geschehen wŠre. Mit eben solchen UmstŠnden begab er sich denn jedesmal ans Schreiben, und brachte wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuskript zusammen. Die Titel der Gedichte waren Fraktur, die Verse selbst von einer stehenden sŠchsischen Handschrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette, die er entweder irgendwo ausgewŠhlt oder auch wohl selbst erfunden hatte, wobei er die Schraffuren der Holzschnitte und Druckerstšcke, die man bei solcher Gelegenheit braucht, gar zierlich nachzuahmen wu§te. Mir diese Dinge, indem er fortrŸckte, vorzuzeigen, mir das GlŸck auf eine komischpathetische Weise vorzurŸhmen, da§ ich mich in so vortrefflicher Handschrift verewigt sah, und zwar auf eine Art, die keine Druckerpresse zu erreichen imstande sei, gab abermals Veranlassung, die schšnsten Stunden durchzubringen. Indessen war sein Um-


gang wegen der schšnen Kenntnisse, die er besa§, doch immer im Stillen lehrreich, und, weil er mein unruhiges, heftiges Wesen zu dŠmpfen wu§te, auch im sittlichen Sinne fŸr mich ganz heilsam. Auch hatte er einen ganz besonderen Widerwillen gegen alles Rohe, und seine SpŠ§e waren durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder Triviale zu fallen. Gegen seine Landsleute erlaubte er sich eine fratzenhafte Abneigung, und schilderte, was sie auch vornehmen mochten, mit lustigen ZŸgen. Besonders war er unerschšpflich, einzelne Menschen komisch darzustellen; wie er denn an dem €u§eren eines jeden etwas auszusetzen fand. So konnte er sich, wenn wir zusammen am Fenster lagen, stundenlang beschŠftigen, die VorŸbergehenden zu rezensieren und, wenn er genugsam an ihnen getadelt, genau und umstŠndlich anzuzeigen, wie sie sich eigentlich hŠtten kleiden sollen, wie sie gehen, wie sie sich betragen mŸ§ten, um als ordentliche Leute zu erscheinen. Dergleichen VorschlŠge liefen meistenteils auf etwas Ungehšriges und Abgeschmacktes hinaus, so da§ man nicht sowohl lachte Ÿber das, wie der Mensch aussah, sondern darŸber, wie er allenfalls hŠtte aussehen kšnnen, wenn er verrŸckt genug gewesen wŠre, sich zu verbilden. In allen solchen Dingen ging er ganz unbarmherzig zu Werk, ohne da§ er nur im mindesten boshaft gewesen wŠre. Dagegen wu§ten wir ihn von unserer Seite zu quŠlen, wenn wir versicherten, da§ man ihn nach seinem €u§eren, wo nicht fŸr einen franzšsischen Tanzmeister, doch wenigstens fŸr den akademischen Sprachmeister ansehen mŸsse. Dieser Vorwurf war denn gewšhnlich das Signal zu stundenlangen Abhandlungen, worin er den himmelweiten Unterschied herauszusetzen pflegte, der zwischen ihm und einem alten Franzosen obwalte. Hierbei bŸrdete er uns gewšhnlich allerlei ungeschickte VorschlŠge auf, die wir ihm zu VerŠnderung und Modifizierung seiner Garderobe hŠtten tun kšnnen.

Die Richtung meines Dichtens, das ich nur um desto eifriger trieb, als die Abschrift schšner und sorgfŠltiger vorrŸckte, neigte sich nunmehr gŠnzlich zum NatŸrlichen,


zum Wahren; und wenn die GegenstŠnde auch nicht immer bedeutend sein konnten, so suchte ich sie doch immer rein und scharf auszudrŸcken, um so mehr, als mein Freund mir šfters zu bedenken gab, was das hei§en wolle, einen Vers mit der Rabenfeder und Tusche auf hollŠndisch Papier schreiben, was dazu fŸr Zeit, Talent und Anstrengung gehšre, die man an nichts Leeres und †berflŸssiges verschwenden dŸrfe. Dabei pflegte er gewšhnlich ein fertiges Heft aufzuschlagen und umstŠndlich auseinander zu setzen, was an dieser oder jener Stelle nicht stehen dŸrfe, und uns glŸcklich zu preisen, da§ es wirklich nicht da stehe. Er sprach hierauf mit gro§er Verachtung von der Buchdruckerei, agierte den Setzer, spottete Ÿber dessen GebŠrden, Ÿber das eilige Hin- und Widergreifen, und leitete aus diesem Manoeuvre alles UnglŸck der Literatur her. Dagegen erhob er den Anstand und die edle Stellung eines Schreibenden, und setzte sich sogleich hin, um sie uns vorzuzeigen, wobei er uns denn freilich ausschalt, da§ wir uns nicht nach seinem Beispiel und Muster ebenso am Schreibtisch betrŸgen. Nun kam er wieder auf den Kontrast mit dem Setzer zurŸck, kehrte einen angefangenen Brief das Oberste zu unterst, und zeigte, wie unanstŠndig es sei, etwa von unten nach oben oder von der Rechten zur Linken zu schreiben, und was dergleichen Dinge mehr waren, womit man ganze BŠnde anfŸllen kšnnte.

Mit solchen unschŠdlichen Torheiten vergeudeten wir die schšne Zeit, wobei keinem eingefallen wŠre, da§ aus unserem Kreis zufŠllig etwas ausgehen wŸrde, welches allgemeine Sensation erregen und uns nicht in den besten Leumund bringen sollte.

Gellert mochte wenig Freude an seinem Praktikum haben, und wenn er allenfalls Lust empfand, einige Anleitung im prosaischen und poetischen Stil zu geben, so tat er es privatissime nur wenigen, unter die wir uns nicht zŠhlen durften. Die LŸcke, die sich dadurch in dem šffentlichen Unterricht ergab, gedachte Professor Clodius auszufŸllen, der sich im Literarischen, Kritischen und Poetischen einigen


Ruf erworben hatte und als ein junger, munterer, zutŠtiger Mann sowohl bei der Akademie als in der Stadt viel Freunde fand. An die nunmehr von ihm Ÿbernommene Stunde wies uns Gellert selbst, und was die Hauptsache betraf, so merkten wir wenig Unterschied. Auch er kritisierte nur das einzelne, korrigierte gleichfalls mit roter Tinte, und man befand sich in Gesellschaft von lauter Fehlern, ohne eine Aussicht zu haben, worin das Rechte zu suchen sei? Ich hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten gebracht, die er nicht Ÿbel behandelte. Allein gerade zu jener Zeit schrieb man mir von Hause, da§ ich auf die Hochzeit meines Oheims notwendig ein Gedicht liefern mŸsse. Ich fŸhlte mich so weit von jener leichten und leichtfertigen Periode entfernt, in welcher mir ein €hnliches Freude gemacht hŠtte, und da ich der Lage selbst nichts abgewinnen konnte, so dachte ich meine Arbeit mit Šu§erlichem Schmuck auf das beste herauszustutzen. Ich versammelte daher den ganzen Olymp, um Ÿber die Heirat eines Frankfurter Rechtsgelehrten zu ratschlagen; und zwar ernsthaft genug, wie es sich zum Feste eines solchen Ehrenmanns wohl schickte. Venus und Themis hatten sich um seinetwillen Ÿberworfen; doch ein schelmischer Streich, den Amor der letzteren spielte, lie§ jene den Proze§ gewinnen, und die Gštter entschieden fŸr die Heirat.

Die Arbeit mi§fiel mir keineswegs. Ich erhielt von Hause darŸber ein schšnes Belobungsschreiben, bemŸhte mich mit einer nochmaligen guten Abschrift und hoffte meinem Lehrer doch auch einigen Beifall abzunštigen. Allein hier hatte ich's schlecht getroffen. Er nahm die Sache streng, und indem er das Parodistische, was denn doch in dem Einfall lag, gar nicht beachtete, so erklŠrte er den gro§en Aufwand von gšttlichen Mitteln zu einem so geringen menschlichen Zweck fŸr Šu§erst tadelnswert, verwies den Gebrauch und Mi§brauch solcher mythologischen Figuren als eine falsche, aus pedantischen Zeiten sich herschreibende Gewohnheit, fand den Ausdruck bald zu hoch, bald zu niedrig, und hatte


zwar im einzelnen der roten Tinte nicht geschont, versicherte jedoch, da§ er noch zu wenig getan habe.

Solche StŸcke wurden zwar anonym vorgelesen und rezensiert; allein man pa§te einander auf, und es blieb kein Geheimnis, da§ diese verunglŸckte Gštterversammlung mein Werk gewesen sei. Da mir jedoch seine Kritik, wenn ich seinen Standpunkt annahm, ganz richtig zu sein schien, und jene Gottheiten, nŠher besehen, freilich nur hohle Scheingestalten waren, so verwŸnschte ich den gesamten Olymp, warf das ganze mythische Pantheon weg, und seit jener Zeit sind Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die in meinen kleinen Gedichten allenfalls auftreten.

Unter den Personen, welche sich Behrisch zu Zielscheiben seines Witzes erlesen hatte, stand gerade Clodius obenan; auch war es nicht schwer, ihm eine komische Seite abzugewinnen. Als eine kleine, etwas starke, gedrŠngte Figur war er in seinen Bewegungen heftig, etwas fahrig in seinen €u§erungen und unstet in seinem Betragen. Durch alles dies unterschied er sich von seinen MitbŸrgern, die ihn jedoch, wegen seiner guten Eigenschaften und der schšnen Hoffnungen, die er gab, recht gern gelten lie§en.

Man Ÿbertrug ihm gewšhnlich die Gedichte, welche sich bei feierlichen Gelegenheiten notwendig machten. Er folgte in der sogenannten Ode der Art, deren sich Ramler bediente, den sie aber auch ganz allein kleidete. Clodius aber hatte sich als Nachahmer besonders die fremden Worte gemerkt, wodurch jene Ramlerschen Gedichte mit einem majestŠtischen Pompe auftreten, der, weil er der Grš§e seines Gegenstandes und der Ÿbrigen poetischen Behandlung gemŠ§ ist, auf Ohr, GemŸt und Einbildungskraft eine sehr gute Wirkung tut. Bei Clodius hingegen erschienen diese AusdrŸcke fremdartig, indem seine Poesie Ÿbrigens nicht geeignet war, den Geist auf irgend eine Weise zu erheben.

Solche Gedichte mu§ten wir nun oft schšn gedruckt und hšchlich gelobt vor uns sehen, und wir fanden es hšchst anstš§ig, da§ er, der uns die heidnischen Gštter verkŸm-


mert hatte, sich nun eine andere Leiter auf den Parna§ aus griechischen und ršmischen Wortsprossen zusammenzimmern wollte. Diese oft wiederkehrenden AusdrŸcke prŠgten sich fest in unser GedŠchtnis, und zu lustiger Stunde, da wir in den KohlgŠrten den trefflichsten Kuchen verzehrten, fiel mir auf einmal ein, jene Kraft- und Machtworte in ein Gedicht an den KuchenbŠcker HŠndel zu versammeln. Gedacht, getan! Und so stehe es denn auch hier, wie es an eine Wand des Hauses mit Bleistift angeschrieben wurde.

      O HŠndel, dessen Ruhm vom SŸd zum Norden reicht,

      Vernimm den PŠan, der zu deinen Ohren steigt!

      Du bŠckst, was Gallier und Briten emsig suchen,

      Mit schšpfrischem Genie, originelle Kuchen.

      Des Kaffees Ozean, der sich vor dir ergie§t,

      Ist sŸ§er als der Saft, der vom Hymettus flie§t.

      Dein Haus, ein Monument, wie wir den KŸnsten lohnen,

      Umhangen mit TrophŠn, erzŠhlt den Nationen:

      Auch ohne Diadem fand HŠndel hier sein GlŸck,

      Und raubte dem Kothurn gar manch AchtgroschenstŸck.

      GlŠnzt deine Urn dereinst in majestŠtschem Pompe,

      Dann weint der Patriot an deiner Katakombe.

      Doch leb! dein Torus sei von edler Brut ein Nest,

      Steh hoch wie der Olymp, wie der Parnassus fest!

      Kein Phalanx Griechenlands mit ršmischen Ballisten

      Vermšg Germanien und HŠndeln zu verwŸsten.

      Dein Wohl ist unser Stolz, dein Leiden unser Schmerz,

      Und HŠndels Tempel ist der Musensšhne Herz.

Dieses Gedicht stand lange Zeit unter so vielen anderen, welche die WŠnde jener Zimmer verunzierten, ohne bemerkt zu werden, und wir, die wir uns genugsam daran ergetzt hatten, verga§en es ganz und gar Ÿber anderen Dingen. Geraume Zeit hernach trat Clodius mit seinem "Medon" hervor, dessen Weisheit, Gro§mut und Tugend wir unendlich lŠcherlich fanden, so sehr auch die erste Vorstellung des StŸcks beklatscht wurde. Ich machte gleich abends,


als wir zusammen in unser Weinhaus kamen, einen Prolog in Knittelversen, wo Arlekin mit zwei gro§en SŠcken auftritt, sie an beide Seiten des Proszeniums stellt und nach verschiedenen vorlŠufigen SpŠ§en den Zuschauern vertraut, da§ in den beiden SŠcken moralischŠsthetischer Sand befindlich sei, den ihnen die Schauspieler sehr hŠufig in die Augen werfen wŸrden. Der eine sei nŠmlich mit Wohltaten gefŸllt, die nichts kosteten, und der andere mit prŠchtig ausgedrŸckten Gesinnungen, die nichts hinter sich hŠtten. Er entfernte sich ungern und kam einigemal wieder, ermahnte die Zuschauer ernstlich, sich an seine Warnung zu kehren und die Augen zuzumachen, erinnerte sie, wie er immer ihr Freund gewesen und es gut mit ihnen gemeint, und was dergleichen Dinge mehr waren. Dieser Prolog wurde auf der Stelle von Freund Horn im Zimmer gespielt, doch blieb der Spa§ ganz unter uns, es ward nicht einmal eine Abschrift genommen und das Papier verlor sich bald. Horn jedoch, der den Arlekin ganz artig vorgestellt hatte, lie§ sichs einfallen, mein Gedicht an Hendel um mehrere Verse zu erweitern und es zunŠchst auf den "Medon" zu beziehen. Er las es uns vor, und wir konnten keine Freude daran haben, weil wir die ZusŠtze nicht eben geistreich fanden, und das erste, in einem ganz anderen Sinn geschriebene Gedicht uns entstellt vorkam. Der Freund, unzufrieden Ÿber unsere GleichgŸltigkeit, ja unseren Tadel, mochte es anderen vorgezeigt haben, die es neu und lustig fanden. Nun machte man Abschriften davon, denen der Ruf des Clodiusischen "Medons" sogleich eine schnelle PublizitŠt verschaffte. Allgemeine Mi§billigung erfolgte hierauf, und die Urheber (man hatte bald erfahren, da§ es aus unserer Clique hervorgegangen war) wurden hšchlich getadelt: denn seit Cronegks und Rosts Angriffen auf Gottsched war dergleichen nicht wieder vorgekommen. Wir hatten uns ohnehin frŸher schon zurŸckgezogen, und nun befanden wir uns gar im Falle der Schuhus gegen die Ÿbrigen Všgel. Auch in Dresden mochte man die Sache nicht gut finden, und sie hatte


fŸr uns, wo nicht unangenehme, doch ernste Folgen. Der Graf Lindenau war schon eine Zeitlang mit dem Hofmeister seines Sohnes nicht ganz zufrieden. Denn obgleich der junge Mann keineswegs vernachlŠssigt wurde und Behrisch sich entweder in dem Zimmer des jungen Grafen oder wenigstens daneben hielt, wenn die Lehrmeister ihre tŠglichen Stunden gaben, die Kollegja mit ihm sehr ordentlich frequentierte, bei Tage nicht ohne ihn ausging, auch denselben auf allen SpaziergŠngen begleitete; so waren wir andern doch auch immer in Apels Hause zu finden und zogen mit, wenn man lustwandelte; das machte schon einiges Aufsehen. Behrisch gewšhnte sich auch an uns, gab zuletzt meistenteils abends gegen neun Uhr seinen Zšgling in die HŠnde des Kammerdieners und suchte uns im Weinhause auf, wohin er jedoch niemals anders als in Schuhen und StrŸmpfen, den Degen an der Seite und gewšhnlich den Hut unterm Arm zu kommen pflegte. Die SpŠ§e und Torheiten, die er insgemein angab, gingen ins Unendliche. So hatte z.B. einer unserer Freunde die Gewohnheit, Punkt zehne wegzugehen, weil er mit einem hŸbschen Kinde in Verbindung stand, mit welchem er sich nur um diese Zeit unterhalten konnte. Wir vermi§ten ihn ungern, und Behrisch nahm sich eines Abends, wo wir sehr vergnŸgt zusammen waren, im stillen vor, ihn diesmal nicht wegzulassen. Mit dem Schlage zehn stand jener auf und empfahl sich. Behrisch rief ihn an und bat, einen Augenblick zu warten, weil er gleich mitgehen wolle. Nun begann er auf die unmutigste Weise erst nach seinem Degen zu suchen, der doch ganz vor den Augen stand, und gebŠrdete sich beim Aufschnallen desselben so ungeschickt, da§ er damit niemals zustande kommen konnte. Er machte es auch anfangs so natŸrlich, da§ niemand ein Arges dabei hatte. Als er aber, um das Thema zu variieren, zuletzt weiter ging, da§ der Degen bald auf die rechte Seite, bald zwischen die Beine kam, so entstand ein allgemeines GelŠchter, in das der Forteilende, welcher gleichfalls ein lustiger Geselle war, mit einstimmte


und Behrisch so lange gewŠhren lie§, bis die SchŠferstunde vorŸber war da denn nun erst eine gemeinsame Lust und vergnŸgliche Unterhaltung bis tief in die Nacht erfolgte.

UnglŸcklicherweise hatte Behrisch, und wir durch ihn, noch einen gewissen anderen Hang zu einigen MŠdchen, welche besser waren als ihr Ruf; wodurch denn aber unser Ruf nicht gefšrdert werden konnte. Man hatte uns manchmal in ihrem Garten gesehen, und wir lenkten auch wohl unsern Spaziergang dahin, wenn der junge Graf dabei war. Dieses alles mochte zusammen aufgespart und dem Vater zuletzt berichtet worden sein: genug, er suchte auf eine glimpfliche Weise den Hofmeister los zu werden, dem es jedoch zum GlŸck gereichte. Sein gutes €u§ere, seine Kenntnisse und Talente, seine Rechtschaffenheit, an der niemand etwas auszusetzen wu§te, hatten ihm die Neigung und Achtung vorzŸglicher Personen erworben, auf deren Empfehlung er zu dem Erbprinzen von Dessau als Erzieher berufen wurde, und an dem Hofe eines in jeder RŸcksicht trefflichen FŸrsten ein solides GlŸck fand.

Der Verlust eines Freundes, wie Behrisch, war fŸr mich von der grš§ten Bedeutung. Er hatte mich verzogen, indem er mich bildete, und seine Gegenwart war nštig, wenn das einigerma§en fŸr die SozietŠt Frucht bringen sollte, was er an mich zu wenden fŸr gut gefunden hatte. Er wu§te mich zu allerlei Artigem und Schicklichem zu bewegen, was gerade am Platz war, und meine geselligen Talente herauszusetzen. Weil ich aber in solchen Dingen keine SelbstŠndigkeit erworben hatte, so fiel ich gleich, da ich wieder allein war, in mein wirriges, stšrrisches Wesen zurŸck, welches immer zunahm, je unzufriedener ich Ÿber meine Umgebung war, indem ich mir einbildete, da§ sie nicht mit mir zufrieden sei. Mit der willkŸrlichsten Laune nahm ich Ÿbel auf, was ich mir hŠtte zum Vorteil rechnen kšnnen, entfernte manchen dadurch, mit dem ich bisher in leidlichem VerhŠltnis gestanden hatte, und mu§te bei mancherlei WiderwŠrtigkeiten, die ich mir und anderen, es sei nun im Tun


oder Unterlassen, im Zuviel oder Zuwenig, zugezogen hatte, von Wohlwollenden die Bemerkung hšren, da§ es mir an Erfahrung fehle. Das gleiche sagte mir wohl irgend ein Gutdenkender, der meine Produktionen sah, besonders wenn sie sich auf die Au§enwelt bezogen. Ich beobachtete diese, so gut ich konnte, fand aber daran wenig Erbauliches, und mu§te noch immer genug von dem Meinigen hinzutun, um sie nur ertrŠglich zu finden. Auch meinem Freunde Behrisch hatte ich manchmal zugesetzt, er solle mir deutlich machen, was Erfahrung sei? Weil er aber voller Torheiten steckte, so vertršstete er mich von einem Tage zum anderen und eršffnete mir zuletzt, nach so gro§en Vorbereitungen: die wahre Erfahrung sei ganz eigentlich, wenn man erfahre, wie ein Erfahrner die Erfahrung erfahrend erfahren mŸsse. Wenn wir ihn nun hierŸber Šu§erst ausschalten und zur Rede setzten, so versicherte er, hinter diesen Worten stecke ein gro§es Geheimnis, das wir alsdann erst begreifen wŸrden, wenn wir erfahren hŠtten, - und immer so weiter: denn es kostete ihm nichts, Viertelstunden lang so fortzusprechen; da denn das Erfahren immer erfahrner und zuletzt zur wahrhaften Erfahrung werden wŸrde. Wollten wir Ÿber solche Possen verzweifeln, so beteuerte er, da§ er diese Art, sich deutlich und eindrŸcklich zu machen, von den neusten und grš§ten Schriftstellern gelernt, welche uns aufmerksam gemacht, wie man eine ruhige Ruhe ruhen und wie die Stille im Stillen immer stiller werden kšnnte.

ZufŠlligerweise rŸhmte man in guter Gesellschaft einen Offizier, der sich unter uns auf Urlaub befand, als einen vorzŸglich wohldenkenden und erfahrnen Mann, der den SiebenjŠhrigen Krieg mitgefochten und sich ein allgemeines Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht schwer, mich ihm zu nŠhern, und wir spazierten šfters miteinander. Der Begriff von Erfahrung war beinah fix in meinem Gehirne geworden, und das BedŸrfnis, mir ihn klar zu machen, leidenschaftlich. OffenmŸtig wie ich war, entdeckte ich ihm die Unruhe, in der ich mich befand. Er lŠchelte und war freundlich genug,


mir, im Gefolg meiner Fragen, etwas von seinem Leben und von der nŠchsten Welt Ÿberhaupt zu erzŠhlen, wobei freilich zuletzt wenig Besseres herauskam, als da§ die Erfahrung uns Ÿberzeuge, da§ unsere besten Gedanken, WŸnsche und VorsŠtze unerreichbar seien, und da§ man denjenigen, welcher dergleichen Grillen hege und sie mit Lebhaftigkeit Šu§ere, vornehmlich fŸr einen unerfahrnen Menschen halte.

Da er jedoch ein wackerer, tŸchtiger Mann war, so versicherte er mir, er habe diese Grillen selbst noch nicht ganz aufgegeben, und befinde sich bei dem wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung, was ihm Ÿbrig geblieben, noch ganz leidlich. Er mu§te mir darauf vieles vom Krieg erzŠhlen, von der Lebensweise im Feld, von ScharmŸtzeln und Schlachten, besonders insofern er Anteil daran genommen; da denn diese ungeheueren Ereignisse, indem sie auf ein einzelnes Individuum bezogen wurden, ein gar wunderliches Ansehen gewannen. Ich bewog ihn alsdann zu einer offenen ErzŠhlung der kurz vorher bestandenen HofverhŠltnisse, welche ganz mŠrchenhaft zu sein schienen. Ich hšrte von der kšrperlichen StŠrke Augusts des Zweiten, den vielen Kindern desselben und seinem ungeheueren Aufwand, sodann von des Nachfolgers Kunst- und Sammlungslust, vom Grafen BrŸhl und dessen grenzenloser Prunkliebe, deren einzelnes beinahe abgeschmackt erschien, von so viel Festen und Prachtergetzungen, welche sŠmtlich durch den Einfall Friedrichs in Sachsen abgeschnitten worden. Nun lagen die kšniglichen Schlšsser zerstšrt, die BrŸhlschen Herrlichkeiten vernichtet, und es war von allem nur ein sehr beschŠdigtes herrliches Land Ÿbrig geblieben.

Als er mich Ÿber jenen unsinnigen Genu§ des GlŸcks verwundert, und sodann Ÿber das erfolgte UnglŸck betrŸbt sah, und mich bedeutete, wie man von einem erfahrnen Manne geradezu verlange, da§ er Ÿber keins von beiden erstaunen, noch daran einen zu lebhaften Anteil nehmen solle; so fŸhlte ich gro§e Lust, in meiner bisherigen Unerfahrenheit noch


eine Weile zu verharren, worin er mich denn bestŠrkte und recht ungelegentlich bat, ich mšchte mich, bis auf weiteres, immer an die angenehmen Erfahrungen halten und die unangenehmen so viel als mšglich abzulehnen suchen, wenn sie sich mir aufdringen sollten. Einst aber, als wieder im allgemeinen die Rede von Erfahrung war, und ich ihm jene possenhaften Phrasen des Freundes Behrisch erzŠhlte, schŸttelte er lŠchelnd den Kopf und sagte: "Da sieht man, wie es mit Worten geht, die nur einmal ausgesprochen sind! Diese da klingen so neckisch, ja so albern, da§ es fast unmšglich scheinen dŸrfte, einen vernŸnftigen Sinn hineinzulegen; und doch lie§e sich vielleicht ein Versuch machen."

Und als ich in ihn drang, versetzte er mit seiner verstŠndig heiteren Weise: "Wenn Sie mir erlauben, indem ich Ihren Freund kommentiere und suppliere, in seiner Art fortzufahren, so dŸnkt mich, er habe sagen wollen, da§ die Erfahrung nichts anderes sei, als da§ man erfŠhrt, was man nicht zu erfahren wŸnscht, worauf es wenigstens in dieser Welt meistens hinauslŠuft."

 


 

Achtes Buch

 

Ein anderer Mann, obgleich in jedem Betracht von Behrisch unendlich verschieden konnte doch in einem gewissen Sinne mit ihm verglichen werden; ich meine Oesern, welcher auch unter diejenigen Menschen gehšrte, die ihr Leben in einer bequemen GeschŠftigkeit hintrŠumen. Seine Freunde selbst bekannten im stillen, da§ er, bei einem sehr schšnen Naturell, seine jungen Jahre nicht in genŸgsamer TŠtigkeit verwendet, deswegen er auch nie dahin gelangt sei, die Kunst mit vollkommener Technik auszuŸben. Doch schien ein gewisser Flei§ seinem Alter vorbehalten zu sein, und es fehlte ihm die vielen Jahre, die ich ihn kannte, niemals an Erfindung noch Arbeitsamkeit. Er hatte mich gleich den ersten Augenblick sehr an sich gezogen; schon seine Wohnung, wundersam und ahndungsvoll, war fŸr mich hšchst reizend. In dem alten Schlosse Plei§enburg ging man rechts in der Ecke eine erneute heitre Wendeltreppe hinauf. Die SŠle der Zeichenakademie, deren Direktor er war, fand man sodann links, hell und gerŠumig; aber zu ihm selbst gelangte man nur durch einen engen dunklen Gang, an dessen Ende man erst den Eintritt zu seinen Zimmern suchte, zwischen deren Reihe und einem weitlŠuftigen Kornboden man soeben hergegangen war. Das erste Gemach war mit Bildern geschmŸckt aus der spŠteren italienischen Schule, von Meistern, deren Anmut er hšchlich zu preisen pflegte. Da ich Privatstunden mit einigen Edelleuten bei ihm genommen hatte, so war uns erlaubt, hier zu zeichnen, und wir gelangten auch manchmal in sein daransto§endes inneres Kabinett, welches zugleich seine wenigen BŸcher, Kunst- und Naturaliensammlungen, und was ihn sonst zunŠchst interessieren mochte, enthielt. Alles war mit Geschmack,


einfach und dergestalt geordnet, da§ der kleine Raum sehr vieles umfa§te. Die Mšbeln, SchrŠnke, Portefeuilles elegant ohne Ziererei oder †berflu§. So war auch das erste, was er uns empfahl und worauf er immer wieder zurŸckkam, die Einfalt in allem, was Kunst und Handwerk vereint hervorzubringen berufen sind. Als ein abgesagter Feind des Schnšrkel- und Muschelwesens und des ganzen barocken Geschmacks zeigte er uns dergleichen in Kupfer gestochne und gezeichnete alte Muster im Gegensatz mit besseren Verzierungen und einfacheren Formen der Mšbel sowohl als anderer Zimmerumgebungen, und weil alles um ihn her mit diesen Maximen Ÿbereinstimmte, so machten die Worte und Lehren auf uns einen guten und dauernden Eindruck. Auch au§erdem hatte er Gelegenheit, uns seine Gesinnungen praktisch sehen zu lassen, indem er sowohl bei Privatals Regimentspersonen in gutem Ansehen stand und bei neuen Bauten und VeŠnderungen um Rat gefragt wurde. †berhaupt schien er geneigter zu sein, etwas gelegentlich, zu einem gewissen Zweck und Gebrauch zu verfertigen, als da§ er fŸr sich bestehende Dinge, welche eine grš§ere Vollendung verlangen, unternommen und ausgearbeitet hŠtte: deshalb er auch immer bereit und zur Hand war, wenn die BuchhŠndler grš§ere und kleinere Kupfer zu irgend einem Werk verlangten; wie denn die Vignetten zu Winckelmanns ersten Schriften von ihm radiert sind. Oft aber machte er nur sehr skizzenhafte Zeichnungen, in welche sich Geyser ganz gut zu schicken verstand. Seine Figuren hatten durchaus etwas Allgemeines, um nicht zu sagen Ideelles. Seine Frauen waren angenehm und gefŠllig, seine Kinder naiv genug; nur mit den MŠnnern wollte es nicht fort, die, bei seiner zwar geistreichen, aber doch immer nebulistischen und zugleich abbrevierenden Manier, meistenteils das Ansehn von Lazzaroni erhielten. Da er seine Kompositionen Ÿberhaupt weniger auf Form als auf Licht, Schatten und Massen berechnete, so nahmen sie sich im ganzen gut aus; wie denn alles, was er tat und hervorbrachte, von einer eig-


nen Grazie begleitet war. Weil er nun dabei eine eingewurzelte Neigung zum Bedeutenden, Allegorischen, einen Nebengedanken Erregenden nicht bezwingen konnte noch wollte; so gaben seine Werke immer etwas zu sinnen und wurden vollstŠndig durch einen Begriff, da sie es der Kunst und der AusfŸhrung nach nicht sein konnten. Diese Richtung, welche immer gefŠhrlich ist, fŸhrte ihn manchmal bis an die Grenze des guten Geschmacks, wo nicht gar darŸber hinaus. Seine Absichten suchte er oft durch die wunderlichsten EinfŠlle und durch grillenhafte Scherze zu erreichen; ja, seinen besten Arbeiten ist stets ein humoristischer Anstrich verliehen. War das Publikum mit solchen Dingen nicht immer zufrieden, so rŠchte er sich durch eine neue, noch wunderlichere Schnurre. So stellte er spŠter in dem Vorzimmer des gro§en Konzertsaales eine ideale Frauenfigur seiner Art vor, die eine Lichtschere nach einer Kerze hinbewegte, und er freute sich au§erordentlich, wenn er veranlassen konnte, da§ man Ÿber die Frage stritt, ob diese seltsame Muse das Licht zu putzen oder auszulšschen gedenke? wo er denn allerlei neckische Beigedanken schelmisch hervorblicken lie§.

Doch machte die Erbauung des neuen Theaters zu meiner Zeit das grš§te Aufsehen, in welchem sein Vorhang, da er noch ganz neu war, gewi§ eine au§erordentlich liebliche Wirkung tat. Oeser hatte die Musen aus den Wolken, auf denen sie bei solchen Gelegenheiten gewšhnlich schweben, auf die Erde versetzt. Einen Vorhof zum Tempel des Ruhms schmŸckten die Statuen des Sophokles und Aristophanes, um welche sich alle neuere Schauspieldichter versammelten. Hier nun waren die Gšttinnen der KŸnste gleichfalls gegenwŠrtig und alles wŸrdig und schšn. Nun aber kommt das Wunderliche! Durch die freie Mitte sah man das Portal des fernstehenden Tempels, und ein Mann in leichter Jacke ging zwischen beiden obgedachten Gruppen, ohne sich um sie zu bekŸmmern, hindurch, gerade auf den Tempel los; man sah ihn daher im RŸcken, er war nicht


besonders ausgezeichnet. Dieser nun sollte Shakespearen bedeuten, der ohne VorgŠnger und Nachfolger, ohne sich um die Muster zu bekŸmmern, auf seine eigne Hand der Unsterblichkeit entgegengehe. Auf dem gro§en Boden Ÿber dem neuen Theater ward dieses Werk vollbracht. Wir versammelten uns dort oft um ihn, und ich habe ihm daselbst die AushŠngebogen von ÈMusarionÇ vorgelesen.

Was mich betraf, so rŸckte ich in AusŸbung der Kunst keineswegs weiter. Seine Lehre wirkte auf unsern Geist und unsern Geschmack; aber seine eigne Zeichnung war zu unbestimmt, als da§ sie mich, der ich an den GegenstŠnden der Kunst und Natur auch nur hindŠmmerte, hŠtte zu einer strengen und entschiedenen AusŸbung anleiten sollen. Von den Gesichtern und Kšrpern selbst Ÿberlieferte er uns mehr die Ansichten als die Formen, mehr die GebŠrden als die Proportionen. Er gab uns die Begriffe von den Gestalten, und verlangte, wir sollten sie in uns lebendig werden lassen. Das wŠre denn auch schšn und recht gewesen, wenn er nicht blo§ AnfŠnger vor sich gehabt hŠtte. Konnte man ihm daher ein vorzŸgliches Talent zum Unterricht wohl absprechen; so mu§te man dagegen bekennen, da§ er sehr gescheit und weltklug sei, und da§ eine glŸckliche Gewandtheit des Geistes ihn, in einem hšhern Sinne, recht eigentlich zum Lehrer qualifiziere. Die MŠngel, an denen jeder litt, sah er recht gut ein; er verschmŠhte jedoch, sie direkt zu rŸgen, und deutete vielmehr Lob und Tadel indirekt sehr lakonisch an. Nun mu§te man Ÿber die Sache denken und kam in der Einsicht schnell um vieles weiter. So hatte ich z.B. auf blaues Papier einen Blumenstrau§, nach einer vorhandenen Vorschrift, mit schwarzer und wei§er Kreide sehr sorgfŠltig ausgefŸhrt, und teils mit Wischen, teils mit Schraffieren das kleine Bild hervorzuheben gesucht. Nachdem ich mich lange dergestalt bemŸht, trat er einstens hinter mich und sagte: ÈMehr Papier!Ç worauf er sich sogleich entfernte. Mein Nachbar und ich zerbrachen uns den Kopf, was das hei§en kšnne: denn mein


Bouquet hatte auf einem gro§en halben Bogen Raum genug um sich her.ÈNachdem wir lange nachgedacht, glaubten wir endlich seinen Sinn zu treffen, wenn wir bemerkten, da§ ich durch das Ineinanderarbeiten des Schwarzen und Wei§en den blauen Grund ganz zugedeckt, die Mitteltinte zerstšrt und wirklich eine unangenehme Zeichnung mit gro§em Flei§ hervorgebracht hatte. †brigens ermangelte er nicht, uns von der Perspektive, von Licht und Schatten zwar genugsam, doch immer nur so zu unterrichten, da§ wir uns anzustrengen und zu quŠlen hatten, um eine Anwendung der Ÿberlieferten GrundsŠtze zu treffen. Wahrscheinlich war seine Absicht, an uns, die wir doch nicht KŸnstler werden sollten, nur die Einsicht und den Geschmack zu bilden, und uns mit den Erfordernissen eines Kunstwerkes bekannt zu machen, ohne gerade zu verlangen, da§ wir es hervorbringen sollten. Da nun der Flei§ ohnehin meine Sache nicht war: denn es machte mir nichts VergnŸgen, als was mich anflog, so wurde ich nach und nach, wo nicht lŠssig, doch mi§mutig, und weil die Kenntnis bequemer ist als das Tun, so lie§ ich mir gefallen, wohin er uns nach seiner Weise zu fŸhren gedachte.

Zu jener Zeit war ÈDas Leben der MalerÇ von d'Argenville ins Deutsche Ÿbersetzt; ich erhielt es ganz frisch und studierte es emsig genug. Dies schien Oesern zu gefallen, und er verschaffte uns Gelegenheit, aus den gro§en Leipziger Sammlungen manches Portefeuille zu sehen, und leitete uns dadurch zur Geschichte der Kunst ein. Aber auch diese †bungen brachten bei mir eine andere Wirkung hervor, als er im Sinn haben mochte. Die mancherlei GegenstŠnde, welche ich von den KŸnstlern behandelt sah, erweckten das poetische Talent in mir, und wie man ja wohl ein Kupfer zu einem Gedicht macht, so machte ich nun Gedichte zu den Kupfern und Zeichnungen, indem ich mir die darauf vorgestellten Personen in ihrem vorhergehenden und nachfolgenden Zustande zu vergegenwŠrtigen, bald auch ein kleines Lied, das ihnen wohl geziemt hŠtte, zu dichten wu§te,


und so mich gewšhnte, die KŸnste in Verbindung mit einander zu betrachten. Ja selbst die Fehlgriffe, die ich tat, da§ meine Gedichte manchmal beschreibend wurden, waren mir in der Folge, als ich zu mehrerer Besinnung kam, nŸtzlich, indem sie mich auf den Unterschied der KŸnste aufmerksam machten. Von solchen kleinen Dingen standen mehrere in der Sammlung, welche Behrisch veranstaltet hatte; es ist aber nichts davon Ÿbrig geblieben.

Das Kunst- und Geschmackselement, worin Oeser lebte, und auf welchem man selbst, insofern man ihn flei§ig besuchte, getragen wurde, ward auch dadurch immer wŸrdiger und erfreulicher, da§ er sich gern abgeschiedener oder abwesender MŠnner erinnerte, mit denen er in VerhŠltnis gestanden hatte, oder solches noch immer forterhielt; wie er denn, wenn er jemanden einmal seine Achtung geschenkt, ja unverŠnderlich in dem Betragen gegen denselben blieb, und sich immer gleich geneigt erwies.

Nachdem wir unter den Franzosen vorzŸglich Caylus hatten rŸhmen hšren, machte er uns auch mit deutschen, in diesem Fache tŠtigen MŠnnern bekannt. So erfuhren wir, da§ Professor Christ als Liebhaber, Sammler, Kenner, Mitarbeiter der Kunst schšne Dienste geleistet, und seine Gelehrsamkeit zu wahrer Fšrderung derselben angewendet habe. Heinecken dagegen durfte nicht wohl genannt werden, teils weil er sich mit den allzu kindlichen AnfŠngen der deutschen Kunst, welche Oeser wenig schŠtzte, gar zu emsig abgab, teils weil er einmal mit Winckelmann unsŠuberlich verfahren war, welches ihm denn niemals verziehen werden konnte. Auf Lipperts BemŸhungen jedoch ward unsere Aufmerksamkeit krŠftig hingeleitet, indem unser Lehrer das Verdienst derselben genugsam herauszusetzen wu§te. Denn obgleich, sagte er, die Statuen und grš§eren Bildwerke Grund und Gipfel aller Kunstkenntnis blieben, so seien sie doch sowohl im Original als Abgu§ selten zu sehen, dahingegen durch Lippert eine kleine Welt von Gemmen bekannt werde, in welcher der Alten fa§licheres Ver-


dienst glŸckliche Erfindung, zweckmŠ§ige Zusammenstellung, geschmackvolle Behandlung, auffallender und begreiflicher werde, auch bei so gro§er Menge die Vergleichung eher mšglich sei. Indem wir uns nun damit, so viel als erlaubt war, beschŠftigten, so wurde auf das hohe Kunstleben Winckelmanns in Italien hingedeutet, und wir nahmen dessen erste Schriften mit Andacht in die HŠnde: denn Oeser hatte eine leidenschaftliche Verehrung fŸr ihn, die er uns gar leicht einzuflš§en vermochte. Das Problematische jener kleinen AufsŠtze, die sich noch dazu durch Ironie selbst verwirren und sich auf ganz spezielle Meinungen und Ereignisse beziehen, vermochten wir zwar nicht zu entziffern; allein weil Oeser viel Einflu§ darauf gehabt, und er das Evangelium des Schšnen, mehr noch des Geschmackvollen und Angenehmen, auch uns unablŠssig Ÿberlieferte, so fanden wir den Sinn im allgemeinen wieder und dŸnkten uns bei solchen Auslegungen um desto sicherer zu gehen, als wir es fŸr kein geringes GlŸck achteten, aus derselben Quelle zu schšpfen, aus der Winckelmann seinen ersten Durst gestillt hatte.

Einer Stadt kann kein grš§eres GlŸck begegnen, als wenn mehrere im Guten und Rechten gleichgesinnte, schon gebildete MŠnner daselbst neben einander wohnen. Diesen Vorzug hatte Leipzig und geno§ ihn um so friedlicher, als sich noch nicht so manche Entzweiungen des Urteils hervorgetan hatten. Huber, Kupferstichsammler und wohlgeŸbter Kenner, hatte noch au§erdem das dankbar anerkannte Verdienst, da§ er den Wert der deutschen Literatur auch den Franzosen bekannt zu machen gedachte; Kreuchauff, Liebhaber mit geŸbtem Blick, der, als Freund der ganzen KunstsozietŠt, alle Sammlungen fŸr die seinigen ansehen konnte; Winkler, der die einsichtsvolle Freude, die er an seinen SchŠtzen hegte, sehr gern mit anderen teilte, mancher andere, der sich anschlo§: alle lebten und wirkten nur in einem Sinne, und ich wŸ§te mich nicht zu erinnern, so oft ich auch, wenn sie Kunstwerke durchsahen, beiwohnen


durfte, da§ jemals ein Zwiespalt entstanden wŠre: immer kam, billiger Weise, die Schule in Betracht, aus welcher der KŸnstler hervorgegangen, die Zeit, in der er gelebt, das besondere Talent, das ihm die Natur verliehen, und der Grad, auf welchen er es in der AusfŸhrung gebracht. Da war keine Vorliebe weder fŸr geistliche noch fŸr weltliche GegenstŠnde, fŸr lŠndliche oder fŸr stŠdtische, lebendige oder leblose; die Frage war immer nach dem KunstgemŠ§en.

Ob sich nun gleich diese Liebhaber und Sammler, nach ihrer Lage, Sinnesart, Vermšgen und Gelegenheit, mehr gegen die niederlŠndische Schule richteten, so ward doch, indem man sein Auge an den unendlichen Verdiensten der nordwestlichen KŸnstler Ÿbte, ein sehnsuchtsvoll verehrender Blick nach SŸdosten immer offen gehalten.

Und so mu§te die UniversitŠt, wo ich die Zwecke meiner Familie, ja meine eignen versŠumte, mich in demjenigen begrŸnden, worin ich die grš§te Zufriedenheit meines Lebens finden sollte; auch ist mir der Eindruck jener LokalitŠten, in welchen ich so bedeutende Anregungen empfangen, immer hšchst lieb und wert geblieben. Die alte Plei§enburg, die Zimmer der Akademie, vor allen aber Oesers Wohnung, nicht weniger die Winklersche und Richtersche Sammlungen habe ich noch immer lebhaft gegenwŠrtig.

Ein junger Mann jedoch, der, indem sich Šltere unter einander von schon bekannten Dingen unterhalten, nur beilŠufig unterrichtet wird, und welchem das schwerste GeschŠft, das alles zurecht zu legen, dabei Ÿberlassen bleibt, mu§ sich in einer sehr peinlichen Lage befinden. Ich sah mich daher mit anderen sehnsuchtsvoll nach einer neuen Erleuchtung um, die uns denn auch durch einen Mann kommen sollte, dem wir schon so viel schuldig waren.

Auf zweierlei Weise kann der Geist hšchlich erfreut werden, durch Anschauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen wŸrdigen Gegenstand, der nicht immer bereit, und eine verhŠltnismŠ§ige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt ist. Der Begriff hingegen will nur EmpfŠnglichkeit,


er bringt den Inhalt mit, und ist selbst das Werkzeug der Bildung. Daher war uns jener Lichtstrahl hšchst willkommen, den der vortrefflichste Denker durch dŸstre Wolken auf uns herableitete. Man mu§ JŸngling sein, um sich zu vergegenwŠrtigen, welche Wirkung Lessings ÈLaokoonÇ auf uns ausŸbte, indem dieses Werk uns aus der Region eines kŸmmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hinri§. Das so lange mi§verstandene ut pictura poesis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und RedekŸnste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammensto§en mochten. Der bildende KŸnstler sollte sich innerhalb der Grenze des Schšnen halten, wenn dem redenden, der die Bedeutung jeder Art nicht entbehren kann, auch darŸber hinauszuschweifen vergšnnt wŠre. Jener arbeitet fŸr den Šu§eren Sinn, der nur durch das Schšne befriedigt wird, dieser fŸr die Einbildungskraft, die sich wohl mit dem HŠ§lichen noch abfinden mag. Wie vor einem Blitz erleuchteten sich uns alle Folgen dieses herrlichen Gedankens, alle bisherige anleitende und urteilende Kritik ward, wie ein abgetragener Rock, weggeworfen, wir hielten uns von allem †bel erlšst, und glaubten mit einigem Mitleid auf das sonst so herrliche sechzehnte Jahrhundert herabblicken zu dŸrfen, wo man in deutschen Bildwerken und Gedichten das Leben nur unter der Form eines schellenbehangenen Narren, den Tod unter der Unform eines klappernden Gerippes, sowie die notwendigen und zufŠlligen †bel der Welt unter dem Bilde des fratzenhaften Teufels zu vergegenwŠrtigen wu§te.

Am meisten entzŸckte uns die Schšnheit jenes Gedankens, da§ die Alten den Tod als den Bruder des Schlafs anerkannt und beide, wie es MenŠchmen geziemt, zum Verwechseln gleich gebildet. Hier konnten wir nun erst den Triumph des schšnen hšchlich feiern, und das HŠ§liche jeder Art, da es doch einmal aus der Welt nicht zu vertreiben ist, im Reiche der Kunst nur in den niedrigen Kreis des LŠcherlichen verweisen.


Die Herrlichkeit solcher Haupt- und Grundbegriffe erscheint nur dem GemŸt, auf welches sie ihre unendliche Wirksamkeit ausŸben, erscheint nur der Zeit, in welcher sie ersehnt, im rechten Augenblick hervortreten. Da beschŠftigen sich die, welchen mit solcher Nahrung gedient ist, liebevoll ganze Epochen ihres Lebens damit und erfreuen sich eines Ÿberschwenglichen Wachstums, indessen es nicht an Menschen fehlt, die sich auf der Stelle einer solchen Wirkung widersetzen, und nicht an andern, die in der Folge an dem hohen Sinne markten und mŠkeln.

Wie sich aber Begriff und Anschauung wechselsweise fordern, so konnte ich diese neuen Gedanken nicht lange verarbeiten, ohne da§ ein unendliches Verlangen bei mir entstanden wŠre, doch einmal bedeutende Kunstwerke in grš§erer Masse zu erblicken. Ich entschied mich daher, Dresden ohne Aufenthalt zu besuchen. An der nštigen Barschaft fehlte es mir nicht; aber es waren andere Schwierigkeiten zu Ÿberwinden, die ich durch mein grillenhaftes Wesen noch ohne Not vermehrte: denn ich hielt meinen Vorsatz vor jedermann geheim, weil ich die dortigen KunstschŠtze ganz nach eigner Art zu betrachten wŸnschte und, wie ich meinte, mich von niemand wollte irre machen lassen. Au§er diesem ward durch noch eine andre Wunderlichkeit eine so einfache Sache verwickelter.

Wir haben angeborne und anerzogene SchwŠchen, und es mšchte noch die Frage sein, welche von beiden uns am meisten zu schaffen geben. So gern ich mich mit jeder Art von ZustŠnden bekannt machte und dazu manchen Anla§ gehabt hatte, war mir doch von meinem Vater eine Šu§erste Abneigung gegen alle Gasthšfe eingeflš§t worden. Auf seinen Reisen durch Italien, Frankreich und Deutschland hatte sich diese Gesinnung fest bei ihm eingewurzelt. Ob er gleich selten in Bildern sprach, und dieselben nur, wenn er sehr heiter war, zu HŸlfe rief; so pflegte er doch manchmal zu wiederholen: in dem Tore eines Gasthofs glaube er immer ein gro§es Spinnengewebe ausgespannt zu sehen, so


kŸnstlich, da§ die Insekten zwar hineinwŠrts, aber selbst die privilegierten Wespen nicht ungerupft heraus fliegen kšnnten. Es schien ihm etwas Erschreckliches, dafŸr, da§ man seinen Gewohnheiten und allem, was einem lieb im Leben wŠre, entsagte und nach der Weise des Wirts und der Kellner lebte, noch ŸbermŠ§ig bezahlen zu mŸssen. Er pries die HospitalitŠt alter Zeiten, und so ungern er sonst auch etwas Ungewohntes im Hause duldete, so Ÿbte er doch Gastfreundschaft, besonders an KŸnstlern und Virtuosen; wie denn Gevatter Seekatz immer sein Quartier bei uns behielt, und Abel, der letzte Musiker, welcher die Gambe mit GlŸck und Beifall behandelte, wohl aufgenommen und bewirtet wurde. Wie hŠtte ich mich nun mit solchen JugendeindrŸcken, die bisher durch nichts ausgelšscht worden, entschlie§en kšnnen, in einer fremden Stadt einen Gasthof zu betreten? Nichts wŠre leichter gewesen, als bei guten Freunden ein Quartier zu finden; Hofrat Krebel, Assessor Hermann und andere hatten mir schon oft davon gesprochen: allein auch diesen sollte meine Reise ein Geheimnis bleiben, und ich geriet auf den wunderliebsten Einfall. Mein Stubennachbar, der flei§ige Theolog, dem seine Augen leider immer mehr ablegten, hatte einen Verwandten in Dresden, einen Schuster, mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechselte. Dieser Mann war mir wegen seiner €u§erungen schon lŠngst hšchst merkwŸrdig geworden, und die Ankunft eines seiner Briefe ward von uns immer festlich gefeiert. Die Art, womit er die Klagen seines die Blindheit befŸrchtenden Vetters erwiderte, war ganz eigen: denn er bemŸhte sich nicht um TrostgrŸnde, welche immer schwer zu finden sind; aber die heitere Art, womit er sein eignes enges, armes, mŸhseliges Leben betrachtete, der Scherz, den er selbst den †beln und Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwŸstliche †berzeugung, da§ das Leben an und fŸr sich ein Gut sei, teilte sich demjenigen mit, der den Brief las, und versetzte ihn, wenigstens fŸr Augenblicke, in eine gleiche Stimmung. Enthusiastisch wie ich war, hatte ich diesen Mann


šfters verbindlich grŸ§en lassen, seine glŸckliche Naturgabe gerŸhmt und den Wunsch, ihn kennen zu lernen, geŠu§ert. Dieses alles vorausgesetzt, schien mir nichts natŸrlicher, als ihn aufzusuchen, mich mit ihm zu unterhalten, ja bei ihm zu wohnen und ihn recht genau kennen zu lernen. Mein guter Kandidat gab mir, nach einigem Widerstreben, einen mŸhsam geschriebenen Brief mit, und ich fuhr, meine Matrikel in der Tasche, mit der gelben Kutsche sehnsuchtsvoll nach Dresden.

Ich suchte nach meinem Schuster und fand ihn bald in der Vorstadt. Auf seinem Schemel sitzend empfing er mich freundlich und sagte lŠchelnd, nachdem er den Brief gelesen: ÈIch sehe hieraus, junger Herr, da§ Ihr ein wunderlicher Christ seid.Ç ÈWie das, Meister?Ç versetzte ich. ÈWunderlich ist nicht Ÿbel gemeintÇ, fuhr er fort, Èman nennt jemand so, der sich nicht gleich ist, und ich nenne Sie einen wunderlichen Christen, weil Sie sich in einem StŸck als den Nachfolger des Herrn bekennen, in dem anderen aber nicht.Ç Auf meine Bitte, mich aufzuklŠren sagte er weiter: ÈEs scheint, da§ Ihre Absicht ist, eine fršhliche Botschaft den Armen und Niedrigen zu verkŸndigen; das ist schšn, und diese Nachahmung des Herrn ist lšblich; Sie sollten aber dabei bedenken, da§ er lieber bei wohlhabenden und reichen Leuten zu Tische sa§, wo es gut herging, und da§ er selbst den Wohlgeruch des Balsams nicht verschmŠhte, wovon Sie wohl bei mir das Gegenteil finden kšnnten.Ç

Dieser lustige Anfang setzte mich gleich in guten Humor, und wir neckten einander eine ziemliche Weile herum. Die Frau stand bedenklich, wie sie einen solchen Gast unterbringen und bewirten solle? Auch hierŸber hatte er sehr artige EinfŠlle, die sich nicht allein auf die Bibel, sondern auch auf Gottfrieds ÈChronikÇ bezogen, und als wir einig waren, da§ ich bleiben solle, so gab ich meinen Beutel, wie er war, der Wirtin zum Aufheben und ersuchte sie, wenn etwas nštig sei, sich daraus zu versehen. Da er es ablehnen wollte und mit einiger Schalkheit zu verstehen gab, da§ er


nicht so abgebrannt sei, als es aussehen mšchte, so entwaffnete ich ihn dadurch, da§ ich sagte: und wenn es auch nur wŠre, um das Wasser in Wein zu verwandeln, so wŸrde wohl, da heutzutage keine Wunder mehr geschehen, ein solches probates Hausmittel nicht am unrechten Orte sein. Die Wirtin schien mein Reden und Handeln immer weniger seltsam zu finden, wir hatten uns bald in einander geschickt und brachten einen sehr heiteren Abend zu. Er blieb sich immer gleich, weil alles aus einer Quelle flo§. Sein Eigentum war ein tŸchtiger Menschenverstand, der auf einem heiteren GemŸt ruhte und sich in der gleichmŠ§igen hergebrachten TŠtigkeit gefiel. Da§ er unablŠssig arbeitete, war sein Erstes und Notwendigstes, da§ er alles Ÿbrige als zufŠllig ansah, dies bewahrte sein Behagen; und ich mu§te ihn vor vielen andern in die Klasse derjenigen rechnen, welche praktische Philosophen, bewu§tlose Weltweisen genannt wurden.

Die Stunde, wo die Galerie eršffnet werden sollte, mit Ungeduld erwartet, erschien. Ich trat in dieses Heiligtum, und meine Verwunderung Ÿberstieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte. Dieser in sich selbst wiederkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bei der grš§ten Stille herrschten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch nŠher, in der sie verguldet wurden, der gebohnte Fu§boden, die mehr von Schauenden betretenen als von Arbeitenden benutzten RŠume gaben ein GefŸhl von Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das um so mehr der Empfindung Šhnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck so manches Tempels, der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunstzwecken aufgestellt erschien. Ich lie§ mir die kursorische Demonstration meines FŸhrers gar wohl gefallen, nur erbat ich mir, in der Šu§eren Galerie bleiben zu dŸrfen. Hier fand ich mich, zu meinem Behagen, wirklich zu Hause. Schon hatte ich Werke mehrerer KŸnstler gesehn, andere kannte ich durch Kupferstiche, andere dem Namen nach; ich verhehlte es nicht und flš§te meinem


FŸhrer dadurch einiges Vertrauen ein, ja ihn ergetzte das EntzŸcken, das ich bei StŸcken Šu§erte, wo der Pinsel Ÿber die Natur den Sieg davontrug: denn solche Dinge waren es vorzŸglich, die mich an sich zogen, wo die Vergleichung mit der bekannten Natur den Wert der Kunst notwendig erhšhen mu§te.

Als ich bei meinem Schuster wieder eintrat, um das Mittagsmahl zu genie§en, trauete ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte ein Bild von Ostade vor mir zu sehen, so vollkommen, da§ man es nur auf die Galerie hŠtte hŠngen dŸrfen. Stellung der GegenstŠnde, Licht, Schatten, brŠunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in jenen Bildern bewundert, sah ich hier in der Wirklichkeit. Es war das erstemal, da§ ich auf einen so hohen Grad die Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Bewu§tsein Ÿbte, die Natur nŠmlich mit den Augen dieses oder jenes KŸnstlers zu sehen, dessen Werken ich soeben eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Diese FŠhigkeit hat mir viel Genu§ gewŠhrt, aber auch die Begierde vermehrt, der AusŸbung eines Talents, das mir die Natur versagt zu haben schien, von Zeit zu Zeit eifrig nachzuhŠngen.

Ich besuchte die Galerie zu allen vergšnnten Stunden, und fuhr fort, mein EntzŸcken Ÿber manche kšstliche Werke vorlaut auszusprechen. Ich vereitelte dadurch meinen lšblichen Vorsatz, unbekannt und unbemerkt zu bleiben; und da sich bisher nur ein Unteraufseher mit mir abgegeben hatte, nahm nun auch der Galerieinspektor, Rat Riedel, von mir Notiz und machte mich auf gar manches aufmerksam, welches vorzŸglich in meiner SphŠre zu liegen schien. Ich fand diesen trefflichen Mann damals ebenso tŠtig und gefŠllig, als ich ihn nachher mehrere Jahre hindurch gesehen und wie er sich noch heute erweist. Sein Bild hat sich mir mit jenen KunstschŠtzen so in eins verwoben, da§ ich beide niemals gesondert erblicke, ja sein Andenken hat mich nach Italien begleitet, wo mir seine Gegenwart in manchen gro§en und reichen Sammlungen sehr wŸnschenswert gewesen wŠre.


Da man auch mit Fremden und Unbekannten solche Werke nicht stumm und ohne wechselseitige Teilnahme betrachten kann, ihr Anblick vielmehr am ersten geeignet ist, die GemŸter gegen einander zu eršffnen; so kam ich auch daselbst mit einem jungen Manne ins GesprŠch, der sich in Dresden aufzuhalten und einer Legation anzugehšren schien. Er lud mich ein, abends in einen Gasthof zu kommen, wo sich eine muntere Gesellschaft versammle, und wo man, indem jeder eine mŠ§ige Zeche bezahle, einige ganz vergnŸgte Stunden zubringen kšnne.

Ich fand mich ein, ohne die Gesellschaft anzutreffen, und der Kellner setzte mich einigerma§en in Verwunderung, als er mir von dem Herrn, der mich bestellt, ein Kompliment ausrichtete, wodurch dieser eine Entschuldigung, da§ er etwas spŠter kommen werde, an mich gelangen lie§, mit dem Zusatze, ich sollte mich an nichts sto§en, was vorgehe, auch werde ich nichts weiter als meine eigne Zeche zu bezahlen haben. Ich wu§te nicht, was ich aus diesen Worten machen sollte, aber die Spinneweben meines Vaters fielen mir ein, und ich fa§te mich, um zu erwarten, was da kommen mšchte. Die Gesellschaft versammelte sich, mein Bekannter stellte mich vor, und ich durfte nicht lange aufmerken, so fand ich, da§ es auf Mystifikation eines jungen Menschen hinausgehe, der als ein Neuling sich durch ein vorlautes, anma§liches Wesen auszeichnete: ich nahm mich daher gar sehr in acht, da§ man nicht etwa Lust finden mšchte, mich zu seinem GefŠhrten auszuersehen. Bei Tische ward jene Absicht jedermann deutlicher, nur nicht ihm. Man zechte immer stŠrker, und als man zuletzt seiner Geliebten zu Ehren gleichfalls ein Vivat angestimmt; so schwur jeder hoch und teuer, aus diesen GlŠsern dŸrfe nun weiter kein Trunk geschehen; man warf sie hinter sich, und dies war das Signal zu weit grš§eren Torheiten. Endlich entzog ich mich ganz sachte, und der Kellner, indem er mir eine sehr billige Zeche abforderte, ersuchte mich wiederzukommen, da es nicht alle Abende so bunt hergehe. Ich hatte weit in mein


Quartier, und es war nah an Mitternacht, als ich es erreichte. Die TŸren fand ich unverschlossen, alles war zu Bette, und eine Lampe erleuchtete den enghŠuslichen Zustand, wo denn mein immer mehr geŸbtes Auge sogleich das schšnste Bild von Schalcken erblickte, von dem ich mich nicht losmachen konnte, so da§ es mir allen Schlaf vertrieb.

Die wenigen Tage meines Aufenthalts in Dresden waren allein der GemŠldegalerie gewidmet. Die Antiken standen noch in den Pavillons des Gro§en Gartens, ich lehnte ab sie zu sehen, sowie alles Ÿbrige, was Dresden Kšstliches enthielt; nur zur voll von der †berzeugung, da§ in und an der GemŠldesammlung selbst mir noch vieles verborgen bleiben mŸsse. So nahm ich den Wert der italienischen Meister mehr auf Treu und Glauben an, als da§ ich mir eine Einsicht in denselben hŠtte anma§en kšnnen. Was ich nicht als Natur ansehen, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten Gegenstand vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam. Der materielle Eindruck ist es, der den Anfang selbst zu jeder hšheren Liebhaberei macht.

Mit meinem Schuster vertrug ich mich ganz gut. Er war geistreich und mannigfaltig genug, und wir Ÿberboten uns manchmal an neckischen EinfŠllen; jedoch ein Mensch, der sich glŸcklich preist und von andern verlangt, da§ sie das gleiche tun sollen, versetzt uns in ein Mi§behagen, ja die Wiederholung solcher Gesinnungen macht uns Langeweile. Ich fand mich wohl beschŠftigt, unterhalten, aufgeregt, aber keineswegs glŸcklich, und die Schuhe nach seinem Leisten wollten mir nicht passen. Wir schieden jedoch als die besten Freunde, und auch meine Wirtin war beim Abschiede nicht unzufrieden mit mir.

So sollte mir denn auch, noch kurz vor meiner Abreise, etwas sehr Angenehmes begegnen. Durch die Vermittlung jenes jungen Mannes, der sich wieder bei mir in einigen Kredit zu setzen wŸnschte, ward ich dem Direktor von Hagedorn vorgestellt, der mir seine Sammlung mit gro§er GŸte vorwies, und sich an dem Enthusiasmus des jungen


Kunstfreundes hšchlich ergetzte. Er war, wie es einem Kenner geziemt, in die Bilder, die er besa§, ganz eigentlich verliebt, und fand daher selten an anderen eine Teilnahme, wie er sie wŸnschte. Besonders machte es ihm Freude, da§ mir ein Bild von Swanevelt ganz ŸbermŠ§ig gefiel, da§ ich dasselbe in jedem einzelnen Teile zu preisen und zu erheben nicht mŸde ward: denn gerade Landschaften, die mich an den schšnen heiteren Himmel, unter welchem ich herangewachsen, wieder erinnerten, die PflanzenfŸlle jener Gegenden, und was sonst fŸr Gunst ein wŠrmeres Klima den Menschen gewŠhrt, rŸhrten mich in der Nachbildung am meisten, indem sie eine sehnsŸchtige Erinnerung in mir aufregten.

Diese kšstlichen, Geist und Sinn zur wahren Kunst vorbereitenden Erfahrungen wurden jedoch durch einen der traurigsten Anblicke unterbrochen und gedŠmpft, durch den zerstšrten und veršdeten Zustand so mancher Stra§e Dresdens, durch die ich meinen Weg nahm. Die Mohrenstra§e im Schutt, sowie die Kreuzkirche mit ihrem geborstenen Turm drŸckten sich mir tief ein und stehen noch wie ein dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft. Von der Kuppel der Frauenkirche sah ich diese leidigen TrŸmmer zwischen die schšne stŠdtische Ordnung hineingesŠt; da rŸhmte mir der KŸster die Kunst des Baumeisters, welcher Kirche und Kuppel auf einen so unerwŸnschten Fall schon eingerichtet und bombenfest erbaut hatte. Der gute Sakristan deutete mir alsdann auf Ruinen nach allen Seiten und sagte bedenklich lakonisch: ÈDas hat der Feind getan!Ç

So kehrte ich nun zuletzt, obgleich ungern, nach Leipzig zurŸck, und fand meine Freunde, die solche Abschweifungen von mir nicht gewohnt waren, in gro§er Verwunderung, beschŠftigt mit allerlei Konjekturen, was meine geheimnisvolle Reise wohl habe bedeuten sollen. Wenn ich ihnen darauf meine Geschichte ganz ordentlich erzŠhlte, erklŠrten sie mir solche fŸr ein MŠrchen und suchten scharfsinnig hinter das RŠtsel zu kommen, das ich unter der Schusterherberge zu verhŸllen mutwillig genug sei.


HŠtten sie mir aber ins Herz sehen kšnnen, so wŸrden sie keinen Mutwillen darin entdeckt haben: denn die Wahrheit jenes alten Worts, Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe, hatte mich mit ganzer Gewalt getroffen, und je mehr ich mich anstrengte, dasjenige, was ich gesehn, zu ordnen und mir zuzueignen, je weniger gelang es mir; ich mu§te mir zuletzt ein stilles Nachwirken gefallen lassen. Das gewšhnliche Leben ergriff mich wieder, und ich fŸhlte mich zuletzt ganz behaglich, wenn ein freundschaftlicher Umgang, Zunahme an Kenntnissen, die mir gemŠ§ waren, und eine gewisse †bung der Hand mich auf eine weniger bedeutende, aber meinen KrŠften mehr proportionierte Weise beschŠftigten.

Eine sehr angenehme und fŸr mich heilsame Verbindung, zu der ich gelangte, war die mit dem Breitkopfischen Hause. Bernhard Christoph Breitkopf, der eigentliche Stifter der Familie, der als ein armer Buchdruckergesell nach Leipzig gekommen war, lebte noch und bewohnte den ÈGoldenen BŠrenÇ ein ansehnliches GebŠude auf dem Neuen Neumarkt, mit Gottsched als Hausgenossen. Der Sohn, Johann Gottlob Immanuel, war auch schon lŠngst verheiratet und Vater mehrerer Kinder. Einen Teil ihres ansehnlichen Vermšgens glaubten sie nicht besser anwenden zu kšnnen, als indem sie ein gro§es neues Haus, ÈZum silbernen BŠrenÇ dem ersten gegenŸber errichteten, welches hšher und weitlŠuftiger als das Stammhaus selbst angelegt ward. Gerade zu der Zeit des Baues ward ich mit der Familie bekannt. Der Šlteste Sohn mochte einige Jahre mehr haben als ich, ein wohlgestalteter junger Mann, der Musik ergeben und geŸbt, sowohl den FlŸgel als die Violine fertig zu behandeln. Der zweite, eine treue gute Seele, gleichfalls musikalisch, belebte nicht weniger als der Šlteste die Konzerte, die šfters veranstaltet wurden. Sie waren mir beide, so wie auch Eltern und Schwestern, gewogen; ich ging ihnen beim Auf- und Ausbau, beim Mšblieren und Einziehen zur Hand, und begriff dadurch manches, was sich auf ein solches GeschŠft bezieht; auch


hatte ich Gelegenheit, die Oeserischen Lehren angewendet zu sehn. In dem neuen Hause, das ich also entstehen sah, war ich oft zum Besuch. Wir trieben manches gemeinschaftlich, und der €lteste komponierte einige meiner Lieder, die, gedruckt, seinen Namen, aber nicht den meinigen fŸhrten und wenig bekannt geworden sind. Ich habe die besseren ausgezogen und zwischen meine Ÿbrigen kleinen Poesien eingeschaltet. Der Vater hatte den Notendruck erfunden oder vervollkommnet. Von einer schšnen Bibliothek, die sich meistens auf den Ursprung der Buchdruckerei und ihr Wachstum bezog, erlaubte er mir den Gebrauch, wodurch ich mir in diesem Fache einige Kenntnis erwarb. Ingleichen fand ich daselbst gute Kupferwerke, die das Altertum darstellten, und setzte meine Studien auch von dieser Seite fort, welche dadurch noch mehr gefšrdert wurden, da§ eine ansehnliche Schwefelsammlung beim Umziehen in Unordnung geraten war. Ich brachte sie, so gut ich konnte, wieder zurechte und war genštigt, dabei mich im Lippert und anderen umzusehen. Einen Arzt, Doktor Reichel, gleichfalls einen Hausgenossen, konsultierte ich von Zeit zu Zeit, da ich mich, wo nicht krank, doch unmustern fŸhlte, und so fŸhrten wir zusammen ein stilles anmutiges Leben.

Nun sollte ich in diesem Hause noch eine andere Art von Verbindung eingehen. Es zog nŠmlich in die Mansarde der Kupferstecher Stock. Er war aus NŸrnberg gebŸrtig, ein sehr flei§iger und in seinen Arbeiten genauer und ordentlicher Mann. Auch er stach, wie Geyser, nach Oeserischen Zeichnungen grš§ere und kleinere Platten, die zu Romanen und Gedichten immer mehr in Schwung kamen. Er radierte sehr sauber, so da§ die Arbeit aus dem €tzwasser beinahe vollendet herauskam, und mit dem Grabstichel, den er sehr gut fŸhrte, nur weniges nachzuhelfen blieb. Er machte einen genauen †berschlag, wie lange ihn eine Platte beschŠftigen wŸrde, und nichts war vermšgend, ihn von seiner Arbeit abzurufen, wenn er nicht sein tŠglich vorgesetztes Pensum vollbracht hatte. So sa§ er an einem breiten Arbeitstisch


am gro§en Giebelfenster, in einer sehr ordentlichen und reinlichen Stube, wo ihm Frau und zwei Tšchter hŠusliche Gesellschaft leisteten. Von diesen letzten ist die eine glŸcklich verheiratet und die andere eine vorzŸgliche KŸnstlerin; sie sind lebenslŠnglich meine Freundinnen geblieben. Ich teilte nun meine Zeit zwischen den obern und untern Stockwerken und attachierte mich sehr an den Mann, der bei seinem anhaltenden Flei§e einen herrlichen Humor besa§ und die GutmŸtigkeit selbst war.

Mich reizte die reinliche Technik dieser Kunstart, und so ich gesellte mich zu ihm, um auch etwas dergleichen zu verfertigen. Meine Neigung hatte sich wieder auf die Landschaft gelenkt, die mir bei einsamen SpaziergŠngen unterhaltend, an sich erreichbar und in den Kunstwerken fa§licher erschien als die menschliche Figur, die mich abschreckte. Ich radierte daher unter seiner Anleitung verschiedene Landschaften nach Thiele und andern, die, obgleich von einer ungeŸbten Hand verfertigt, doch einigen Effekt machten und gut aufgenommen wurden. Das Grundieren der Platten, das Wei§anstreichen derselben, das Radieren selbst und zuletzt das €tzen gab mannigfaltige BeschŠftigung, und ich war bald dahin gelangt, da§ ich meinem Meister in manchen Dingen beistehen konnte. Mir fehlte nicht die beim €tzen nštige Aufmerksamkeit, und selten da§ mir etwas mi§lang; aber ich hatte nicht Vorsicht genug, mich gegen die schŠdlichen DŸnste zu verwahren, die sich bei solcher Gelegenheit zu entwickeln pflegen, und sie mšgen wohl zu den †beln beigetragen haben, die mich nachher eine Zeitlang quŠlten. Zwischen solchen Arbeiten wurde auch manchmal, damit ja alles versucht wŸrde, in Holz geschnitten. Ich verfertigte verschiedene kleine Druckerstšcke, nach franzšsischen Mustern, und manches davon ward brauchbar gefunden.

Man lasse mich hier noch einiger MŠnner gedenken, welche sich in Leipzig aufhielten, oder daselbst auf kurze Zeit verweilten. Kreissteuereinnehmer Wei§e, in seinen besten


Jahren, heiter, freundlich und zuvorkommend, ward von uns geliebt und geschŠtzt. Zwar wollten wir seine TheaterstŸcke nicht durchaus fŸr musterhaft gelten lassen, lie§en uns aber doch davon hinrei§en, und seine Opern, durch Hillern auf eine leichte Weise belebt, machten uns viel VergnŸgen. Schiebeler, von Hamburg, betrat dieselbe Bahn, und dessen ÈLisuart und DarioletteÇ ward von uns gleichfalls begŸnstigt. Eschenburg, ein schšner junger Mann, nur um weniges Šlter als wir, zeichnete sich unter den Studierenden vorteilhaft aus. ZachariŠ lie§ sich's einige Wochen bei uns gefallen und speiste, durch seinen Bruder eingeleitet, mit uns an einem Tische. Wir schŠtzten es, wie billig, fŸr eine Ehre, wechselsweise durch ein paar au§erordentliche Gerichte, reichlicheren Nachtisch und ausgesuchteren Wein unserm Gast zu willfahren, der, als ein gro§er, wohlgestalteter, behaglicher Mann, seine Neigung zu einer guten Tafel nicht verhehlte. Lessing traf zu einer Zeit ein, wo wir, ich wei§ nicht was, im Kopf hatten: es beliebte uns, ihm nirgends zu Gefallen zu gehen, ja die Orte, wo er hinkam, zu vermeiden, wahrscheinlich weil wir uns zu gut dŸnkten, von ferne zu stehen, und keinen Anspruch machen konnten, in ein nŠheres VerhŠltnis mit ihm zu gelangen. Diese augenblickliche Albernheit, die aber bei einer anma§lichen und grillenhaften Jugend nichts Seltenes ist, bestrafte sich freilich in der Folge, indem ich diesen so vorzŸglichen und von mir aufs hšchste geschŠtzten Mann niemals mit Augen gesehen.

Bei allen BemŸhungen jedoch, welche sich auf Kunst und Altertum bezogen, hatte jeder stets Winckelmann vor Augen, dessen TŸchtigkeit im Vaterlande mit Enthusiasmus anerkannt wurde. Wir lasen flei§ig seine Schriften, und suchten uns die UmstŠnde bekannt zu machen, unter welchen er die ersten geschrieben hatte. Wir fanden darin manche Ansichten, die sich von Oesern herzuschreiben schienen, ja sogar Scherz und Grillen nach seiner Art, und lie§en nicht nach, bis wir uns einen ungefŠhren Begriff von der Gelegenheit gemacht hatten, bei welcher diese merkwŸrdigen und


doch mitunter so rŠtselhaften Schriften entstanden waren; ob wir es gleich dabei nicht sehr genau nahmen: denn die Jugend will lieber angeregt als unterrichtet sein, und es war nicht das letztemal, da§ ich eine bedeutende Bildungsstufe sibyllinischen BlŠttern verdanken sollte.

Es war damals in der Literatur eine schšne Zeit, wo vorzŸglichen Menschen noch mit Achtung begegnet wurde, obgleich die Klotzischen HŠndel und Lessings Kontroversen schon darauf hindeuteten, da§ diese Epoche sich bald schlie§en werde. Winckelmann geno§ einer solchen allgemeinen, unangetasteten Verehrung, und man wei§, wie empfindlich er war gegen irgend etwas …ffentliches, das seiner wohl gefŸhlten WŸrde nicht gemŠ§ schien. Alle Zeitschriften stimmten zu seinem Ruhme Ÿberein, die besseren Reisenden kamen belehrt und entzŸckt von ihm zurŸck, und die neuen Ansichten, die er gab, verbreiteten sich Ÿber Wissenschaft und Leben. Der FŸrst von Dessau hatte sich zu einer gleichen Achtung emporgeschwungen. Jung, wohl- und edeldenkend, hatte er sich auf seinen Reisen und sonst recht wŸnschenswert erwiesen. Winckelmann war im hšchsten Grade von ihm entzŸckt und belegte ihn, wo er seiner gedachte, mit den schšnsten Beinamen. Die Anlage eines damals einzigen Parks, der Geschmack zur Baukunst, welchen von Erdmannsdorff durch seine TŠtigkeit unterstŸtzte, alles sprach zu Gunsten eines FŸrsten, der, indem er durch sein Beispiel den Ÿbrigen vorleuchtete, Dienern und Untertanen ein goldnes Zeitalter versprach. Nun vernahmen wir jungen Leute mit Jubel, da§ Winckelmann aus Italien zurŸckkehren, seinen fŸrstlichen Freund besuchen, unterwegs bei Oesern eintreten und also auch in unsern Gesichtskreis kommen wŸrde. Wir machten keinen Anspruch, mit ihm zu reden; aber wir hofften, ihn zu sehen, und weil man in solchen Jahren einen jeden Anla§ gern in eine Lustpartie verwandelt, so hatten wir schon Ritt und Fahrt nach Dessau verabredet, wo wir in einer schšnen, durch Kunst verherrlichten Gegend, in einem wohl administrierten und zugleich


Šu§erlich geschmŸckten Lande bald da bald dort aufzupassen dachten, um die Ÿber uns so weit erhabenen MŠnner mit eigenen Augen umherwandeln zu sehen. Oeser war selbst ganz exaltiert, wenn er daran nur dachte, und wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tode zwischen uns nieder. Ich erinnere mich noch der Stelle, wo ich sie zuerst vernahm; es war in dem Hofe der Plei§enburg, nicht weit von der kleinen Pforte, durch die man zu Oeser hinaufzusteigen pflegte. Es kam mir ein MitschŸler entgegen, sagte mir, da§ Oeser nicht zu sprechen sei, und die Ursache warum. Dieser ungeheuere Vorfall tat eine ungeheuere Wirkung; es war ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und sein frŸhzeitiger Tod schŠrfte die Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens. Ja vielleicht wŠre die Wirkung seiner TŠtigkeit, wenn er sie auch bis in ein hšheres Alter fortgesetzt hŠtte, nicht so gro§ gewesen, als sie jetzt werden mu§te, da er, wie mehrere au§erordentliche Menschen, auch noch durch ein seltsames und widerwŠrtiges Ende vom Schicksal ausgezeichnet worden.

Indem ich nun aber Winckelmanns Abscheiden grenzenlos beklagte, so dachte ich nicht, da§ ich mich bald in dem Falle befinden wŸrde, fŸr mein eignes Leben besorgt zu sein: denn unter allem diesen hatten meine kšrperlichen ZustŠnde nicht die beste Wendung genommen. Schon von Hause hatte ich einen gewissen hypochondrischen Zug mitgebracht, der sich in dem neuen sitzenden und schleichenden Leben eher verstŠrkte als verschwŠchte. Der Schmerz auf der Brust, den ich seit dem AuerstŠdter Unfall von Zeit zu Zeit empfand und der, nach einem Sturz mit dem Pferde, merklich gewachsen war, machte mich mi§mutig. Durch eine unglŸckliche DiŠt verdarb ich mir die KrŠfte der Verdauung; das schwere Merseburger Bier verdŸsterte mein Gehirn, der Kaffee, der mir eine ganz eigne triste Stimmung gab, besonders mit Milch nach Tische genossen, paralysierte meine Eingeweide und schien ihre Funktionen všllig auf-


zuheben, so da§ ich deshalb gro§e BeŠngstigungen empfand, ohne jedoch den Entschlu§ zu einer vernŸnftigeren Lebensart fassen zu kšnnen. Meine Natur, von hinlŠnglichen KrŠften der Jugend unterstŸtzt, schwankte zwischen den Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen. Ferner war damals die Epoche des Kaltbadens eingetreten, welches unbedingt empfohlen ward. Man sollte auf hartem Lager schlafen, nur leicht zugedeckt, wodurch denn alle gewohnte AusdŸnstung unterdrŸckt wurde. Diese und andere Torheiten, in Gefolg von mi§verstandenen Anregungen Rousseaus, wŸrden uns, wie man versprach, der Natur nŠher fŸhren und uns aus dem Verderbnisse der Sitten retten. Alles Obige nun, ohne Unterscheidung, mit unvernŸnftigem Wechsel angewendet, empfanden mehrere als das SchŠdlichste, und ich verhetzte meinen glŸcklichen Organismus dergestalt, da§ die darin enthaltenen besondern Systeme zuletzt in eine Verschwšrung und Revolution ausbrechen mu§ten, um das Ganze zu retten.

Eines Nachts wachte ich mit einem heftigen Blutsturz auf, und hatte noch soviel Kraft und Besinnung, meinen Stubennachbar zu wecken. Doktor Reichel wurde gerufen, der mir aufs freundlichste hŸlfreich ward, und so schwankte ich mehrere Tage zwischen Leben und Tod, und selbst die Freude an einer erfolgenden Besserung wurde dadurch vergŠllt, da§ sich, bei jener Eruption, zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man jetzt erst, nach vorŸbergegangner Gefahr, zu bemerken Zeit fand. Genesung ist jedoch immer angenehm und erfreulich, wenn sie auch langsam und kŸmmerlich vonstatten geht, und da bei mir sich die Natur geholfen, so schien ich auch nunmehr ein anderer Mensch geworden zu sein: denn ich hatte eine grš§ere Heiterkeit des Geistes gewonnen, als ich mir lange nicht gekannt, ich war froh, mein Inneres frei zu fŸhlen, wenn mich gleich Šu§erlich ein langwieriges Leiden bedrohte.

Was mich aber in dieser Zeit besonders aufrichtete, war zu sehen, wieviel vorzŸgliche MŠnner mir unverdient ihre


Neigung zugewendet hatten. Unverdient, sage ich: denn es war keiner darunter, dem ich nicht, durch widerliche Launen, beschwerlich gewesen wŠre, keiner, den ich nicht durch krankhaften Widersinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht, im GefŸhl meines eignen Unrechts, eine Zeitlang stšrrisch gemieden hŠtte. Dies alles war vergessen, sie behandelten mich aufs liebreichste und suchten mich teils auf meinem Zimmer, teils sobald ich es verlassen konnte, zu unterhalten und zu zerstreuen. Sie fuhren mit mir aus, bewirteten mich auf ihren LandhŠusern, und ich schien mich bald zu erholen.

Unter diesen Freunden nenne ich wohl zuvšrderst den damaligen Ratsherrn, nachherigen Burgemeister von Leipzig, Doktor Hermann. Er war unter denen Tischgenossen, die ich durch Schlosser kennen lernte, derjenige, zu dem sich ein immer gleiches und dauerndes VerhŠltnis bewŠhrte. Man konnte ihn wohl zu den flei§igsten der akademischen MitbŸrger rechnen. Er besuchte seine Kollegien auf das regelmŠ§igste, und sein Privatflei§ blieb sich immer gleich. Schritt vor Schritt, ohne die mindeste Abweichung, sah ich ihn den Doktorgrad erreichen, dann sich zur Assessur emporheben, ohne da§ ihm hiebei etwas mŸhsam geschienen, da§ er im mindesten etwas Ÿbereilt oder verspŠtet hŠtte. Die Sanftheit seines Charakters zog mich an, seine lehrreiche Unterhaltung hielt mich fest; ja ich glaube wirklich, da§ ich mich an seinem geregelten Flei§ vorzŸglich deswegen erfreute, weil ich mir von einem Verdienste, dessen ich mich keineswegs rŸhmen konnte, durch Anerkennung und HochschŠtzung, wenigstens einen Teil zuzueignen meinte.

Ebenso regelmŠ§ig als in seinen GeschŠften war er in AusŸbung seiner Talente und im Genu§ seiner VergnŸgungen. Er spielte den FlŸgel mit gro§er Fertigkeit, zeichnete mit GefŸhl nach der Natur, und regte mich an, das gleiche zu tun; da ich denn in seiner Art auf grau Papier mit schwarzer und wei§er Kreide gar manches Weidicht der Plei§e und manchen lieblichen Winkel dieser stillen Wasser nach-


zubilden und dabei immer sehnsŸchtig meinen Grillen nachzuhŠngen pflegte. Er wu§te mein mitunter komisches Wesen durch heitere Scherze zu erwidern, und ich erinnere mich mancher vergnŸgten Stunde, die wir zusammen zubrachten, wenn er mich mit scherzhafter Feierlichkeit zu einem Abendessen unter vier Augen einlud, wo wir mit eignem Anstand, bei angezŸndeten Wachslichtern, einen sogenannten Ratshasen, der ihm als Deputat seiner Stelle in die KŸche gelaufen war, verzehrten, und mit gar manchen SpŠ§en, in Behrischens Manier, das Essen zu wŸrzen und den Geist des Weines zu erhšhen beliebten. Da§ dieser treffliche und noch jetzt in seinem ansehnlichen Amte immerfort wirksame Mann mir bei meinem zwar geahndeten, aber in seiner ganzen Grš§e nicht vorausgesehenen †bel den treuliebsten Beistand leistete, mir jede freie Stunde schenkte, und durch Erinnerung an frŸhere Heiterkeiten den trŸben Augenblick zu erhellen wu§te, erkenne ich noch immer mit dem aufrichtigsten Dank, und freue mich, nach so langer Zeit ihn šffentlich abstatten zu kšnnen.

Au§er diesem werten Freunde nahm sich Gršning von Bremen besonders meiner an. Ich hatte erst kurz vorher seine Bekanntschaft gemacht, und sein Wohlwollen gegen mich ward ich erst bei dem Unfalle gewahr; ich fŸhlte den Wert dieser Gunst um so lebhafter, als niemand leicht eine nŠhere Verbindung mit Leidenden sucht. Er sparte nichts, um mich zu ergetzen, mich aus dem Nachsinnen Ÿber meinen Zustand herauszuziehen und mir Genesung und gesunde TŠtigkeit in der nŠchsten Zeit vorzuzeigen und zu versprechen. Wie oft habe ich mich gefreut, in dem Fortgange des Lebens zu hšren, wie sich dieser vorzŸgliche Mann, in den wichtigsten GeschŠften, seiner Vaterstadt nŸtzlich und heilbringend erwiesen.

Hier war es auch, wo Freund Horn seine Liebe und Aufmerksamkeit ununterbrochen wirken lie§. Das ganze Breitkopfische Haus, die Stockische Familie, manche andere behandelten mich als einen nahen Verwandten; und so wurde mir


durch das Wohlwollen so vieler freundlicher Menschen das GefŸhl meines Zustandes auf das zarteste gelindert.

UmstŠndlicher mu§ ich jedoch hier eines Mannes erwŠhnen, den ich erst in dieser Zeit kennen lernte und dessen lehrreicher Umgang mich Ÿber die traurige Lage, in der ich mich befand, dergestalt verblendete, da§ ich sie wirklich verga§. Es war Langer, nachheriger Bibliothekar in WolfenbŸttel. VorzŸglich gelehrt und unterrichtet, freute er sich an meinem Hei§hunger nach Kenntnissen, der sich nun bei der krankhaften Reizbarkeit všllig fieberhaft Šu§erte. Er suchte mich durch deutliche †bersichten zu beruhigen, und ich bin seinem, obwohl kurzen Umgange sehr viel schuldig geworden, indem er mich auf mancherlei Weise zu leiten verstand und mich aufmerksam machte, wohin ich mich gerade gegenwŠrtig zu richten hŠtte. Ich fand mich diesem bedeutenden Manne um so mehr verpflichtet, als mein Umgang ihn einiger Gefahr aussetzte: denn als er nach Behrischen die Hofmeisterstelle bei dem jungen Grafen Lindenau erhielt, machte der Vater dem neuen Mentor ausdrŸcklich zur Bedingung, keinen Umgang mit mir zu pflegen. Neugierig, ein so gefŠhrliches Subjekt kennen zu lernen, wu§te er mich mehrmals am dritten Orte zu sehen. Ich gewann bald seine Neigung, und er, klŸger als Behrisch, holte mich bei Nachtszeit ab, wir gingen zusammen spazieren, unterhielten uns von interessanten Dingen, und ich begleitete ihn endlich bis an die TŸre seiner Geliebten: denn auch dieser Šu§erlich streng scheinende, ernste, wissenschaftliche Mann war nicht frei von den Netzen eines sehr liebenswŸrdigen Frauenzimmers geblieben.

Die deutsche Literatur und mit ihr meine eignen poetischen Unternehmungen waren mir schon seit einiger Zeit fremd geworden, und ich wendete mich wieder, wie es bei einem solchen autodidaktischen Kreisgange zu erfolgen pflegt, gegen die geliebten Alten, die noch immer, wie ferne blaue Berge, deutlich in ihren Umrissen und Massen, aber unkenntlich in ihren Teilen und inneren Beziehungen, den


Horizont meiner geistigen WŸnsche begrenzten. Ich machte einen Tausch mit Langer, wobei ich zugleich den Glaukus und Diomedes spielte; ich Ÿberlie§ ihm ganze Kšrbe deutscher Dichter und Kritiker und erhielt dagegen eine Anzahl griechischer Autoren, deren Benutzung mich, selbst bei dem langsamsten Genesen, erquicken sollte.

Das Vertrauen, welches neue Freunde sich einander schenken, pflegt sich stufenweise zu entwickeln. Gemeinsame BeschŠftigungen und Liebhabereien sind das erste, worin sich eine wechselseitige †bereinstimmung hervortut; sodann pflegt die Mitteilung sich Ÿber vergangene und gegenwŠrtige Leidenschaften, besonders Ÿber Liebesabenteuer zu erstrecken; es ist aber noch ein Tieferes, das sich aufschlie§t, wenn das VerhŠltnis sich vollenden will, es sind die religiosen Gesinnungen, die Angelegenheiten des Herzens, die auf das UnvergŠngliche Bezug haben, und welche sowohl den Grund einer Freundschaft befestigen als ihren Gipfel zieren.

Die christliche Religion schwankte zwischen ihrem eignen Historisch-Positiven und einem reinen Deismus, der, auf Sittlichkeit gegrŸndet, wiederum die Moral begrŸnden sollte. Die Verschiedenheit der Charaktere und Denkweisen zeigte sich hier in unendlichen Abstufungen, besonders da noch ein Hauptunterschied mit einwirkte, indem die Frage entstand, wieviel Anteil die Vernunft, wieviel die Empfindung an solchen †berzeugungen haben kšnne und dŸrfe. Die lebhaftesten und geistreichsten MŠnner erwiesen sich in diesem Falle als Schmetterlinge, welche ganz uneingedenk ihres Raupenstandes die PuppenhŸlle wegwerfen, in der sie zu ihrer organischen Vollkommenheit gediehen sind. Andere, treuer und bescheidner gesinnt, konnte man den Blumen vergleichen, die, ob sie sich gleich zur schšnsten BlŸte entfalten, sich doch von der Wurzel, von dem Mutterstamme nicht losrei§en, ja vielmehr durch diesen Familienzusammenhang die gewŸnschte Frucht erst zur Reife bringen. Von dieser letztern Art war Langer; denn obgleich


Gelehrter und vorzŸglicher BŸcherkenner, so mochte er doch der Bibel vor anderen Ÿberlieferten Schriften einen besondern Vorzug gšnnen und sie als ein Dokument ansehen, woraus wir allein unsern sittlichen und geistigen Stammbaum dartun kšnnten. Er gehšrte unter diejenigen, denen ein unmittelbares VerhŠltnis zu dem gro§en Weltgotte nicht in den Sinn will; ihm war daher eine Vermittelung notwendig, deren Analogon er Ÿberall in irdischen und himmlischen Dingen zu finden glaubte. Sein Vortrag, angenehm und konsequent, fand bei einem jungen Menschen leicht Gehšr, der, durch eine verdrie§liche Krankheit von irdischen Dingen abgesondert, die Lebhaftigkeit seines Geistes gegen die himmlischen zu wenden hšchst erwŸnscht fand. Bibelfest wie ich war, kam es blo§ auf den Glauben an, das, was ich menschlicher Weise zeither geschŠtzt, nunmehr fŸr gšttlich zu erklŠren, welches mir um so leichter fiel, da ich die erste Bekanntschaft mit diesem Buche als einem gšttlichen gemacht hatte. Einem Duldenden, zart, ja schwŠchlich FŸhlenden war daher das Evangelium willkommen, und wenn auch Langer bei seinem Glauben zugleich ein sehr verstŠndiger Mann war und fest darauf hielt, da§ man die Empfindung nicht solle vorherrschen, sich nicht zur SchwŠrmerei solle verleiten lassen; so hŠtte ich doch nicht recht gewu§t, mich ohne GefŸhl und Enthusiasmus mit dem Neuen Testament zu beschŠftigen.

Mit solchen Unterhaltungen verbrachten wir manche Zeit, und er gewann mich als einen getreuen und wohl vorbereiteten Proselyten dergestalt lieb, da§ er manche seiner Schšnen zugedachte Stunde mir aufzuopfern nicht anstand, ja sogar Gefahr lief, verraten und, wie Behrisch, von seinem Patron Ÿbel angesehen zu werden. Ich erwiderte seine Neigung auf das Dankbarste, und wenn dasjenige, was er fŸr mich tat, zu jeder Zeit wŠre schŠtzenswert gewesen, so mu§te es mir in meiner gegenwŠrtigen Lage hšchst verehrlich sein.

Da nun aber gewšhnlich, wenn unser Seelenkonzent am geistigsten gestimmt ist, die rohen, kreischenden Tšne des


Weltwesens am gewaltigsten und ungestŸmsten einfallen, und der in geheim immer fortwaltende Kontrast, auf einmal hervortretend, nur desto empfindlicher wirkt, so sollte ich auch nicht aus der peripatetischen Schule meines Langers entlassen werden, ohne vorher noch ein, fŸr Leipzig wenigstens, seltsames Ereignis erlebt zu haben, einen Tumult nŠmlich, den die Studierenden erregten, und zwar aus folgendem Anlasse. Mit den Stadtsoldaten hatten sich junge Leute veruneinigt, es war nicht ohne TŠtlichkeiten abgelaufen. Mehrere Studierende verbanden sich, die zugefŸgten Beleidigungen zu rŠchen. Die Soldaten widerstanden hartnŠckig, und der Vorteil war nicht auf der Seite der sehr unzufriedenen akademischen BŸrger. Nun ward erzŠhlt, es hŠtten angesehene Personen wegen tapferen Widerstands die Obsiegenden gelobt und belohnt, und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr- und RachgefŸhl mŠchtig aufgefordert. Man erzŠhlte sich šffentlich, da§ den nŠchsten Abend Fenster eingeworfen werden sollten, und einige Freunde, welche mir die Nachricht brachten, da§ es wirklich geschehe, mu§ten mich hinfŸhren, da Jugend und Menge wohl immer durch Gefahr und Tumult angezogen wird. Es begann wirklich ein seltsames Schauspiel. Die Ÿbrigens freie Stra§e war an der einen Seite von Menschen besetzt, welche ganz ruhig, ohne LŠrm und Bewegung, abwarteten, was geschehen solle. Auf der leeren Bahn gingen etwa ein Dutzend junge Leute einzeln hin und wider, in anscheinender grš§ter Gelassenheit; sobald sie aber gegen das bezeichnete Haus kamen, so warfen sie im Vorbeigehn Steine nach den Fenstern, und dies zu wiederholten Malen hin und wider kehrend, solange die Scheiben noch klirren wollten. Ebenso ruhig, wie dieses vorging, verlief sich auch endlich alles, und die Sache hatte keine weiteren Folgen.

Mit einem so geltenden Nachklange akademischer Gro§taten fuhr ich im September 1768 von Leipzig ab, in dem bequemen Wagen eines Hauderers und in Gesellschaft einiger mir bekannten zuverlŠssigen Personen. In der Gegend


von AuerstŠdt gedachte ich jenes frŸheren Unfalls; aber ich konnte nicht ahnden, was viele Jahre nachher mich von dorther mit grš§erer Gefahr bedrohen wŸrde, ebenso wenig, als in Gotha, wo wir uns das Schlo§ zeigen lie§en, ich, in dem gro§en mit Stuckaturbildern verzierten Saale, denken durfte, da§ mir an eben der Stelle so viel GnŠdiges und Liebes widerfahren sollte.

Je mehr ich mich nun meiner Vaterstadt nŠherte, desto mehr rief ich mir, bedenklicher Weise, zurŸck, in welchen ZustŠnden, Aussichten, Hoffnungen ich von Hause weg gegangen, und es war ein sehr niederschlagendes GefŸhl, da§ ich nunmehr gleichsam als ein SchiffbrŸchiger zurŸckkehrte. Da ich mir jedoch nicht sonderlich viel vorzuwerfen hatte, so wu§te ich mich ziemlich zu beruhigen; indessen war der Willkommen nicht ohne Bewegung. Die gro§e Lebhaftigkeit meiner Natur, durch Krankheit gereizt und erhšht, verursachte eine leidenschaftliche Szene. Ich mochte Ÿbler aussehen, als ich selbst wu§te: denn ich hatte lange keinen Spiegel zu Rat gezogen; und wer wird sich denn nicht selbst gewohnt! Genug, man kam stillschweigend Ÿberein, mancherlei Mitteilungen erst nach und nach zu bewirken und vor allen Dingen sowohl kšrperlich als geistig einige Beruhigung eintreten zu lassen.

Meine Schwester gesellte sich gleich zu mir, und wie vorlŠufig aus ihren Briefen, so konnte ich nunmehr umstŠndlicher und genauer die VerhŠltnisse und die Lage der Familie vernehmen. Mein Vater hatte nach meiner Abreise seine ganze didaktische Liebhaberei der Schwester zugewendet, und ihr bei einem všllig geschlossenen, durch den Frieden gesicherten und selbst von Mietleuten gerŠumten Hause fast alle Mittel abgeschnitten, sich auswŠrts einigerma§en umzutun und zu erholen. Das Franzšsische, Italienische, Englische mu§te sie abwechselnd treiben und bearbeiten, wobei er sie einen gro§en Teil des Tags sich an dem Klaviere zu Ÿben nštigte. Das Schreiben durfte auch nicht versŠumt werden, und ich hatte wohl schon frŸher gemerkt,


da§ er ihre Korrespondenz mit mir dirigiert und seine Lehren durch ihre Feder mir hatte zukommen lassen. Meine Schwester war und blieb ein indefinibels Wesen, das sonderbarste Gemisch von Strenge und Weichheit, von Eigensinn und Nachgiebigkeit, welche Eigenschaften bald vereint, bald durch Willen und Neigung vereinzelt wirkten. So hatte sie auf eine Weise, die mir fŸrchterlich erschien, ihre HŠrte gegen den Vater gewendet, dem sie nicht verzieh, da§ er ihr diese drei Jahre lang so manche unschuldige Freude verhindert oder vergŠllt, und von dessen guten und trefflichen Eigenschaften sie auch ganz und gar keine anerkennen wollte. Sie tat alles, was er befahl oder anordnete, aber auf die unlieblichste Weise von der Welt. Sie tat es in hergebrachter Ordnung, aber auch nichts drŸber und nichts drunter. Aus Liebe oder GefŠlligkeit bequemte sie sich zu nichts, so da§ dies eins der ersten Dinge war, Ÿber die sich die Mutter in einem geheimen GesprŠch mit mir beklagte. Da nun aber meine Schwester so liebebedŸrftig war, als irgend ein menschliches Wesen; so wendete sie nun ihre Neigung ganz auf mich. Ihre Sorge fŸr meine Pflege und Unterhaltung verschlang alle ihre Zeit; ihre Gespielinnen, die von ihr beherrscht wurden, ohne da§ sie daran dachte, mu§ten gleichfalls allerlei aussinnen, um mir gefŠllig und trostreich zu sein. Sie war erfinderisch, mich zu erheitern, und entwickelte sogar einige Keime von possenhaftem Humor, den ich an ihr nie gekannt hatte, und der ihr sehr gut lie§. Es entspann sich bald unter uns eine Koteriesprache, wodurch wir vor allen Menschen reden konnten, ohne da§ sie uns verstanden, und sie bediente sich dieses Rotwelsches šfters mit vieler Keckheit in Gegenwart der Eltern.

Persšnlich war mein Vater in ziemlicher Behaglichkeit. Er befand sich wohl, brachte einen gro§en Teil des Tags mit dem Unterrichte meiner Schwester zu, schrieb an seiner Reisebeschreibung, und stimmte seine Laute lŠnger, als er darauf spielte. Er verhehlte dabei, so gut er konnte, den Verdru§, anstatt eines rŸstigen, tŠtigen Sohns, der nun promo-


vieren und jene vorgeschriebene Lebensbahn durchlaufen sollte, einen KrŠnkling zu finden, der noch mehr an der Seele als am Kšrper zu leiden schien. Er verbarg nicht seinen Wunsch, da§ man sich mit der Kur expedieren mšge; besonders aber mu§te man sich mit hypochondrischen €u§erungen in seiner Gegenwart in acht nehmen, weil er alsdann heftig und bitter werden konnte.

Meine Mutter, von Natur sehr lebhaft und heiter, brachte unter diesen UmstŠnden sehr langweilige Tage zu. Die kleine Haushaltung war bald besorgt. Das GemŸt der guten, innerlich niemals unbeschŠftigten Frau wollte auch einiges Interesse finden, und das nŠchste begegnete ihr in der Religion, das sie um so lieber ergriff, als ihre vorzŸglichsten Freundinnen gebildete und herzliche Gottesverehrerinnen waren. Unter diesen stand FrŠulein von Klettenberg obenan. Es ist dieselbe, aus deren Unterhaltungen und Briefen die ÈBekenntnisse der schšnen SeeleÇ entstanden sind, die man in ÈWilhelm MeisterÇ eingeschaltet findet. Sie war zart gebaut, von mittlerer Grš§e; ein herzliches natŸrliches Betragen war durch Welt- und Hofart noch gefŠlliger geworden. Ihr sehr netter Anzug erinnerte an die Kleidung Herrnhutischer Frauen. Heiterkeit und GemŸtsruhe verlie§en sie niemals. Sie betrachtete ihre Krankheit als einen notwendigen Bestandteil ihres vorŸbergehenden irdischen Seins; sie litt mit der grš§ten Geduld, und in schmerzlosen Intervallen war sie lebhaft und gesprŠchig. Ihre liebste, ja vielleicht einzige Unterhaltung waren die sittlichen Erfahrungen, die der Mensch, der sich beobachtet, an sich selbst machen kann; woran sich denn die religišsen Gesinnungen anschlossen, die auf eine sehr anmutige, ja geniale Weise bei ihr als natŸrlich und ŸbernatŸrlich in Betracht kamen. Mehr bedarf es kaum, um jene ausfŸhrliche, in ihre Seele verfa§te Schilderung den Freunden solcher Darstellungen wieder ins GedŠchtnis zu rufen. Bei dem ganz eignen Gange, den sie von Jugend auf genommen hatte, und bei dem vornehmeren Stande, in dem sie geboren und erzogen war, bei der


Lebhaftigkeit und Eigenheit ihres Geistes vertrug sie sich nicht zum besten mit den Ÿbrigen Frauen, welche den gleichen Weg zum Heil eingeschlagen hatten. Frau Griesbach, die vorzŸglichste, schien zu streng, zu trocken, zu gelehrt; sie wu§te, dachte, umfa§te mehr als die andern, die sich mit der Entwickelung ihres GefŸhls begnŸgten, und war ihnen daher lŠstig, weil nicht jede einen so gro§en Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit sich fŸhren konnte noch wollte. DafŸr aber wurden denn die meisten freilich etwas eintšnig, indem sie sich an eine gewisse Terminologie hielten, die man mit jener der spŠteren Empfindsamen wohl verglichen hŠtte. FrŠulein von Klettenberg fŸhrte ihren Weg zwischen beiden Extremen durch, und schien sich mit einiger SelbstgefŠlligkeit in dem Bilde des Grafen Zinzendorf zu spiegeln, dessen Gesinnungen und Wirkungen Zeugnis einer hšheren Geburt und eines vornehmeren Standes ablegten. Nun fand sie an mir, was sie bedurfte, ein junges, lebhaftes, auch nach einem unbekannten Heile strebendes Wesen, das, ob es sich gleich nicht fŸr au§erordentlich sŸndhaft halten konnte, sich doch in keinem behaglichen Zustand befand, und weder an Leib noch Seele ganz gesund war. Sie freute sich an dem, was mir die Natur gegeben, sowie an manchem, was ich mir erworben hatte. Und wenn sie mir viele VorzŸge zugestand, so war es keineswegs demŸtigend fŸr sie: denn erstlich gedachte sie nicht mit einer Mannsperson zu wetteifern, und zweitens glaubte sie, in Absicht auf religiose Bildung sehr viel vor mir voraus zu haben. Meine Unruhe, meine Ungeduld, mein Streben, mein Suchen, Forschen, Sinnen und Schwanken legte sie auf ihre Weise aus, und verhehlte mir ihre †berzeugung nicht, sondern versicherte mir unbewunden, das alles komme daher, weil ich keinen versšhnten Gott habe. Nun hatte ich von Jugend auf geglaubt, mit meinem Gott ganz gut zu stehen, ja, ich bildete mir, nach mancherlei Erfahrungen, wohl ein, da§ er gegen mich sogar im Rest stehen kšnne, und ich war kŸhn genug zu glauben, da§ ich ihm einiges zu verzeihen hŠtte. Dieser


DŸnkel grŸndete sich auf meinen unendlich guten Willen, dem er, wie mir schien, besser hŠtte zu HŸlfe kommen sollen. Es lŠ§t sich denken, wie oft ich und meine Freundin hierŸber in Streit gerieten, der sich doch immer auf die freundlichste Weise und manchmal, wie meine Unterhaltung mit dem alten Rektor, damit endigte: da§ ich ein nŠrrischer Bursche sei, dem man manches nachsehen mŸsse.

Da ich mit der Geschwulst am Halse sehr geplagt war, indem Arzt und Chirurgus diese Exkreszenz erst vertreiben, hernach, wie sie sagten, zeitigen wollten, und sie zuletzt aufzuschneiden fŸr gut befanden; so hatte ich eine geraume Zeit mehr an Unbequemlichkeit als an Schmerzen zu leiden, obgleich gegen das Ende der Heilung das immer fortdauernde Betupfen mit Hšllenstein und andern Štzenden Dingen hšchst verdrie§liche Aussichten auf jeden neuen Tag geben mu§te. Arzt und Chirurgus gehšrten auch unter die abgesonderten Frommen, obgleich beide von hšchst verschiedenem Naturell waren. Der Chirurgus, ein schlanker wohlgebildeter Mann von leichter und geschickter Hand, der, leider etwas hektisch, seinen Zustand mit wahrhaft christlicher Geduld ertrug, und sich in seinem Berufe durch sein †bel nicht irre machen lie§. Der Arzt, ein unerklŠrlicher, schlau blickender, freundlich sprechender, Ÿbrigens abstruser Mann, der sich in dem frommen Kreise ein ganz besonderes Zutrauen erworben hatte. TŠtig und aufmerksam war er den Kranken tršstlich; mehr aber als durch alles erweiterte er seine Kundschaft durch die Gabe, einige geheimnisvolle selbstbereitete Arzneien im Hintergrunde zu zeigen, von denen niemand sprechen durfte, weil bei uns den €rzten die eigene Dispensation streng verboten war. Mit gewissen Pulvern, die irgend ein Digestiv sein mochten, tat er nicht so geheim; aber von jenem wichtigen Salze, das nur in den grš§ten Gefahren angewendet werden durfte, war nur unter den GlŠubigen die Rede, ob es gleich noch niemand gesehen, oder die Wirkung davon gespŸrt hatte. Um den Glauben an die Mšglichkeit eines solchen Uni-


versalmittels zu erregen und zu stŠrken, hatte der Arzt seinen Patienten, wo er nur einige EmpfŠnglichkeit fand, gewisse mystische chemisch-alchemische BŸcher empfohlen, und zu verstehen gegeben, da§ man durch eignes Studium derselben gar wohl dahin gelangen kšnne, jenes Kleinod sich selbst zu erwerben; welches um so notwendiger sei, als die Bereitung sich sowohl aus physischen als besonders aus moralischen GrŸnden nicht wohl Ÿberliefern lasse, ja da§ man, um jenes gro§e Werk einzusehen, hervorzubringen und zu benutzen, die Geheimnisse der Natur im Zusammenhang kennen mŸsse, weil es nichts Einzelnes sondern etwas Universelles sei, und auch wohl gar unter verschiedenen Formen und Gestalten hervorgebracht werden kšnne. Meine Freundin hatte auf diese lockenden Worte gehorcht. Das Heil des Kšrpers war zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt und kšnnte je eine grš§ere Wohltat, eine grš§ere Barmherzigkeit auch an andern so ausgeŸbt werden, als wenn man sich ein Mittel zu eigen machte, wodurch so manches Leiden gestillt, so manche Gefahr abgelehnt werden kšnnte? Sie hatte schon insgeheim Wellings ÈOpus mago-cabbalisticumÇ studiert, wobei sie jedoch, weil der Autor das Licht, was er mitteilt, sogleich wieder selbst verfinstert und aufhebt, sich nach einem Freunde umsah, der ihr in diesem Wechsel von Licht und Finsternis Gesellschaft leistete. Es bedurfte nur einer geringen Anregung, um auch mir diese Krankheit zu inokulieren. Ich schaffte das Werk an, das, wie alle Schriften dieser Art, seinen Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen konnte. Meine vorzŸglichste BemŸhung an diesem Buche war, die dunklen Hinweisungen, wo der Verfasser von einer Stelle auf die andere deutet und dadurch das, was er verbirgt, zu enthŸllen verspricht, aufs genauste zu bemerken und am Rande die Seitenzahlen solcher sich einander aufklŠren sollenden Stellen zu bezeichnen. Aber auch so blieb das Buch noch dunkel und unverstŠndlich genug; au§er da§ man sich zuletzt in eine gewisse Terminologie hineinstudierte, und


indem man mit derselben nach eignem Belieben gebarte, etwas, wo nicht zu verstehen, doch wenigstens zu sagen glaubte. Gedachtes Werk erwŠhnt seiner VorgŠnger mit vielen Ehren, und wir wurden daher angeregt, jene Quellen selbst aufzusuchen. Wir wendeten uns nun an die Werke des Theophrastus Paracelsus und Basilius Valentinus; nicht weniger an Helmont, Starkey und andere, deren mehr oder weniger auf Natur und Einbildung beruhende Lehren und Vorschriften wir einzusehen und zu befolgen suchten. Mir wollte besonders die ÈAurea Catena HomeriÇ gefallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer schšnen VerknŸpfung dargestellt wird; und so verwendeten wir teils einzeln, teils zusammen viele Zeit an diese Seltsamkeiten, und brachten die Abende eines langen Winters, wŠhrend dessen ich die Stube hŸten mu§te, sehr vergnŸgt zu, indem wir zu dreien, meine Mutter mit eingeschlossen, uns an diesen Geheimnissen mehr ergetzten, als die Offenbarung derselben hŠtte tun kšnnen.

Mir war indes noch eine sehr harte PrŸfung vorbereitet: denn eine gestšrte und, man dŸrfte wohl sagen, fŸr gewisse Momente vernichtete Verdauung brachte solche Symptome hervor, da§ ich unter gro§en BeŠngstigungen das Leben zu verlieren glaubte und keine angewandten Mittel weiter etwas fruchten wollten. In diesen letzten Nšten zwang meine bedrŠngte Mutter mit dem grš§ten UngestŸm den verlegnen Arzt, mit seiner Universalmedizin hervorzurŸcken; nach langem Widerstande eilte er tief in der Nacht nach Hause und kam mit einem GlŠschen kristallisierten trocknen Salzes zurŸck, welches in Wasser aufgelšst von dem Patienten verschluckt wurde und einen entschieden alkalischen Geschmack hatte. Das Salz war kaum genommen, so zeigte sich eine Erleichterung des Zustandes, und von dem Augenblick an nahm die Krankheit eine Wendung, die stufenweise zur Besserung fŸhrte. Ich darf nicht sagen, wie sehr dieses den Glauben an unsern Arzt und den Flei§, uns eines solchen Schatzes teilhaftig zu machen, stŠrkte und erhšhte.


Meine Freundin, welche eltern- und geschwisterlos in einem gro§en wohlgelegnen Hause wohnte, hatte schon frŸher angefangen, sich einen kleinen Windofen, Kolben und Retorten von mŠ§iger Grš§e anzuschaffen, und operierte nach Wellingischen Fingerzeigen und nach bedeutenden Winken des Arztes und Meisters, besonders auf Eisen, in welchem die heilsamsten KrŠfte verborgen sein sollten, wenn man es aufzuschlie§en wisse, und weil in allen uns bekannten Schriften das Luftsalz, welches herbeigezogen werden mu§te, eine gro§e Rolle spielte, so wurden zu diesen Operationen Alkalien erfordert, welche, indem sie an der Luft zerflie§en, sich mit jenen Ÿberirdischen Dingen verbinden und zuletzt ein geheimnisvolles treffliches Mittelsalz per se hervorbringen sollten.

Kaum war ich einigerma§en wiederhergestellt und konnte mich, durch eine bessere Jahrszeit begŸnstigt, wieder in meinem alten Giebelzimmer aufhalten; so fing auch ich an, mir einen kleinen Apparat zuzulegen; ein Windšfchen mit einem Sandbade war zubereitet, ich lernte sehr geschwind mit einer brennenden Lunte die Glaskolben in Schalen verwandeln, in welchen die verschiedenen Mischungen abgeraucht werden sollten. Nun wurden sonderbare Ingredienzien des Makrokosmus und Mikrokosmus auf eine geheimnisvolle wunderliche Weise behandelt, und vor allem suchte man Mittelsalze auf eine unerhšrte Art hervorzubringen. Was mich aber eine ganze Weile am meisten beschŠftigte, war der sogenannte Liquor silicum (Kieselsaft), welcher entsteht, wenn man reine Quarzkiesel mit einem gehšrigen Anteil Alkali schmilzt, woraus ein durchsichtiges Glas entspringt, welches an der Luft zerschmilzt und eine schšne klare FlŸssigkeit darstellt. Wer dieses einmal selbst verfertigt und mit Augen gesehen hat, der wird diejenigen nicht tadeln, welche an eine jungfrŠuliche Erde und an die Mšglichkeit glauben, auf und durch dieselbe weiter zu wirken. Diesen Kieselsaft zu bereiten hatte ich eine besondere Fertigkeit erlangt; die schšnen wei§en Kiesel, welche sich im Main fin-


den, gaben dazu ein vollkommenes Material; und an dem Ÿbrigen sowie an Flei§ lie§ ich es nicht fehlen: nur ermŸdete ich doch zuletzt, indem ich bemerken mu§te, da§ das Kieselhafte keineswegs mit dem Salze so innig vereint sei, wie ich philosophischerweise geglaubt hatte: denn es schied sich gar leicht wieder aus, und die schšnste mineralische FlŸssigkeit, die mir einigemal zu meiner grš§ten Verwunderung in Form einer animalischen Gallert erschienen war, lie§ doch immer ein Pulver fallen, das ich fŸr den feinsten Kieselstaub ansprechen mu§te, der aber keineswegs irgend etwas Produktives in seiner Natur spŸren lie§, woran man hŠtte hoffen kšnnen, diese jungfrŠuliche Erde in den Mutterstand Ÿbergehen zu sehen.

So wunderlich und unzusammenhŠngend auch diese Operationen waren, so lernte ich doch dabei mancherlei. Ich gab genau auf alle Kristallisationen acht, welche sich zeigen mochten, und ward mit den Šu§ern Formen mancher natŸrlichen Dinge bekannt, und indem mir wohl bewu§t war, da§ man in der neueren Zeit die chemischen GegenstŠnde methodischer aufgefŸhrt, so wollte ich mir im allgemeinen davon einen Begriff machen, ob ich gleich als Halbadept vor den Apothekern und allen denjenigen, die mit dem gemeinen Feuer operierten, sehr wenig Respekt hatte. Indessen zog mich doch das chemische Kompendium des Boerhaave gewaltig an, und verleitete mich, mehrere Schriften dieses Mannes zu lesen, wodurch ich denn, da ohnehin meine langwierige Krankheit mich dem €rztlichen nŠher gebracht hatte, eine Anleitung fand, auch die ÈAphorismenÇ dieses trefflichen Mannes zu studieren, die ich mir gern in den Sinn und ins GedŠchtnis einprŠgen mochte.

Eine andere, etwas menschlichere und bei weitem fŸr die augenblickliche Bildung nŸtzlichere BeschŠftigung war, da§ ich die Briefe durchsah, welche ich von Leipzig aus nach Hause geschrieben hatte. Nichts gibt uns mehr Aufschlu§ Ÿber uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so


da§ wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten kšnnen. Allein freilich war ich damals noch zu jung und die Epoche noch zu nahe, welche durch diese Papiere dargestellt ward. †berhaupt, da man in jungen Jahren einen gewissen selbstgefŠlligen DŸnkel nicht leicht ablegt; so Šu§ert sich dieser besonders darin, da§ man sich im kurz Vorhergegangenen verachtet: denn indem man freilich von Stufe zu Stufe gewahr wird, da§ dasjenige, was man an sich sowie an andern fŸr gut und vortrefflich achtet, nicht Stich hŠlt; so glaubt man Ÿber diese Verlegenheit am besten hinauszukommen, wenn man das selbst wegwirft, was man nicht retten kann. So ging es auch mir. Denn wie ich in Leipzig nach und nach meine kindlichen BemŸhungen geringschŠtzen lernte, so kam mir nun meine akademische Laufbahn gleichfalls geringschŠtzig vor, und ich sah nicht ein, da§ sie eben darum vielen Wert fŸr mich haben mŸ§te, weil sie mich auf eine hšhere Stufe der Betrachtung und Einsicht gehoben. Der Vater hatte meine Briefe sowohl an ihn als an meine Schwester sorgfŠltig gesammelt und geheftet; ja er hatte sie sogar mit Aufmerksamkeit korrigiert und sowohl Schreib- als Sprachfehler verbessert.

Was mir zuerst an diesen Briefen auffiel, war das €u§ere; ich erschrak vor einer unglaublichen VernachlŠssigung der Handschrift, die sich vom Oktober 1765 bis in die HŠlfte des folgenden Januars erstreckte. Dann erschien aber auf einmal in der HŠlfte des MŠrzes eine ganz gefa§te, geordnete Hand, wie ich sie sonst bei Preisbewerbungen anzuwenden pflegte. Meine Verwunderung darŸber lšste sich in Dank gegen den guten Gellert auf, welcher, wie ich mich nun wohl erinnerte, uns bei den AufsŠtzen, die wir ihm einreichten, mit seinem herzlichen Tone zur heiligen Pflicht machte, unsere Hand so sehr, ja mehr als unsern Stil zu Ÿben. Dieses wiederholte er so oft, als ihm eine kritzliche, nachlŠssige Schrift zu Gesicht kam; wobei er mehrmals Šu§erte, da§ er sehr gern die schšne Handschrift seiner SchŸler zum Hauptzweck seines Unterrichts machen mšchte,


um so mehr, weil er oft genug bemerkt habe, da§ eine gute Hand einen guten Stil nach sich ziehe.

Sonst konnte ich auch bemerken, da§ die franzšsischen und englischen Stellen meiner Briefe, obgleich nicht fehlerlos, doch mit Leichtigkeit und Freiheit geschrieben waren. Diese Sprachen hatte ich auch in meiner Korrespondenz mit Georg Schlosser, der sich noch immer in Treptow befand, zu Ÿben fortgefahren, und war mit ihm in bestŠndigem Zusammenhang geblieben, wodurch ich denn von manchen weltlichen ZustŠnden (denn immer ging es ihm nicht ganz so, wie er gehofft hatte) unterrichtet wurde und zu seiner ernsten, edlen Denkweise immer mehr Zutrauen fa§te.

Eine andre Betrachtung, die mir beim Durchsehen jener Briefe nicht entgehen konnte, war, da§ der gute Vater mit der besten Absicht mir einen besondern Schaden zugefŸgt und mich zu der wunderlichen Lebensart veranla§t hatte, in die ich zuletzt geraten war. Er hatte mich nŠmlich wiederholt vom Kartenspiel abgemahnt; allein Frau Hofrat Bšhme, solange sie lebte, wu§te mich nach ihrer Weise zu bestimmen, indem sie die Abmahnung meines Vaters nur von dem Mi§brauch erklŠrte. Da ich nun auch die Vorteile davon in der SozietŠt einsah, so lie§ ich mich gern durch sie regieren. Ich hatte wohl den Spielsinn, aber nicht den Spielgeist; ich lernte alle Spiele leicht und geschwind, aber niemals konnte ich die gehšrige Aufmerksamkeit einen ganzen Abend zusammenhalten. Wenn ich also recht gut anfing, so verfehlte ich's doch immer am Ende und machte mich und andre verlieren; wodurch ich denn jederzeit verdrie§lich entweder zur Abendtafel oder aus der Gesellschaft ging. Kaum war Madame Bšhme verschieden, die mich ohnedem wŠhrend ihrer langwierigen Krankheit nicht mehr zum Spiel angehalten hatte; so gewann die Lehre meines Vaters Kraft; ich entschuldigte mich erst von den Partien, und weil man nun nichts mehr mit mir anzufangen wu§te, so ward ich mir noch mehr als andern lŠstig, schlug die Einladungen aus, die denn sparsamer erfolgten und zuletzt ganz aufhšr-


ten. Das Spiel, das jungen Leuten, besonders denen, die einen praktischen Sinn haben und sich in der Welt umtun wollen, sehr zu empfehlen ist, konnte freilich bei mir niemals zur Liebhaberei werden, weil ich nicht weiter kam, ich mochte spielen, so lange ich wollte. HŠtte mir jemand einen allgemeinen Blick darŸber gegeben und mich bemerken lassen, wie hier gewisse Zeichen und mehr oder weniger Zufall eine Art von Stoff bilden, woran sich Urteilskraft und TŠtigkeit Ÿben kšnnen; hŠtte man mich mehrere Spiele auf einmal einsehen lassen, so hŠtte ich mich wohl eher damit befreunden kšnnen. Bei alledem war ich durch jene Betrachtungen in der Epoche, von welcher ich hier spreche, zu der †berzeugung gekommen, da§ man die gesellschaftlichen Spiele nicht meiden, sondern sich eher nach einer Gewandtheit in denselben bestreben mŸsse. Die Zeit ist unendlich lang und ein jeder Tag ein GefŠ§, in das sich sehr viel eingie§en lŠ§t, wenn man es wirklich ausfŸllen will.

So vielfach war ich in meiner Einsamkeit beschŠftigt, um so mehr, als die verschiedenen Geister der mancherlei Liebhabereien, denen ich mich nach und nach gewidmet, Gelegenheit hatten, wieder hervorzutreten. So kam es auch wieder ans Zeichnen, und da ich immer unmittelbar an der Natur oder vielmehr am Wirklichen arbeiten wollte; so bildete ich mein Zimmer nach, mit seinen Mšbeln, die Personen, die sich darin befanden, und wenn mich das nicht mehr unterhielt, stellte ich allerlei Stadtgeschichten dar, die man sich eben erzŠhlte, und woran man Interesse fand. Das alles war nicht ohne Charakter und nicht ohne einen gewissen Geschmack, aber leider fehlte den Figuren die Proportion und das eigentliche Mark, so wie denn auch die AusfŸhrung hšchst nebulistisch war. Mein Vater, dem diese Dinge VergnŸgen zu machen fortfuhren, wollte sie deutlicher haben; auch sollte alles fertig und abgeschlossen sein. Er lie§ sie daher aufziehen und mit Linien einfassen; ja der Maler Morgenstern, sein HauskŸnstler- es ist derselbe, der sich spŠter durch Kirchenprospekte bekannt, ja be-


rŸhmt gemacht -, mu§te die perspektivischen Linien der Zimmer und RŠume hineinziehen, die sich denn freilich ziemlich grell gegen die nebulistisch angedeuteten Figuren verhielten. Er glaubte mich dadurch immer mehr zur Bestimmtheit zu nštigen, und um ihm gefŠllig zu sein, zeichnete ich mancherlei Stilleben, wo ich, indem das Wirkliche als Muster vor mir stand, deutlicher und entschiedener arbeiten konnte. Endlich fiel mir auch wieder einmal das Radieren ein. Ich hatte mir eine ziemlich interessante Landschaft komponiert, und fŸhlte mich sehr glŸcklich, als ich meine alten von Stock Ÿberlieferten Rezepte VorzŸgen, und mich jener vergnŸglichen Zeiten bei der Arbeit erinnern konnte. Ich Štzte die Platte bald und lie§ mir ProbeabdrŸcke machen. UnglŸcklicherweise war die Komposition ohne Licht und Schatten, und ich quŠlte mich nun, beides hineinzubringen; weil es mir aber nicht ganz deutlich war, worauf es ankam, so konnte ich nicht fertig werden. Ich befand mich zu der Zeit nach meiner Art ganz wohl; allein in diesen Tagen befiel mich ein †bel, das mich noch nie gequŠlt hatte. Die Kehle nŠmlich war mir ganz wund geworden, und besonders das, was man den Zapfen nennt, sehr entzŸndet; ich konnte nur mit gro§en Schmerzen etwas schlingen, und die €rzte wu§ten nicht, was sie daraus machen sollten. Man quŠlte mich mit Gurgeln und Pinseln, und konnte mich von dieser Not nicht befreien. Endlich ward ich wie durch eine Eingebung gewahr, da§ ich bei dem €tzen nicht vorsichtig genug gewesen, und da§ ich, indem ich es šfters und leidenschaftlich wiederholt, mir dieses †bel zugezogen und solches immer wieder erneuert und vermehrt. Den €rzten war die Sache plausibel und gar bald gewi§, indem ich das Radieren und €tzen um so mehr unterlie§, als der Versuch keineswegs gut ausgefallen war, und ich eher Ursache hatte, meine Arbeit zu verbergen als vorzuzeigen, worŸber ich mich um so leichter tršstete, als ich mich von dem beschwerlichen †bel sehr bald befreit sah. Dabei konnte ich mich doch der Betrachtung nicht enthal-


ten, da§ wohl die Šhnlichen BeschŠftigungen in Leipzig manches mšchten zu jenen †beln beigetragen haben, an denen ich so viel gelitten hatte. Freilich ist es eine langweilige und mitunter traurige Sache, zu sehr auf uns selbst und was uns schadet und nutzt, achtzuhaben; allein es ist keine Frage, da§ bei der wunderlichen Idiosynkrasie der menschlichen Natur von der einen, und bei der unendlichen Verschiedenheit der Lebensart und GenŸsse von der andern Seite es noch ein Wunder ist, da§ das menschliche Geschlecht sich nicht schon lange aufgerieben hat. Es scheint die menschliche Natur eine eigne Art von ZŠhigkeit und Vielseitigkeit zu besitzen, da sie alles, was an sie herankommt oder was sie in sich aufnimmt, Ÿberwindet, und, wenn sie sich es nicht assimilieren kann, wenigstens gleichgŸltig macht. Freilich mu§ sie bei einem gro§en Exze§ trotz alles Widerstandes den Elementen nachgeben, wie uns so viele endemische Krankheiten und die Wirkungen des Branntweins Ÿberzeugen. Kšnnten wir, ohne Šngstlich zu werden, auf uns achtgeben, was in unserem komplizierten bŸrgerlichen und geselligen Leben auf uns gŸnstig oder ungŸnstig wirkt, und mšchten wir das, was uns als Genu§ freilich behaglich ist, um der Ÿblen Folgen willen unterlassen; so wŸrden wir gar manche Unbequemlichkeit, die uns bei sonst gesunden Konstitutionen oft mehr als eine Krankheit selbst quŠlt, leicht zu entfernen wissen. Leider ist es im DiŠtetischen wie im Moralischen: wir kšnnen einen Fehler nicht eher einsehen, als bis wir ihn los sind; wobei denn nichts gewonnen wird, weil der nŠchste Fehler dem vorhergehenden nicht Šhnlich sieht und also unter derselben Form nicht erkannt werden kann.

Beim Durchlesen jener Briefe, die von Leipzig aus an meine Schwester geschrieben waren, konnte mir unter andern auch diese Bemerkung nicht entgehen, da§ ich mich sogleich bei dem ersten akademischen Unterricht fŸr sehr klug und weise gehalten, indem ich mich, sobald ich etwas gelernt, dem Professor substituierte und daher auch auf der


Stelle didaktisch ward. Mir war es lustig genug zu sehen, wie ich dasjenige, was Gellert uns im Kollegium Ÿberliefert oder geraten, sogleich wieder gegen meine Schwester gewendet, ohne einzusehen, da§ sowohl im Leben als im Lesen etwas dem JŸngling gemŠ§ sein kšnne, ohne sich fŸr ein Frauenzimmer zu schicken; und wir scherzten gemeinschaftlich Ÿber diese NachŠfferei. Auch waren mir die Gedichte, die ich in Leipzig verfa§t hatte, schon zu gering, und sie schienen mir kalt, trocken und in Absicht dessen, was die ZustŠnde des menschlichen Herzens oder Geistes ausdrŸcken sollte, allzu oberflŠchlich. Dieses bewog mich, als ich nun abermals das vŠterliche Haus verlassen und auf eine zweite Akademie ziehen sollte, wieder ein gro§es Haupt-AutodafŽ Ÿber meine Arbeiten zu verhŠngen. Mehrere angefangene StŸcke, deren einige bis zum dritten oder vierten Akt, andere aber nur bis zu vollendeter Exposition gelangt waren, nebst vielen andern Gedichten, Briefen und Papieren wurden dem Feuer Ÿbergeben, und kaum blieb etwas verschont au§er dem Manuskript von Behrisch, ÈDie Laune des VerliebtenÇ und ÈDie MitschuldigenÇ, an welchem letzteren ich immerfort mit besonderer Liebe besserte, und, da das StŸck schon fertig war, die Exposition nochmals durcharbeitete, um sie zugleich bewegter und klarer zu machen. Lessing hatte in den zwei ersten Akten der ÈMinnaÇ ein unerreichbares Muster aufgestellt, wie ein Drama zu exponieren sei, und es war mir nichts angelegner, als in seinen Sinn und seine Absichten einzudringen.

UmstŠndlich genug ist zwar schon die ErzŠhlung von dem, was mich in diesen Tagen berŸhrt, aufgeregt und beschŠftigt; allein ich mu§ demohngeachtet wieder zu jenem Interesse zurŸckkehren, das mir die Ÿbersinnlichen Dinge eingeflš§t hatten, von denen ich ein fŸr allemal, insofern es mšglich wŠre, mir einen Begriff zu bilden unternahm.

Einen gro§en Einflu§ erfuhr ich dabei von einem wichtigen Buche, das mir in die HŠnde geriet, es war Arnolds ÈKirchen- und KetzergeschichteÇ. Dieser Mann ist nicht ein


blo§ reflektierender Historiker, sondern zugleich fromm und fŸhlend. Seine Gesinnungen stimmten sehr zu den meinigen, und was mich an seinem Werk besonders ergetzte, war, da§ ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgestellt hatte, einen vorteilhaftem Begriff erhielt. Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen. Ich studierte flei§ig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hšren, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natŸrlicher vor, als da§ ich mir auch meine eigene bilden kšnne, und dieses tat ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.

Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstellen, die sich von Ewigkeit her selbst produziert; da sich aber Produktion nicht ohne Mannigfaltigkeit denken lŠ§t, so mu§te sie sich notwendig sogleich als ein Zweites erscheinen, welches wir unter dem Namen des Sohns anerkennen; diese beiden mu§ten nun den Akt des Hervorbringens fortsetzen, und erschienen sich selbst wieder im Dritten, welches nun ebenso bestehend lebendig und ewig als das Ganze war. Hiermit war jedoch der Kreis der Gottheit geschlossen, und es wŠre ihnen selbst nicht mšglich gewesen, abermals ein ihnen všllig Gleiches hervorzubringen. Da jedoch der Produktionstrieb immer fortging, so erschufen sie ein Viertes, das aber schon in sich einen Widerspruch hegte, indem es, wie sie, unbedingt und doch zugleich in ihnen enthalten und durch sie begrenzt sein sollte. Dieses war nun Luzifer, welchem von nun an die ganze Schšpfungskraft Ÿbertragen war, und von dem alles Ÿbrige Sein ausgehen sollte. Er bewies sogleich seine unendliche TŠtigkeit, indem er die sŠmtlichen Engel erschuf, alle wieder nach seinem Gleichnis, unbedingt, aber in ihm enthalten und durch ihn begrenzt. Umgeben von einer solchen Glorie verga§ er seines hšhern Ursprungs und glaubte ihn in sich selbst zu finden, und aus


diesem ersten Undank entsprang alles, was uns nicht mit dem Sinne und den Absichten der Gottheit Ÿbereinzustimmen scheint. Je mehr er sich nun in sich selbst konzentrierte, je unwohler mu§te es ihm werden, sowie allen den Geistern, denen er die sŸ§e Erhebung zu ihrem Ursprung verkŸmmerte. Und so ereignete sich das, was uns unter der Form des Abfalls der Engel bezeichnet wird. Ein Teil derselben konzentrierte sich mit Luzifer, der andere wendete sich wieder gegen seinen Ursprung. Aus dieser Konzentration der ganzen Schšpfung, denn sie war von Luzifer ausgegangen und mu§te ihm folgen, entsprang nun alles das, was wir unter der Gestalt der Materie gewahr werden, was wir uns als schwer, fest und finster vorstellen, welches aber, indem es, wenn auch nicht unmittelbar, doch durch Filiation vom gšttlichen Wesen herstammt, ebenso unbedingt mŠchtig und ewig ist als der Vater und die Gro§eltern. Da nun das ganze Unheil, wenn wir es so nennen dŸrfen, blo§ durch die einseitige Richtung Luzifers entstand; so fehlte freilich dieser Schšpfung die bessere HŠlfte: denn alles, was durch Konzentration gewonnen wird, besa§ sie, aber es fehlte ihr alles, was durch Expansion allein bewirkt werden kann; und so hŠtte die sŠmtliche Schšpfung durch immerwŠhrende Konzentration sich selbst aufreiben, sich mit ihrem Vater Luzifer vernichten und alle ihre AnsprŸche an eine gleiche Ewigkeit mit der Gottheit verlieren kšnnen. Diesem Zustand sahen die Elohim eine Weile zu, und sie hatten die Wahl, jene €onen abzuwarten, in welchen das Feld wieder rein geworden und ihnen Raum zu einer neuen Schšpfung geblieben wŠre, oder ob sie in das GegenwŠrtige eingreifen und dem Mangel nach ihrer Unendlichkeit zu HŸlfe kommen wollten. Sie erwŠhlten nun das letztere, und supplierten durch ihren blo§en Willen in einem Augenblick den ganzen Mangel, den der Erfolg von Luzifers Beginnen an sich trug. Sie gaben dem unendlichen Sein die FŠhigkeit, sich auszudehnen, sich gegen sie zu bewegen; der eigentliche Puls des Lebens war wieder hergestellt, und Luzifer


selbst konnte sich dieser Einwirkung nicht entziehen. Dieses ist die Epoche, wo dasjenige hervortrat, was wir als Licht kennen, und wo dasjenige begann, was wir mit dem Worte Schšpfung zu bezeichnen pflegen. So sehr sich auch nun diese durch die immer fortwirkende Lebenskraft der Elohim stufenweise vermannigfaltigte; so fehlte es doch noch an einem Wesen, welches die ursprŸngliche Verbindung mit der Gottheit wieder herzustellen geschickt wŠre, und so wurde der Mensch hervorgebracht, der in allem der Gottheit Šhnlich, ja gleich sein sollte, sich aber freilich dadurch abermals in dem Falle Luzifers befand, zugleich unbedingt und beschrŠnkt zu sein, und da dieser Widerspruch durch alle Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und ein vollkommenes Bewu§tsein sowie ein entschiedener Wille seine ZustŠnde begleiten sollte; so war vorauszusehen, da§ er zugleich das Vollkommenste und Unvollkommenste, das glŸcklichste und unglŸcklichste Geschšpf werden mŸsse. Es wŠhrte nicht lange, so spielte er auch všllig die Rolle des Luzifer. Die Absonderung vom WohltŠter ist der eigentliche Undank, und so ward jener Abfall zum zweitenmal eminent, obgleich die ganze Schšpfung nichts ist und nichts war, als ein Abfallen und ZurŸckkehren zum UrsprŸnglichen.

Man sieht leicht, wie hier die Erlšsung nicht allein von Ewigkeit her beschlossen, sondern als ewig notwendig gedacht wird, ja da§ sie durch die ganze Zeit des Werdens und Seins sich immer wieder erneuern mu§. Nichts ist in diesem Sinne natŸrlicher, als da§ die Gottheit selbst die Gestalt des Menschen annimmt, die sie sich zu einer HŸlle schon vorbereitet hatte, und da§ sie die Schicksale desselben auf kurze Zeit teilt, um durch diese VerŠhnlichung das Erfreuliche zu erhšhen und das Schmerzliche zu mildern. Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, da§ diese gro§e, den Menschen unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der BeschrŠnktheit gemŠ§ Ÿberliefert worden; genug, wenn nur


anerkannt wird, da§ wir uns in einem Zustande beenden, der, wenn er uns auch niederzuziehen und zu drŸcken scheint, dennoch Gelegenheit gibt, ja zur Pflicht macht, uns zu erheben und die Absichten der Gottheit dadurch zu erfŸllen, da§ wir, indem wir von einer Seite uns zu verselbsten genštiget sind, von der andern in regelmŠ§igen Pulsen uns zu entselbstigen nicht versŠumen.


 

Neuntes Buch

 

Das Herz wird ferner šfters zum Vorteil verschiedener, besonders geselliger und feiner Tugenden gerŸhrt und die zarteren Empfindungen werden in ihm erregt und entwickelt werden. Besonders werden sich viele ZŸge eindrŸcken, welche dem jungen Leser eine Einsicht in den verborgenern Winkel des menschlichen Herzens und seiner Leidenschaften geben, eine Kenntnis, die mehr als alles Latein und Griechisch wert ist, und von welcher Ovid ein gar vortrefflicher Meister war. Aber dies ist es noch nicht, warum man eigentlich der Jugend die alten Dichter, und also auch den Ovid, in die HŠnde gibt. Wir haben von dem gŸtigen Schšpfer eine Menge SeelenkrŠfte, welchen man ihre gehšrige Kultur, und zwar in den ersten Jahren gleich, zu geben nicht verabsŠumen mu§, und die man doch weder mit Logik noch Metaphysik, Latein oder Griechisch kultivieren kann: wir haben eine Einbildungskraft, der wir, wofern sie sich nicht der ersten besten Vorstellungen selbst bemŠchtigen soll, die schicklichsten und schšnsten Bilder vorlegen und dadurch das GemŸt gewšhnen und Ÿben mŸssen, das Schšne Ÿberall und in der Natur selbst, unter seinen bestimmten, wahren und auch in den feineren ZŸgen zu erkennen und zu lieben. Wir haben eine Menge Begriffe und allgemeine Kenntnisse nštig, sowohl fŸr die Wissenschaften als fŸr das tŠgliche Leben, die sich in keinem Kompendio erlernen lassen. Unsere Empfindungen, Neigungen, Leidenschaften sollen mit Vorteil entwickelt und gereinigt werden.

Diese bedeutende Stelle, welche sich in der "Allgemeinen deutschen Bibliothek " vorfand, war nicht die einzige in ihrer Art. Von gar vielen Seiten her offenbarten sich Šhnliche GrundsŠtze und gleiche Gesinnungen. Sie machten auf uns


rege JŸnglinge sehr gro§en Eindruck, der um desto entschiedener wirkte, als er durch Wielands Beispiel noch verstŠrkt wurde: denn die Werke seiner zweiten, glŠnzenden Epoche bewiesen klŠrlich, da§ er sich nach solchen Maximen gebildet hatte. Und was konnten wir mehr verlangen? Die Philosophie mit ihren abstrusen Forderungen war beseitigt, die alten Sprachen, deren Erlernung mit so viel MŸhseligkeit verknŸpft ist, sah man in den Hintergrund gerŸckt, die Kompendien, Ÿber deren ZulŠnglichkeit uns Hamlet schon ein bedenkliches Wort ins Ohr geraunt hatte, wurden immer verdŠchtiger, man wies uns auf die Betrachtung eines bewegten Lebens hin, das wir so gerne fŸhrten, und auf die Kenntnis der Leidenschaften, die wir in unserem Busen teils empfanden, teils ahndeten, und die, wenn man sie sonst gescholten hatte, uns nunmehr als etwas Wichtiges und WŸrdiges vorkommen mu§ten, weil sie der Hauptgegenstand unserer Studien sein sollten, und die Kenntnis derselben als das vorzŸglichste Bildungsmittel unserer GeisteskrŠfte angerŸhmt ward. †berdies war eine solche Denkweise meiner eignen †berzeugung, ja meinem poetischen Tun und Treiben ganz angemessen. Ich fŸgte mich daher ohne Widerstreben, nachdem ich so manchen guten Vorsatz vereitelt, so manche redliche Hoffnung verschwinden sehn, in die Absicht meines Vaters, mich nach Stra§burg zu schicken, wo man mir ein heiteres lustiges Leben versprach, indessen ich meine Studien weiter fortsetzen und am Ende promovieren sollte.

Im FrŸhjahr fŸhlte ich meine Gesundheit, noch mehr aber meinen jugendlichen Mut wieder hergestellt, und sehnte mich abermals aus meinem vŠterlichen Hause, obgleich aus ganz andern Ursachen als das erstemal: denn es waren mir diese hŸbschen Zimmer und RŠume, wo ich so viel gelitten hatte, unerfreulich geworden, und mit dem Vater selbst konnte sich kein angenehmes VerhŠltnis anknŸpfen; ich konnte ihm nicht ganz verzeihen, da§ er, bei den Rezidiven meiner Krankheit und bei dem langsamen Genesen, mehr


Ungeduld als billig sehen lassen, ja da§ er, anstatt durch Nachsicht mich zu tršsten, sich oft auf eine grausame Weise Ÿber das, was in keines Menschen Hand lag, geŠu§ert, als wenn es nur vom Willen abhinge. Aber auch er ward auf mancherlei Weise durch mich verletzt und beleidigt.

Denn junge Leute bringen von Akademien allgemeine Begriffe zurŸck, welches zwar ganz recht und gut ist; allein weil sie sich darin sehr weise dŸnken, so legen sie solche als Ma§stab an die vorkommenden GegenstŠnde, welche denn meistens dabei verlieren mŸssen. So hatte ich von der Baukunst, der Einrichtung und Verzierung der HŠuser eine allgemeine Vorstellung gewonnen, und wendete diese nun unvorsichtig im GesprŠch auf unser eigen Haus an. Mein Vater hatte die ganze Einrichtung ersonnen und den Bau mit gro§er Standhaftigkeit durchgefŸhrt, und es lie§ sich auch, insofern es eine Wohnung fŸr ihn und seine Familie ausschlie§lich sein sollte, nichts dagegen einwenden; auch waren in diesem Sinne sehr viele HŠuser von Frankfurt gebaut. Die Treppe ging frei hinauf und berŸhrte gro§e VorsŠle, die selbst recht gut hŠtten Zimmer sein kšnnen; wie wir denn auch die gute Jahreszeit immer daselbst zubrachten. Allein dieses anmutige heitere Dasein einer einzelnen Familie, diese Kommunikation von oben bis unten ward zur grš§ten Unbequemlichkeit, sobald mehrere Partien das Haus bewohnten, wie wir bei Gelegenheit der franzšsischen Einquartierung nur zu sehr erfahren hatten. Denn jene Šngstliche Szene mit dem Kšnigslieutenant wŠre nicht vorgefallen, ja mein Vater hŠtte weniger von allen Unannehmlichkeiten empfunden, wenn unsere Treppe, nach der Leipziger Art, an die Seite gedrŠngt, und jedem Stockwerk eine abgeschlossene TŸre zugeteilt gewesen wŠre. Diese Bauart rŸhmte ich einst hšchlich und setzte ihre Vorteile heraus, zeigte dem Vater die Mšglichkeit, auch seine Treppe zu verlegen, worŸber er in einen unglaublichen Zorn geriet, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnšrkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte. Es gab


eine Szene, welche, zwar wieder getuscht und ausgeglichen, doch meine Reise nach dem schšnen Elsa§ beschleunigte, die ich denn auch, auf der neu eingerichteten bequemen Diligence, ohne Aufenthalt und in kurzer Zeit vollbrachte.

Ich war im Wirtshaus "Zum Geist " abgestiegen und eilte sogleich, das sehnlichste Verlangen zu befriedigen und mich dem MŸnster zu nŠhern, welcher durch Mitreisende mir schon lange gezeigt und eine ganze Strecke her im Auge geblieben war. Als ich nun erst durch die schmale Gasse diesen Kolo§ gewahrte, sodann aber auf dem freilich sehr engen Platz allzu nah vor ihm stand, machte derselbe auf mich einen Eindruck ganz eigner Art, den ich aber, auf der Stelle zu entwickeln unfŠhig, fŸr diesmal nur dunkel mit mir nahm, indem ich das GebŠude eilig bestieg, um nicht den schšnen Augenblick einer hohen und heitern Sonne zu versŠumen, welche mir das weite reiche Land auf einmal offenbaren sollte.

Und so sah ich denn von der Plattform die schšne Gegend vor mir, in welcher ich eine Zeitlang wohnen und hausen durfte: die ansehnliche Stadt, die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten BŠumen besetzten und durchflochtenen Auen, diesen auffallenden Reichtum der Vegetation, der, dem Laufe des Rheins folgend, die Ufer, Inseln und Werder bezeichnet. Nicht weniger mit mannigfaltigem GrŸn geschmŸckt ist der von SŸden herab sich ziehende flache Grund, welchen die Iller bewŠssert; selbst westwŠrts, nach dem Gebirge zu, finden sich manche Niederungen, die einen ebenso reizenden Anblick von Wald und Wiesenwuchs gewŠhren, so wie der nšrdliche mehr hŸgelige Teil von unendlichen kleinen BŠchen durchschnitten ist, die Ÿberall ein schnelles Wachstum begŸnstigen. Denkt man sich nun zwischen diesen Ÿppig ausgestreckten Matten, zwischen diesen fršhlich ausgesŠeten Hainen alles zum Fruchtbau schickliche Land trefflich bearbeitet, grŸnend und reifend, und die besten und reichsten Stellen desselben durch Dšrfer und Meierhšfe bezeichnet, und eine solche gro§e und unŸbersehliche, wie ein neues Paradies fŸr den Menschen recht


vorbereitete FlŠche nŠher und ferner von teils angebauten, teils waldbewachsenen Bergen begrenzt; so wird man das EntzŸcken begreifen, mit dem ich mein Schicksal segnete, das mir fŸr einige Zeit einen so schšnen Wohnplatz bestimmt hatte.

Ein solcher frischer Anblick in ein neues Land, in welchem wir uns eine Zeitlang aufhalten sollen, hat noch das Eigne, so Angenehme als Ahndungsvolle, da§ das Ganze wie eine unbeschriebene Tafel vor uns liegt. Noch sind keine Leiden und Freuden, die sich auf uns beziehen, darauf verzeichnet; diese heitre, bunte, belebte FlŠche ist noch stumm fŸr uns; das Auge haftet nur an den GegenstŠnden, insofern sie an und fŸr sich bedeutend sind, und noch haben weder Neigung noch Leidenschaft diese oder jene Stelle besonders herauszuheben; aber eine Ahndung dessen, was kommen wird, beunruhigt schon das junge Herz, und ein unbefriedigtes BedŸrfnis fordert im stillen dasjenige, was kommen soll und mag, und welches auf alle FŠlle, es sei nun Wohl oder Weh, unmerklich den Charakter der Gegend, in der wir uns befinden, annehmen wird.

Herabgestiegen von der Hšhe, verweilte ich noch eine Zeitlang vor dem Angesicht des ehrwŸrdigen GebŠudes; aber was ich mir weder das erstemal noch in der nŠchsten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, da§ ich dieses Wunderwerk als ein Ungeheures gewahrte, das mich hŠtte erschrecken mŸssen, wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes fa§lich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wŠre. Ich beschŠftigte mich doch keineswegs, diesem Widerspruch nachzudenken, sondern lie§ ein so erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken.

Ich bezog ein kleines, aber wohlgelegenes und anmutiges Quartier an der Sommerseite des Fischmarkts, einer schšnen langen Stra§e, wo immerwŠhrende Bewegung jedem unbeschŠftigten Augenblick zu HŸlfe kam. Dann gab ich meine Empfehlungsschreiben ab, und fand unter meinen Gšnnern einen Handelsmann, der mit seiner Familie jenen


frommen, mir genugsam bekannten Gesinnungen ergeben war, ob er sich gleich, was den Šu§eren Gottesdienst betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabei ein verstŠndiger Mann und keineswegs kopfhŠngerisch in seinem Tun und Lassen. Die Tischgesellschaft, die man mir und der man mich empfahl, war sehr angenehm und unterhaltend. Ein paar alte Jungfrauen hatten diese Pension schon lange mit Ordnung und gutem Erfolg gefŸhrt; es konnten ungefŠhr zehen Personen sein, Šltere und jŸngere. Von diesen letztern ist mir am gegenwŠrtigsten einer, genannt Meyer, von Lindau gebŸrtig. Man hŠtte ihn, seiner Gestalt und seinem Gesicht nach, fŸr den schšnsten Menschen halten kšnnen, wenn er nicht zugleich etwas Schlottriges in seinem ganzen Wesen gehabt hŠtte. Ebenso wurden seine herrlichen Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtsinn, und sein kšstliches GemŸt durch eine unbŠndige Liederlichkeit verunstaltet. Er hatte ein mehr rundes als ovales, offnes, frohes Gesicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Nase, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, sie zeugten von einer entschiedenen FŸlle, ohne Ÿbertrieben gro§ zu sein. Der Mund besonders war allerliebst durch Ÿbergeschlagene Lippen, und seiner ganzen Physiognomie gab es einen eigenen Ausdruck, da§ er ein RŠtzel war, d.h. da§ seine Augenbrauen Ÿber der Nase zusammenstie§en, welches bei einem schšnen Gesichte immer einen angenehmen Ausdruck von Sinnlichkeit hervorbringt. Durch JovialitŠt, Aufrichtigkeit und GutmŸtigkeit machte er sich bei allen Menschen beliebt; sein GedŠchtnis war unglaublich, die Aufmerksamkeit in den Kollegien kostete ihm nichts; er behielt alles, was er hšrte, und war geistreich genug, an allem einiges Interesse zu finden, und um so leichter, da er Medizin studierte. Alle EindrŸcke blieben ihm lebhaft, und sein Mutwille in Wiederholung der Kollegien und NachŠffen der Professoren ging manchmal so weit, da§, wenn er drei verschiedene Stunden des Morgens gehšrt hatte, er mittags bei Tische paragraphenweis, ja manchmal noch abgebrochener, die


Professoren mit einander abwechseln lie§: welche buntscheckige Vorlesung uns oft unterhielt, oft aber auch beschwerlich fiel.

Die Ÿbrigen waren mehr oder weniger feine, gesetzte, ernsthafte Leute. Ein pensionierter Ludwigsritter befand sich unter denselben; doch waren Studierende die †berzahl, alle wirklich gut und wohlgesinnt, nur mu§ten sie ihr gewšhnliches Weindeputat nicht Ÿberschreiten. Da§ dieses nicht leicht geschah, war die Sorge unseres PrŠsidenten, eines Doktor Salzmann. Schon in den Sechzigen, unverheiratet, hatte er diesen Mittagstisch seit vielen Jahren besucht und in Ordnung und Ansehen erhalten. Er besa§ ein schšnes Vermšgen; in seinem €u§eren hielt er sich knapp und nett, ja er gehšrte zu denen, die immer in Schuh und StrŸmpfen und den Hut unter dem Arm gehen. Den Hut aufzusetzen, war bei ihm eine au§erordentliche Handlung. Einen Regenschirm fŸhrte er gewšhnlich mit sich, wohl eingedenk, da§ die schšnsten Sommertage oft Gewitter und Streifschauer Ÿber das Land bringen.

Mit diesem Manne beredete ich meinen Vorsatz, mich hier in Stra§burg der Rechtswissenschaft ferner zu beflei§igen, um baldmšglichst promovieren zu kšnnen. Da er von allem genau unterrichtet war, so befragte ich ihn Ÿber die Kollegja, die ich zu hšren hŠtte, und was er allenfalls von der Sache denke? Darauf erwiderte er mir, da§ es sich in Stra§burg nicht etwa wie auf deutschen Akademien verhalte, wo man wohl Juristen im weiten und gelehrten Sinne zu bilden suche. Hier sei alles, dem VerhŠltnis gegen Frankreich gemŠ§, eigentlich auf das Praktische gerichtet und nach dem Sinne der Franzosen eingeleitet, welche gern bei dem Gegebnen verharren. Gewisse allgemeine GrundsŠtze, gewisse Vorkenntnisse suche man einem jeden beizubringen, man fasse sich so kurz wie mšglich und Ÿberliefere nur das Notwendigste. Er machte mich darauf mit einem Manne bekannt, zu dem man, als Repetenten, ein gro§es Vertrauen hegte; welches dieser sich auch bei mir sehr bald zu erwerben wu§te. Ich fing an, mit ihm zur


Einleitung Ÿber GegenstŠnde der Rechtswissenschaft zu sprechen, und er wunderte sich nicht wenig Ÿber mein Schwadronieren: denn mehr, als ich in meiner bisherigen Darstellung aufzufŸhren Gelegenheit nahm, hatte ich bei meinem Aufenthalte in Leipzig an Einsicht in die Rechtserfordernisse gewonnen, obgleich mein ganzer Erwerb nur als ein allgemeiner enzyklopŠdischer †berblick, und nicht als eigentliche bestimmte Kenntnis gelten konnte. Das akademische Leben, wenn wir uns auch bei demselben des eigentlichen Flei§es nicht zu rŸhmen haben, gewŠhrt doch in jeder Art von Ausbildung unendliche Vorteile, weil wir stets von Menschen umgeben sind, welche die Wissenschaft besitzen oder suchen, so da§ wir aus einer solchen AtmosphŠre, wenn auch unbewu§t, immer einige Nahrung ziehen.

Mein Repetent, nachdem er mit meinem Umhervagieren im Diskurse einige Zeit Geduld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich, da§ ich vor allen Dingen meine nŠchste Absicht im Auge behalten mŸsse, die nŠmlich, mich examinieren zu lassen, zu promovieren und alsdann allenfalls in die Praxis Ÿberzugehen. "Um bei dem ersten stehen zu bleiben," sagte er, "so wird die Sache keineswegs im Weiten gesucht. Es wird nicht nachgefragt, wie und wo ein Gesetz entsprungen, was die innere oder Šu§ere Veranlassung dazu gegeben; man untersucht nicht, wie es sich durch Zeit und Gewohnheit abgeŠndert, so wenig als inwiefern es sich durch falsche Auslegung oder verkehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umgewendet. In solchen Forschungen bringen gelehrte MŠnner ganz eigens ihr Leben zu; wir aber fragen nach dem, was gegenwŠrtig besteht, dies prŠgen wir unserm GedŠchtnis fest ein, da§ es uns stets gegenwŠrtig sei, wenn wir uns dessen zu Nutz und Schutz unsrer Klienten bedienen wollen. So statten wir unsre jungen Leute fŸrs nŠchste Leben aus, und das Weitere findet sich nach VerhŠltnis ihrer Talente und ihrer TŠtigkeit." Er Ÿbergab mir hierauf seine Hefte, welche in Fragen und Antworten geschrieben waren und woraus ich mich sogleich ziemlich konnte examinieren las-


sen, weil Hoppes kleiner juristischer Katechismus mir noch vollkommen im GedŠchtnis stand; das Ÿbrige supplierte ich mit einigem Flei§e und qualifizierte mich, wider meinen Willen, auf die leichteste Art zum Kandidaten.

Da mir aber auf diesem Wege jede eigne TŠtigkeit in dem Studium abgeschnitten ward: denn ich hatte fŸr nichts Positives einen Sinn, sondern wollte alles, wo nicht verstŠndig, doch historisch erklŠrt haben; so fand ich fŸr meine KrŠfte einen grš§ern Spielraum, den ich auf die wunderlichste Weise benutzte, indem ich einem Interesse nachgab, das mir zufŠllig von au§en gebracht wurde.

Die meisten meiner Tischgenossen waren Mediziner. Diese sind, wie bekannt, die einzigen Studierenden, die sich von ihrer Wissenschaft, ihrem Metier, auch au§er den Lehrstunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es liegt dieses in der Natur der Sache. Die GegenstŠnde ihrer BemŸhungen sind die sinnlichsten und zugleich die hšchsten, die einfachsten und die kompliziertesten. Die Medizin beschŠftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschŠftigt. Alles, was der JŸngling lernt, deutet sogleich auf eine wichtige, zwar gefŠhrliche, aber doch in manchem Sinn belohnende Praxis. Er wirft sich daher mit Leidenschaft auf das, was zu erkennen und zu tun ist, teils weil es ihn an sich interessiert, teils weil es ihm die frohe Aussicht von SelbstŠndigkeit und Wohlhaben eršffnet.

Bei Tische also hšrte ich nichts anderes als medizinische GesprŠche, eben wie vormals in der Pension des Hofrats Ludwig. Auf SpaziergŠngen und bei Lustpartien kam auch nicht viel anderes zur Sprache: denn meine Tischgesellen, als gute Kumpane, waren mir auch Gesellen fŸr die Ÿbrige Zeit geworden, und an sie schlossen sich jedesmal Gleichgesinnte und Gleiches Studierende von allen Seiten an. Die medizinische FakultŠt glŠnzte Ÿberhaupt vor den Ÿbrigen, sowohl in Absicht auf die BerŸhmtheit der Lehrer als die Frequenz der Lernenden, und so zog mich der Strom dahin, um so leichter, als ich von allen diesen Dingen gerade so


viel Kenntnis hatte, da§ meine Wissenslust bald vermehrt und angefeuert werden konnte. Beim Eintritt des zweiten Semesters besuchte ich daher Chemie bei Spielmann, Anatomie bei Lobstein, und nahm mir vor, recht flei§ig zu sein, weil ich bei unserer SozietŠt, durch meine wunderlichen Vor- oder vielmehr †berkenntnisse, schon einiges Ansehen und Zutrauen erworben hatte.

Doch es war an dieser Zerstreuung und ZerstŸckelung meiner Studien nicht genug, sie sollten abermals bedeutend gestšrt werden: denn eine merkwŸrdige Staatsbegebenheit setzte alles in Bewegung und verschaffte uns eine ziemliche Reihe Feiertage. Marie Antoinette, Erzherzogin von …sterreich, Kšnigin von Frankreich, sollte auf ihrem Wege nach Paris Ÿber Stra§burg gehen. Die Feierlichkeiten, durch welche das Volk aufmerksam gemacht wird, da§ es Gro§e in der Welt gibt, wurden emsig und hŠufig vorbereitet, und mir besonders war dabei das GebŠude merkwŸrdig, das zu ihrem Empfang und zur †bergabe in die HŠnde der Abgesandten ihres Gemahls auf einer Rheininsel zwischen den beiden BrŸcken aufgerichtet stand. Es war nur wenig Ÿber den Boden erhoben, hatte in der Mitte einen gro§en Saal, an beiden Seiten kleinere, dann folgten andere Zimmer, die sich noch etwas hinterwŠrts erstreckten; genug, es hŠtte, dauerhafter gebaut, gar wohl fŸr ein Lusthaus hoher Personen gelten kšnnen. Was mich aber daran besonders interessierte, und weswegen ich manches BŸsel (ein kleines damals kurrentes SilberstŸck) nicht schonte, um mir von dem Pfšrtner einen wiederholten Eintritt zu verschaffen, waren die gewirkten Tapeten, mit denen man das Ganze inwendig ausgeschlagen hatte. Hier sah ich zum erstenmal ein Exemplar jener nach Raffaels Kartonen gewirkten Teppiche, und dieser Anblick war fŸr mich von ganz entschiedener Wirkung, indem ich das Rechte und Vollkommene, obgleich nur nachgebildet, in Masse kennen lernte. Ich ging und kam und kam und ging, und konnte mich nicht satt sehen; ja ein vergebliches Streben quŠlte mich, weil ich das


was mich so au§erordentlich ansprach auch gern begriffen hŠtte. Hšchst erfreulich und erquicklich fand ich diese NebensŠle, desto schrecklicher aber den Hauptsaal. Diesen hatte man mit viel grš§ern, glŠnzendere, reichem und von gedrŠngten Zieraten umgebenen Hautelissen behŠngt, die nach GemŠlden neuerer Franzosen gewirkt waren.

Nun hŠtte ich mich wohl auch mit dieser Manier befreundet, weil meine Empfindung wie mein Urteil nicht leicht etwas všllig ausschlo§; aber Šu§erst empšrte mich der Gegenstand. Diese Bilder enthielten die Geschichte von Iason, Medea und Kreusa, und also ein Beispiel der unglŸcklichsten Heirat. Zur Linken des Throns sah man die mit dem grausamsten Tode ringende Braut, umgeben von jammervollen Teilnehmenden; zur Rechten entsetzte sich der Vater Ÿber die ermordeten Kinder zu seinen FŸ§en; wŠhrend die Furie auf dem Drachenwagen in die Luft zog. Und damit ja dem Grausamen und Abscheulichen nicht auch ein Abgeschmacktes fehle, so ringelte sich, hinter dem roten Samt des goldgestickten ThronrŸckens, rechter Hand der wei§e Schweif jenes Zauberstiers hervor, inzwischen die feuerspeiende Bestie selbst und der sie bekŠmpfende Iason von jener kostbaren Draperie gŠnzlich bedeckt waren.

Hier nun wurden alle Maximen, welche ich in Oesers Schule mir zu eigen gemacht, in meinem Busen rege. Da§ man Christum und die Apostel in die SeitensŠle eines HochzeitgebŠudes gebracht, war schon ohne Wahl und Einsicht geschehen, und ohne Zweifel hatte das Ma§ der Zimmer den kšniglichen Teppichverwahrer geleitet; allein das verzieh ich gern, weil es mir zu so gro§em Vorteil gereichte: nun aber ein Mi§griff wie der im gro§en Saale brachte mich ganz aus der Fassung, und ich forderte, lebhaft und heftig, meine GefŠhrten zu Zeugen auf eines solchen Verbrechens gegen Geschmack und GefŸhl. - "Was!" rief ich aus, ohne mich um die Umstehenden zu bekŸmmern; "ist es erlaubt, einer jungen Kšnigin das Beispiel der grŠ§lichsten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen worden, bei dem ersten Schritt


in ihr Land so unbesonnen vors Auge zu bringen! Gibt es denn unter den franzšsischen Architekten, Dekorateuren, Tapezierern gar keinen Menschen, der begreift, da§ Bilder etwas vorstellen, da§ Bilder auf Sinn und GefŸhl wirken, da§ sie EindrŸcke machen, da§ sie Ahndungen erregen! Ist es doch nicht anders, als hŠtte man dieser schšnen und, wie man hšrt, lebenslustigen Dame das abscheulichste Gespenst bis an die Grenze entgegengeschickt. " Ich wei§ nicht, was ich noch alles weiter sagte, genug, meine GefŠhrten suchten mich zu beschwichtigen und aus dem Hause zu schaffen, damit es nicht Verdru§ setzen mšchte. Alsdann versicherten sie mir, es wŠre nicht jedermanns Sache, Bedeutung in den Bildern zu suchen; ihnen wenigstens wŠre nichts dabei eingefallen, und auf dergleichen Grillen wŸrde die ganze Population Stra§burgs und der Gegend, wie sie auch herbeistršmen sollte, so wenig als die Kšnigin selbst mit ihrem Hofe jemals geraten.

Der schšnen und vornehmen, so heitren als imposanten Miene dieser jungen Dame erinnere ich mich noch recht wohl. Sie schien in ihrem Glaswagen, uns allen vollkommen sichtbar, mit ihren Begleiterinnen in vertraulicher Unterhaltung Ÿber die Menge, die ihrem Zug entgegenstršmte, zu scherzen. Abends zogen wir durch die Stra§en, um die verschiedenen illuminierten GebŠude, besonders aber den brennenden Gipfel des MŸnsters zu sehen, an dem wir, sowohl in der NŠhe als in der Ferne, unsere Augen nicht genugsam weiden konnten.

Die Kšnigin verfolgte ihren Weg; das Landvolk verlief sich, und die Stadt war bald ruhig wie vorher. Vor Ankunft der Kšnigin hatte man die ganz vernŸnftige Anordnung gemacht, da§ sich keine mi§gestalteten Personen, keine KrŸppel und ekelhafte Kranke auf ihrem Wege zeigen sollten. Man scherzte hierŸber, und ich machte ein kleines franzšsisches Gedicht, worin ich die Ankunft Christi, welcher besonders der Kranken und Lahmen wegen auf der Welt zu wandeln schien, und die Ankunft der Kšnigin, welche


diese UnglŸcklichen verscheuchte, in Vergleichung brachte. Meine Freunde lie§en es passieren; ein Franzose hingegen, der mit uns lebte, kritisierte sehr unbarmherzig Sprache und Versma§, obgleich, wie es schien, nur allzu grŸndlich, und ich erinnere mich nicht, nachher je wieder ein franzšsisches Gedicht gemacht zu haben.

Kaum erscholl aus der Hauptstadt die Nachricht von der glŸcklichen Ankunft der Kšnigin, als eine Schreckenspost ihr folgte: bei dem festlichen Feuerwerke sei, durch ein Polizeiversehen, in einer von Baumaterialien versperrten Stra§e eine Unzahl Menschen mit Pferden und Wagen zu Grunde gegangen, und die Stadt bei diesen Hochzeitfeierlichkeiten in Trauer und Leid versetzt worden. Die Grš§e des UnglŸcks suchte man sowohl dem jungen kšniglichen Paare als der Welt zu verbergen, indem man die umgekommenen Personen heimlich begrub, so da§ viele Familien nur durch das všllige Au§enbleiben der Ihrigen Ÿberzeugt wurden, da§ auch diese von dem schrecklichen Ereignis mit hingerafft seien. Da§ mir lebhaft bei dieser Gelegenheit jene grŠ§lichen Bilder des Hauptsaales wieder vor die Seele traten, brauche ich kaum zu erwŠhnen: denn jedem ist bekannt, wie mŠchtig gewisse sittliche EindrŸcke sind, wenn sie sich an sinnlichen gleichsam verkšrpern.

Diese Begebenheit sollte jedoch auch die Meinigen durch eine Posse, die ich mir erlaubte, in Angst und Not versetzen. Unter uns jungen Leuten, die wir in Leipzig zusammen waren, hatte sich auch nachher ein gewisser Kitzel erhalten, einander etwas aufzubinden und wechselsweise zu mystifzieren. In solchem frevelhaften Mutwillen schrieb ich an einen Freund in Frankfurt (es war derselbe, der mein Gedicht an den KuchenbŠcker Hendel amplifiziert auf "Medon " angewendet und dessen allgemeine Verbreitung verursacht hatte) einen Brief von Versailles aus datiert, worin ich ihm meine glŸckliche Ankunft daselbst, meine Teilnahme an den Feierlichkeiten, und was dergleichen mehr war, vermeldete, ihm zugleich aber das strengste Stillschweigen gebot. Dabei


mu§ ich noch bemerken, da§ unsere kleine Leipziger SozietŠt von jenem Streich an, der uns so manchen Verdru§ gemacht, sich angewšhnt hatte, ihn von Zeit zu Zeit mit Mystifikationen zu verfolgen, und das um so mehr, da er der drolligste Mensch von der Welt war, und niemals liebenswŸrdiger, als wenn er den Irrtum entdeckte, in den man ihn vorsŠtzlich hineingefŸhrt hatte. Kurz darauf, als ich diesen Brief geschrieben, machte ich eine kleine Reise und blieb wohl vierzehn Tage aus. Indessen war die Nachricht jenes UnglŸcks nach Frankfurt gekommen; mein Freund glaubte mich in Paris, und seine Neigung lie§ ihn besorgen, ich sei in jenes UnglŸck mit verwickelt. Er erkundigte sich bei meinen Eltern und andern Personen, an die ich zu schreiben pflegte, ob keine Briefe angekommen, und weil eben jene Reise mich verhinderte, dergleichen abzulassen, so fehlten sie Ÿberall. Er ging in gro§er Angst umher und vertraute es zuletzt unsern nŠchsten Freunden, die sich nun in gleicher Sorge befanden. GlŸcklicherweise gelangte diese Vermutung nicht eher zu meinen Eltern, als bis ein Brief angekommen war, der meine RŸckkehr nach Stra§burg meldete. Meine jungen Freunde waren zufrieden, mich lebendig zu wissen, blieben aber všllig Ÿberzeugt, da§ ich in der Zwischenzeit in Paris gewesen. Die herzlichen Nachrichten von den Sorgen, die sie um meinetwillen gehabt, rŸhrten mich derma§en, da§ ich dergleichen Possen auf ewig verschwor, mir aber doch leider in der Folge manchmal etwas €hnliches habe zu Schulden kommen lassen. Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, da§ man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen mu§.

Jener gewaltige Hof- und Prachtstrom war nunmehr vorŸbergeronnen und hatte mir keine andre Sehnsucht zurŸckgelassen, als nach jenen Raffaelschen Teppichen, welche ich gern jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt, ja angebetet hŠtte. GlŸcklicherweise gelang es meinen leidenschaftlichen BemŸhungen, mehrere Personen von Bedeutung da-


fŸr zu interessieren, so da§ sie erst so spŠt als mšglich abgenommen und eingepackt wurden. Wir Ÿberlie§en uns nunmehr wieder unserm stillen gemŠchlichen UniversitŠts- und Gesellschaftsgang, und bei dem letzten blieb Aktuarius Salzmann, unser TischprŠsident, der allgemeine PŠdagog. Sein Verstand, seine Nachgiebigkeit, so seine WŸrde, die er bei allem Scherz und selbst manchmal bei kleinen Ausschweifungen, die er uns erlaubte, immer zu erhalten wu§te, machten ihn der ganzen Gesellschaft lieb und wert, und ich wŸ§te nur wenige FŠlle, wo er sein ernstliches Mi§fallen bezeigt, oder mit AutoritŠt zwischen kleine HŠndel und Streitigkeiten eingetreten wŠre. Unter allen jedoch war ich derjenige, der sich am meisten an ihn anschlo§, und er nicht weniger geneigt, sich mit mir zu unterhalten, weil er mich mannigfaltiger gebildet fand als die Ÿbrigen und nicht so einseitig im Urteil. Auch richtete ich mich im €u§ern nach ihm, damit er mich fŸr seinen Gesellen und Genossen šffentlich ohne Verlegenheit erklŠren konnte: denn ob er gleich nur eine Stelle bekleidete, die von geringem Einflu§ zu sein scheint, so versah er sie doch auf eine Weise, die ihm zur grš§ten Ehre gereichte. Er war Aktuarius beim Pupillenkollegium und hatte freilich daselbst, wie der perpetuierliche SekretŠr einer Akademie, eigentlich das Heft in HŠnden. Indem er nun dieses GeschŠft viele Jahre lang auf das genauste besorgte, so gab es keine Familie von der ersten bis zu der letzten, die ihm nicht Dank schuldig gewesen wŠre; wie denn beinahe in der ganzen Staatsverwaltung kaum jemand mehr Segen oder Fluch ernten kann als einer, der fŸr die Waisen sorgt, oder ihr Hab und Gut vergeudet, oder vergeuden lŠ§t.

Die Stra§burger sind leidenschaftliche SpaziergŠnger, und sie haben wohl recht, es zu sein. Man mag seine Schritte hinwenden, wohin man will, so findet man teils natŸrliche, teils in alten und neuern Zeiten kŸnstlich angelegte Lustšrter, einen wie den andern besucht und von einem heitern lustigen Všlkchen genossen. Was aber hier den Anblick


einer gro§en Masse Spazierender noch erfreulicher machte als an andern Orten, war die verschiedene Tracht des weiblichen Geschlechts. Die Mittelklasse der BŸrgermŠdchen behielt noch die aufgewundenen, mit einer gro§en Nadel festgesteckten Zšpfe bei; nicht weniger eine gewisse knappe Kleidungsart, woran jede Schleppe ein Mi§stand gewesen wŠre; und was das Angenehme war, diese Tracht schnitt sich nicht mit den StŠnden scharf ab: denn es gab noch einige wohlhabende vornehme HŠuser, welche den Tšchtern sich von diesem KostŸm zu entfernen nicht erlauben wollten. Die Ÿbrigen gingen franzšsisch, und diese Partie machte jedes Jahr einige Proselyten. Salzmann hatte viel Bekanntschaften und Ÿberall Zutritt; eine gro§e Annehmlichkeit fŸr seinen Begleitenden, besonders im Sommer, weil man Ÿberall in GŠrten nah und fern gute Aufnahme, gute Gesellschaft und Erfrischung fand, auch zugleich mehr als eine Einladung zu diesem oder jenem frohen Tage erhielt. In einem solchen Falle traf ich Gelegenheit, mich einer Familie, die ich erst zum zweiten Male besuchte, sehr schnell zu empfehlen. Wir waren eingeladen und stellten uns zur bestimmten Zeit ein. Die Gesellschaft war nicht gro§, einige spielten und einige spazierten wie gewšhnlich. SpŠterhin, als es zu Tische gehen sollte, sah ich die Wirtin und ihre Schwester lebhaft und wie in einer besondern Verlegenheit mit einander sprechen. Ich begegnete ihnen eben und sagte: "Zwar habe ich kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre Geheimnisse einzudringen; vielleicht bin ich aber imstande, einen guten Rat zu geben, oder wohl gar zu dienen." Sie eršffneten mir hierauf ihre peinliche Lage: da§ sie nŠmlich zwšlf Personen zu Tische gebeten, und in diesem Augenblick sei ein Verwandter von der Reise zurŸckgekommen, der nun als der Dreizehnte, wo nicht sich selbst, doch gewi§ einigen der GŠste ein fatales Memento mori werden wŸrde. - "Der Sache ist sehr leicht abzuhelfen," versetzte ich; "sie erlauben mir, da§ ich mich entferne und mir die EntschŠdigung vorbehalte." Da es Personen


von Ansehen und guter Lebensart waren, so wollten sie es keinesweges zugeben, sondern schickten in der Nachbarschaft umher, um den Vierzehnten aufzufinden. Ich lie§ es geschehen, doch da ich den Bedienten unverrichteter Sache zur GartentŸre hereinkommen sah, entwischte ich, und brachte meinen Abend vergnŸgt unter den alten Linden der Wanzenau hin. Da§ mir diese Entsagung reichlich vergolten worden, war wohl eine natŸrliche Folge.

Eine gewisse allgemeine Geselligkeit lŠ§t sich ohne das Kartenspiel nicht mehr denken. Salzmann erneuerte die guten Lehren der Madame Bšhme, und ich war um so folgsamer, als ich wirklich eingesehen hatte, da§ man sich durch diese kleine Aufopferung, wenn es ja eine sein sollte, manches VergnŸgen, ja sogar eine grš§ere Freiheit in der SozietŠt verschaffen kšnne, als man sonst genie§en wŸrde. Das alte eingeschlafene Piquet wurde daher hervorgesucht; ich lernte Whist, richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel ein, welcher unter allen UmstŠnden unantastbar sein sollte; und nun fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde die meisten Abende in den besten Zirkeln zuzubringen, wo man mir meistens wohlwollte, und manche kleine UnregelmŠ§igkeit verzieh, auf die mich jedoch der Freund, wiewohl milde genug, aufmerksam zu machen pflegte.

Damit ich aber dabei symbolisch erfŸhre, wie sehr man sich auch im €u§ern in die Gesellschaft zu schicken und nach ihr zu richten hat, so ward ich zu etwas genštigt, welches mir das Unangenehmste von der Welt schien. Ich hatte zwar sehr schšne Haare, aber mein Stra§burger Friseur versicherte mir sogleich, da§ sie viel zu tief nach hinten hin verschnitten seien und da§ es ihm unmšglich werde, daraus eine Frisur zu bilden, in welcher ich mich produzieren dŸrfe, weil nur wenig kurze und gekrauste Vorderhaare statuiert wŸrden, alles Ÿbrige vom Scheitel an in den Zopf oder Haarbeutel gebunden werden mŸsse. Hierbei bleibe nun nichts Ÿbrig, als mir eine Haartour gefallen zu lassen, bis der natŸrliche Wachstum sich wieder nach den Erfordernissen der Zeit


hergestellt habe. Er versprach mir, da§ niemand diesen unschuldigen Betrug, gegen den ich mich erst sehr ernstlich wehrte, jemals bemerken solle, wenn ich mich sogleich dazu entschlie§en kšnnte. Er hielt Wort und ich galt immer fŸr den bestfrisierten und bestbehaarten jungen Mann. Da ich aber vom frŸhen Morgen an so aufgestutzt und gepudert bleiben und mich zugleich in acht nehmen mu§te, nicht durch Erhitzung und heftige Bewegung den falschen Schmuck zu verraten; so trug dieser Zwang wirklich viel bei, da§ ich mich eine Zeitlang ruhiger und gesitteter benahm, mir angewšhnte, mit dem Hut unterm Arm und folglich auch in Schuh und StrŸmpfen zu gehen; doch durfte ich nicht versŠumen, feinlederne UnterstrŸmpfe zu tragen, um mich gegen die Rheinschnacken zu sichern, welche sich an schšnen Sommerabenden Ÿber die Auen und GŠrten zu verbreiten pflegen. War mir nun unter diesen UmstŠnden eine heftige kšrperliche Bewegung versagt, so entfalteten sich unsere geselligen GesprŠche immer lebhafter und leidenschaftlicher, ja, sie waren die interessantesten, die ich bis dahin jemals gefŸhrt hatte.

Bei meiner Art zu empfinden und zu denken kostete es mich gar nichts, einen jeden gelten zu lassen fŸr das, was er war, ja sogar fŸr das, was er gelten wollte, und so machte die Offenheit eines frischen jugendlichen Mutes, der sich fast zum erstenmal in seiner vollen BlŸte hervortat, mir sehr viele Freunde und AnhŠnger. Unsere Tischgesellschaft vermehrte sich wohl auf zwanzig Personen, und weil unser Salzmann bei seiner hergebrachten Methode beharrte; so blieb alles im alten Gange, ja die Unterhaltung ward beinahe schicklicher, indem sich ein jeder vor mehreren in acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankšmmlingen befand sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hie§ Jung, und derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden. Seine Gestalt, ungeachtet einer veralteten Kleidungsart, hatte, bei einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Eine HaarbeutelperŸcke entstellte


nicht sein bedeutendes und gefŠlliges Gesicht. Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltšnend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn nŠher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem GemŸt ruhte, und sich deswegen von Neigungen und Leidenschaften bestimmen lie§, und aus eben diesem GemŸt entsprang ein Enthusiasmus fŸr das Gute, Wahre, Rechte in mšglichster Reinheit. Denn der Lebensgang dieses Mannes war sehr einfach gewesen und doch gedrŠngt an Begebenheiten und mannigfaltiger TŠtigkeit. Das Element seiner Energie war ein unverwŸstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher flie§ende HŸlfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem †bel augenscheinlich bestŠtige. Jung hatte dergleichen Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, sie hatten sich selbst in der neuern Zeit, in Stra§burg, šfters wiederholt, so da§ er mit der grš§ten Freudigkeit ein zwar mŠ§iges aber doch sorgloses Leben fŸhrte und seinen Studien aufs ernstlichste oblag, wiewohl er auf kein sicheres Auskommen von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In seiner Jugend, auf dem Wege Kohlenbrenner zu werden, ergriff er das Schneiderhandwerk, und nachdem er sich nebenher von hšheren Dingen selbst belehrt, so trieb ihn sein lehrlustiger Sinn zu einer Schulmeisterstelle. Dieser Versuch mi§lang, und er kehrte zum Handwerk zurŸck, von dem er jedoch zu wiederholten Malen, weil jedermann fŸr ihn leicht Zutrauen und Neigung fa§te, abgerufen ward, um abermals eine Stelle als Hauslehrer zu Ÿbernehmen. Seine innerlichste und eigentlichste Bildung aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu danken, welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und, indem sie sich durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter BŸcher, durch wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung erregen mu§te.


Denn indem das Interesse, das sie stets begleitete und das sie in Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohltuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bei Menschen von so beschrŠnkten ZustŠnden vorkommen kšnnen, von geringer Bedeutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewšhnlich heiter blieb: so entstand keine kŸnstliche, sondern eine wahrhaft natŸrliche Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, da§ sie allen Altern und StŠnden gemŠ§ und ihrer Natur nach allgemein gesellig war; deshalb auch diese Personen, in ihrem Kreise, wirklich beredt und fŠhig waren, Ÿber alle Herzensangelegenheiten, die zartesten und tŸchtigsten, sich gehšrig und gefŠllig auszudrŸcken. In demselben Falle nun war der gute Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklŠrten, fand man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; besonders erzŠhlte er seine Lebensgeschichte auf das unmutigste, und wu§te dem Zuhšrer alle ZustŠnde deutlich und lebendig zu vergegenwŠrtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprach's. Weil er aber in seiner Art sich zu Šu§ern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht von seiner Hšhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll; so mu§te er sich in grš§erer Gesellschaft oft unbehaglich fŸhlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine †berzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschšpflich war; so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen FŠllen gewšhnlich Ÿber, wofŸr er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir auch in ihrer NatŸrlichkeit und NalivetŠt Ÿberhaupt wohl zusagte; so konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines Geistes war


mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zustatten kam, lie§ ich unangetastet. Auch Salzmann betrug sich schonend gegen ihn; schonend, sage ich, weil Salzmann, seinem Charakter, Wesen, Alter und ZustŠnden nach, auf der Seite der vernŸnftigen, oder vielmehr verstŠndigen Christen stehen und halten mu§te, deren Religion eigentlich auf der Rechtschaffenheit des Charakters und auf einer mŠnnlichen SelbstŠndigkeit beruhte, und die sich daher nicht gern mit Empfindungen, die sie leicht ins TrŸbe, und SchwŠrmerei, die sie bald ins Dunkle hŠtte fŸhren kšnnen, abgaben und vermengten. Auch diese Klasse war respektabel und zahlreich; alle ehrliche tŸchtige Leute verstanden sich und waren von gleicher †berzeugung sowie von gleichem Lebensgang.

Lerse, ebenmŠ§ig unser Tischgeselle, gehšrte auch zu dieser Zahl; ein vollkommen rechtlicher und bei beschrŠnkten GlŸcksgŸtern mŠ§iger und genauer junger Mann. Seine Lebens- und Haushaltungsweise war die knappste, die ich unter Studierenden je kannte. Er trug sich am saubersten von uns allen, und doch erschien er immer in denselben Kleidern; aber er behandelte auch seine Garderobe mit der grš§ten Sorgfalt, er hielt seine Umgebung reinlich, und so verlangte er auch nach seinem Beispiel alles im gemeinen Leben. Es begegnete ihm nicht, da§ er sich irgendwo angelehnt oder seinen Ellbogen auf den Tisch gestemmt hŠtte; niemals verga§ er, seine Serviette zu zeichnen, und der Magd geriet es immer zum Unheil, wenn die StŸhle nicht hšchst sauber gefunden wurden. Bei allem diesen hatte er nichts Steifes in seinem €u§eren. Er sprach treuherzig, bestimmt und trocken lebhaft, wobei ein leichter ironischer Scherz ihn gar wohl kleidete. An Gestalt war er gut gebildet, schlank und von ziemlicher Grš§e, sein Gesicht pockennarbig und unscheinbar, seine kleinen blauen Augen heiter und durchdringend. Wenn er uns nun von so mancher Seite zu hofmeistern Ursache hatte, so lie§en wir ihn auch noch au§erdem fŸr unsern Fechtmeister gelten: denn er fŸhrte ein sehr gutes Rapier,


und es schien ihm Spa§ zu machen, bei dieser Gelegenheit alle Pedanterie dieses Metiers an uns auszuŸben. Auch profitierten wir bei ihm wirklich und mu§ten ihm dankbar sein fŸr manche gesellige Stunde, die er uns in guter Bewegung und †bung verbringen lie§.

Durch alle diese Eigenschaften qualifizierte sich nun Lerse všllig zu der Stelle eines Schieds- und Kampfrichters bei allen kleinen und grš§ern HŠndeln, die in unserm Kreise, wiewohl selten, vorfielen, und welche Salzmann auf seine vŠterliche Art nicht beschwichtigen konnte. Ohne die Šu§eren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten, stellten wir eine durch UmstŠnde und guten Willen geschlossene Gesellschaft vor, die wohl mancher andere zufŠllig berŸhren, aber sich nicht in dieselbe eindrŠngen konnte. Bei Beurteilung nun innerer Verdrie§lichkeiten zeigte Lerse stets die grš§te Unparteilichkeit, und wu§te, wenn der Handel nicht mehr mit Worten und ErklŠrungen ausgemacht werden konnte, die zu erwartende Genugtuung auf ehrenvolle Weise ins UnschŠdliche zu leiten. Hiezu war wirklich kein Mensch geschickter als er; auch pflegte er oft zu sagen, da ihn der Himmel weder zu einem Kriegs- noch Liebeshelden bestimmt habe, so wolle er sich, im Romanen- und Fechtersinn, mit der Rolle des Sekundanten begnŸgen. Da er sich nun durchaus gleich blieb und als ein rechtes Muster einer guten und bestŠndigen Sinnesart angesehen werden konnte, so prŠgte sich der Begriff von ihm so tief als liebenswŸrdig bei mir ein, und als ich den "Gštz von Berlichingen " schrieb, fŸhlte ich mich veranla§t, unserer Freundschaft ein Denkmal zu setzen und der wackern Figur, die sich auf so eine wŸrdige Art zu subordinieren wei§, den Namen Franz Lerse zu geben.

Indes er nun mit seiner fortgesetzten humoristischen Trockenheit uns immer zu erinnern wu§te, was man sich und andern schuldig sei, und wie man sich einzurichten habe, um mit den Menschen so lange als mšglich in Frieden zu leben, und sich deshalb gegen sie in einige Positur zu


setzen; so hatte ich innerlich und Šu§erlich mit ganz andern VerhŠltnissen und Gegnern zu kŠmpfen, indem ich mit mir selbst, mit den GegenstŠnden, ja mit den Elementen im Streit lag. Ich befand mich in einem Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und sollte, hinreichend fšrderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit Ÿbrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht lie§. Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte GegenstŠnde erregten mir Ekel und Abscheu. Besonders aber Šngstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Hšhe herunterblickte. Allen diesen MŠngeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und SchlŠge das Herz im Busen hŠtten zersprengen mšgen. Ich erstieg ganz allein den hšchsten Gipfel des MŸnsterturms, und sa§ in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man's nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu kšnnen, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nŠchsten Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles, worauf und worŸber man steht, verbergen. Es ist všllig, als wenn man sich auf einer Montgolfiere in die Luft erhoben sŠhe. Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgŸltig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei gro§en Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette Ÿber die freiliegenden Balken und Ÿber die Gesimse des GebŠudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen WagetŸcke ausŸben mu§, um bedeutende Kunstwerke nŠher zu sehen, von jenen VorŸbungen gro§en Vorteil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt wert, weil sie mich den widerwŠrtigsten Anblick ertragen lehrte, indem sie meine


Wi§begierde befriedigte. Und so besuchte ich auch das Klinikum des altern Doktor Ehrmann, sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines Sohns, in der doppelten Absicht, alle ZustŠnde kennen zu lernen und mich von aller Apprehension gegen widerwŠrtige Dinge zu befreien. Ich habe es auch wirklich darin so weit gebracht, da§ nichts dergleichen mich jemals aus der Fassung setzen konnte. Aber nicht allein gegen diese sinnlichen EindrŸcke, sondern auch gegen die Anfechtungen der Einbildungskraft suchte ich mich zu stŠhlen. Die ahndungs- und schauervollen EindrŸcke der Finsternis, der Kirchhšfe, einsamer …rter, nŠchtlicher Kirchen und Kapellen und was hiemit verwandt sein mag, wu§te ich mir ebenfalls gleichgŸltig zu machen; und auch darin brachte ich es so weit, da§ mir Tag und Nacht und jedes Lokal všllig gleich war, ja da§, als in spŠter Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher Umgebung die angenehmen Schauer der Jugend zu fŸhlen, ich diese in mir kaum durch die seltsamsten und fŸrchterlichsten Bilder, die ich hervorrief, wieder einigerma§en erzwingen konnte.

Dieser BemŸhung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernsten und MŠchtigen zu befreien, was in mir fortwaltete, und mir bald als Kraft bald als SchwŠche erschien, kam durchaus jene freie, gesellige, bewegliche Lebensart zu HŸlfe, welche mich immer mehr anzog, an die ich mich gewšhnte, und zuletzt derselben mit voller Freiheit genie§en lernte. Es ist in der Welt nicht schwer zu bemerken, da§ sich der Mensch am freisten und am všlligsten von seinen Gebrechen los und ledig fŸhlt, wenn er sich die MŠngel anderer vergegenwŠrtigt und sich darŸber mit behaglichem Tadel verbreitet. Es ist schon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Mi§billigung und Mi§reden Ÿber unsersgleichen hinauszusetzen, weswegen auch hierin die gute Gesellschaft, sie bestehe aus wenigen oder mehrern, sich am liebsten ergeht. Nichts aber gleicht der behaglichen SelbstgefŠlligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und Vorgesetzten, der FŸrsten und StaatsmŠnner erheben, šffent-


liche Anstalten ungeschickt und zweckwidrig finden, nur die mšglichen und wirklichen Hindernisse beachten, und weder die Grš§e der Intention noch die Mitwirkung anerkennen, die bei jedem Unternehmen von Zeit und UmstŠnden zu erwarten ist.

Wer sich der Lage des franzšsischen Reichs erinnert und sie aus spŠteren Schriften genau und umstŠndlich kennt, wird sich leicht vergegenwŠrtigen, wie man damals in dem elsŠssischen Halbfrankreich Ÿber Kšnig und Minister, Ÿber Hof und GŸnstlinge sprach. FŸr meine Lust, mich zu unterrichten, waren es neue, und fŸr Naseweisheit und jugendlichen DŸnkel sehr willkommne GegenstŠnde; ich merkte mir alles genau, schrieb flei§ig auf, und sehe jetzt an dem wenigen †briggebliebenen, da§ solche Nachrichten, wenngleich nur aus Fabeln und unzuverlŠssigen allgemeinen GerŸchten im Augenblick aufgefa§t, doch immer in der Folge einen gewissen Wert haben, weil sie dazu dienen, das endlich bekanntgewordene Geheime mit dem damals schon Aufgedeckten und …ffentlichen, das von Zeitgenossen richtig oder falsch Geurteilte mit den †berzeugungen der Nachwelt zusammenzuhalten und zu vergleichen.

Auffallend und uns Pflastertretern tŠglich vor Augen war das Projekt zu Verschšnerung der Stadt, dessen AusfŸhrung von den Rissen und Planen auf die seltsamste Weise in die Wirklichkeit Ÿberzugehen anfing. Intendant Gayot hatte sich vorgenommen, die winkligen und ungleichen Gassen Stra§burgs umzuschaffen und eine wohl nach der Schnur geregelte, ansehnliche, schšne Stadt zu grŸnden. Blondel, ein Pariser Baumeister, zeichnete darauf einen Vorschlag, durch welchen hundertundvierzig Hausbesitzer an Raum gewannen, achtzig verloren und die Ÿbrigen in ihrem vorigen Zustande blieben. Dieser genehmigte, aber nicht auf einmal in AusfŸhrung zu bringende Plan sollte nun durch die Zeit seiner VollstŠndigkeit entgegen wachsen, indessen die Stadt, wunderlich genug, zwischen Form und Unform schwankte. Sollte z.B. eine eingebogene


Stra§enseite gerad werden, so rŸckte der erste Baulustige auf die bestimmte Linie vor; vielleicht sein nŠchster Nachbar, vielleicht aber auch der dritte, vierte Besitzer von da, durch welche VorsprŸnge die ungeschicktesten Vertiefungen als Vorhšfe der hinterliegenden HŠuser zurŸckblieben. Gewalt wollte man nicht brauchen, aber ohne Nštigung wŠre man gar nicht vorwŠrts gekommen, deswegen durfte niemand an seinem einmal verurteilten Hause etwas bessern oder herstellen, was sich auf die Stra§e bezog. Alle die seltsamen zufŠlligen Unschicklichkeiten gaben uns wandelnden MŸ§iggŠngern willkommensten Anla§, unsern Spott zu Ÿben, VorschlŠge zu Beschleunigung der Vollendung nach Behrischens Art zu tun, und die Mšglichkeit derselben immer zu bezweifeln, ob uns gleich manches neu entstehende schšne GebŠude hŠtte auf andere Gedanken bringen sollen. Inwieweit jener Vorsatz durch die lange Zeit begŸnstigt worden, wŸ§te ich nicht zu sagen.

Ein anderer Gegenstand, wovon sich die protestantischen Stra§burger gern unterhielten, war die Vertreibung der Jesuiten. Diese VŠter hatten, sobald als die Stadt den Franzosen zuteil geworden, sich gleichfalls eingefunden und um ein Domizilium nachgesucht. Bald breiteten sie sich aber aus und bauten ein herrliches Kollegium, das an den MŸnster dergestalt anstš§t, da§ das Hinterteil der Kirche ein Dritteil seiner Face bedeckt. Es sollte ein všlliges Viereck werden und in der Mitte einen Garten haben; drei Seiten davon waren fertig geworden. Es ist von Steinen, solid, wie alle GebŠude dieser VŠter. Da§ die Protestanten von ihnen gedrŠngt, wo nicht bedrŠngt wurden, lag in dem Plane der Gesellschaft, welche die alte Religion in ihrem ganzen Umfange wieder herzustellen sich zur Pflicht machte. Ihr Fall erregte daher die grš§te Zufriedenheit des Gegenteils, und man sah nicht ohne Behagen, wie sie ihre Weine verkauften, ihre BŸcher wegschafften und das GebŠude einem andern, vielleicht weniger tŠtigen Orden bestimmt ward. Wie froh sind die Menschen, wenn sie einen Wider-


sacher, ja nur einen HŸter los sind, und die Herde bedenkt nicht, da§ da, wo der RŸde fehlt, sie den Wšlfen ausgesetzt ist.

Weil denn nun auch jede Stadt ihre Tragšdie haben mu§, wovor sich Kinder und Kindeskinder entsetzen, so ward in Stra§burg oft des unglŸcklichen PrŠtors Klinglin gedacht, der, nachdem er die hšchste Stufe irdischer GlŸckseligkeit erstiegen, Stadt und Land fast unumschrŠnkt beherrscht und alles genossen, was Vermšgen, Rang und Einflu§ nur gewŠhren kšnnen, endlich die Hofgunst verloren habe, und wegen alles dessen, was man ihm bisher nachgesehen, zur Verantwortung gezogen worden, ja sogar in den Kerker gebracht, wo er, Ÿber siebenzig Jahre alt, eines zweideutigen Todes verblichen.

Diese und andere Geschichten wu§te jener Ludwigsritter, unser Tischgenosse, mit Leidenschaft und Lebhaftigkeit zu erzŠhlen, deswegen ich auch gern auf SpaziergŠngen mich zu ihm gesellte, anders als die Ÿbrigen die solchen Einladungen auswichen und mich mit ihm allein lie§en. Da ich mich bei neuen Bekanntschaften meistenteils eine Zeitlang gehen lie§, ohne viel Ÿber sie, noch Ÿber die Wirkung zu denken, die sie auf mich ausŸbten, so merkte ich erst nach und nach, da§ seine ErzŠhlungen und Urteile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichteten und aufklŠrten. Ich wu§te niemals, woran ich mit ihm war, obgleich das RŠtsel sich leicht hŠtte entziffern lassen. Er gehšrte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate gibt, und die sich daher im einzelnen, vor wie nach, abmŸhen. UnglŸcklicherweise hatte er dabei eine entschiedne Lust, ja Leidenschaft zum Nachdenken, ohne zum Denken geschickt zu sein, und in solchen Menschen setzt sich leicht ein gewisser Begriff fest, den man als eine GemŸtskrankheit ansehen kann. Auf eine solche fixe Ansicht kam auch er immer wieder zurŸck, und ward dadurch auf die Dauer hšchst lŠstig. Er pflegte sich nŠmlich bitter Ÿber die Abnahme seines GedŠchtnisses zu beklagen, besonders was die nŠchsten Ereignisse betraf, und behauptete, nach einer eignen Schlu§-


folge, alle Tugend komme von dem guten GedŠchtnis her, alle Laster hingegen aus der Vergessenheit. Die Lehre wu§te er mit vielem Scharfsinn durchzusetzen; wie sich denn alles behaupten lŠ§t, wenn man sich erlaubt, die Worte ganz unbestimmt, bald in weiterem, bald engerm, in einem nŠher oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen und anzuwenden.

Die ersten Male unterhielt es wohl ihn zu hšren, ja seine Suade setzte in Verwunderung. Man glaubte vor einem rednerischen Sophisten zu stehen, der, zu Scherz und †bung, den seltsamsten Dingen einen Schein zu verleihen wei§. Leider stumpfte sich dieser erste Eindruck nur allzu bald ab: denn am Ende jedes GesprŠchs kam der Mann wieder auf dasselbe Thema, ich mochte mich auch anstellen, wie ich wollte. Er war bei Šlteren Begebenheiten nicht festzuhalten, ob sie ihn gleich selbst interessierten, ob er sie schon mit den kleinsten UmstŠnden gegenwŠrtig hatte. Vielmehr ward er šfters, durch einen geringen Umstand, mitten aus einer weltgeschichtlichen ErzŠhlung herausgerissen und auf seinen feindseligen Lieblingsgedanken hingesto§en.

Einer unserer nachmittŠgigen SpaziergŠnge war hierin besonders unglŸcklich; die Geschichte desselben stehe hier statt Šhnlicher FŠlle, welche den Leser ermŸden, wo nicht gar betrŸben kšnnten.

Auf dem Wege durch die Stadt begegnete uns eine bejahrte Bettlerin, die ihn, durch Bitten und Andringen, in seiner ErzŠhlung stšrte. - "Pack dich, alte Hexe" sagte er, und ging vorŸber. Sie rief ihm den bekannten Spruch hintendrein, nur etwas verŠndert, da sie wohl bemerkte, da§ der unfreundliche Mann selbst alt sei: "Wenn Ihr nicht alt werden wolltet, so hŠttet Ihr Euch in der Jugend sollen hŠngen lassen!" Er kehrte sich heftig herum, und ich fŸrchtete einen Auftritt. - "HŠngen lassen!" rief er, "mich hŠngen lassen! Nein, das wŠre nicht gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl; aber mich hŠngen, mich selbst aufhŠngen, das ist wahr, das hŠtte ich tun sollen; einen Schu§ Pulver sollt' ich an mich wenden, um nicht zu erleben, da§ ich


keinen mehr wert bin." Die Frau stand wie versteinert, er aber fuhr fort: "Du hast eine gro§e Wahrheit gesagt, Hexenmutter! und weil man dich noch nicht ersauft oder verbrannt hat, so sollst du fŸr dein SprŸchlein belohnt werden." Er reichte ihr ein BŸsel, das man nicht leicht an einen Bettler zu wenden pflegte.

Wir waren Ÿber die erste RheinbrŸcke gekommen und gingen nach dem Wirtshause, wo wir einzukehren gedachten, und ich suchte ihn auf das vorige GesprŠch zurŸckzufŸhren, als unerwartet auf dem angenehmen Fu§pfad ein sehr hŸbsches MŠdchen uns entgegen kam, vor uns stehen blieb, sich artig verneigte und ausrief: "Ei, ei, Herr Hauptmann, wohin?" und was man sonst bei solcher Gelegenheit zu sagen pflegt. - "Mademoiselle," versetzte er, etwas verlegen, "ich wei§ nicht..." "Wie?" sagte sie, mit anmutiger Verwunderung, "vergessen Sie Ihre Freunde so bald?" Das Wort Vergessen machte ihn verdrie§lich, er schŸttelte den Kopf und erwiderte mŸrrisch genug: "Wahrhaftig, Mademoiselle, ich wŸ§te nicht!" - Nun versetzte sie mit einigem Humor, doch sehr gemŠ§igt: "Nehmen Sie sich in acht, Herr Hauptmann, ich dŸrfte Sie ein andermal auch verkennen!" Und so eilte sie an uns vorbei, stark zuschreitend, ohne sich umzusehen. Auf einmal schlug sich mein Weggesell mit den beiden FŠusten heftig vor den Kopf: "O ich Esel!" rief er aus; "ich alter Esel! da seht Ihr's nun, ob ich recht habe oder nicht." Und nun erging er sich auf eine sehr heftige Weise in seinem gewohnten Reden und Meinen, in welchem ihn dieser Fall nur noch mehr bestŠrkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er fŸr eine philippische Rede wider sich selbst hielt. Zuletzt wendete er sich zu mir und sagte: "Ich rufe Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch jener KrŠmerin, an der Ecke, die weder jung noch hŸbsch ist? Jedesmal grŸ§e ich sie, wenn wir vorbeigehen, und rede manchmal ein paar freundliche Worte mit ihr; und doch sind schon drei§ig Jahre vorbei, da§ sie mir gŸnstig war. Nun aber, nicht vier Wochen, schwšr' ich, sind's, da erzeigte sich dieses


MŠdchen gegen mich gefŠlliger als billig, und nun will ich sie nicht kennen und beleidige sie fŸr ihre Artigkeit! Sage ich es nicht immer, Undank ist das grš§te Laster, und kein Mensch wŠre undankbar, wenn er nicht verge§lich wŠre!"

Wir traten ins Wirtshaus, und nur die zechende, schwŠrmende Menge in den VorsŠlen hemmte die Invektiven, die er gegen sich und seine Altersgenossen ausstie§. Er war still, und ich hoffte ihn begŸtigt, als wir in ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jungen Mann allein auf und ab gehend fanden, den der Hauptmann mit Namen begrŸ§te. Es war mir angenehm, ihn kennen zu lernen: denn der alte Gesell hatte mir viel Gutes von ihm gesagt und mir erzŠhlt, da§ dieser, beim Kriegsbureau angestellt, ihm schon manchmal, wenn die Pensionen gestockt, uneigennŸtzig sehr gute Dienste geleistet habe. Ich war froh, da§ das GesprŠch sich ins Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Flasche Wein, indem wir es fortsetzten. Hier entwickelte sich aber zum UnglŸck ein anderer Fehler, den mein Ritter mit starrsinnigen Menschen gemein hatte. Denn wie er im ganzen von jenem fixen Begriff nicht loskommen konnte, ebensosehr hielt er an einem augenblicklichen unangenehmen Eindruck fest, und lie§ seine Empfindungen dabei ohne MŠ§igung abschnurren. Der letzte Verdru§ Ÿber sich selbst war noch nicht verklungen, und nun trat abermals etwas Neues hinzu, freilich von ganz anderer Art. Er hatte nŠmlich nicht lange die Augen hin und her gewandt, so bemerkte er auf dem Tische eine doppelte Portion Kaffee und zwei Tassen; daneben mochte er auch, er, der selbst ein feiner Zeisig war, irgend sonst eine Andeutung aufgespŸrt haben, da§ dieser junge Mann sich nicht eben immer so allein befunden. Und kaum war die Vermutung in ihm aufgestiegen und zur Wahrscheinlichkeit geworden, das hŸbsche MŠdchen habe einen Besuch hier abgestattet; so gesellte sich zu jenem ersten Verdru§ noch die wunderlichste Eifersucht, um ihn vollends zu verwirren.

Ehe ich nun irgend etwas ahnden konnte, denn ich hatte mich bisher ganz harmlos mit dem jungen Mann unterhal-


ten, so fing der Hauptmann mit einem unangenehmen Ton den ich an ihm wohl kannte, zu sticheln an, auf das Tassenpaar und auf dieses und jenes. Der JŸngere, betroffen, suchte heiter und verstŠndig auszuweichen, wie es unter Menschen von Lebensart die Gewohnheit ist; allein der Alte fuhr fort schonungslos unartig zu sein, da§ dem andern nichts Ÿbrig blieb, als Hut und Stock zu ergreifen und beim Abschiede eine ziemlich unzweideutige Ausforderung zurŸckzulassen. Nun brach die Furie des Hauptmanns und um desto heftiger los, als er in der Zwischenzeit noch eine Flasche Wein beinahe ganz allein ausgetrunken hatte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief mehr als einmal: "Den schlag' ich tot." Es war aber eigentlich so bšs nicht gemeint, denn er gebrauchte diese Phrase mehrmals, wenn ihm jemand widerstand oder sonst mi§fiel. Ebenso unerwartet verschlimmerte sich die Sache auf dem RŸckweg: denn ich hatte die Unvorsichtigkeit, ihm seinen Undank gegen den jungen Mann vorzuhalten und ihn zu erinnern, wie sehr er mir die zuvorkommende Dienstfertigkeit dieses Angestellten gerŸhmt habe. Nein! Solche Wut eines Menschen gegen sich selbst ist mir nie wieder vorgekommen; es war die leidenschaftlichste Schlu§rede zu jenen AnfŠngen, wozu das hŸbsche MŠdchen Anla§ gegeben hatte. Hier sah ich Reue und Bu§e bis zur Karikatur getrieben, und, wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt, wirklich genialisch. Denn er nahm die sŠmtlichen Vorfallenheiten unserer Nachmittagswanderung wieder auf, benutzte sie rednerisch zur Selbstscheltung, lie§ zuletzt die Hexe nochmals gegen sich auftreten, und verwirrte sich dergestalt, da§ ich fŸrchten mu§te, er werde sich in den Rhein stŸrzen. WŠre ich sicher gewesen, ihn, wie Mentor seinen Telemach, schnell wieder aufzufischen, so mochte er springen, und ich hŠtte ihn fŸr diesmal abgekŸhlt nach Hause gebracht.

Ich vertraute sogleich die Sache Lersen, und wir gingen des andern Morgens zu dem jungen Manne, den mein Freund, mit seiner Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir


wurden eins, ein ungefŠhres Zusammentreffen einzuleiten, wo eine Ausgleichung vor sich gehen sollte. Das Lustigste dabei war, da§ der Hauptmann auch diesmal seine Unart verschlafen hatte, und zur BegŸtigung des jungen Mannes, dem auch an keinen HŠndeln gelegen war, sich bereit finden lie§. Alles war an einem Morgen abgetan, und da die Begebenheit nicht ganz verschwiegen blieb, so entging ich nicht den Scherzen meiner Freunde, die mir aus eigner Erfahrung hŠtten voraussagen kšnnen, wie lŠstig mir gelegentlich die Freundschaft des Hauptmanns werden dŸrfte.

Indem ich nun aber darauf sinne, was wohl zunŠchst weiter mitzuteilen wŠre, so kommt mir, durch ein seltsames Spiel der Erinnerung, das ehrwŸrdige MŸnstergebŠude wieder in die Gedanken, dem ich gerade in jenen Tagen eine besondere Aufmerksamkeit widmete und welches Ÿberhaupt in der Stadt sowohl als auf dem Lande sich den Augen bestŠndig darbietet.

Je mehr ich die Fassade desselben betrachtete, desto mehr bestŠrkte und entwickelte sich jener erste Eindruck, da§ hier das Erhabene mit dem GefŠlligen in Bund getreten sei. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Masse entgegentritt, nicht erschrecken, soll es nicht verwirren, wenn wir sein Einzelnes zu erforschen suchen: so mu§ es eine unnatŸrliche, scheinbar unmšgliche Verbindung eingehen, es mu§ sich das Angenehme zugesellen. Da uns nun aber allein mšglich wird, den Eindruck des MŸnsters auszusprechen, wenn wir uns jene beiden unvertrŠglichen Eigenschaften vereinigt denken; so sehen wir schon hieraus, in welchem hohen Wert wir dieses alte Denkmal zu halten haben, und beginnen mit Ernst eine Darstellung, wie so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen und verbinden konnten.

Vor allem widmen wir unsere Betrachtungen, ohne noch an die TŸrme zu denken, allein der Fassade, die als ein aufrecht gestelltes lŠngliches Viereck unsern Augen mŠchtig entgegnet. NŠhern wir uns derselben in der DŠmmerung, bei Mondschein, bei sternheller Nacht, wo die Teile mehr


oder weniger undeutlich werden und zuletzt verschwinden; so sehen wir nur eine kolossale Wand, deren Hšhe zur Breite ein wohltŠtiges VerhŠltnis hat. Betrachten wir sie bei Tage und abstrahieren durch Kraft unseres Geistes vom Einzelnen; so erkennen wir die Vorderseile eines GebŠudes, welche dessen innere RŠume nicht allein zuschlie§t, sondern auch manches Danebenliegende verdeckt. Die …ffnungen dieser ungeheueren FlŠche deuten auf innere BedŸrfnisse, und nach diesen kšnnen wir sie sogleich in neun Felder abteilen. Die gro§e MitteltŸre, die auf das Schiff der Kirche gerichtet ist, fŠllt uns zuerst in die Augen. Zu beiden Seiten derselben liegen zwei kleinere, den KreuzgŠngen angehšrig. †ber der HaupttŸre trifft unser Blick auf das radfšrmige Fenster, das in die Kirche und deren Gewšlbe ein ahndungsvolles Licht verbreiten soll. An den Seiten zeigen sich zwei gro§e senkrechte, lŠnglich-viereckte …ffnungen, welche mit der mittelsten bedeutend kontrastieren und darauf hindeuten, da§ sie zu der Base emporstrebender TŸrme gehšren. In dem dritten Stockwerke reihen sich drei …ffnungen an einander, welche zu GlockenstŸhlen und sonstigen kirchlichen BedŸrfnissen bestimmt sind. Zu Oberst sieht man das Ganze durch die Balustrade der Galerie, anstatt eines Gesimses, horizontal abgeschlossen. Jene beschriebenen neun RŠume werden durch vier vom Boden aufstrebende Pfeiler gestŸtzt, eingefa§t und in drei gro§e perpendikulare Abteilungen getrennt.

Wie man nun der ganzen Masse ein schšnes VerhŠltnis der Hšhe zur Breite nicht absprechen kann, so erhŠlt sie auch durch diese Pfeiler, durch die schlanken Einteilungen dazwischen, im einzelnen etwas gleichmŠ§ig Leichtes.

Verharren wir aber bei unserer Abstraktion und denken uns diese ungeheuere Wand ohne Zieraten mit festen Strebepfeilern, in derselben die nštigen …ffnungen, aber auch nur insofern sie das BedŸrfnis fordert; gestehn wir auch diesen Hauptabteilungen gute VerhŠltnisse zu: so wird das Ganze zwar ernst und wŸrdig, aber doch immer


noch lŠstig unerfreulich und als zierdelos unkŸnstlich erscheinen. Denn ein Kunstwerk, dessen Ganzes in gro§en, einfachen, harmonischen Teilen begriffen wird, macht wohl einen edlen und wŸrdigen Eindruck, aber der eigentliche Genu§, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei †bereinstimmung aller entwickelten Einzelheiten stattfinden.

Hierin aber gerade befriedigt uns das GebŠude, das wir betrachten, im hšchsten Grade: denn wir sehen alle und jede Zieraten jedem Teil, den sie schmŸcken, všllig angemessen, sie sind ihm untergeordnet, sie scheinen aus ihm entsprungen. Eine solche Mannigfaltigkeit gibt immer ein gro§es Behagen, indem sie sich aus dem Gehšrigen herleitet und deshalb zugleich das GefŸhl der Einheit erregt, und nur in solchem Falle wird die AusfŸhrung als Gipfel der Kunst gepriesen.

Durch solche Mittel sollte nun eine feste Mauer, eine undurchdringliche Wand, die sich noch dazu als Base zweier himmelhohen TŸrme anzukŸndigen hatte, dem Auge zwar als auf sich selbst ruhend, in sich selbst bestehend, aber auch dabei leicht und zierlich erscheinen, und, obgleich tausendfach durchbrochen, den Begriff von unerschŸtterlicher Festigkeit geben.

Dieses RŠtsel ist auf das glŸcklichste gelšst. Die …ffnungen der Mauer, die soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besonderen Charakter, der aus der eignen Bestimmung hervortritt; dieser kommuniziert sich stufenweis den Unterabteilungen, daher alles im gemŠ§en Sinne verziert ist, das Gro§e wie das Kleine sich an der rechten Stelle befindet, leicht gefa§t werden kann, und so das Angenehme im Ungeheueren sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in die Mauerdicke sich einsenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitzbogen verzierten TŸren, an das Fenster und dessen aus der runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer StŠbe, sowie an die schlanken RohrsŠulen der perpendikularen Abteilungen. Man vergegenwŠrtige sich die stufenweis zurŸcktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Hšhe strebenden, zum


Schutz der Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsŠuligen SpitzgebŠudchen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsinn umgeformtes Naturgebilde erscheint. Man vergleiche das GebŠude, wo nicht selbst, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurteilung und Belebung meiner Aussage. Sie kšnnte manchem Ÿbertrieben scheinen: denn ich selbst, zwar im ersten Anblicke zur Neigung gegen dieses Werk hingerissen, brauchte doch lange Zeit, mich mit seinem Wert innig bekannt zu machen.

Unter Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen, nŠhrte ich meine Abneigung gegen die vielfach Ÿberladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre WillkŸrlichkeit einen religios dŸsteren Charakter hšchst widerwŠrtig machten; ich bestŠrkte mich in diesem Unwillen, da mir nur geistlose Werke dieser Art, an denen man weder gute VerhŠltnisse, noch eine reine Konsequenz gewahr wird, vors Gesicht gekommen waren. Hier aber glaubte ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem mir jenes Tadelnswerte keineswegs erschien, sondern vielmehr das Gegenteil davon sich aufdrang.

Wie ich nun aber immer lŠnger sah und Ÿberlegte, glaubte ich Ÿber das Vorgesagte noch grš§ere Verdienste zu entdecken. Herausgefunden war das richtige VerhŠltnis der grš§eren Abteilungen, die so sinnige als reiche Verzierung bis ins kleinste; nun aber erkannte ich noch die VerknŸpfung dieser mannigfaltigen Zieraten unter einander, die Hinleitung von einem Hauptteile zum andern, die VerschrŠnkung zwar gleichartiger, aber doch an Gestalt hšchst abwechselnder Einzelnheiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Je mehr ich untersuchte, desto mehr geriet ich in Erstaunen; je mehr ich mich mit Messen und Zeichnen unterhielt und abmŸdete, desto mehr wuchs meine AnhŠnglichkeit, so da§ ich viele Zeit darauf verwendete, teils das Vorhandene zu studieren, teils das Fehlende, Unvollendete, besonders der TŸrme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzustellen.


Da ich nun an alter deutscher StŠtte dieses GebŠude gegrŸndet und in echter deutscher Zeit so weit gediehen fand, auch der Name des Meisters auf dem bescheidenen Grabstein gleichfalls vaterlŠndischen Klanges und Ursprungs war; so wagte ich, die bisher verrufene Benennung gotische Bauart, aufgefordert durch den Wert dieses Kunstwerks, abzuŠndern und sie als deutsche Baukunst unserer Nation zu vindizieren, sodann aber verfehlte ich nicht, erst mŸndlich, und hernach in einem kleinen Aufsatz, D. M. Ervini a Steinbach gewidmet, meine patriotischen Gesinnungen an den Tag zu legen.

Gelangt meine biographische ErzŠhlung zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen im Druck erschien, den Herder sodann in sein Heft "Von deutscher Art und Kunst" aufnahm, so wird noch manches Ÿber diesen wichtigen Gegenstand zur Sprache kommen. Ehe ich mich aber diesmal von demselben abwende, so will ich die Gelegenheit benutzen, um das dem gegenwŠrtigen Bande vorgesetzte Motto bei denjenigen zu rechtfertigen, welche einigen Zweifel daran hegen sollten. Ich wei§ zwar recht gut, da§ gegen das brave und hoffnungsreiche altdeutsche Wort: "Was einer in der Jugend wŸnscht, hat er im Alter genug!" manche umgekehrte Erfahrung anzufŸhren, manches daran zu deuteln sein mšchte; aber auch viel GŸnstiges spricht dafŸr, und ich erklŠre, was ich dabei denke.

Unsere WŸnsche sind VorgefŸhle der FŠhigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir kšnnen und mšchten, stellt sich unserer Einbildungskraft au§er uns und in der Zukunft dar; wir fŸhlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mšgliche in ein ertrŠumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfŸllt, bei gŸnstigen UmstŠnden auf dem geraden Wege, bei ungŸnstigen auf einem Umwege, von dem


wir immer wieder nach jenem einlenken. So sieht man Menschen durch Beharrlichkeit zu irdischen GŸtern gelangen, sie umgeben sich mit Reichtum, Glanz und Šu§erer Ehre. Andere streben noch sicherer nach geistigen Vorteilen, erwerben sich eine klare †bersicht der Dinge, eine Beruhigung des GemŸts und eine Sicherheit fŸr die Gegenwart und Zukunft.

Nun gibt es aber eine dritte Richtung, die aus beiden gemischt ist und deren Erfolg am sichersten gelingen mu§. Wenn nŠmlich die Jugend des Menschen in eine prŠgnante Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zerstšren Ÿberwiegt, und in ihm das VorgefŸhl bei Zeiten erwacht, was eine solche Epoche fordre und verspreche; so wird er, durch Šu§ere AnlŠsse zu tŠtiger Teilnahme gedrŠngt, bald da - bald dorthin greifen, und der Wunsch, nach vielen Seiten wirksam zu sein, wird in ihm lebendig werden. Nun gesellen sich aber zur menschlichen BeschrŠnktheit noch so viele zufŠllige Hindernisse, da§ hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes aus der Hand fŠllt, und ein Wunsch nach dem andern sich verzettelt. Waren aber diese WŸnsche aus einem reinen Herzen entsprungen, dem BedŸrfnis der Zeit gemŠ§; so darf man ruhig rechts und links liegen und fallen lassen, und kann versichert sein, da§ nicht allein dieses wieder aufgefunden und aufgehoben werden mu§, sondern da§ auch noch gar manches Verwandte, das man nie berŸhrt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vorschein kommen werde. Sehen wir nun wŠhrend unseres Lebensganges dasjenige von andern geleistet, wozu wir selbst frŸher einen Beruf fŸhlten, ihn aber, mit manchen andern, aufgeben mu§ten; dann tritt das schšne GefŸhl ein, da§ die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und da§ der Einzelne nur froh und glŸcklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fŸhlen.

Diese Betrachtung ist hier recht am Platze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Stra§burger MŸnster gewidmet, die Aufmerksamkeit, mit der ich


spŠterhin den Dom zu Kšln und den zu Freiburg betrachtet und den Wert dieser GebŠude immer mehr empfunden; so kšnnte ich mich tadeln, da§ ich sie nachher ganz aus den Augen verloren, ja, durch eine entwickeltere Kunst angezogen, všllig im Hintergrunde gelassen. Sehe ich nun aber in der neusten Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf jene GegenstŠnde hingelenkt, Neigung, ja Leidenschaft gegen sie hervortreten und blŸhen, sehe ich tŸchtige junge Leute, von ihr ergriffen, KrŠfte, Zeit, Sorgfalt, Vermšgen diesen Denkmalen einer vergangenen Welt rŸcksichtslos widmen; so werde ich mit VergnŸgen erinnert, da§ das, was ich sonst wollte und wŸnschte, einen Wert hatte. Mit Zufriedenheit sehe ich, wie man nicht allein das von unsern Vorvordern Geleistete zu schŠtzen wei§, sondern wie man sogar aus vorhandenen unausgefŸhrten AnfŠngen, wenigstens im Bilde, die erste Absicht darzustellen sucht, um uns dadurch mit dem Gedanken, welcher doch das Erste und Letzte alles Vornehmens bleibt, bekannt zu machen, und eine verworren scheinende Vergangenheit mit besonnenem Ernst aufzuklŠren und zu beleben strebt. VorzŸglich belobe ich hier den wackern Sulpiz BoisserŽe, der unermŸdet beschŠftigt ist, in einem prŠchtigen Kupferwerke, den Kšlnischen Dom aufzustellen als Musterbild jener ungeheuren Konzeptionen, deren Sinn babylonisch in den Himmel strebte, und die zu den irdischen Mitteln dergestalt au§er VerhŠltnis waren, da§ sie notwendig in der AusfŸhrung stocken mu§ten. Haben wir bisher gestaunt, da§ solche Bauwerke nur so weit gediehen, so werden wir mit der grš§ten Bewunderung erfahren, was eigentlich zu leisten die Absicht war.

Mšchten doch literarisch-artistische Unternehmungen dieser Art durch alle, welche Kraft, Vermšgen und Einflu§ haben, gebŸhrend befšrdert werden, damit uns die gro§e und riesenmŠ§ige Gesinnung unserer Vorfahren zur Anschauung gelange und wir uns einen Begriff machen kšnnen von dem, was sie wollen durften. Die hieraus entspringende Einsicht wird nicht unfruchtbar bleiben und das


Urteil sich endlich einmal mit Gerechtigkeit an jenen Werken zu Ÿben imstande sein. Ja, dieses wird auf das grŸndlichste geschehen, wenn unser tŠtiger junger Freund, au§er der dem Kšlnischen Dome gewidmeten Monographie, die Geschichte der Baukunst unserer Mittelzeit bis ins einzelne verfolgt. Wird ferner an den Tag gefšrdert, was irgend Ÿber werkmŠ§ige AusŸbung dieser Kunst zu erfahren ist, wird sie durch Vergleichung mit der griechisch-ršmischen und der orientalisch-Šgyptischen in allen GrundzŸgen dargestellt; so kann in diesem Fache wenig zu tun Ÿbrig bleiben. Ich aber werde, wenn die Resultate solcher vaterlŠndischen BemŸhungen šffentlich vorliegen, so wie jetzt bei freundlichen Privatmitteilungen, mit wahrer Zufriedenheit jenes Wort im besten Sinne wiederholen kšnnen: "Was man in der Jugend wŸnscht, hat man im Alter genug."

Kann man aber bei solchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehšren, sich auf die Zeit verlassen und die Gelegenheit erharren; so gibt es dagegen andere Dinge, die in der Jugend, frisch, wie reife FrŸchte, weggenossen werden mŸssen. Es sei mir erlaubt, mit dieser raschen Wendung, des Tanzes zu erwŠhnen, an den das Ohr, so wie das Auge an den MŸnster, jeden Tag, jede Stunde in Stra§burg, im Elsa§ erinnert wird. Von frŸher Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen Unterricht gegeben, welches einen so ernsthaften Mann wunderlich genug hŠtte kleiden sollen; allein er lie§ sich auch dabei nicht aus der Fassung bringen, unterwies uns auf das bestimmteste in den Positionen und Schritten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuett zu tanzen, so blies er auf einer Flžte -douce uns etwas Fa§liches im Dreivierteltakt vor, und wir bewegten uns darnach, so gut wir konnten. Auf dem franzšsischen Theater hatte ich gleichfalls von Jugend auf, wo nicht Ballette, doch Solos und Pas-de-deux gesehn und mir davon mancherlei wunderliche Bewegungen der FŸ§e und allerlei SprŸnge gemerkt. Wenn wir nun der Menuett genug haben, so ersuchte ich den Vater um andere Tanz-


musiken, dergleichen die NotenbŸcher in ihren Giguen und Murkis reichlich darboten, und ich erfand mir sogleich die Schritte und Ÿbrigen Bewegungen dazu, indem der Takt meinen Gliedern ganz gemŠ§ und mit denselben geboren war. Dies belustigte meinen Vater bis auf einen gewissen Grad, ja er machte sich und uns manchmal den Spa§, die Affen auf diese Weise tanzen zu lassen. Nach meinem Unfall mit Gretchen und wŠhrend meines ganzen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht wieder auf den Plan; vielmehr wei§ ich noch, da§, als man mich auf einem Balle zu einer Menuett nštigte, Takt und Bewegung aus meinen Gliedern gewichen schien, und ich mich weder der Schritte noch der Figuren mehr erinnerte; so da§ ich mit Schimpf und Schanden bestanden wŠre, wenn nicht der grš§ere Teil der Zuschauer behauptet hŠtte, mein ungeschicktes Betragen sei blo§er Eigensinn, in der Absicht, den Frauenzimmern alle Lust zu benehmen, mich wider Willen aufzufordern und in ihre Reihen zu ziehen.

WŠhrend meines Aufenthalts in Frankfurt war ich von solchen Freuden ganz abgeschnitten; aber in Stra§burg regte sich bald, mit der Ÿbrigen Lebenslust, die TaktfŠhigkeit meiner Glieder. An Sonn- und Werkeltagen schlenderte man keinen Lustort vorbei, ohne daselbst einen fršhlichen Haufen zum Tanze versammelt, und zwar meistens im Kreise drehend zu finden. Ingleichen waren auf den LandhŠusern PrivatbŠlle, und man sprach schon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier wŠre ich nun freilich nicht an meinem Platz und der Gesellschaft unnŸtz gewesen; da riet mir ein Freund, der sehr gut walzte, mich erst in minder guten Gesellschaften zu Ÿben, damit ich hernach in der besten etwas gelten kšnnte. Er brachte mich zu einem Tanzmeister, der fŸr geschickt bekannt war; dieser versprach mir, wenn ich nur einigerma§en die ersten AnfangsgrŸnde wiederholt und mir zu eigen gemacht hŠtte, mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen, gewandten franzšsischen Naturen, und nahm mich freundlich auf. Ich zahlte


ihm den Monat voraus, und erhielt zwšlf Billette, gegen die er mir gewisse Stunden Unterricht zusagte. Der Mann war streng, genau, aber nicht pedantisch; und da ich schon einige VorŸbung hatte, so machte ich es ihm bald zu Danke und erhielt seinen Beifall.

Den Unterricht dieses Lehrers erleichterte jedoch ein Umstand gar sehr: er hatte nŠmlich zwei Tšchter, beide hŸbsch und noch unter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in dieser Kunst unterrichtet, zeigten sie sich darin sehr gewandt und hŠtten als MoitiŽ auch dem ungeschicktesten Scholaren bald zu einiger Bildung verhelfen kšnnen. Sie waren beide sehr artig, sprachen nur franzšsisch, und ich nahm mich von meiner Seite zusammen, um vor ihnen nicht linkisch und lŠcherlich zu erscheinen. Ich hatte das GlŸck, da§ auch sie mich lobten, immer willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Menuett zu tanzen, ja sogar, was ihnen freilich beschwerlicher ward, mir nach und nach das Walzen und Drehen einzulernen. †brigens schien der Vater nicht viele Kunden zu haben, und sie fŸhrten ein einsames Leben. Deshalb ersuchten sie mich manchmal nach der Stunde, bei ihnen zu bleiben und die Zeit ein wenig zu verschwŠtzen; das ich denn auch ganz gerne tat, um so mehr, als die jŸngere mir wohl gefiel und sie sich Ÿberhaupt sehr anstŠndig betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und sie taten das gleiche. Die Šltere, die so hŸbsch, vielleicht noch hŸbscher war als die zweite, mir aber nicht so gut wie diese zusagte, betrug sich durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefŠlliger. Sie war in der Stunde immer bei der Hand und zog sie manchmal in die LŠnge; daher ich mich einigemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwei Billette anzubieten, die er jedoch nicht annahm. Die jŸngere hingegen, ob sie gleich nicht unfreundlich gegen mich tat, war doch eher still fŸr sich, und lie§ sich durch den Vater herbeirufen, um die Šltere abzulšsen.

Die Ursache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der Šltesten, nach vollendetem Tanz, in das


Wohnzimmer gehen wollte, hielt sie mich zurŸck und sagte: "Bleiben wir noch ein wenig hier; denn ich will es Ihnen nur gestehen, meine Schwester hat eine KartenschlŠgerin bei sich, die ihr offenbaren soll, wie es mit einem auswŠrtigen Freund beschaffen ist, an dem ihr ganzes Herz hŠngt, auf den sie alle ihre Hoffnung gesetzt hat. Das meinige ist frei," fuhr sie fort, "und ich werde mich gewšhnen mŸssen, es verschmŠht zu sehen." Ich sagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich versetzte, da§ sie sich, wie es damit stehe, am ersten Ÿberzeugen kšnne, wenn sie die weise Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch tun, denn ich hŠtte schon lŠngst so etwas zu erfahren gewŸnscht, woran mir bisher der Glaube gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb und beteuerte, da§ nichts in der Welt sichrer sei, als die AussprŸche dieses Orakels, nur mŸsse man es nicht aus Scherz und Frevel, sondern nur in wahren Anliegenheiten befragen. Ich nštigte sie jedoch zuletzt, mit mir in jenes Zimmer zu gehen, sobald sie sich versichert hatte, da§ die Funktion vorbei sei. Wir fanden die Schwester sehr aufgerŠumt, und auch gegen mich war sie zutulicher als sonst, scherzhaft und beinahe geistreich: denn da sie eines abwesenden Freundes sicher geworden zu sein schien, so mochte sie es fŸr unverfŠnglich halten, mit einem gegenwŠrtigen Freund ihrer Schwester, denn dafŸr hielt sie mich, ein wenig artig zu tun.

Der Alten wurde nun geschmeichelt und ihr gute Bezahlung zugesagt, wenn sie der Šlteren Schwester und auch mir das Wahrhafte sagen wollte. Mit den gewšhnlichen Vorbereitungen und Zeremonien legte sie nun ihren Kram aus, und zwar, um der Schšnen zuerst zu weissagen. Sie betrachtete die Lage der Karten sorgfŠltig, schien aber zu stocken und wollte mit der Sprache nicht heraus. - "Ich sehe schon," sagte die jŸngere, die mit der Auslegung einer solchen magischen Tafel schon nŠher bekannt war, "Ihr zaudert und wollt meiner Schwester nichts Unangenehmes eršffnen; aber das ist eine verwŸnschte Karte!" Die Šltere wurde bla§, doch fa§te sie sich und sagte: "so sprecht nur; es wird ja den Kopf


nicht kosten!" Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun an, da§ sie liebe, da§ sie nicht geliebt werde, da§ eine andere Person dazwischen stehe, und was dergleichen Dinge mehr waren. Man sah dem guten MŠdchen die Verlegenheit an. Die Alte glaubte die Sache wieder etwas zu verbessern, indem sie auf Briefe und Geld Hoffnung machte. - "Briefe," sagte das schšne Kind, "erwarte ich nicht, und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr ist, wie Ihr sagt, da§ ich liebe, so verdiene ich ein Herz, das mich wieder liebt." - "Wir wollen sehen, ob es nicht besser wird," versetzte die Alte, indem sie die Karten mischte und zum zweitenmal auflegte; allein es war vor unser aller Augen nur noch schlimmer geworden. Die Schšne stand nicht allein einsamer, sondern auch mit mancherlei Verdru§ umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwischenfiguren nŠher gerŸckt. Die Alte wollte zum drittenmal auslegen, in Hoffnung einer bessern Ansicht; allein das schšne Kind hielt sich nicht lŠnger, sie brach in unbŠndiges Weinen aus, ihr holder Busen bewegte sich auf eine gewaltsame Weise, sie wandte sich um und rannte zum Zimmer hinaus. Ich wu§te nicht, was ich tun sollte. Die Neigung hielt mich bei der GegenwŠrtigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. - "Tršsten Sie Lucinden," sagte die jŸngere, "gehen Sie ihr nach." Ich zauderte; wie durfte ich sie tršsten, ohne sie wenigstens einer Art von Neigung zu versichern, und konnte ich das wohl in einem solchen Augenblick auf eine kalte mŠ§ige Weise! - "Lassen Sie uns zusammen gehn," sagte ich zu Emilien. - "Ich wei§ nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl tun wird," versetzte diese. Doch gingen wir, fanden aber die TŸr verriegelt. Lucinde antwortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir wollten. - "Wir mŸssen sie gewŠhren lassen," sagte Emilie, "sie will nun nicht anders!" Und wenn ich mir freilich ihr Wesen von unserer ersten Bekanntschaft an erinnerte, so hatte sie immer etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte sie am meisten dadurch, da§ sie ihre Unart nicht an mir


bewies. Was wollte ich tun! Ich bezahlte die Alte reichlich fŸr das Unheil, das sie gestiftet hatte, und wollte gehen, als Emilie sagte: "Ich bedinge mir, da§ die Karte nun auch auf Sie geschlagen werde." Die Alte war bereit. - "Lassen Sie mich nicht dabei sein!" rief ich, und eilte die Treppe hinunter.

Den andern Tag hatte ich nicht Mut hinzugehen. Den dritten lie§ mir Emilie durch einen Knaben, der mir schon manche Botschaft von den Schwestern gebracht und Blumen und FrŸchte dagegen an sie getragen hatte, in aller FrŸhe sagen, ich mšchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewšhnlichen Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten, an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches ausbesserte und Ÿbrigens mit mir zufrieden schien. Die jŸngste kam gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine sehr grazišse Menuett, in der sie sich au§erordentlich angenehm bewegte, und der Vater versicherte, nicht leicht ein hŸbscheres und gewandteres Paar auf seinem Plane gesehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewšhnlich ins Wohnzimmer; der Vater lie§ uns allein, ich vermi§te Lucinden. - "sie liegt im Bette," sagte Emilie, "und ich sehe es gern: haben Sie deshalb keine Sorge. Ihre Seelenkrankheit lindert sich am ersten, wenn sie sich kšrperlich fŸr krank hŠlt; sterben mag sie nicht gern, und so tut sie alsdann, was wir wollen. Wir haben gewisse Hausmittel, die sie zu sich nimmt und ausruht; und so legen sich nach und nach die tobenden Wellen. Sie ist gar zu gut und liebenswŸrdig bei so einer eingebildeten Krankheit, und da sie sich im Grunde recht wohl befindet und nur von Leidenschaft angegriffen ist, so sinnt sie sich allerhand romananhafte Todesarten aus, vor denen sie sich auf eine angenehme Weise fŸrchtet, wie Kinder, denen man von Gespenstern erzŠhlt. So hat sie mir gestern abend noch mit gro§er Heftigkeit erklŠrt, da§ sie diesmal gewi§ sterben wŸrde, und man sollte den undankbaren falschen Freund, der ihr erst so schšn getan und sie nun so Ÿbel behandle, nur dann wieder zu ihr fŸhren, wenn sie wirklich ganz nahe


am Tode sei: sie wolle ihm recht bittre VorwŸrfe machen und auch sogleich den Geist aufgeben." - "Ich wei§ mich nicht schuldig!" rief ich aus, "da§ ich irgend eine Neigung zu ihr geŠu§ert. Ich kenne jemand, der mir dieses Zeugnis am besten erteilen kann." Emilie lŠchelte und versetzte: "Ich verstehe Sie, und wenn wir nicht klug und entschlossen sind, so kommen wir alle zusammen in eine Ÿble Lage. Was werden Sie sagen, wenn ich Sie ersuche, Ihre Stunden nicht weiter fortzusetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch vier Billette, und mein Vater Šu§erte schon, da§ er es unverantwortlich finde, Ihnen noch lŠnger Geld abzunehmen: es mŸ§te denn sein, da§ Sie sich der Tanzkunst auf eine ernstlichere Weise widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, besŠ§en Sie nun." - "Und diesen Rat, Ihr Haus zu meiden, geben Sie mir, Emilie?" versetzte ich. - "Eben ich," sagte sie, "aber nicht aus mir selbst. Hšren Sie nur. Als Sie vorgestern wegeilten, lie§ ich die Karte auf Sie schlagen, und derselbe Ausspruch wiederholte sich dreimal und immer stŠrker. Sie waren umgeben von allerlei Gutem und VergnŸglichem, von Freunden und gro§en Herren, an Geld fehlte es auch nicht. Die Frauen hielten sich in einiger Entfernung. Meine arme Schwester besonders stand immer am weitesten; eine andere rŸckte Ihnen immer nŠher, kam aber nie an Ihre Seite: denn es stellte sich ein Dritter dazwischen. Ich will Ihnen nur gestehen, da§ ich mich unter der zweiten Dame gedacht hatte, und nach diesem Bekenntnisse werden Sie meinen wohlmeinenden Rat am besten begreifen. Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugesagt, und bis jetzt liebt' ich ihn Ÿber alles; doch es wŠre mšglich, da§ Ihre Gegenwart mir bedeutender wŸrde als bisher, und was wŸrden Sie fŸr einen Stand zwischen zwei Schwestern haben, davon Sie die eine durch Neigung und die andere durch KŠlte unglŸcklich gemacht hŠtten, und alle diese Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht schon wŸ§ten, wer Sie sind und was Sie zu hoffen haben, so hŠtte mir es die Karte aufs deutlichste vor Augen


gestellt. Leben Sie wohl," sagte sie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. - "Nun," sagte sie, indem sie mich gegen die TŸre fŸhrte, "damit es wirklich das letztemal sei, da§ wir uns sprechen, so nehmen Sie, was ich Ihnen sonst versagen wŸrde." Sie fiel mir um den Hals und kŸ§te mich aufs zŠrtlichste. Ich umfa§te sie und drŸckte sie an mich.

In diesem Augenblicke flog die SeitentŸr auf, und die Schwester sprang in einem leichten aber anstŠndigen Nachtkleide hervor und rief: "Du sollst nicht allein von ihm Abschied nehmen!" Emilie lie§ mich fahren, und Lucinde ergriff mich, schlo§ sich fest an mein Herz, drŸckte ihre schwarzen Locken an meine Wangen und blieb eine Zeitlang in dieser Lage. Und so fand ich mich denn in der Klemme zwischen beiden Schwestern, wie mir's Emilie einen Augenblick vorher geweissagt hatte. Lucinde lie§ mich los und sah mir ernst ins Gesicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wandte sich weg, ging mit starken Schritten einigemal im Zimmer auf und ab und warf sich dann in die Ecke des Sofas. Emilie trat zu ihr, ward aber sogleich weggewiesen, und hier entstand eine Szene, die mir noch in der Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatralisches hatte, sondern einer lebhaften jungen Franzšsin ganz angemessen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauspielerin auf dem Theater wŸrdig wiederholt werden kšnnte.

Lucinde ŸberhŠufte ihre Schwester mit tausend VorwŸrfen. "Es ist nicht das erste Herz," rief sie aus, "das sich zu mir neigt, und das du mir entwendest. War es doch mit dem Abwesenden ebenso, der sich zuletzt unter meinen Augen mit dir verlobte. Ich mu§te es ansehen, ich ertrug's; ich wei§ aber, wie viele tausend TrŠnen es mich gekostet hat. Diesen hast du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu lassen, und wie viele verstehst du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmŸtig, und jedermann glaubt, mich bald zu kennen und mich vernachlŠssigen zu dŸrfen; du bist versteckt und still, und die Leute glauben wunder was hinter dir verborgen sei. Aber


es ist nichts dahinter als ein kaltes, selbstisches Herz, das sich alles aufzuopfern wei§; das aber kennt niemand so leicht, weil es tief in deiner Brust verborgen liegt, so wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Gesicht."

Emilie schwieg und hatte sich neben ihre Schwester gesetzt, die sich im Reden immer mehr erhitzte, und sich Ÿber gewisse besondere Dinge herauslie§, die mir zu wissen eigentlich nicht frommte. Emilie dagegen, die ihre Schwester zu begŸtigen suchte, gab mir hinterwŠrts ein Zeichen, da§ ich mich entfernen sollte; aber wie Eifersucht und Argwohn mit tausend Augen sehen, so schien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie sprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie: "Ich wei§, da§ ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern AnsprŸche auf Sie. Aber du sollst ihn auch nicht haben, Schwester!" Sie fa§te mich mit diesen Worten ganz eigentlich beim Kopf, indem sie mir mit beiden HŠnden in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihre drŸckte und mich zu wiederholten Malen auf den Mund kŸ§te. "Nun," rief sie aus, "fŸrchte meine VerwŸnschung. UnglŸck Ÿber UnglŸck fŸr immer und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen kŸ§t! Wage es nun wieder mit ihm anzubinden; ich wei§, der Himmel erhšrt mich diesmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie, was Sie kšnnen!"

Ich flog die Treppe hinunter mit dem festen Vorsatze, das Haus nie wieder zu betreten.


 

Zehntes Buch

 

Die deutschen Dichter, da sie nicht mehr als Gildeglieder fŸr einen Mann standen, genossen in der bŸrgerlichen Welt nicht der mindesten Vorteile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Ansehn, als insofern sonst ein VerhŠltnis ihnen gŸnstig war, und es kam daher blo§ auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren sein sollte. Ein armer Erdensohn, im GefŸhl von Geist und FŠhigkeiten, mu§te sich kŸmmerlich ins Leben hineinschleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Musen erhalten hatte, von dem augenblicklichen BedŸrfnis gedrŠngt, vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die erste und echteste aller Dichtarten, ward verŠchtlich auf einen Grad, da§ die Nation noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen Wertes desselben gelangen kann, und ein Poet, wenn er nicht gar den Weg GŸnthers einschlug, erschien in der Welt auf die traurigste Weise subordiniert, als Spa§macher und Schmarutzer, so da§ er sowohl auf dem Theater als auf der LebensbŸhne eine Figur vorstellte, der man nach Belieben mitspielen konnte.

Gesellte sich hingegen die Muse zu MŠnnern von Ansehen, so erhielten diese dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurŸckfiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hagedorn, stattliche BŸrger, wie Brockes, entschiedene Gelehrte, wie Haller, erschienen unter den Ersten der Nation, den Vornehmsten und GeschŸtztesten gleich. Besonders wurden auch solche Personen verehrt, die, neben jenem angenehmen Talente, sich noch als emsige, treue GeschŠftsmŠnner auszeichneten. Deshalb erfreuten sich Uz, Rabener, Wei§e einer Achtung ganz eigner Art, weil man die heterogensten, selten mit einander verbundenen Eigenschaften hier vereint zu schŠtzen hatte.

Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich


selbst gewahr wŸrde, sich seine eignen VerhŠltnisse selbst schŸfe und den Grund zu einer unabhŠngigen WŸrde zu legen verstŸnde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begrŸnden. Er war, von der sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner JŸngling. Ernst und grŸndlich erzogen, legt er, von Jugend an, einen gro§en Wert auf sich selbst und auf alles, was er tut, und indem er die Schritte seines Lebens bedŠchtig vorausmi§t, wendet er sich, im VorgefŸhl der ganzen Kraft seines Innern, gegen den hšchsten denkbaren Gegenstand. Der Messias, ein Name, der unendliche Eigenschaften bezeichnet, sollte durch ihn aufs neue verherrlicht werden. Der Erlšser sollte der Held sein, den er, durch irdische Gemeinheit und Leiden, zu den hšchsten himmlischen Triumphen zu begleiten gedachte. Alles, was Gšttliches, Englisches, Menschliches in der jungen Seele lag, ward hier in Anspruch genommen. Er, an der Bibel erzogen und durch ihre Kraft genŠhrt, lebt nun mit ErzvŠtern, Propheten und VorlŠufern als GegenwŠrtigen; doch alle sind seit Jahrhunderten nur dazu berufen, einen lichten Kreis um den einen zu ziehn, dessen Erniedrigung sie mit Staunen beschauen, und an dessen Verherrlichung sie glorreich teilnehmen sollen. Denn endlich, nach trŸben und schrecklichen Stunden, wird der ewige Richter sein Antlitz entwšlken, seinen Sohn und Mitgott wieder anerkennen, und dieser wird ihm dagegen die abgewendeten Menschen, ja sogar einen abgefallenen Geist wieder zufŸhren. Die lebendigen Himmel jauchzen in tausend Engelstimmen um den Thron, und ein Liebesglanz Ÿbergie§t das Weltall, das seinen Blick kurz vorher auf eine greuliche OpferstŠtte gesammelt hielt. Der himmlische Friede, welchen Klopstock bei Konzeption und AusfŸhrung dieses Gedichtes empfunden, teilt sich noch jetzt einem jeden mit, der die ersten zehn GesŠnge liest, ohne die Forderungen bei sich laut werden zu lassen, auf die eine fortrŸckende Bildung nicht gerne Verzicht tut.

Die WŸrde des Gegenstands erhšhte dem Dichter das GefŸhl eigner Persšnlichkeit. Da§ er selbst dereinst zu diesen


Chšren eintreten, da§ der Gottmensch ihn auszeichnen, ihm von Angesicht zu Angesicht den Dank fŸr seine BemŸhungen abtragen wŸrde, den ihm schon hier jedes gefŸhlvolle, fromme Herz, durch manche reine ZŠhre, lieblich genug entrichtet hatte: dies waren so unschuldige kindliche Gesinnungen und Hoffnungen, als sie nur ein wohlgeschaffenes GemŸt haben und hegen kann. So erwarb nun Klopstock das všllige Recht, sich als eine geheiligte Person anzusehn, und so befli§ er sich auch in seinem Tun der aufmerksamsten Reinigkeit. Noch in spŠtem Alter beunruhigte es ihn ungemein, da§ er seine erste Liebe einem Frauenzimmer zugewendet hatte, die ihn, da sie einen andern heiratete, in Ungewi§heit lie§, ob sie ihn wirklich geliebt habe, ob sie seiner wert gewesen sei. Die Gesinnungen, die ihn mit Meta verbanden, diese innige ruhige Neigung, der kurze heilige Ehestand, des Ÿberbliebenen Gatten Abneigung vor einer zweiten Verbindung, alles ist von der Art, um sich desselben einst im Kreise der Seligen wohl wieder erinnern zu dŸrfen.

Dieses ehrenhafte Verfahren gegen sich selbst ward noch dadurch erhšht, da§ er in dem wohlgesinnten DŠnemark in dem Hause eines gro§en und, auch menschlich betrachtet, fŸrtrefflichen Staatsmanns eine Zeitlang wohl aufgenommen war. Hier, in einem hšheren Kreise, der zwar in sich abgeschlossen, aber auch zugleich der Šu§eren Sitte, der Aufmerksamkeit gegen die Welt gewidmet war, entschied sich seine Richtung noch mehr. Ein gefa§tes Betragen, eine abgemessene Rede, ein Lakonismus, selbst wenn er offen und entscheidend sprach, gaben ihm durch sein ganzes Leben ein gewisses diplomatisches, ministerielles Ansehn, das mit jenen zarten Naturgesinnungen im Widerstreit zu liegen schien, obgleich beide aus einer Quelle entsprangen. Von allem diesen geben seine ersten Werke ein reines Ab- und Vorbild, und sie mu§ten daher einen unglaublichen Einflu§ gewinnen. Da§ er jedoch persšnlich andere Strebende im Leben und Dichten gefšrdert, ist kaum als eine seiner entschiedenen Eigenschaften zur Sprache gekommen.


Aber eben ein solches Fšrdernis junger Leute im literarischen Tun und Treiben, eine Lust, hoffnungsvolle, vom GlŸck nicht begŸnstigte Menschen vorwŠrts zu bringen und ihnen den Weg zu erleichtern, hat einen deutschen Mann verherrlicht, der, in Absicht auf WŸrde, die er sich selbst gab, wohl als der Zweite, in Absicht aber auf lebendige Wirkung als der Erste genannt werden darf. Niemanden wird entgehen, da§ hier Gleim gemeint sei. Im Besitz einer zwar dunkeln, aber eintrŠglichen Stelle, wohnhaft an einem wohlgelegenen, nicht allzu gro§en, durch militŠrische, bŸrgerliche, literarische Betriebsamkeit belebten Orte, von wo die EinkŸnfte einer gro§en und reichen Stiftung ausgingen, nicht ohne da§ ein Teil derselben zum Vorteil des Platzes zurŸckblieb, fŸhlte er einen lebhaften produktiven Trieb in sich, der jedoch bei aller StŠrke ihm nicht ganz genŸgte, deswegen er sich einem andern, vielleicht mŠchtigern Triebe hingab, dem nŠmlich, andere etwas hervorbringen zu machen. Beide TŠtigkeiten flochten sich wŠhrend seines ganzen langen Lebens unablŠssig durch einander. Er hŠtte ebensowohl des Atemholens entbehrt als des Dichtens und Schenkens, und indem er bedŸrftigen Talenten aller Art Ÿber frŸhere oder spŠtere Verlegenheiten hinaus und dadurch wirklich der Literatur zu Ehren half, gewann er sich so viele Freunde, Schuldner und AbhŠngige, da§ man ihm seine breite Poesie gerne gelten lie§, weil man ihm fŸr die reichlichen Wohltaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner Gedichte.

Jener hohe Begriff nun, den sich beide MŠnner von ihrem Wert bilden durften, und wodurch andere veranla§t wurden, sich auch fŸr etwas zu halten, hat im ffentlichen und Geheimen sehr gro§e und schšne Wirkungen hervorgebracht. Allein dieses Bewu§tsein, so ehrwŸrdig es ist, fŸhrte fŸr sie selbst, fŸr ihre Umgebungen, ihre Zeit ein eignes †bel herbei. Darf man beide MŠnner, nach ihren geistigen Wirkungen, unbedenklich gro§ nennen, so blieben sie gegen die Welt doch nur klein, und gegen ein bewegteres Leben betrachtet, waren ihre Šu§eren VerhŠltnisse nichtig. Der Tag


ist lang und die Nacht dazu; man kann nicht immer dichten, tun oder geben; ihre Zeit konnte nicht ausgefŸllt werden, wie die der Weltleute, Vornehmen und Reichen; sie legten daher auf ihre besondern engen ZustŠnde einen zu hohen Wert, in ihr tŠgliches Tun und Treiben eine Wichtigkeit, die sie sich nur unter einander zugestehn mochten; sie freuten sich mehr als billig ihrer Scherze, wenn sie den Augenblick anmutig machten, doch in der Folge keineswegs fŸr bedeutend gelten konnten. Sie empfingen von andern Lob und Ehre, wie sie verdienten, sie gaben solche zurŸck, wohl mit Ma§, aber doch immer zu reichlich, und eben weil sie fŸhlten, da§ ihre Neigung viel wert sei, so gefielen sie sich, dieselbe wiederholt auszudrŸcken, und schonten hierbei weder Papier noch Tinte. So entstanden jene Briefwechsel, Ÿber deren Gehaltsmangel die neuere Welt sich verwundert, der man nicht verargen kann, wenn sie kaum die Mšglichkeit einsieht, wie vorzŸgliche Menschen sich an einer solchen Wechselnichtigkeit ergetzen konnten, wenn sie den Wunsch laut werden lŠ§t, dergleichen BlŠtter mšchten ungedruckt geblieben sein. Allein man lasse jene wenigen BŠnde doch immer neben viel andern auf dem BŸcherbrette stehen, wenn man sich daran belehrt hat, da§ der vorzŸglichste Mensch auch nur vom Tage lebt und nur kŸmmerlichen Unterhalt genie§t, wenn er sich zu sehr auf sich selbst zurŸckwirft und in die FŸlle der Šu§eren Welt zu greifen versŠumt, wo er allein Nahrung fŸr sein Wachstum und zugleich einen Ma§stab desselben finden kann.

Die TŠtigkeit jener MŠnner stand in ihrer schšnsten BlŸte, als wir jungen Leute uns auch in unserem Kreise zu regen anfingen, und ich war so ziemlich auf dem Wege, mit jŸngeren Freunden, wo nicht auch mit Šlteren Personen, in so ein solches wechselseitiges Schšnetun, Geltenlassen, Heben und Tragen zu geraten. In meiner SphŠre konnte das, was ich hervorbrachte, immer fŸr gut gehalten werden. Frauenzimmer, Freunde, Gšnner werden nicht schlecht finden, was man ihnen zu Liebe unternimmt und dichtet; aus solchen Ver-


bindlichkeiten entspringt zuletzt der Ausdruck eines leeren Behagens an einander, in dessen Phrasen sich ein Charakter leicht verliert, wenn er nicht von Zeit zu Zeit zu hšherer TŸchtigkeit gestŠhlt wird.

Und so hatte ich von GlŸck zu sagen, da§, durch eine unerwartete Bekanntschaft, alles, was in mir von SelbstgefŠlligkeit, Bespiegelungslust, Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen oder wirken mochte, einer sehr harten PrŸfung ausgesetzt ward, die in ihrer Art einzig, der Zeit keineswegs gemŠ§, und nur desto eindringender und empfindlicher war.

Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen fŸr mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knŸpfende nŠhere Verbindung mit Herder. Er hatte den Prinzen von Holstein-Eutin, der sich in traurigen GemŸtszustŠnden befand, auf Reisen begleitet und war mit ihm bis Stra§burg gekommen. Unsere SozietŠt, sobald sie seine Gegenwart vernahm, trug ein gro§es Verlangen sich ihm zu nŠhern, und mir begegnete dies GlŸck zuerst ganz unvermutet und zufŠllig. Ich war nŠmlich in den Gasthof "Zum Geist" gegangen, ich wei§ nicht welchen bedeutenden Fremden aufzusuchen. Gleich unten an der Treppe fand ich einen Mann, der eben auch hinaufzusteigen im Begriff war, und den ich fŸr einen Geistlichen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer, schwarzer, seidner Mantel, dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses einigerma§en auffallende, aber doch im ganzen galante und gefŠllige Wesen, wovon ich schon hatte sprechen hšren, lie§ mich keineswegs zweifeln, da§ er der berŸhmte Ankšmmling sei, und meine Anrede mu§te ihn sogleich Ÿberzeugen, da§ ich ihn kenne. Er fragte nach meinem Namen, der ihm von keiner Bedeutung sein konnte; allein meine Offenheit schien ihm zu gefallen indem er sie mit gro§er Freundlichkeit erwiderte, und, als wir die Treppe hinaufstiegen, sich sogleich zu einer lebhaften Mitteilung bereit finden lie§. Es ist mir entfallen, wen


wir damals besuchten; genug, beim Scheiden bat ich mir die Erlaubnis aus, ihn bei sich zu sehen, die er mir denn auch freundlich genug erteilte. Ich versŠumte nicht, mich dieser VergŸnstigung wiederholt zu bedienen, und ward immer mehr von ihm angezogen. Er hatte etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anstŠndig war, ohne da§ es eigentlich adrett gewesen wŠre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber hšchst individuell angenehmen, liebenswŸrdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein Paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine rot und entzŸndet zu sein pflegte. Durch mannigfaltige Fragen suchte er sich mit mir und meinem Zustande bekannt zu machen, und seine Anziehungskraft wirkte immer stŠrker auf mich. Ich war Ÿberhaupt sehr zutraulicher Natur, und vor ihm besonders hatte ich gar kein Geheimnis. Es wŠhrte jedoch nicht lange, als der absto§ende Puls seines Wesens eintrat und mich in nicht geringes Mi§behagen versetzte. Ich erzŠhlte ihm mancherlei von meinen JugendbeschŠftigungen und Liebhabereien, unter andern von einer Siegelsammlung, die ich hauptsŠchlich durch des korrespondenzreichen Hausfreundes Teilnahme zusammengebracht. Ich hatte sie nach dem Staatskalender eingerichtet, und war bei dieser Gelegenheit mit sŠmtlichen Potentaten, grš§ern und geringern MŠchten und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl bekannt geworden, und meinem GedŠchtnis waren diese heraldischen Zeichen gar oft, und vorzŸglich bei der Kršnungsfeierlichkeit, zustatten gekommen. Ich sprach von diesen Dingen mit einiger Behaglichkeit; allein er war anderer Meinung, verwarf nicht allein dieses ganze Interesse, sondern wu§te es mir auch lŠcherlich zu machen, ja beinahe zu verleiden.

Von diesem seinem Widersprechungsgeiste sollte ich noch gar manches ausstehen: denn er entschlo§ sich, teils weil er sich vom Prinzen abzusondern gedachte, teils eines AugenŸbels wegen, in Stra§burg zu verweilen. Dieses †bel ist eins


der beschwerlichsten und unangenehmsten, und um desto lŠstiger, als es nur durch eine schmerzliche, hšchst verdrie§liche und unsichere Operation geheilt werden kann. Das TrŠnensŠckchen nŠmlich ist nach unten zu verschlossen, so da§ die darin enthaltene Feuchtigkeit nicht nach der Nase hin und um so weniger abflie§en kann, als auch dem benachbarten Knochen die …ffnung fehlt, wodurch diese Sekretion naturgemŠ§ erfolgen sollte. Der Boden des SŠckchens mu§ daher aufgeschnitten und der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den TrŠnenpunkt, ferner durch das eršffnete SŠckchen und durch den damit in Verbindung gesetzten neuen Kanal gezogen und tŠglich hin und wider bewegt wird, um die Kommunikation zwischen beiden Teilen herzustellen, welches alles nicht getan noch erreicht werden kann, wenn nicht erst in jener Gegend Šu§erlich ein Einschnitt gemacht worden.

Herder war nun, vom Prinzen getrennt, in ein eignes Quartier gezogen, der Entschlu§ war gefa§t, sich durch Lobstein operieren zu lassen. Hier kamen mir jene †bungen gut zustatten, durch die ich meine Empfindlichkeit abzustumpfen versucht hatte; ich konnte der Operation beiwohnen und einem so werten Manne auf mancherlei Weise dienstlich und behŸlflich sein. Hier fand ich nun alle Ursache, seine gro§e Standhaftigkeit und Geduld zu bewundern: denn weder bei den vielfachen chirurgischen Verwundungen, noch bei dem oftmals wiederholten schmerzlichen Verbande bewies er sich im mindesten verdrie§lich, und er schien derjenige von uns zu sein, der am wenigsten litt; aber in der Zwischenzeit hatten wir freilich den Wechsel seiner Laune vielfach zu ertragen. Ich sage wir: denn es war au§er mir ein behaglicher Russe, namens Pegelow, meistens um ihn. Dieser war ein frŸherer Bekannter von Herder in Riga gewesen, und suchte sich, obgleich kein JŸngling mehr, noch in der Chirurgie unter Lobsteins Anleitung zu vervollkommnen. Herder konnte allerliebst einnehmend und geistreich sein, aber ebenso leicht eine verdrie§liche Seite hervorkehren. Dieses Anziehen und Ab-


sto§en haben zwar alle Menschen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langsamern, andere in schnelleren Pulsen; wenige kšnnen ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, so schrieb sich das †bergewicht seines widersprechenden, bittern, bissigen Humors gewi§ von seinem †bel und den daraus entspringenden Leiden her. Dieser Fall kommt im Leben šfters vor, und man beachtet nicht genug die moralische Wirkung krankhafter ZustŠnde, und beurteilt daher manche Charaktere sehr ungerecht, weil man alle Menschen fŸr gesund nimmt und von ihnen verlangt, da§ sie sich auch in solcher Ma§e betragen sollen.

Die ganze Zeit dieser Kur besuchte ich Herdern morgens und abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bei ihm und gewšhnte mich in kurzem um so mehr an sein Schelten und Tadeln, als ich seine schšnen und gro§en Eigenschaften, seine ausgebreiteten Kenntnisse, seine tiefen Einsichten tŠglich mehr schŠtzen lernte. Die Einwirkung dieses gutmŸtigen Polterers war gro§ und bedeutend. Er hatte fŸnf Jahre mehr als ich, welches in jŸngeren Tagen schon einen gro§en Unterschied macht; und da ich ihn fŸr das anerkannte, was er war, da ich dasjenige zu schŠtzen suchte, was er schon geleistet hatte, so mu§te er eine gro§e SuperioritŠt Ÿber mich gewinnen. Aber behaglich war der Zustand nicht: denn Šltere Personen, mit denen ich bisher umgegangen, hatten mich mit Schonung zu bilden gesucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte sich anstellen wie man wollte. Indem nun also auf der einen Seite meine gro§e Neigung und Verehrung fŸr ihn, und auf der andern das Mi§behagen, das er in mir erweckte, bestŠndig mit einander im Streit lagen; so entstand ein Zwiespalt in mir, der erste in seiner Art, den ich in meinem Leben empfunden hatte. Da seine GesprŠche jederzeit bedeutend waren, er mochte fragen, antworten oder sich sonst auf eine Weise mitteilen; so mu§te er mich zu neuen Ansichten tŠglich, ja stŸndlich be-


fšrdern. In Leipzig hatte ich mir eher ein enges und abgezirkeltes Wesen angewšhnt, und meine allgemeinen Kenntnisse der deutschen Literatur konnten durch meinen Frankfurter Zustand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene mystisch-religišsen chemischen BeschŠftigungen in dunkle Regionen gefŸhrt, und was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. Er selbst hatte sich schon genugsam berŸhmt gemacht, und durch seine "Fragmente", die "Kritischen WŠlder" und anderes unmittelbar an die Seite der vorzŸglichsten MŠnner gesetzt, welche seit lŠngerer Zeit die Augen des Vaterlands auf sich zogen. Was in einem solchen Geiste fŸr eine Bewegung, was in einer solchen Natur fŸr eine GŠrung mŸsse gewesen sein, lŠ§t sich weder fassen noch darstellen. Gro§ aber war gewi§ das eingehŸllte Streben, wie man leicht eingestehn wird, wenn man bedenkt, wie viele Jahre nachher, und was er alles gewirkt und geleistet hat.

Wir hatten nicht lange auf diese Weise zusammengelebt, als er mir vertraute, da§ er sich um den Preis, welcher auf die beste Schrift Ÿber den Ursprung der Sprachen von Berlin ausgesetzt war, mit zu bewerben gedenke. Seine Arbeit war schon ihrer Vollendung nahe, und wie er eine sehr reinliche Hand schrieb, so konnte er mir bald ein lesbares Manuskript heftweise mitteilen. Ich hatte Ÿber solche GegenstŠnde niemals nachgedacht, ich war noch zu sehr in der Mitte der Dinge befangen, als da§ ich hŠtte an Anfang und Ende denken sollen. Auch schien mir die Frage einigerma§en mŸ§ig: denn wenn Gott den Menschen als Menschen erschaffen hatte, so war ihm ja so gut die Sprache als der aufrechte Gang anerschaffen; so gut er gleich merken mu§te, da§ er gehen und greifen kšnne, so gut mu§te er auch gewahr werden, da§ er mit der Kehle zu singen, und diese Tšne durch Zunge, Gaumen und Lippen noch auf verschiedene Weise zu modifizieren vermšge. War der Mensch gštt-


lichen Ursprungs, so war es ja auch die Sprache selbst, und war der Mensch, in dem Umkreis der Natur betrachtet, ein natŸrliches Wesen, so war die Sprache gleichfalls natŸrlich Diese beiden Dinge konnte ich wie Seel' und Leib niemals auseinander bringen. SŸ§milch, bei einem kruden Realismus doch etwas phantastisch gesinnt, hatte sich fŸr den gšttlichen Ursprung entschieden, das hei§t, da§ Gott den Schulmeister bei den ersten Menschen gespielt habe. Herders Abhandlung ging darauf hinaus, zu zeigen, wie der Mensch als Mensch wohl aus eignen KrŠften zu einer Sprache gelangen kšnne und mŸsse. Ich las die Abhandlung mit gro§em VergnŸgen und zu meiner besondern KrŠftigung; allein ich stand nicht hoch genug, weder im Wissen noch im Denken, um ein Urteil darŸber zu begrŸnden. Ich bezeigte dem Verfasser daher meinen Beifall, indem ich nur wenige Bemerkungen, die aus meiner Sinnesweise herflossen, hinzufŸgte. Eins aber wurde wie das andre aufgenommen; man wurde gescholten und getadelt, man mochte nun bedingt oder unbedingt zustimmen. Der dicke Chirurgus hatte weniger Geduld als ich; er lehnte die Mitteilung dieser Preisschrift humoristisch ab, und versicherte, da§ er gar nicht eingerichtet sei, Ÿber so abstrakte Materien zu denken. Er drang vielmehr aufs l'Hombre, welches wir gewšhnlich abends zusammen spielten.

Bei einer so verdrie§lichen und schmerzhaften Kur verlor unser Herder nicht an seiner Lebhaftigkeit; sie ward aber immer weniger wohltŠtig. Er konnte nicht ein Billett schreiben, um etwas zu verlangen, das nicht mit irgend einer Verhšhnung gewŸrzt gewesen wŠre. So schrieb er mir zum Beispiel einmal:

Wenn des Brutus Briefe dir sind in Ciceros Briefen,

Dir, den die Tršster der Schulen von wohlgehobelten Brettern,

PrachtgerŸstete, tršsten, doch mehr von au§en als innen,

Der von Gšttern du stammst, von Goten oder vom Kote,

                                                        Goethe, sende mir sie.


Es war freilich nicht fein, da§ er sich mit meinem Namen diesen Spa§ erlaubte: denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der blo§ um ihn her hŠngt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm Ÿber und Ÿber angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.

Der erste Vorwurf hingegen war gegrŸndeter. Ich hatte nŠmlich die von Langern eingetauschten Autoren, und dazu noch verschiedene schšne Ausgaben aus meines Vaters Sammlung, mit nach Stra§burg genommen und sie auf einem reinlichen BŸcherbrett aufgestellt, mit dem besten Willen, sie zu benutzen. Wie sollte aber die Zeit zureichen, die ich in hunderterlei TŠtigkeiten zersplitterte. Herder, der auf BŸcher hšchst aufmerksam war, weil er deren jeden Augenblick bedurfte, gewahrte beim ersten Besuch meine schšne Sammlung, aber auch bald, da§ ich mich derselben gar nicht bediente; deswegen er, als der grš§te Feind alles Scheins und aller Ostentation, bei Gelegenheit mich damit aufzuziehen pflegte.

Noch ein anderes Spottgedicht fŠllt mir ein, das er mir abends nachsendete, als ich ihm von der Dresdner Galerie viel erzŠhlt hatte. Freilich war ich in den hšhern Sinn der italienischen Schule nicht eingedrungen, aber Dominico Feti, ein trefflicher KŸnstler, wiewohl Humorist und also nicht vom ersten Range, hatte mich sehr angesprochen. Geistliche GegenstŠnde mu§ten gemalt werden. Er hielt sich an die neutestamentlichen Parabeln und stellte sie gern dar, mit viel Eigenheit, Geschmack und guter Laune. Er fŸhrte sie dadurch ganz ans gemeine Leben heran, und die so geistreichen als naiven Einzelheiten seiner Kompositionen, durch einen freien Pinsel empfohlen, hatten sich mir lebendig eingedrŸckt. †ber diesen meinen kindlichen Kunstenthusiasmus spottete Herder folgendergestalt:


Aus Sympathie

Behagt mir besonders ein Meister,

Dominico Feti hei§t er.

Der parodiert die biblische Parabel

So hŸbsch zu einer Narrenfabel,

Aus Sympathie. - Du nŠrrische Parabel!

Dergleichen mehr oder weniger heitre oder abstruse, muntre oder bittre SpŠ§e kšnnte ich noch manche anfŸhren. Sie verdrossen mich nicht, waren mir aber unbequem. Da ich jedoch alles, was zu meiner Bildung beitrug, hšchlich zu schŠtzen wu§te, und ich ja mehrmals frŸhere Meinungen und Neigungen aufgegeben hatte; so fand ich mich gar bald darein und suchte nur, so viel mir auf meinem damaligen Standpunkt mšglich war, gerechten Tadel von ungerechten Invektiven zu unterscheiden. Und so war denn auch kein Tag, der nicht auf das fruchtbarste lehrreich fŸr mich gewesen wŠre.

Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebrŠische Dichtkunst, welche er nach seinem VorgŠnger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren †berlieferungen im Elsa§ aufzusuchen er uns antrieb, die Šltesten Urkunden als Poesie gaben das Zeugnis, da§ die Dichtkunst Ÿberhaupt eine Welt- und Všlkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen gebildeten MŠnner. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten Stunden zusammen zu. Meine Ÿbrigen angefangenen Naturstudien suchte ich fortzusetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden will; so gelang mir mitunter das Doppelte und Dreifache. Was die FŸlle dieser wenigen Wochen betrifft, welche wir zusammen lebten, kann ich wohl sagen, da§ alles, was Herder nachher allmŠhlich ausgefŸhrt hat, im Keim angedeutet ward, und da§ ich dadurch in die glŸckliche Lage geriet, alles, was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet


hatte, zu komplettieren, an ein Hšheres anzuknŸpfen, zu erweitern. WŠre Herder methodischer gewesen, so hŠtte ich auch fŸr eine dauerhafte Richtung meiner Bildung die kšstlichste Anleitung gefunden; aber er war mehr geneigt zu prŸfen und anzuregen, als zu fŸhren und zu leiten. So machte er mich zuerst mit Hamanns Schriften bekannt, auf die er einen sehr gro§en Wert setzte. Anstatt mich aber Ÿber dieselben zu belehren und mir den Hang und Gang dieses au§erordentlichen Geistes begreiflich zu machen; so diente es ihm gewšhnlich nur zur Belustigung, wenn ich mich, um zu dem VerstŠndnis solcher sibyllischen BlŠtter zu gelangen, freilich wunderlich genug gebŠrdete. Indessen fŸhlte ich wohl, da§ mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich Ÿberlie§, ohne zu wissen, woher es komme und wohin es fŸhre. Nachdem die Kur lŠnger als billig gedauert, Lobstein in seiner Behandlung zu schwanken und sich zu wiederholen anfing, so da§ die Sache kein Ende nehmen wollte auch Pegelow mir schon heimlich anvertraut hatte, da§ wohl schwerlich ein guter Ausgang zu hoffen sei; so trŸbte sich das ganze VerhŠltnis: Herder ward ungeduldig und mi§mutig, es wollte ihm nicht gelingen, seine TŠtigkeit wie bisher fortzusetzen, und er mu§te sich um so mehr einschrŠnken, als man die Schuld des mi§ratenen chirurgischen Unternehmens auf Herders allzu gro§e geistige Anstrengung und seinen ununterbrochenen lebhaften, ja lustigen Umgang mit uns zu schieben anfing. Genug, nach so viel Qual und Leiden wollte die kŸnstliche TrŠnenrinne sich nicht bilden und die beabsichtigte Kommunikation nicht zustande kommen. Man sah sich genštigt, damit das †bel nicht arger wŸrde, die Wunde zugehn zu lassen. Wenn man nun bei der Operation Herders Standhaftigkeit unter solchen Schmerzen bewundern mu§te, so hatte seine melancholische, ja grimmige Resignation in den Gedanken, zeitlebens einen solchen Makel tragen zu mŸssen, etwas wahrhaft Erhabenes, wodurch er sich die Verehrung derer, die ihn schauten und liebten, fŸr immer zu eigen machte. Dieses †bel, das ein so bedeutendes Ange-


sicht entstellte, mu§te ihm um so Šrgerlicher sein, als er ein vorzŸgliches Frauenzimmer in Darmstadt kennen gelernt und sich ihre Neigung erworben hatte. HauptsŠchlich in diesem Sinne mochte er sich jener Kur unterwerfen, um bei der RŸckreise freier, fršhlicher, wohlgebildeter vor seine Halbverlobte zu treten, und sich gewisser und unverbrŸchlicher mit ihr zu verbinden. Er eilte jedoch, sobald als mšglich von Stra§burg wegzukommen, und weil sein bisheriger Aufenthalt so kostbar als unangenehm gewesen, erborgte ich eine Summe Geldes fŸr ihn, die er auf einen bestimmten Termin zu erstatten versprach. Die Zeit verstrich, ohne da§ das Geld ankam. Mein GlŠubiger mahnte mich zwar nicht, aber ich war doch mehrere Wochen in Verlegenheit. Endlich kam Brief und Geld, und auch hier verleugnete er sich nicht: denn anstatt eines Dankes, einer Entschuldigung enthielt sein Schreiben lauter spšttliche Dinge in Knittelversen, die einen andern irre, oder gar abwendig gemacht hŠtten; mich aber rŸhrte das nicht weiter, da ich von seinem Wert einen so gro§en und mŠchtigen Begriff gefa§t hatte, der alles WiderwŠrtige verschlang, was ihm hŠtte schaden kšnnen.

Man soll jedoch von eignen und fremden Fehlern niemals, am wenigsten šffentlich reden, wenn man nicht dadurch etwas NŸtzliches zu bewirken denkt; deshalb will ich hier gewisse zudringende Bemerkungen einschalten.

Dank und Undank gehšren zu denen in der moralischen Welt jeden Augenblick hervortretenden Ereignissen, worŸber die Menschen sich unter einander niemals beruhigen kšnnen. Ich pflege einen Unterschied zu machen zwischen Nichtdankbarkeit, Undank und Widerwillen gegen den Dank. Jene erste ist dem Menschen angeboren, ja anerschaffen: denn sie entspringt aus einer glŸcklichen, leichtsinnigen Vergessenheit des WiderwŠrtigen wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fortsetzung des Lebens mšglich wird. Der Mensch bedarf so unendlich vieler Šu§eren Vor- und Mitwirkungen zu einem leidlichen Dasein, da§, wenn er der Sonne und der Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und


Eltern, Freunden und Gesellen immer den gebŸhrenden Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch GefŸhl Ÿbrig bliebe, um neue Wohltaten zu empfangen und zu genie§en. LŠ§t nun freilich der natŸrliche Mensch jenen Leichtsinn in und Ÿber sich walten, so nimmt eine kalte GleichgŸltigkeit immer mehr Ÿberhand, und man sieht den WohltŠter zuletzt als einen Fremden an, zu dessen Schaden man allenfalls, wenn es uns nŸtzlich wŠre, auch etwas unternehmen dŸrfte. Dies allein kann eigentlich Undank genannt werden, der aus der Roheit entspringt, worin die ungebildete Natur sich am Ende notwendig verlieren mu§. Widerwille gegen das Danken jedoch, Erwiderung einer Wohltat durch unmutiges und verdrie§liches Wesen ist sehr selten und kommt nur bei vorzŸglichen Menschen vor: solchen, die mit gro§en Anlagen und dem VorgefŸhl derselben, in einem niederen Stande oder in einer hŸlflosen Lage geboren, sich von Jugend auf Schritt vor Schritt durchdrŠngen und von allen Orten her HŸlfe und Beistand annehmen mŸssen, die ihnen denn manchmal durch Plumpheit der WohltŠter vergellt und widerwŠrtig werden, indem das, was sie empfangen, irdisch und das, was sie dagegen leisten, hšherer Art ist, so da§ eine eigentliche Kompensation nicht gedacht werden kann. Lessing hat bei dem schšnen Bewu§tsein, das ihm, in seiner besten Lebenszeit, Ÿber irdische Dinge zuteil ward, sich hierŸber einmal derb aber heiter ausgesprochen. Herder hingegen vergŠllte sich und andern immerfort die schšnsten Tage, da er jenen Unmut, der ihn in der Jugend notwendig ergriffen hatte, in der Folgezeit durch Geisteskraft nicht zu mŠ§igen wu§te.

Diese Forderung kann man gar wohl an sich machen: denn der BildungsfŠhigkeit eines Menschen kommt das Licht der Natur, welches immer tŠtig ist, ihn Ÿber seine ZustŠnde aufzuklŠren, auch hier gar freundlich zustatten; und Ÿberhaupt sollte man in manchen sittlichen BildungsfŠllen die MŠngel nicht zu schwer nehmen, und sich nicht nach allzu ernsten weitliegenden Mitteln umsehen, da sich gewisse Fehler sehr leicht, ja spielend abtun lassen. So kšnnen wir


zum Beispiel die Dankbarkeit in uns durch blo§e Gewohnheit erregen, lebendig erhalten, ja zum BedŸrfnis machen.

In einem biographischen Versuch ziemt es wohl, von sich selbst zu reden. Ich bin von Natur so wenig dankbar als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes Guten konnte das heftige GefŸhl eines augenblicklichen Mi§verhŠltnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten.

Diesem zu begegnen, gewšhnte ich mich zuvšrderst, bei allem, was ich besitze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art. Ich habe mich gewšhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das, was uns umgibt, erhŠlt dadurch ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer VerknŸpfung, und durch das VergegenwŠrtigen vergangener ZustŠnde wird das augenblickliche Dasein erhšht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknŸpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmšglich und ein gelegentliches Erwidern leicht und wŸnschenswert. Zugleich wird man auf die Betrachtung desjenigen gefŸhrt, was nicht sinnlicher Besitz ist, und man rekapituliert gar gern, woher sich unsere hšheren GŸter schreiben und datieren.

Ehe ich nun von jenem fŸr mich so bedeutenden und folgereichen VerhŠltnisse zu Herdern den Blick hinwegwende, finde ich noch einiges nachzubringen. Es war nichts natŸrlicher, als da§ ich nach und nach in Mitteilung dessen, was bisher zu meiner Bildung beigetragen, besonders aber solcher Dinge, die mich noch in dem Augenblicke ernstlich beschŠftigten, gegen Herdern immer karger und karger ward. Er hatte mir den Spa§ an so manchem, was ich frŸher geliebt, verdorben und mich besonders wegen der Freude,


die ich an Ovids "Metamorphosen" gehabt, aufs Strengste getadelt. Ich mochte meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich wollte, ich mochte sagen, da§ fŸr eine jugendliche Phantasie nichts erfreulicher sein kšnne, als in jenen heitern und herrlichen Gegenden mit Gšttern und Halbgšttern zu verweilen und ein Zeuge ihres Tuns und ihrer Leidenschaften zu sein; ich mochte jenes oben erwŠhnte Gutachten eines ernsthaften Mannes umstŠndlich beibringen und solches durch meine eigne Erfahrung bekrŠftigen: das alles sollte nicht gelten, es sollte sich keine eigentliche unmittelbare Wahrheit in diesen Gedichten finden; hier sei weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebildete, alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine manierierte Darstellung, wie sie sich nur von einem †berkultivierten erwarten lasse. Und wenn ich denn zuletzt behaupten wollte: was ein vorzŸgliches Individuum hervorbringe, sei doch auch Natur, und unter allen Všlkern, frŸhern und spŠtern, sei doch immer nur der Dichter Dichter gewesen; so wurde mir dies nun gar nicht gut gehalten, und ich mu§te manches deswegen ausstehen, ja mein Ovid war mir beinah dadurch verleidet: denn es ist keine Neigung, keine Gewohnheit so stark, da§ sie gegen die Mi§reden vorzŸglicher Menschen, in die man Vertrauen setzt, auf die LŠnge sich erhalten kšnnte. Immer bleibt etwas hŠngen, und wenn man nicht unbedingt lieben darf, sieht es mit der Liebe schon mi§lich aus.

Am sorgfŠltigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen GegenstŠnden, die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Gštz von Berlichingen und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstern hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil. Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltšnig in mir wider. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war frŸh genug auf die


Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerlei Weise versucht, und war immer unbefriedigter und gequŠlter zurŸckgekommen. Nun trug ich diese Dinge, sowie manche andre, mit mir herum und ergetzte mich daran in einsamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor Herdern meine mystischkabbalistische Chemie und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschŠftigte, sie konsequenter auszubilden, als man sie mir Ÿberliefert hatte. Von poetischen Arbeiten glaube ich ihm "Die Mitschuldigen" vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, da§ mir irgend eine Zurechtweisung oder Aufmunterung von seiner Seite hierŸber zuteil geworden wŠre. Aber bei diesem allen blieb er, der er war; was von ihm ausging, wirkte, wenn auch nicht erfreulich, doch bedeutend; ja seine Handschrift sogar Ÿbte auf mich eine magische Gewalt aus. Ich erinnere mich nicht, da§ ich eins seiner BlŠtter, ja nur ein Couvert von seiner Hand, zerrissen oder verschleudert hŠtte; dennoch ist mir, bei den so mannigfaltigen Ort- und Zeitwechseln, kein Dokument jener wunderbaren, ahndungsvollen und glŸcklichen Tage Ÿbrig geblieben.

Da§ Ÿbrigens Herders Anziehungskraft sich so gut auf andre als auf mich wirksam erwies, wŸrde ich kaum erwŠhnen, hŠtte ich nicht zu bemerken, da§ sie sich besonders auf Jung, genannt Stilling, erstreckt habe. Das treue redliche Streben dieses Mannes mu§te jeden, der nur irgend GemŸt hatte, hšchlich interessieren, und seine EmpfŠnglichkeit jeden, der etwas mitzuteilen imstande war, zur Offenheit reizen. Auch betrug sich Herder gegen ihn nachsichtiger als gegen uns andre: denn seine Gegenwirkung schien jederzeit mit der Wirkung, die auf ihn geschah, im VerhŠltnis zu stehn. Jungs UmschrŠnktheit war von so viel gutem Willen, sein Vordringen von so viel Sanftheit und Ernst begleitet, da§ ein VerstŠndiger gewi§ nicht hart gegen ihn sein, und ein Wohlwollender ihn nicht verhšhnen noch zum besten haben konnte. Auch war Jung durch Herdern dergestalt exaltiert,


da§ er sich in allem seinen Tun gestŠrkt und gefšrdert fŸhlte, ja seine Neigung gegen mich schien in eben diesem Ma§e abzunehmen; doch blieben wir immer gute Gesellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeigten uns wechselseitig die freundlichsten Dienste.

Entfernen wir uns jedoch nunmehr von der freundschaftlichen Krankenstube und von den allgemeinen Betrachtungen, welche eher auf Krankheit als auf Gesundheit des Geistes deuten; begeben wir uns in die freie Luft, auf den hohen und breiten Altan des MŸnsters, als wŠre die Zeit noch da, wo wir junge Gesellen uns šfters dorthin auf den Abend beschieden, um mit gefŸllten Ršmern die scheidende Sonne zu begrŸ§en. Hier verlor sich alles GesprŠch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die SchŠrfe der Augen geprŸft, und jeder bestrebte sich, die entferntesten GegenstŠnde gewahr zu werden, ja deutlich zu unterscheiden. Gute Fernršhre wurden zu HŸlfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete genau die Stelle, die ihm die liebste und werteste geworden; und schon fehlte es auch mir nicht an einem solchen PlŠtzchen, das, ob es gleich nicht bedeutend in der Landschaft hervortrat, mich doch mehr als alles andere mit einem lieblichen Zauber an sich zog. Bei solchen Gelegenheiten ward nun durch ErzŠhlung die Einbildungskraft angeregt und manche kleine Reise verabredet, ja oft aus dem Stegreife unternommen, von denen ich nur eine statt vieler umstŠndlich erzŠhlen will, da sie in manchem Sinne fŸr mich folgereich gewesen.

Mit zwei werten Freunden und Tischgenossen, Engelbach und Weyland, beide aus dem untern Elsa§ gebŸrtig, begab ich mich zu Pferde nach Zabern, wo uns, bei schšnem Wetter, der kleine freundliche Ort gar anmutig anlachte. Der Anblick des bischšflichen Schlosses erregte unsere Bewunderung; eines neuen Stalles WeitlŠuftigkeit, Grš§e und Pracht zeugten von dem Ÿbrigen Wohlbehagen des Besitzers. Die Herrlichkeit der Treppe Ÿberraschte uns, die Zimmer und SŠle betraten wir mit Ehrfurcht, nur kontrastierte die Person


des Kardinals, eines kleinen zusammengefallenen Mannes, den wir speisen sahen. Der Blick in den Garten ist herrlich, und ein Kanal, drei Viertelstunden lang, schnurgerade auf die Mitte des Schlosses gerichtet, gibt einen hohen Begriff von dem Sinn und den KrŠften der vorigen Besitzer. Wir spazierten daran hin und wider und genossen mancher Partien dieses schšn gelegenen Ganzen, zu Ende der herrlichen Elsasser Ebene, am Fu§e der Vogesen.

Nachdem wir uns nun an diesem geistlichen Vorposten einer kšniglichen Macht erfreut, und es uns in seiner Region wohl sein lassen, gelangten wir frŸh den andern Morgen zu einem šffentlichen Werk, das hšchst wŸrdig den Eingang in ein mŠchtiges Kšnigreich eršffnet. Von der aufgehenden Sonne beschienen, erhob sich vor uns die berŸhmte Zaberner Steige, ein Werk von unŸberdenklicher Arbeit. Schlangenweis, Ÿber die fŸrchterlichsten Felsen aufgemauert, fŸhrt eine Chaussee, fŸr drei Wagen neben einander breit genug, so leise bergauf, da§ man es kaum empfindet. Die HŠrte und GlŠtte des Wegs, die geplatteten Erhšhungen an beiden Seiten fŸr die Fu§gŠnger, die steinernen Rinnen zum Ableiten der Bergwasser, alles ist so reinlich als kŸnstlich und dauerhaft hergerichtet, da§ es einen genŸgenden Anblick gewŠhrt. So gelangt man allmŠhlich nach Pfalzburg, einer neueren Festung. Sie liegt auf einem mŠ§igen HŸgel; die Werke sind elegant auf schwŠrzlichen Felsen von gleichem Gestein erbaut, die mit Kalk wei§ ausgestrichenen Fugen bezeichnen genau die Grš§e der Quadern und geben von der reinlichen Arbeit ein auffallendes Zeugnis. Den Ort selbst fanden wir, wie sich's fŸr eine Festung geziemt, regelmŠ§ig, von Steinen gebaut, die Kirche geschmackvoll. Als wir durch die Stra§en wandelten - es war Sonntags frŸh um neun -, hšrten wir Musik; man walzte schon im Wirtshause nach Herzenslust, und da sich die Einwohner durch die gro§e Teurung, ja durch die drohende Hungersnot in ihrem VergnŸgen nicht irre machen lie§en, so ward auch unser jugendlicher Frohsinn keineswegs getrŸbt, als uns der BŠcker einiges Brot auf die Reise versagte


und uns in den Gasthof verwies, wo wir es allenfalls an Ort und Stelle verzehren dŸrften.

Sehr gern ritten wir nun wieder die Steige hinab, um dieses architektonische Wunder zum zweiten Male anzustaunen, und uns der erquickenden Aussicht Ÿber das Elsa§ nochmals zu erfreuen. Wir gelangten bald nach Buchsweiler, wo uns Freund Weyland eine gute Aufnahme vorbereitet hatte. Dem frischen jugendlichen Sinne ist der Zustand einer kleinen Stadt sehr gemŠ§; die FamilienverhŠltnisse sind nŠher und fŸhlbarer, das Hauswesen, das zwischen lŠ§licher AmtsbeschŠftigung, stŠdtischem Gewerb, Feld- und Gartenbau mit mŠ§iger TŠtigkeit sich hin und wider bewegt, lŠdt uns ein zu freundlicher Teilnahme, die Geselligkeit ist notwendig, und der Fremde befindet sich in den beschrŠnkten Kreisen sehr angenehm, wenn ihn nicht etwa die Mi§helligkeiten der Einwohner, die an solchen Orten fŸhlbarer sind, irgendwo berŸhren. Dieses StŠdtchen war der Hauptplatz der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, dem Landgrafen von Darmstadt unter franzšsischer Hoheit gehšrig. Eine daselbst angestellte Regierung und Kammer machten den Ort zum bedeutenden Mittelpunkt eines sehr schšnen und wŸnschenswerten fŸrstlichen Besitzes. Wir verga§en leicht die ungleichen Stra§en, die unregelmŠ§ige Bauart des Orts, wenn wir heraustraten, um das alte Schlo§ und die an einem HŸgel vortrefflich angelegten GŠrten zu beschauen. Mancherlei LustwŠldchen, eine zahme und wilde Fasanerie und die Reste mancher Šhnlichen Anstalten zeigten, wie angenehm diese kleine Residenz ehemals mŸsse gewesen sein.

Doch alle diese Betrachtungen Ÿbertraf der Anblick, wenn man von dem nahgelegenen Bastberg die všllig paradiesische Gegend Ÿberschaute. Diese Hšhe, ganz aus verschiedenen Muscheln zusammengehŠuft, machte mich zum ersten Male auf solche Dokumente der Vorwelt aufmerksam; ich hatte sie noch niemals in so gro§er Masse beisammen gesehn. Doch wendete sich der schaulustige Blick bald ausschlie§lich in die Gegend. Man steht auf dem letzten Vorgebirge nach


dem Lande zu; gegen Norden liegt eine fruchtbare, mit kleinen WŠldchen durchzogene FlŠche, von einem ernsten Gebirge begrenzt, das sich gegen Abend nach Zabern hin erstreckt, wo man den bischšflichen Palast und die eine Stunde davon liegende Abtei St. Johann deutlich erkennen mag. Von da verfolgt das Auge die immer mehr schwindende Bergkette der Vogesen bis nach SŸden hin. Wendet man sich gegen Nordost, so sieht man das Schlo§ Lichtenberg auf einem Felsen, und gegen SŸdost hat das Auge die unendliche FlŠche des Elsasses zu durchforschen, die sich in immer mehr abduftenden LandschaftsgrŸnden dem Gesicht entzieht, bis zuletzt die schwŠbischen Gebirge schattenweis in den Horizont verflie§en.

Schon bei meinen wenigen Wanderungen durch die Welt hatte ich bemerkt, wie bedeutend es sei, sich auf Reisen nach dem Laufe der Wasser zu erkundigen, ja bei dem kleinsten Bache zu fragen, wohin er denn eigentlich laufe. Man erlangt dadurch eine †bersicht von jeder Flu§region, in der man eben befangen ist, einen Begriff von den Hšhen und Tiefen, die auf einander Bezug haben, und windet sich am sichersten an diesen LeitfŠden, welche sowohl dem Anschauen als dem GedŠchtnis zu HŸlfe kommen, aus geologischem und politischem LŠndergewirre. In dieser Betrachtung nahm ich feierlichen Abschied von dem teuren Elsa§, da wir uns den andern Morgen nach Lothringen zu wenden gedachten.

Der Abend ging hin in vertraulichen GesprŠchen, wo man sich Ÿber eine unerfreuliche Gegenwart durch Erinnerung an eine bessere Vergangenheit zu erheitern suchte. Vor allem andern war hier, wie im ganzen LŠndchen, der Name des letzten Grafen Reinhard von Hanau in Segen, dessen gro§er Verstand und TŸchtigkeit in allem seinen Tun und Lassen hervortrat, und von dessen Dasein noch manches schšne Denkmal Ÿbrig geblieben war. Solche MŠnner haben den Vorzug, doppelte WohltŠter zu sein, einmal fŸr die Gegenwart, die sie beglŸcken, und sodann fŸr die Zukunft, deren GefŸhl und Mut sie nŠhren und aufrecht erhalten.


Als wir nun uns nordwestwŠrts in das Gebirg wendeten und bei LŸtzelstein, einem alten Bergschlo§ in einer sehr hŸgelvollen Gegend, vorbeizogen, und in die Region der Saar und Mosel hinabstiegen, fing der Himmel an sich zu trŸben, als wollte er uns den Zustand des rauheren Westreiches noch fŸhlbarer machen. Das Tal der Saar, wo wir zuerst Bockenheim, einen kleinen Ort, antrafen, und gegenŸber Neusaarwerden, gut gebaut, mit einem Lustschlo§, erblickten, ist zu beiden Seiten von Bergen begleitet, die traurig hei§en kšnnten, wenn nicht an ihrem Fu§ eine unendliche Folge von Wiesen und Matten, die Hohnau genannt, sich bis Saaralben und weiter hin unŸbersehlich erstreckte. Gro§e GebŠude eines ehmaligen GestŸtes der Herzoge von Lothringen ziehen hier den Blick an; sie dienen gegenwŠrtig, zu solchen Zwecken freilich sehr wohl gelegen, als Meierei. Wir gelangten Ÿber SaargemŸnd nach SaarbrŸck, und diese kleine Residenz war ein lichter Punkt im einem so felsig waldigen Lande. Die Stadt, klein und hŸglig, aber durch den letzten FŸrsten wohl ausgeziert, macht sogleich einen angenehmen Eindruck, weil die HŠuser alle grauwei§ angestrichen sind und die verschiedene Hšhe derselben einen mannigfaltigen Anblick gewŠhrt. Mitten auf einem schšnen mit ansehnlichen GebŠuden umgebenen Platze steht die lutherische Kirche, in einem kleinen, aber dem Ganzen entsprechenden Ma§stabe. Die Vorderseite des Schlosses liegt mit der Stadt auf ebenem Boden, die Hinterseite dagegen am Abhange eines steilen Felsens. Diesen hat man nicht allein terrassenweis abgearbeitet, um bequem in das Tal zu gelangen, sondern man hat sich auch unten einen lŠnglich-viereckten Gartenplatz, durch VerdrŠngung des Flusses an der einen und durch Abschroten des Felsens an der andern Seite, verschafft, worauf denn dieser ganze Raum erst mit Erde ausgefŸllt und bepflanzt worden. Die Zeit dieser Unternehmung fiel in die Epoche, da man bei Gartenanlagen den Architekten zu Rate zog, wie man gegenwŠrtig das Auge des Landschaftsmalers zu HŸlfe nimmt. Die ganze Einrichtung des Schlosses, das


Kostbare und Angenehme, das Reiche und Zierliche deuteten auf einen lebenslustigen Besitzer, wie der verstorbene FŸrst gewesen war; der gegenwŠrtige befand sich nicht am Orte. PrŠsident von GŸnderode empfing uns aufs verbindlichste und bewirtete uns drei Tage besser, als wir es erwarten durften. Ich benutzte die mancherlei Bekanntschaften, zu denen wir gelangten, um mich vielseitig zu unterrichten. Das genu§reiche Leben des vorigen FŸrsten gab Stoff genug zur Unterhaltung, nicht weniger die mannigfaltigen Anstalten, die er getroffen, um Vorteile, die ihm die Natur seines Landes darbot, zu benutzen. Hier wurde ich nun eigentlich in das Interesse der Berggegenden eingeweiht, und die Lust zu škonomischen und technischen Betrachtungen, welche mich einen gro§en Teil meines Lebens beschŠftigt haben, zuerst erregt. Wir hšrten von den reichen Dudweiler Steinkohlengruben, von Eisen- und Alaunwerken, ja sogar von einem brennenden Berge, und rŸsteten uns, diese Wunder in der NŠhe zu beschauen.

Nun zogen wir durch waldige Gebirge, die demjenigen, der aus einem herrlichen fruchtbaren Lande kommt, wŸst und traurig erscheinen mŸssen, und die nur durch den innern Gehalt ihres Scho§es uns anziehen kšnnen. Kurz hinter einander wurden wir mit einem einfachen und einem komplizierten Maschinenwerke bekannt, mit einer Sensenschmiede und einem Drahtzug. Wenn man sich an jener schon erfreut, da§ sie sich an die Stelle gemeiner HŠnde setzt, so kann man diesen nicht genug bewundern, indem er in einem hšheren organischen Sinne wirkt, von dem Verstand und Bewu§tsein kaum zu trennen sind. In der AlaunhŸtte erkundigten wir uns genau nach der Gewinnung und Reinigung dieses so nštigen Materials, und als wir gro§e Haufen eines wei§en, fetten, lockeren, erdigen Wesens bemerkten und dessen Nutzen erforschten, antworteten die Arbeiter lŠchelnd, es sei der Schaum, der sich beim Alaunsieden obenauf werfe, und den Herr Stauf sammeln lasse, weil er denselben gleichfalls hoffe zu Gute zu machen. - "Lebt Herr Stauf


noch?" rief mein Begleiter verwundert aus. Man bejahte es und versicherte, da§ wir, nach unserm Reiseplan, nicht weit von seiner einsamen Wohnung vorbeikommen wŸrden.

Unser Weg ging nunmehr an den Rinnen hinauf, in welchen das Alaunwasser heruntergeleitet wird, und an dem vornehmsten Stollen vorbei, den sie die Landgrube nennen, woraus die berŸhmten Dudweiler Steinkohlen gezogen werden. Sie haben, wenn sie trocken sind, die blaue Farbe eines dunkel angelaufenen Stahls, und die schšnste Irisfolge spielt bei jeder Bewegung Ÿber die OberflŠche hin. Die finsteren StollenschlŸnde zogen uns jedoch um so weniger an, als der Gehalt derselben reichlich um uns her ausgeschŸttet lag. Nun gelangten wir zu offnen Gruben, in welchen die geršsteten Alaunschiefer ausgelaugt werden, und bald darauf Ÿberraschte uns, obgleich vorbereitet, ein seltsames Begegnis. Wir traten in eine Klamme und fanden uns in der Region des brennenden Berges. Ein starker Schwefelgeruch umzog uns; die eine Seite der Hohle war nahezu glŸhend, mit rštlichem, wei§gebrannten Stein bedeckt; ein dicker Dampf stieg aus den Klunsen hervor, und man fŸhlte die Hitze des Bodens auch durch die starken Sohlen. Ein so zufŠlliges Ereignis, denn man wei§ nicht, wie diese Strecke sich entzŸndete, gewŠhrt der Alaunfabrikation den gro§en Vorteil, da§ die Schiefer, woraus die OberflŠche des Berges besteht, vollkommen geršstet daliegen und nur kurz und gut ausgelaugt werden dŸrfen. Die ganze Klamme war entstanden, da§ man nach und nach die kalzinierten Schiefer abgerŠumt und verbraucht hatte. Wir kletterten aus dieser Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel des Berges. Ein anmutiger Buchenwald umgab den Platz, der auf die Hohle folgte und sich ihr zu beiden Seiten verbreitete. Mehrere BŠume standen schon verdorrt, andere welkten in der NŠhe von andern, die, noch ganz frisch, jene Glut nicht ahndeten, welche sich auch ihren Wurzeln bedrohend nŠherte.

Auf dem Platze dampften verschiedene …ffnungen, andere hatten schon ausgeraucht, und so glomm dieses Feuer


bereits zehn Jahre durch alte verbrochene Stollen und SchŠchte, mit welchen der Berg unterminiert ist. Es mag sich auch auf KlŸften durch frische Kohlenlager durchziehn: denn einige hundert Schritte weiter in den Wald gedachte man bedeutende Merkmale von ergiebigen Steinkohlen zu verfolgen; man war aber nicht weit gelangt, als ein starker Dampf den Arbeitern entgegendrang und sie vertrieb. Die …ffnung ward wieder zugeworfen; allein wir fanden die Stelle noch rauchend, als wir daran vorbei den Weg zur Residenz unseres einsiedlerischen Chemikers verfolgten. Sie liegt zwischen Bergen und WŠldern; die TŠler nehmen daselbst sehr mannigfaltige und angenehme KrŸmmungen, rings umher ist der Boden schwarz und kohlenartig, die Lager gehen hŠufig zu Tage aus. Ein Kohlenphilosoph - Philosophus per ignem, wie man sonst sagte - hŠtte sich wohl nicht schicklicher ansiedeln kšnnen.

Wir traten vor ein kleines, zur Wohnung nicht Ÿbel dienliches Haus und fanden Herrn Stauf, der meinen Freund sogleich erkannte und mit Klagen Ÿber die neue Regierung empfing. Freilich konnten wir aus seinen Reden vermerken, da§ das Alaunwerk, sowie manche andre wohlgemeinte Anstalt, wegen Šu§erer, vielleicht auch innerer UmstŠnde die Unkosten nicht trage, und was dergleichen mehr war. Er gehšrte unter die Chemiker jener Zeit, die, bei einem innigen GefŸhl dessen, was mit Naturprodukten alles zu leisten wŠre, sich in einer abstrusen Betrachtung von Kleinigkeiten und Nebensachen gefielen, und, bei unzulŠnglichen Kenntnissen, nicht fertig genug dasjenige zu leisten verstanden, woraus eigentlich škonomischer und merkantilischer Vorteil zu ziehn ist. So lag der Nutzen, den er sich von jenem Schaum versprach, sehr im weiten; so zeigte er nichts als einen Kuchen Salmiak, den ihm der brennende Berg geliefert hatte.

Bereitwillig und froh, seine Klagen einem menschlichen Ohre mitzuteilen, schleppte sich das hagere abgelebte MŠnnchen in einem Schuh und einem Pantoffel, mit herabhŠngenden, vergebens wiederholt von ihm heraufgezogenen


StrŸmpfen, den Berg hinauf, wo die HarzhŸtte steht, die er selbst errichtet hat und nun mit gro§em Leidwesen verfallen sieht. Hier fand sich eine zusammenhangende Ofenreihe, wo Steinkohlen abgeschwefelt und zum Gebrauch bei Eisenwerken tauglich gemacht werden sollten; allein zu gleicher Zeit wollte man …l und Harz auch zu Gute machen, ja sogar den Ru§ nicht missen, und so unterlag den vielfachen Absichten alles zusammen. Bei Lebzeiten des vorigen FŸrsten trieb man das GeschŠft aus Liebhaberei, auf Hoffnung; jetzt fragte man nach dem unmittelbaren Nutzen, der nicht nachzuweisen war.

Nachdem wir unsern Adepten seiner Einsamkeit Ÿberlassen, eilten wir - denn es war schon spŠt geworden - der Friedrichsthaler GlashŸtte zu, wo wir eine der wichtigsten und wunderbarsten WerktŠtigkeiten des menschlichen Kunstgeschickes im VorŸbergehen kennen lernten.

Doch fast mehr als diese bedeutenden Erfahrungen interessierten uns junge Bursche einige lustige Abenteuer, und bei einbrechender Finsternis, ohnweit Neukirch, ein Ÿberraschendes Feuerwerk. Denn wie vor einigen NŠchten, an den Ufern der Saar, leuchtende Wolken JohanniswŸrmer zwischen Fels und Busch um uns schwebten, so spielten uns nun die funkenwerfenden Essen ihr lustiges Feuerwerk entgegen. Wir betraten bei tiefer Nacht die im Talgrunde liegenden SchmelzhŸtten, und vergnŸgten uns an dem seltsamen Halbdunkel dieser Bretterhšhlen, die nur durch des glŸhenden Ofens geringe …ffnung kŸmmerlich erleuchtet werden. Das GerŠusch des Wassers und der von ihm getriebenen BlasbŠlge, das fŸrchterliche Sausen und Pfeifen des Windstroms, der, in das geschmolzene Erz wŸtend, die Ohren betŠubt und die Sinne verwirrt, trieb uns endlich hinweg, um in Neukirch einzukehren, das an dem Berg hinaufgebaut ist. Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine Rast finden. Ich Ÿberlie§ meinen Freund einem glŸcklichen Schlafe und suchte das hšher gelegene Jagdschlo§. Es blickt weit Ÿber Berg und


WŠlder hin, deren Umrisse nur an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, deren Seiten und Tiefen aber meinem Blick undurchdringlich waren. So leer als einsam stand das wohlerhaltene GebŠude; kein Kastellan, kein JŠger war zu finden. Ich sa§ vor den gro§en GlastŸren auf den Stufen, die um die ganze Terrasse hergehn. Hier, mitten im Gebirg, Ÿber einer waldbewachsenen finsteren Erde, die gegen den heitern Horizont einer Sommernacht nur noch finsterer erschien, das brennende Sterngewšlbe Ÿber mir, sa§ ich an der verlassenen StŠtte lange mit mir selbst und glaubte niemals eine solche Einsamkeit empfunden zu haben. Wie lieblich Ÿberraschte mich daher aus der Ferne der Ton von ein paar Waldhšrnern, der auf einmal wie ein Balsamduft die ruhige AtmosphŠre belebte. Da erwachte in mir das Bild eines holden Wesens, das vor den bunten Gestalten dieser Reisetage in den Hintergrund gewichen war, es enthŸllte sich immer mehr und mehr, und trieb mich von meinem Platze nach der Herberge, wo ich Anstalten traf, mit dem frŸhsten abzureisen.

Der RŸckweg wurde nicht benutzt wie der Herweg. So eilten wir durch ZweibrŸcken, das, als eine schšne und merkwŸrdige Residenz, wohl auch unsere Aufmerksamkeit verdient hŠtte. Wir warfen einen Blick auf das gro§e, einfache Schlo§, auf die weitlŠuftigen, regelmŠ§ig mit LindenstŠmmen bepflanzten, zum Dressieren der Parforcepferde wohleingerichteten Esplanaden, auf die gro§en StŠlle, auf die BŸrgerhŠuser, welche der FŸrst baute, um sie ausspielen zu lassen. Alles dieses, sowie Kleidung und Betragen der Einwohner, besonders der Frauen und MŠdchen, deutete auf ein VerhŠltnis in die Ferne, und machte den Bezug auf Paris anschaulich, dem alles †berrheinische seit geraumer Zeit sich nicht entziehen konnte. Wir besuchten auch den vor der Stadt liegenden herzoglichen Keller, der weitlŠuftig ist, mit gro§en und kŸnstlichen FŠssern versehen. Wir zogen weiter und fanden das Land zuletzt wie im SaarbrŸckischen. Zwischen wilden und rauhen Bergen wenig Dšrfer; man verlernt hier, sich nach Getreide umzusehn. Den


Hornbach zur Seite stiegen wir nach Bitsch, das an dem bedeutenden Platze liegt, wo die GewŠsser sich scheiden, und ein Teil in die Saar, ein Teil dem Rheine zufŠllt; diese letztem sollten uns bald nach sich ziehn. Doch konnten wir dem StŠdtchen Bitsch, das sich sehr malerisch um einen Berg herumschlingt, und der oben liegenden Festung unsere Aufmerksamkeit nicht versagen. Diese ist teils auf Felsen gebaut, teils in Felsen gehauen. Die unterirdischen RŠume sind besonders merkwŸrdig; hier ist nicht allein hinreichender Platz zum Aufenthalt einer Menge Menschen und Vieh, sondern man trifft sogar gro§e Gewšlbe zum Exerzieren, eine MŸhle, eine Kapelle und was man unter der Erde sonst fordern kšnnte, wenn die OberflŠche beunruhigt wŸrde.

Den hinabstŸrzenden BŠchen folgten wir nunmehr durchs BŠrental. Die dicken WŠlder auf beiden Hšhen sind unbenutzt. Hier faulen StŠmme zu Tausenden Ÿber einander, und junge Sprš§linge keimen in Unzahl auf halbvermoderten Vorfahren. Hier kam uns durch GesprŠche einiger Fu§begleiter der Name von Dietrich wieder in die Ohren, den wir schon šfter in diesen Waldgegenden ehrenvoll hatten aussprechen hšren. Die TŠtigkeit und Gewandtheit dieses Mannes, sein Reichtum, die Benutzung und Anwendung desselben, alles erschien im Gleichgewicht, er konnte sich mit Recht des Erworbenen erfreuen, das er vermehrte, und das Verdiente genie§en, das er sicherte. Je mehr ich die Welt sah, je mehr erfreute ich mich, au§er den allgemein berŸhmten Namen, auch besonders an denen, die in einzelnen Gegenden mit Achtung und Liebe genannt wurden; und so erfuhr ich auch hier bei einiger Nachfrage gar leicht, da§ von Dietrich frŸher als andre sich der GebirgsschŠtze, des Eisens, der Kohlen und des Holzes, mit gutem Erfolg zu bedienen gewu§t und sich zu einem immer wachsenden Wohlhaben herangearbeitet habe.

Niederbronn, wohin wir gelangten, war ein neues Zeugnis hiervon. Er hatte diesen kleinen Ort den Grafen


von Leiningen und andern Teilbesitzern abgekauft, um in der Gegend bedeutende Eisenwerke einzurichten.

Hier in diesen von den Ršmern schon angelegten BŠdern umspŸlte mich der Geist des Altertums, dessen ehrwŸrdige TrŸmmer in Resten von Basreliefs und Inschriften, SŠulenknŠufen und SchŠften mir aus Bauerhšfen, zwischen wirtschaftlichem Wust und GerŠte, gar wundersam entgegenleuchteten.

So verehrte ich auch, als wir die nahe gelegene Wasenburg bestiegen, an der gro§en Felsmasse, die den Grund der einen Seite ausmacht, eine gut erhaltene Inschrift, die dem Merkur ein dankbares GelŸbd abstattet. Die Burg selbst liegt auf dem letzten Berge von Bitsch her gegen das Land zu. Es sind die Ruinen eines deutschen, auf ršmische Reste gebauten Schlosses. Von dem Turm Ÿbersah man abermals das ganze Elsa§, und des MŸnsters deutliche Spitze bezeichnete die Lage von Stra§burg. ZunŠchst jedoch verbreitete sich der gro§e Hagenauer Forst, und die TŸrme dieser Stadt ragten dahinter ganz deutlich hervor. Dorthin wurde ich gezogen. Wir ritten durch Reichshofen, wo von Dietrich ein bedeutendes Schlo§ erbauen lie§, und nachdem wir, von den HŸgeln bei Niedermodern, den angenehmen Lauf des ModerflŸ§chens am Hagenauer Wald her betrachtet hatten, lie§ ich meinen Freund bei einer lŠcherlichen Steinkohlengrubenvisitation, die zu Dudweiler freilich etwas ernsthafter wŸrde gewesen sein, und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen, welche mir die Neigung schon andeutete, nach dem geliebten Sesenheim.

Denn jene sŠmtlichen Aussichten in eine wilde Gebirgsgegend und sodann wieder in ein heiteres, fruchtbares, fršhliches Land konnten meinen Innern Blick nicht fesseln, der auf einen liebenswŸrdigen anziehenden Gegenstand gerichtet war. Auch diesmal erschien mir der Herweg reizender als der Hinweg, weil er mich wieder in die NŠhe eines Frauenzimmers brachte, der ich von Herzen ergeben war und welche so viel Achtung als Liebe verdiente. Mir sei jedoch, ehe ich meine Freunde zu ihrer lŠndlichen Wohnung


fŸhre, vergšnnt, eines Umstandes zu erwŠhnen, der sehr viel beitrug, meine Neigung und die Zufriedenheit, welche sie mir gewŠhrte, zu beleben und zu erhšhen.

Wie sehr ich in der neuern Literatur zurŸck sein mu§te, lŠ§t sich aus der Lebensart schlie§en, die ich in Frankfurt gefŸhrt, aus den Studien, denen ich mich gewidmet hatte, und mein Aufenthalt in Stra§burg konnte mich darin nicht fšrdern. Nun kam Herder und brachte neben seinen gro§en Kenntnissen noch manche HŸlfsmittel und Ÿberdies auch neuere Schriften mit. Unter diesen kŸndigte er uns den "Landpriester von Wakefield" als ein fŸrtreffliches Werk an, von dem er uns die deutsche †bersetzung durch Selbsteigne Vorlesung bekannt machen wolle.

Seine Art zu lesen war ganz eigen; wer ihn predigen gehšrt hat, wird sich davon einen Begriff machen kšnnen. Er trug alles, und so auch diesen Roman, ernst und schlicht vor; všllig entfernt von aller dramatisch-mimischen Darstellung, vermied er sogar jene Mannigfaltigkeit, die bei einem epischen Vortrag nicht allein erlaubt ist, sondern wohl gefordert wird: eine geringe Abwechselung des Tons, wenn verschiedene Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt, herausgehoben und der Handelnde von dem ErzŠhlenden abgesondert wird. Ohne monoton zu sein, lie§ Herder alles in einem Ton hinter einander folgen, eben als wenn nichts gegenwŠrtig, sondern alles nur historisch wŠre, als wenn die Schatten dieser poetischen Wesen nicht lebhaft vor ihm wirkten, sondern nur sanft vorŸbergleiteten. Doch hatte diese Art des Vortrags, aus seinem Munde, einen unendlichen Reiz: denn weil er alles aufs tiefste empfand, und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werks hochzuschŠtzen wu§te, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene Einzelnheiten gestšrt und aus der Empfindung gerissen wurde, welche das Ganze gewŠhren sollte.

Ein protestantischer Landgeistlicher ist vielleicht der schšnste Gegenstand einer modernen Idylle; er erscheint,


wie Melchisedek, als Priester und Kšnig in einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden denken lŠ§t, an den des Ackermanns, ist er meistens durch gleiche BeschŠftigung, sowie durch gleiche FamilienverhŠltnisse geknŸpft; er ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeine. Auf diesem reinen, schšnen, irdischen Grunde ruht sein hšherer Beruf; ihm ist Ÿbergeben, die Menschen ins Leben zu fŸhren, fŸr ihre geistige Erziehung zu sorgen, sie bei allen Hauptepochen ihres Daseins zu segnen, sie zu belehren, zu krŠftigen, zu tršsten, und, wenn der Trost fŸr die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer glŸcklicheren Zukunft heranzurufen und zu verbŸrgen. Denke man sich einen solchen Mann, mit rein menschlichen Gesinnungen, stark genug, um unter keinen UmstŠnden davon zu weichen, und schon dadurch Ÿber die Menge erhaben, von der man Reinheit und Festigkeit nicht erwarten kann; gebe man ihm die zu seinem Amte nštigen Kenntnisse, sowie eine heitere, gleiche TŠtigkeit, welche sogar leidenschaftlich ist, indem sie keinen Augenblick versŠumt, das Gute zu wirken - und man wird ihn wohl ausgestattet haben. Zugleich aber fŸge man die nštige BeschrŠnktheit hinzu, da§ er nicht allein in einem kleinen Kreise verharren, sondern auch allenfalls in einen kleineren Ÿbergehen mšge; man verleihe ihm GutmŸtigkeit, Versšhnlichkeit, Standhaftigkeit und was sonst noch aus einem entschiedenen Charakter Lšbliches hervorspringt, und Ÿber dies alles eine heitere Nachgiebigkeit und lŠchelnde Duldung eigner und fremder Fehler: so hat man das Bild unseres trefflichen Wakefield so ziemlich beisammen.

Die Darstellung dieses Charakters auf seinem Lebensgange durch Freuden und Leiden, das immer wachsende Interesse der Fabel, durch Verbindung des ganz NatŸrlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen, macht diesen Roman zu einem der besten, die je geschrieben worden; der noch Ÿberdies den gro§en Vorzug hat, da§ er ganz sittlich, ja im reinen Sinne christlich ist, die Belohnung des guten Willens, des Beharrens bei dem Rechten darstellt, das un-


bedingte Zutrauen auf Gott bestŠtigt und den endlichen Triumph des Guten Ÿber das Bšse beglaubigt; und dies alles ohne eine Spur von Fršmmelei oder Pedantismus. Vor beiden hatte den Verfasser der hohe Sinn bewahrt, der sich hier durchgŠngig als Ironie zeigt, wodurch dieses Werkchen uns ebenso weise als liebenswŸrdig entgegenkommen mu§. Der Verfasser, Doktor Goldsmith, hat ohne Frage gro§e Einsicht in die moralische Welt, in ihren Wert und in ihre Gebrechen; aber zugleich mag er nur dankbar anerkennen, da§ er ein EnglŠnder ist, und die Vorteile, die ihm sein Land, seine Nation darbietet, hoch anrechnen. Die Familie, mit deren Schilderung er sich beschŠftigt, steht auf einer der letzten Stufen des bŸrgerlichen Behagens, und doch kommt sie mit dem Hšchsten in BerŸhrung; ihr enger Kreis, der sich noch mehr verengt, greift, durch den natŸrlichen und bŸrgerlichen Lauf der Dinge, in die gro§e Welt mit ein; auf der reichen bewegten Woge des englischen Lebens schwimmt dieser kleine Kahn, und in Wohl und Weh hat er Schaden oder HŸlfe von der ungeheueren Flotte zu erwarten, die um ihn hersegelt.

Ich kann voraussetzen, da§ meine Leser dieses Werk kennen und im GedŠchtnis haben; wer es zuerst hier nennen hšrt, sowie der, welcher aufgeregt wird, es wieder zu lesen, beide werden mir danken. FŸr jene bemerke ich nur im VorŸbergehn, da§ des Landgeistlichen Hausfrau von der tŠtigen, guten Art ist, die es sich und den Ihrigen an nichts fehlen lŠ§t, aber auch dafŸr auf sich und die Ihrigen etwas einbildisch ist. Zwei Tšchter, Olivie, schšn und mehr nach au§en, Sophie, reizend und mehr nach innen gesinnt; einen flei§igen, dem Vater nacheifernden etwas herben Sohn, Moses, will ich zu nennen nicht unterlassen.

Wenn Herder bei seiner Vorlesung eines Fehlers beschuldigt werden konnte, so war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zuhšrer einen gewissen Teil des Verlaufs vernommen und gefa§t hŠtte, um richtig dabei empfinden und gehšrig denken zu kšnnen: voreilig wollte er sogleich


Wirkungen sehen, und doch war er auch mit diesen unzufrieden, wenn sie hervortraten. Er tadelte das †berma§ von GefŸhl, das bei mir von Schritt zu Schritt mehr Ÿberflo§. Ich empfand als Mensch, als junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwŠrtig. Er, der blo§ Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, da§ ich vom Stoff ŸberwŠltigt ward, und das wollte er nicht gelten lassen. Pegelows Reflexionen zunŠchst, die nicht von den feinsten waren, wurden noch Ÿbler aufgenommen; besonders aber erzŸrnte er sich Ÿber unsern Mangel an Scharfsinn, da§ wir die Kontraste, deren sich der Verfasser oft bedient, nicht voraussahen, uns davon rŸhren und hinrei§en lie§en, ohne den šfters wiederkehrenden Kunstgriff zu merken. Da§ wir aber gleich zu Anfang, wo Burchell, indem er bei einer ErzŠhlung aus der dritten Person in die erste Ÿbergeht, sich zu verraten im Begriff ist, da§ wir nicht gleich eingesehn oder wenigstens gemutma§t hatten, da§ er der Lord, von dem er spricht, selbst sei, verzieh er uns nicht, und als wir zuletzt, bei Entdeckung und Verwandlung des armen kŸmmerlichen Wanderers in einen reichen, mŠchtigen Herrn, uns kindlich freuten, rief er erst jene Stelle zurŸck, die wir nach der Absicht des Autors Ÿberhšrt hatten, und hielt Ÿber unsern Stumpfsinn eine gewaltige Strafpredigt. Man sieht hieraus, da§ er das Werk blo§ als Kunstprodukt ansah und von uns das gleiche verlangte, die wir noch in jenen ZustŠnden wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen.

Ich lie§ mich durch Herders Invektiven keineswegs irre machen; wie denn junge Leute das GlŸck oder UnglŸck haben, da§, wenn einmal etwas auf sie gewirkt hat, diese Wirkung in ihnen selbst verarbeitet werden mu§, woraus denn manches Gute, sowie manches Unheil entsteht. Gedachtes Werk hatte bei mir einen gro§en Eindruck zurŸckgelassen, von dem ich mir selbst nicht Rechenschaft geben konnte; eigentlich fŸhlte ich mich aber in †bereinstimmung mit jener ironischen Gesinnung, die sich Ÿber die


GegenstŠnde, Ÿber GlŸck und UnglŸck, Gutes und Bšses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt. Freilich konnte dieses nur spŠter bei mir zum Bewu§tsein kommen, genug, es machte mir fŸr den Augenblick viel zu schaffen; keineswegs aber hŠtte ich erwartet, alsobald aus dieser fingierten Welt in eine Šhnliche wirkliche versetzt zu werden.

Mein Tischgenosse Weyland, der sein stilles flei§iges Leben dadurch erheiterte, da§ er, aus dem Elsa§ gebŸrtig, bei Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach, leistete mir auf meinen kleinen Exkursionen manchen Dienst, indem er mich in verschiedenen Ortschaften und Familien teils persšnlich, teils durch Empfehlungen einfŸhrte. Dieser hatte mir šfters von einem Landgeistlichen gesprochen, der nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Stra§burg, im Besitz einer guten Pfarre mit einer verstŠndigen Frau und ein paar liebenswŸrdigen Tšchtern lebe. Die Gastfreiheit und Anmut dieses Hauses ward immer dabei hšchlich gerŸhmt. So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewšhnt hatte, alle abzumŸ§igenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzubringen. Also entschlossen wir uns auch zu dieser Partie, wobei mir mein Freund versprechen mu§te, da§ er bei der EinfŸhrung weder Gutes noch Bšses von mir sagen, Ÿberhaupt aber mich gleichgŸltig behandeln wolle, sogar erlauben, wo nicht schlecht, doch etwas Šrmlich und nachlŠssig gekleidet zu erscheinen. Er willigte darein und versprach sich selbst einigen Spa§ davon.

Es ist eine verzeihliche Grille bedeutender Menschen, gelegentlich einmal Šu§ere VorzŸge ins Verborgene zu stellen, um den eignen innern menschlichen Gehalt desto reiner wirken zu lassen; deswegen hat das Inkognito der FŸrsten und die daraus entspringenden Abenteuer immer etwas hšchst Angenehmes: es erscheinen verkleidete Gottheiten, die alles Gute, was man ihrer Persšnlichkeit erweist, doppelt hoch anrechnen dŸrfen und im Fall sind, das Unerfreuliche ent-


weder leicht zu nehmen oder ihm ausweichen zu kšnnen. Da§ Jupiter bei Philemon und Baucis, Heinrich der Vierte, nach einer Jagdpartie, unter seinen Bauern sich in ihrem Inkognito wohlgefallen, ist ganz der Natur gemŠ§, und man mag es gern; da§ aber ein junger Mensch ohne Bedeutung und Namen sich einfallen lŠ§t, aus dem Inkognito einiges VergnŸgen zu ziehen, mšchte mancher fŸr einen unverzeihlichen Hochmut auslegen. Da aber hier die Rede nicht ist von Gesinnungen und Handlungen, inwiefern sie lobens- oder tadelnswŸrdig, sondern wiefern sie sich offenbaren und ereignen kšnnen; so wollen wir fŸr diesmal, unserer Unterhaltung zu Liebe, dem JŸngling seinen DŸnkel verzeihen, um so mehr, als ich hier anfŸhren mu§, da§ von Jugend auf in mir eine Lust mich zu verkleiden selbst durch den ernsten Vater erregt worden.

Auch diesmal hatte ich mich, teils durch eigne Šltere, teils durch einige geborgte KleidungsstŸcke und durch die Art, die Haare zu kŠmmen, wo nicht entstellt, doch wenigstens so wunderlich zugestutzt, da§ mein Freund unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn ich Haltung und GebŠrde solcher Figuren, wenn sie zu Pferde sitzen, und die man lateinische Reiter nennt, vollkommen nachzuahmen wu§te. Die schšne Chaussee, das herrlichste Wetter und die NŠhe des Rheins gaben uns den besten Humor. In Drusenheim hielten wir einen Augenblick an, er, um sich nett zu machen, und ich, um mir meine Rolle zurŸckzurufen, aus der ich gelegentlich zu fallen fŸrchtete. Die Gegend hier hat den Charakter des ganz freien ebenen Elsasses. Wir ritten einen anmutigen Fu§pfad Ÿber Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, lie§en unsere Pferde im Wirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe. - "La§ dich," sagte Weyland, indem er mir das Haus von weitem zeigte, "nicht irren, da§ es einem alten und schlechten Bauerhause Šhnlich sieht; inwendig ist es desto jŸnger." Wir traten in den Hof; das Ganze gefiel mir wohl: denn es hatte gerade das, was man malerisch nennt, und was mich in der niederlŠndischen Kunst so


zauberisch angesprochen hatte. Jene Wirkung war gewaltig sichtbar, welche die Zeit Ÿber alles Menschenwerk ausŸbt. Haus und Scheune und Stall befanden sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man unschlŸssig, zwischen Erhalten und Neuaufrichten zweifelhaft, das eine unterlŠ§t, ohne zu dem andern gelangen zu kšnnen.

Alles war still und menschenleer, wie im Dorfe so im Hofe. Wir fanden den Vater, einen kleinen, in sich gekehrten aber doch freundlichen Mann, ganz allein: denn die Familie war auf dem Felde. Er hie§ uns willkommen, bot uns eine Erfrischung an, die wir ablehnten. Mein Freund eilte die Frauenzimmer aufzusuchen, und ich blieb mit unserem Wirt allein. - "Sie wundern sich vielleicht," sagte er, "da§ Sie mich in einem reichen Dorfe und bei einer eintrŠglichen Stelle so schlecht quartiert finden; das kommt aber," fuhr er fort, "von der Unentschlossenheit. Schon lange ist mir's von der Gemeine, ja von den oberen Stellen zugesagt, da§ das Haus neu aufgerichtet werden soll; mehrere Risse sind schon gemacht, geprŸft, verŠndert, keiner ganz verworfen und keiner ausgefŸhrt worden. Es hat so viele Jahre gedauert, da§ ich mich vor Ungeduld kaum zu fassen wei§." - Ich erwiderte ihm, was ich fŸr schicklich hielt, um seine Hoffnung zu nŠhren und ihn aufzumuntern, da§ er die Sache stŠrker betreiben mšchte. Er fuhr darauf fort, mit Vertrauen die Personen zu schildern, von denen solche Sachen abhingen, und obgleich er kein sonderlicher Charakterzeichner war, so konnte ich doch recht gut begreifen, wie das ganze GeschŠft stocken mu§te. Die Zutraulichkeit des Mannes hatte was Eignes; er sprach zu mir, als wenn er mich zehen Jahre gekannt hŠtte, ohne da§ irgend etwas in seinem Blick gewesen wŠre, woraus ich einige Aufmerksamkeit auf mich hŠtte mutma§en kšnnen. Endlich trat mein Freund mit der Mutter herein. Diese schien mich mit ganz andern Augen anzusehn. Ihr Gesicht war regelmŠ§ig und der Ausdruck desselben verstŠndig; sie mu§te in ihrer Jugend schšn gewesen sein. Ihre Gestalt war lang und hager, doch nicht mehr, als


solchen Jahren geziemt; sie hatte vom RŸcken her noch ein ganz jugendliches, angenehmes Ansehen. Die Šlteste Tochter kam darauf lebhaft hereingestŸrmt; sie fragte nach Friedriken, so wie die andern beiden auch nach ihr gefragt hatten. Der Vater versicherte, sie nicht gesehen zu haben, seitdem alle drei fortgegangen. Die Tochter fuhr wieder zur TŸre hinaus, um die Schwester zu suchen; die Mutter brachte uns einige Erfrischungen und Weyland setzte mit den beiden Gatten das GesprŠch fort, das sich auf lauter bewu§te Personen und VerhŠltnisse bezog, wie es zu geschehn pflegt, wenn Bekannte nach einiger Zeit zusammenkommen, von den Gliedern eines gro§en Zirkels Erkundigung einziehn und sich wechselsweise berichten. Ich hšrte zu und erfuhr nunmehr, wie viel ich mir von diesem Kreise zu versprechen hatte.

Die Šlteste Tochter kam wieder hastig in die Stube, unruhig, ihre Schwester nicht gefunden zu haben. Man war besorgt um sie und schalt auf diese oder jene bšse Gewohnheit; nur der Vater sagte ganz ruhig: "La§t sie immer gehn, sie kommt schon wieder!" In diesem Augenblick trat sie wirklich in die TŸre; und da ging fŸrwahr an diesem lŠndlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Tšchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrŠngte Nationaltracht kleidete Friedriken besonders gut. Ein kurzes wei§es rundes Ršckchen mit einer Falbel, nicht lŠnger, als da§ die nettesten FŸ§chen bis an die Knšchel sichtbar blieben; ein knappes wei§es Mieder und eine schwarze TaffetschŸrze - so stand sie auf der Grenze zwischen BŠuerin und StŠdterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hŠtte, schritt sie, und beinahe schien fŸr die gewaltigen blonden Zšpfe des niedlichen Kšpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige StumpfnŠschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben kšnnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das VergnŸgen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.


Ich fing nun an, meine Rolle mit MŠ§igung zu spielen, halb beschŠmt, so gute Menschen zum besten zu haben, die zu beobachten es mir nicht an Zeit fehlte: denn die MŠdchen setzten jenes GesprŠch fort und zwar mit Leidenschaft und Laune. SŠmtliche Nachbarn und Verwandte wurden abermals vorgefŸhrt, und es erschien meiner Einbildungskraft ein solcher Schwarm von Onkeln und Tanten, Vettern, Basen, Kommenden, Gehenden, Gevattern und GŠsten, da§ ich in der belebtesten Welt zu hausen glaubte. Alle Familienglieder hatten einige Worte mit mir gesprochen, die Mutter betrachtete mich jedesmal, so oft sie kam oder ging, aber Friedrike lie§ sich zuerst mit mir in ein GesprŠch ein, und indem ich umherliegende Noten aufnahm und durchsah, fragte sie, ob ich auch spiele? Als ich es bejahte, ersuchte sie mich, etwas vorzutragen; aber der Vater lie§ mich nicht dazu kommen: denn er behauptete es sei schicklich, dem Gaste zuerst mit irgend einem MusikstŸck oder einem Liede zu dienen.

Sie spielten verschiedenes mit einiger Fertigkeit, in der Art, wie man es auf dem Lande zu hšren pflegt, und zwar auf einem Klavier, das der Schulmeister schon lŠngst hŠtte stimmen sollen, wenn er Zeit gehabt hŠtte. Nun sollte sie auch ein Lied singen, ein gewisses zŠrtlich-trauriges; das gelang ihr nun gar nicht. Sie stand auf und sagte lŠchelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem Gesicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer Freude: "Wenn ich schlecht singe, so kann ich die Schuld nicht auf das Klavier und den Schulmeister werfen; lassen Sie uns aber nur hinauskommen, dann sollen Sie meine Elsasser- und Schweizerliedchen hšren, die klingen schon besser."

Beim Abendessen beschŠftigte mich eine Vorstellung, die mich schon frŸher Ÿberfallen hatte, dergestalt, da§ ich nachdenklich und stumm wurde, obgleich die Lebhaftigkeit der Šlteren Schwester und die Anmut der jŸngern mich oft genug aus meinen Betrachtungen schŸttelten. Meine Verwunderung war Ÿber allen Ausdruck, mich so ganz leibhaftig in der Wakefieldschen Familie zu finden. Der Vater konnte frei-


lich nicht mit jenem trefflichen Manne verglichen werden; allein wo gŠbe es auch seinesgleichen! Dagegen stellte sich alle WŸrde, welche jenem Ehegatten eigen ist, hier in der Gattin dar. Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und zu scheuen. Man bemerkte bei ihr die Folgen einer guten Erziehung; ihr Betragen war ruhig, frei, heiter und einladend.

Hatte die Šltere Tochter nicht die gerŸhmte Schšnheit Oliviens, so war sie doch wohl gebaut, lebhaft und eher heftig; sie zeigte sich Ÿberall tŠtig und ging der Mutter in allem an Handen. Friedriken an die Stelle von Primrosens Sophie zu setzen, war nicht schwer: denn von jener ist wenig gesagt, man gibt nur zu, da§ sie liebenswŸrdig sei; diese war es wirklich. Wie nun dasselbe GeschŠft, derselbe Zustand Ÿberall, wo er vorkommen mag, Šhnliche, wo nicht gleiche Wirkungen hervorbringt; so kam auch hier manches zur Sprache, es geschah gar manches, was in der Wakefieldschen Familie sich auch schon ereignet hatte. Als nun aber gar zuletzt ein lŠngst angekŸndigter und von dem Vater mit Ungeduld erwarteter jŸngerer Sohn ins Zimmer sprang und sich dreust zu uns setzte, indem er von den GŠsten wenig Notiz nahm, so enthielt ich mich kaum auszurufen: "Moses, bist du auch da!"

Die Unterhaltung bei Tische erweiterte die Ansicht jenes Land- und Familienkreises, indem von mancherlei lustigen Begebenheiten, die bald da bald dort vorgefallen, die Rede war. Friedrike, die neben mir sa§, nahm daher Gelegenheit, mir verschiedene Ortschaften zu beschreiben, die es wohl zu besuchen der MŸhe wert sei. Da immer ein Geschichtchen das andere hervorruft, so konnte ich nun auch mich desto besser in das GesprŠch mischen und Šhnliche Begebenheiten erzŠhlen, und weil hiebei ein guter Landwein keineswegs geschont wurde, so stand ich in Gefahr, aus meiner Rolle zu fallen, weshalb der vorsichtigere Freund den schšnen Mondschein zum Vorwand nahm und auf einen Spaziergang antrug, welcher denn auch sogleich beliebt wurde. Er bot der €ltesten den Arm, ich der JŸngsten,


und so zogen wir durch die weiten Fluren, mehr den Himmel Ÿber uns zum Gegenstand habend, als die Erde, die sich neben uns in der Breite verlor. Friedrikens Reden jedoch hatten nichts Mondscheinhaftes; durch die Klarheit, womit sie sprach, machte sie die Nacht zum Tage, und es war nichts darin, was eine Empfindung angedeutet oder erweckt hŠtte, nur bezogen sich ihre €u§erungen mehr als bisher auf mich, indem sie sowohl ihren Zustand als die Gegend und ihre Bekannten mir von der Seite vorstellte, wiefern ich sie wŸrde kennen lernen: denn sie hoffe, setzte sie hinzu da§ ich keine Ausnahme machen und sie wieder besuchen wŸrde, wie jeder Fremde gern getan, der einmal bei ihnen eingekehrt sei.

Es war mir sehr angenehm, stillschweigend der Schilderung zuzuhšren, die sie von der kleinen Welt machte, in der sie sich bewegte, und von denen Menschen, die sie besonders schŠtzte. Sie brachte mir dadurch einen klaren und zugleich so liebenswŸrdigen Begriff von ihrem Zustande bei, der sehr wunderlich auf mich wirkte: denn ich empfand auf einmal einen tiefen Verdru§, nicht frŸher mit ihr gelebt zu haben, und zugleich ein recht peinliches, neidisches GefŸhl gegen alle, welche das GlŸck gehabt hatten, sie bisher zu umgeben. Ich pa§te sogleich, als wenn ich ein Recht dazu gehabt hŠtt, genau auf alle ihre Schilderungen von MŠnnern, sie mochten unter den Namen von Nachbarn, Vettern oder Gevattern auftreten, und lenkte bald da- bald dorthin meine Vermutung; allein wie hŠtte ich etwas entdecken sollen in der všlligen Unbekanntschaft aller VerhŠltnisse. Sie wurde zuletzt immer redseliger und ich immer stiller. Es hšrte sich ihr gar so gut zu, und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Gesichtsbildung aber sowie die Ÿbrige Welt in DŠmmerung schwebte, so war es mir, als ob ich in ihr Herz sŠhe, das ich hšchst rein finden mu§te, da es sich in so unbefangener GeschwŠtzigkeit vor mir eršffnete.

Als mein GefŠhrte mit mir in das fŸr uns zubereitete Gastzimmer gelangte, brach er sogleich mit SelbstgefŠlligkeit in


behaglichen Scherz aus und tat sich viel darauf zugute, mich mit der €hnlichkeit der Primrosischen Familie so sehr Ÿberrascht zu haben. Ich stimmte mit ein, indem ich mich dankbar erwies. - "FŸrwahr!" rief er aus, "das MŠrchen ist ganz beisammen. Diese Familie vergleicht sich jener sehr gut, und der verkappte Herr da mag sich die Ehre antun, fŸr Herrn Burchell gelten zu wollen; ferner, weil wir im gemeinen Leben die Bšsewichter nicht so nštig haben als in Romanen, so will ich fŸr diesmal die Rolle des Neffen Ÿbernehmen, und mich besser auffŸhren als er." Ich verlie§ jedoch sogleich dieses GesprŠch, so angenehm es mir auch sein mochte, und fragte ihn vor allen Dingen auf sein Gewissen, ob er mich wirklich nicht verraten habe. Er beteuerte "Nein!" und ich durfte ihm glauben. Sie hŠtten sich vielmehr, sagte er, nach dem lustigen Tischgesellen erkundigt, der in Stra§burg mit ihm in einer Pension speise und von dem man ihnen allerlei verkehrtes Zeug erzŠhlt habe. Ich schritt nun zu andern Fragen: ob sie geliebt habe? ob sie liebe? ob sie versprochen sei? Er verneinte das alles. - "FŸrwahr!" versetzte ich, "eine solche Heiterkeit von Natur aus ist mir unbegreiflich. HŠtte sie geliebt und verloren und sich wieder gefa§t, oder wŠre sie Braut, in beiden FŠllen wollte ich es gelten lassen."

So schwatzten wir zusammen tief in die Nacht, und ich war schon wieder munter, als es tagte. Das Verlangen, sie wieder zu sehen, schien unŸberwindlich; allein indem ich mich anzog, erschrak ich Ÿber die verwŸnschte Garderobe, die ich mir so freventlich ausgesucht hatte. Je weiter ich kam, meine KleidungsstŸcke anzulegen, desto niedertrŠchtiger erschien ich mir: denn alles war ja auf diesen Effekt berechnet. Mit meinen Haaren wŠre ich allenfalls noch fertig geworden; aber wie ich mich zuletzt in den geborgten, abgetragenen grauen Rock einzwŠngte und die kurzen €rmel mir das abgeschmackteste Ansehen gaben, fiel ich desto entschiedener in Verzweiflung, als ich mich in einem kleinen Spiegel nur teilweise betrachten konnte; da denn immer ein Teil lŠcherlicher aussah als der andre.


†ber dieser Toilette war mein Freund aufgewacht und blickte, mit der Zufriedenheit eines guten Gewissens und im GefŸhl einer freudigen Hoffnung fŸr den Tag, aus der gestopften seidenen Decke. Ich hatte schon seine hŸbschen Kleider, wie sie Ÿber den Stuhl hingen, lŠngst beneidet, und wŠre er von meiner Taille gewesen, ich hŠtte sie ihm vor den Augen weggetragen, mich drau§en umgezogen und ihm meine verwŸnschte HŸlle, in den Garten eilend, zurŸckgelassen; er hŠtte guten Humor genug gehabt, sich in meine Kleider zu stecken, und das MŠrchen wŠre bei frŸhem Morgen zu einem lustigen Ende gelangt. Daran war aber nun gar nicht zu denken, so wenig als wie an irgend eine schickliche Vermittelung. In der Figur, in der mich mein Freund fŸr einen zwar flei§igen und geschickten aber armen Studiosen der Theologie ausgeben konnte, wieder vor Friedriken hinzutreten, die gestern abend an mein verkleidetes Selbst so freundlich gesprochen hatte, das war mir ganz unmšglich. €rgerlich und sinnend stand ich da und bot all mein Erfindungsvermšgen auf; allein es verlie§ mich. Als nun aber gar der behaglich Ausgestreckte, nachdem er mich eine Weile fixiert hatte, auf einmal in ein lautes Lachen ausbrach und ausrief: "Nein! es ist wahr, du siehst ganz verwŸnscht aus!" versetzte ich heftig: "Und ich wei§, was ich tue, leb wohl und entschuldige mich!" - "Bist du toll!" rief er, indem er aus dem Bette sprang und mich aufhalten wollte. Ich war aber schon zur TŸre hinaus, die Treppe hinunter, aus Haus und Hof, nach der Schenke; im Nu war mein Pferd gesattelt, und ich eilte in rasendem Unmut galoppierend nach Drusenheim, den Ort hindurch und immer weiter.

Da ich mich nun in Sicherheit glaubte, ritt ich langsamer und fŸhlte nun erst, wie unendlich ungern ich mich entfernte. Ich ergab mich aber in mein Schicksal, vergegenwŠrtigte mir den Spaziergang von gestern abend mit der grš§ten Ruhe und nŠhrte die stille Hoffnung, sie bald wieder zu sehn. Doch verwandelte sich dieses stille GefŸhl bald wieder in Ungeduld, und nun beschlo§ ich, schnell in die


Stadt zu reiten, mich umzuziehen, ein gutes frisches Pferd zu nehmen; da ich denn wohl allenfalls, wie mir die Leidenschaft vorspiegelte, noch vor Tische, oder, wie es wahrscheinlicher war, zum Nachtische oder gegen Abend gewi§ wieder eintreffen und meine Vergebung erbitten konnte.

Eben wollte ich meinem Pferde die Sporen geben, um diesen Vorsatz auszufŸhren, als mir ein anderer und, wie mich deuchte, sehr glŸcklicher Gedanke durch den Geist fuhr. Schon gestern hatte ich im Gasthofe zu Drusenheim einen sehr sauber gekleideten Wirtssohn bemerkt, der auch heute frŸh, mit lŠndlichen Anordnungen beschŠftigt, mich aus seinem Hofe begrŸ§te. Er war von meiner Gestalt und hatte mich flŸchtig an mich selbst erinnert. Gedacht, getan! Mein Pferd war kaum umgewendet, so befand ich mich in Drusenheim; ich brachte es in den Stall und machte dem Burschen kurz und gut den Vorschlag: er solle mir seine Kleider borgen, weil ich in Sesenheim etwas Lustiges vorhabe. Da brauchte ich nicht auszureden; er nahm den Vorschlag mit Freuden an und lobte mich, da§ ich den Mamsells einen Spa§ machen wolle; sie wŠren so brav und gut, besonders Mamsell Rikchen, und auch die Eltern sŠhen gerne, da§ es immer lustig und vergnŸgt zuginge. Er betrachtete mich aufmerksam, und da er mich nach meinem Aufzug fŸr einen armen Schlucker halten mochte, so sagte er: "Wenn Sie sich insinuieren wollen, So ist das der rechte Weg." Wir waren indessen schon weit in unserer Umkleidung gekommen, und eigentlich sollte er mir seine Festtagskleider gegen die meinigen nicht anvertrauen; doch er war treuherzig und hatte ja mein Pferd im Stalle. Ich stand bald und recht schmuck da, warf mich in die Brust, und mein Freund schien sein Ebenbild mit Behaglichkeit zu betrachten. - "Topp, Herr Bruder!" sagte er, indem er mir die Hand hinreichte, in die ich wacker einschlug, "komme Er meinem MŠdel nicht zu nah, sie mšchte sich vergreifen."

Meine Haare, die nunmehr wieder ihren všlligen Wuchs hatten, konnte ich ohngefŠhr wie die seinigen scheiteln, und da ich ihn wiederholt betrachtete, so fand ich's lustig, seine


dichteren Augenbrauen mit einem gebrannten Korkstšpsel mŠ§ig nachzuahmen und sie in der Mitte nŠher zusammenzuziehen, um mich bei meinem rŠtselhaften Vornehmen auch Šu§erlich zum RŠtsel zu bilden. "Habt Ihr nun," sagte ich, als er mir den bebŠnderten Hut reichte, "nicht irgend etwas in der Pfarre auszurichten, da§ ich mich auf eine natŸrliche Weise dort anmelden kšnnte?" - "Gut!" versetzte er, "aber da mŸssen Sie noch zwei Stunden warten. Bei uns ist eine Wšchnerin; ich will mich erbieten, den Kuchen der Frau Pfarrin zu bringen, den mšgen Sie dann hinŸbertragen. Hoffart mu§ Not leiden, und der Spa§ denn auch." - Ich entschlo§ mich zu warten, aber diese zwei Stunden wurden mir unendlich lang, und ich verging vor Ungeduld, als die dritte verflo§, ehe der Kuchen aus dem Ofen kam. Ich empfing ihn endlich ganz warm, und eilte, bei dem schšnsten Sonnenschein, mit meinem Kreditiv davon, noch eine Strecke von meinem Ebenbild begleitet, welches gegen Abend nachzukommen und mir meine Kleider zu bringen versprach, die ich aber lebhaft ablehnte und mir vorbehielt, ihm die seinigen wieder zuzustellen.

Ich war nicht weit mit meiner Gabe gesprungen, die ich in einer sauberen zusammengeknŸpften Serviette trug, als ich in der Ferne meinen Freund mit den beiden Frauenzimmern mir entgegen kommen sah. Mein Herz war beklommen, wie sich's eigentlich unter dieser Jacke nicht ziemte. Ich blieb stehen, holte Atem und suchte zu Ÿberlegen, was ich beginnen solle; und nun bemerkte ich erst, da§ das Terrain mir sehr zustatten kam: denn sie gingen auf der andern Seite des Baches, der, sowie die Wiesenstreifen, durch die er hinlief, zwei Fu§pfade ziemlich auseinander hielt. Als sie gegen mir Ÿber waren, rief Friedrike, die mich schon lange gewahrt hatte: "George, was bringst du?" Ich war klug genug, das Gesicht mit dem Hute, den ich abnahm, zu bedecken, indem ich die beladene Serviette hoch in die Hšhe hielt. - "Ein Kindtaufkuchen!" rief sie dagegen; "wie geht's der Schwester?" - "Guet," sagte ich, indem ich,


wo nicht elsassisch, doch fremd zu reden suchte. - "Trag ihn nach Hause!" sagte die €lteste, "und wenn du die Mutter nicht findest, gib ihn der Magd; aber wart auf uns, wir kommen bald wieder, hšrst du!" - Ich eilte meinen Pfad hin, im FrohgefŸhl der besten Hoffnung, da§ alles gut ablaufen mŸsse, da der Anfang glŸcklich war, und hatte bald die Pfarrwohnung erreicht. Ich fand niemand weder im Haus noch in der KŸche; den Herrn, den ich beschŠftigt in der Studierstube vermuten konnte, wollte ich nicht aufregen, ich setzte mich deshalb auf die Bank vor der TŸre, den Kuchen neben mich und drŸckte den Hut ins Gesicht.

Ich erinnere mich nicht leicht einer angenehmern Empfindung. Hier an dieser Schwelle wieder zu sitzen, Ÿber die ich vor kurzem in Verzweiflung hinausgestolpert war; sie schon wieder gesehn, ihre liebe Stimme schon wieder gehšrt zu haben, kurz nachdem mein Unmut mir eine lange Trennung vorgespiegelt hatte; jeden Augenblick sie selbst und eine Entdeckung zu erwarten, vor der mir das Herz klopfte, und doch, in diesem zweideutigen Falle, eine Entdeckung ohne BeschŠmung; dann, gleich zum Eintritt einen so lustigen Streich, als keiner derjenigen, die gestern belacht worden waren! Liebe und Not sind doch die besten Meister, hier wirkten sie zusammen, und der Lehrling war ihrer nicht unwert geblieben.

Die Magd kam aber aus der Scheune getreten. - "Nun! sind die Kuchen geraten?" rief sie mich an; "wie geht's der Schwester?" - "Alles guet," sagte ich und deutete auf den Kuchen, ohne aufzusehen. Sie fa§te die Serviette und murrte "Nun, was hast du heute wieder? hat BŠrbchen wieder einmal einen andern angesehn? La§ es uns nicht entgelten! Das wird eine saubere Ehe werden, wenn's so fortgeht." Da sie ziemlich laut sprach, kam der Pfarrer ans Fenster und fragte, was es gebe? Sie bedeutete ihn; ich stand auf und kehrte mich nach ihm zu, doch hielt ich den Hut wieder Ÿbers Gesicht. Als er etwas Freundliches gesprochen und mich zu bleiben gehei§en hatte, ging ich nach dem Garten


und wollte eben hineintreten, als die Pfarrin, die zum Hoftore hereinkam, mich anrief. Da mir die Sonne gerade ins Gesicht schien, so bediente ich mich abermals des Vorteils, den mir der Hut gewŠhrte, grŸ§te sie mit einem Scharrfu§, sie aber ging in das Haus, nachdem sie mir zugesprochen hatte ich mšchte nicht weggehen, ohne etwas genossen zu haben. Ich ging nunmehr in dem Garten auf und ab; alles hatte bisher den besten Erfolg gehabt, doch holte ich tief Atem, wenn ich dachte, da§ die jungen Leute nun bald herankommen wŸrden. Aber unvermutet trat die Mutter zu mir und wollte eben eine Frage an mich tun, als sie mir ins Gesicht sah, das ich nicht mehr verbergen konnte, und ihr das Wort im Munde stockte. - "Ich suchte Georgen," sagte Sie nach einer Pause, "und wen finde ich! Sind Sie es, junger Herr? wie viel Gestalten haben Sie denn?" - "Im Ernst nur eine," versetzte ich, "zum Scherz, so viel Sie wollen." - "Den will ich nicht verderben," lŠchelte Sie; "gehen Sie hinten zum Garten hinaus und auf der Wiese hin, bis es Mittag schlŠgt, dann kehren Sie zurŸck, und ich will den Spa§ schon eingeleitet haben." Ich tat's; allein da ich aus den Hecken der DorfgŠrten heraus war und die Wiesen hingehen wollte, kamen gerade einige Landleute den Fu§pfad her, die mich in Verlegenheit setzten. Ich lenkte deshalb nach einem WŠldchen, das ganz nah eine Erderhšhung bekršnte, um mich darin bis zur bestimmten Zeit zu verbergen. Doch wie wunderlich ward mir zu Mute, als ich hineintrat: denn es zeigte sich mir ein reinlicher Platz mit BŠnken, von deren jeder man eine hŸbsche Aussicht in die Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchturm, hier Drusenheim und dahinter die waldigen Rheininseln, gegenŸber die Vogesischen Gebirge und zuletzt der Stra§burger MŸnster. Diese verschiedenen himmelhellen GemŠlde waren durch buschige Rahmen eingefa§t, so da§ man nichts Erfreulicheres und Angenehmeres sehen konnte. Ich setzte mich auf eine der BŠnke und bemerkte an dem stŠrksten Baum ein kleines lŠngliches Brett mit der Inschrift: Friedrikens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, da§


ich gekommen sein kšnnte, diese Ruhe zu stšren: denn eine aufkeimende Leidenschaft hat das Schšne, da§, wie sie sich ihres Ursprungs unbewu§t ist, sie auch keinen Gedanken eines Endes haben und, wie sie sich froh und heiter fŸhlt, nicht ahnden kann, da§ sie wohl auch Unheil stiften dŸrfte.

Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzusehn, und verlor mich eben in sŸ§e TrŠumereien, als ich jemand kommen hšrte; es war Friedrike selbst. - "George, was machst du hier?" rief sie von weitem. "Nicht George!" rief ich, in dem ich ihr entgegenlief; "aber einer, der tausendmal um Verzeihung bittet." Sie betrachtete mich mit Erstaunen, nahm sich aber gleich zusammen und sagte nach einem tieferen Atemholen: "Garstiger Mensch, wie erschrecken Sie mich!" - "Die erste Maske hat mich in die zweite getrieben," rief ich aus; "jene wŠre unverzeihlich gewesen, wenn ich nur einigerma§en gewu§t hŠtte, zu wem ich ging, diese vergeben Sie gewi§: denn es ist die Gestalt von Menschen, denen Sie so freundlich begegnen." -- Ihre blŠ§lichen Wangen hatten sich mit dem schšnsten Rosenrote gefŠrbt. - "Schlimmer sollen Sie's wenigstens nicht haben als George! Aber lassen Sie uns sitzen! Ich gestehe es, der Schreck ist mir in die Glieder gefahren." - Ich setzte mich zu ihr, Šu§erst bewegt. - "Wir wissen alles bis heute frŸh durch Ihren Freund," sagte sie, "nun erzŠhlen Sie mir das Weitere." Ich lie§ mir das nicht zweimal sagen, sondern beschrieb ihr meinen Abscheu vor der gestrigen Figur, mein FortstŸrmen aus dem Hause so komisch, da§ sie herzlich und anmutig lachte; dann lie§ ich das Ÿbrige folgen, mit aller Bescheidenheit zwar, doch leidenschaftlich genug, da§ es gar wohl fŸr eine LiebeserklŠrung in historischer Form hŠtte gelten kšnnen. Das VergnŸgen, Sie wieder zu finden, feierte ich zuletzt mit einem Kusse auf ihre Hand, die sie in den meinigen lie§. Hatte sie bei dem gestrigen Mondscheingang die Unkosten des GesprŠchs Ÿbernommen, so erstattete ich die Schuld nun reichlich von meiner Seite. Das VergnŸgen, sie wiederzusehen und ihr alles sagen zu kšnnen, was ich gestern zurŸckhielt, war so gro§, da§ ich


in meiner Redseligkeit nicht bemerkte, wie sie selbst nachdenkend und schweigend war. Sie holte einigemal tief Atem, und ich bat sie aber- und abermal um Verzeihung wegen des Schrecks, den ich ihr verursacht hatte. Wie lange wir mšgen gesessen haben, wei§ ich nicht; aber auf einmal hšrten wir "Rikchen! Rikchen!" rufen. Es war die Stimme der Schwester. - "Das wird eine schšne Geschichte geben," sagte das liebe MŠdchen, zu ihrer všlligen Heiterkeit wiederhergestellt. "sie kommt an meiner Seite her"; fŸgte sie hinzu, indem sie sich verbog, mich halb zu verbergen: "Wenden Sie sich weg, damit man Sie nicht gleich erkennt." Die Schwester trat in den Platz, aber nicht allein, Weyland ging mit ihr, und beide, da sie uns erblickten, blieben wie versteinert.

Wenn wir auf einmal aus einem ruhigen Dache eine Flamme gewaltsam ausbrechen sŠhen, oder einem Ungeheuer begegneten, dessen Mi§gestalt zugleich empšrend und fŸrchterlich wŠre, so wŸrden wir von keinem so grimmigen Entsetzen befallen werden als dasjenige ist, das uns ergreift, wenn wir etwas unerwartet mit Augen sehen, das wir moralisch unmšglich glaubten. - "Was hei§t das?" rief jene mit der Hastigkeit eines Erschrockenen; "was ist das? du mit Georgen! Hand in Hand! Wie begreif' ich das?" - "Liebe Schwester," versetzte Friedrike ganz bedenklich, "der arme Mensch, er bittet mir was ab, er hat dir auch was abzubitten, du mu§t ihm aber zum voraus verzeihen." - "Ich verstehe nicht, ich begreife nicht," sagte die Schwester, indem sie den Kopf schŸttelte und Weylanden ansah, der, nach seiner stillen Art, ganz ruhig dastand und die Szene ohne irgend eine €u§erung betrachtete. Friedrike stand auf und zog mich nach sich. "Nicht gezaudert!" rief sie, "Pardon gebeten und gegeben!" "Nun ja!" sagte ich, indem ich der Šltesten ziemlich nahe trat; "Pardon habe ich vonnšten!" Sie fuhr zurŸck, tat einen lauten Schrei und wurde rot Ÿber und Ÿber; dann warf Sie Sich aufs Gras, lachte Ÿberlaut und wollte sich gar nicht zufrieden geben. Weyland lŠchelte behaglich und rief: "Du bist ein exzellenter Junge!" Dann schŸttelte er meine Hand


in der seinigen. Gewšhnlich war er mit Liebkosungen nicht freigebig, aber Sein HŠndedruck hatte etwas Herzliches und Belebendes; doch war er auch mit diesem sparsam.

Nach einiger Erholung und Sammlung traten wir unsern RŸckweg nach dem Dorfe an. Unterwegs erfuhr ich, wie dieses wunderbare Zusammentreffen veranla§t worden. Friedrike hatte sich von dem Spaziergange zuletzt abgesondert, um auf ihrem PlŠtzchen noch einen Augenblick vor Tische zu ruhen, und als jene beiden nach Hause gekommen, hatte die Mutter sie abgeschickt, Friedriken eiligst zu holen, weil das Mittagsessen bereit sei.

Die Schwester zeigte den ausgelassensten Humor, und als sie erfuhr, da§ die Mutter das Geheimnis schon entdeckt habe, rief sie aus: "Nun ist noch Ÿbrig, da§ Vater, Bruder, Knecht und Magd gleichfalls angefŸhrt werden." Als wir uns an dem Gartenzaun befanden, mu§te Friedrike mit dem Freund voraus nach dem Hause gehen. Die Magd war im Hausgarten beschŠftigt, und Olivie (so mag auch hier die Šltere Schwester hei§en) rief ihr zu: "Warte, ich habe dir was zu sagen!" Mich lie§ sie an der Hecke stehen und ging zu dem MŠdchen. Ich sah, da§ sie sehr ernsthaft sprachen. Olivie bildete ihr ein, George habe sich mit BŠrben Ÿberworfen und schiene Lust zu haben, sie zu heiraten. Das gefiel der Dirne nicht Ÿbel; nun ward ich gerufen und sollte das Gesagte bekrŠftigen. Das hŸbsche derbe Kind senkte die Augen nieder und blieb so, bis ich ganz nahe vor ihr stand. Als sie aber auf einmal das fremde Gesicht erblickte, tat auch sie einen lauten Schrei und lief davon. Olivie hie§ mich ihr nachlaufen und sie festhalten, da§ sie nicht ins Haus geriet und LŠrm machte; sie aber wolle selbst hingehen und sehen, wie es mit dem Vater stehe. Unterwegs traf Olivie auf den Knecht, welcher der Magd gut war; ich hatte indessen das MŠdchen ereilt und hielt sie fest. - "Denk einmal! welch ein GlŸck," rief Olivie, "mit BŠrben ist's aus, und George heiratet Liesen." - "Das habe ich lange gedacht," sagte der gute Kerl, und blieb verdrie§lich stehen.


Ich hatte dem MŠdchen begreiflich gemacht, da§ es nur darauf ankomme, den Papa anzufŸhren. Wir gingen auf den Burschen los, der sich umkehrte und sich zu entfernen suchte; aber Liese holte ihn herbei, und auch er machte, indem er enttŠuscht ward, die wunderlichsten GebŠrden. Wir gingen zusammen nach dem Hause. Der Tisch war gedeckt und der Vater schon im Zimmer. Olivie, die mich hinter sich hielt, trat an die Schwelle und sagte: "Vater, es ist dir doch recht, da§ George heute mit uns i§t? Du mu§t ihm aber erlauben, da§ er den Hut aufbehŠlt." - "Meinetwegen!" sagte der Alte, "aber warum so was Ungewšhnliches? Hat er sich beschŠdigt?" Sie zog mich vor, wie ich stand und den Hut aufhatte. "Nein!" sagte sie, indem sie mich in die Stube fŸhrte, "aber er hat eine Vogelhecke darunter, die mšchten hervorfliegen und einen verteufelten Spuk machen: denn es sind lauter lose Všgel." Der Vater lie§ sich den Scherz gefallen, ohne da§ er recht wu§te, was es hei§en sollte. In dem Augenblick nahm sie mir den Hut ab, machte einen Scharrfu§ und verlangte von mir das gleiche. Der Alte sah mich an, erkannte mich, kam aber nicht aus seiner priesterlichen Fassung. "Ei ei! Herr Kandidat!" rief er aus, indem er einen drohenden Finger aufhob, "sie haben geschwind umgesattelt, und ich verliere Ÿber Nacht einen GehŸlfen, der mir erst gestern so treulich zusagte, manchmal die Wochenkanzel fŸr mich zu besteigen." Darauf lachte er von Herzen, hie§ mich willkommen, und wir setzten uns zu Tische. Moses kam um vieles spŠter; denn er hatte sich, als der verzogene JŸngste, angewšhnt, die Mittagsglocke zu verhšren. Au§erdem gab er wenig acht auf die Gesellschaft, auch kaum, wenn er widersprach. Man hatte mich, um ihn sicherer zu machen, nicht zwischen die Schwestern, sondern an das Ende des Tisches gesetzt, wo George manchmal zu sitzen pflegte. Als er, mir im RŸcken, zur TŸr hereingekommen war, schlug er mir derb auf die Achsel und sagte: "George, gesegnete Mahlzeit!" - "Schšnen Dank, Junker!" erwiderte ich. - Die fremde Stimme, das fremde Gesicht erschreckten ihn. - "Was sagst du?" rief Olivie, "sieht er sei-


nem Bruder nicht recht Šhnlich?" - "Jawohl, von hinten," versetzte Moses, der sich gleich wieder zu fassen wu§te, "wie allen Leuten." Er sah mich gar nicht wieder an und beschŠftigte sich blo§, die Gerichte, die er nachzuholen hatte, eifrig hinunterzuschlingen. Dann beliebte es ihm auch, gelegentlich aufzustehen und sich in Hof und Garten etwas zu schaffen zu machen. Zum Nachtische trat der wahrhafte George herein und belebte die ganze Szene noch mehr. Man wollte ihn wegen seiner Eifersucht aufziehen und nicht billigen, da§ er sich an mir einen Rival geschaffen hŠtte; allein er war bescheiden und gewandt genug und mischte auf eine halb dusselige Weise sich, seine Braut, sein Ebenbild und die Mamsells dergestalt durcheinander, da§ man zuletzt nicht mehr wu§te, von wem die Rede war, und da§ man ihn das Glas Wein und ein StŸck von seinem eignen Kuchen in Ruhe gar zu gern verzehren lie§.

Nach Tische war die Rede, da§ man spazieren gehen wolle; welches doch in meinen Bauerkleidern nicht wohl anging. Die Frauenzimmer aber hatten schon heute frŸh, als sie erfuhren, wer so Ÿbereilt fortgelaufen war, sich erinnert, da§ eine schšne Pekesche eines Vettern im Schrank hŠnge, mit der er, bei seinem Hiersein, auf die Jagd zu gehen pflege. Allein ich lehnte es ab, Šu§erlich zwar mit allerlei SpŠ§en, aber innerlich mit dem eitlen GefŸhl, da§ ich den guten Eindruck, den ich als Bauer gemacht, nicht wieder durch den Vetter zerstšren wolle. Der Vater hatte sich entfernt, sein MittagsschlŠfchen zu halten, die Mutter war in der Haushaltung beschŠftigt wie immer. Der Freund aber tat den Vorschlag, ich solle etwas erzŠhlen, worein ich sogleich willigte. Wir begaben uns in eine gerŠumige Laube, und ich trug ein MŠrchen vor, das ich hernach unter dem Titel "Die neue Melusine" aufgeschrieben habe. Es verhŠlt sich zum "Neuen Paris" wie ungefŠhr der JŸngling zum Knaben, und ich wŸrde es hier einrŸcken, wenn ich nicht der lŠndlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefŠllig umgibt, durch wunderliche Spiele der Phantasie zu schaden fŸrchtete. Genug, mir gelang, was den Erfinder und ErzŠhler solcher


Produktionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflšsung undurchdringlicher RŠtsel zu reizen, die Erwartungen zu tŠuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rŸhren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das GemŸt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen.

Sollte jemand kŸnftig dieses MŠrchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen kšnnen; so bedenke derselbe, da§ der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mi§brauch der Sprache, stille fŸr sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persšnlichkeit, die Jugend am stŠrksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen. Mir war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte Redseligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles, was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und krŠftig darzustellen, bekannte MŠrchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzŠhlen, ja im ErzŠhlen zu erfinden. Durch jene vŠterliche Mitgift wurde ich der Gesellschaft mehrenteils unbequem: denn wer mag gern die Meinungen und Gesinnungen des andern hšren, besonders eines JŸnglings, dessen Urteil, bei lŸckenhafter Erfahrung, immer unzulŠnglich erscheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur gesellschaftlichen Unterhaltung eigentlich recht ausgestattet. Das leerste MŠrchen hat fŸr die Einbildungskraft schon einen hohen Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen.

Durch solche Darstellungen, die mich gar nichts kosteten, machte ich mich bei Kindern beliebt, erregte und er-


getzte die Jugend und zog die Aufmerksamkeit Šlterer Personen auf mich. Nur mu§te ich in der SozietŠt, wie sie gewšhnlich ist, solche †bungen gar bald einstellen, und ich habe nur zu sehr an Lebensgenu§ und freier Geistesfšrderung dadurch verloren; doch begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs ganze Leben, mit einer dritten verbunden, mit dem BedŸrfnis, mich figŸrlich und gleichnisweise auszudrŸcken. In RŸcksicht dieser Eigenschaften, welche der so einsichtige als geistreiche Doktor Gall, nach seiner Lehre, an mir anerkannte, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum Volksredner geboren. †ber diese Eršffnung erschrak ich nicht wenig: denn hŠtte sie wirklich Grund, so wŠre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles Ÿbrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen.


DRITTER TEIL

Es ist dafŸr gesorgt, da§ die BŠume nicht in den Himmel wachsen



 

Elftes Buch

 

Nachdem ich in jener Laube zu Sesenheim meine ErzŠhlung vollendet, in welcher das Gemeine mit dem Unmšglichen anmutig genug wechselte, sah ich meine Hšrerinnen, die sich schon bisher ganz eigen teilnehmend erwiesen hatten, von meiner seltsamen Darstellung aufs Šu§erste verzaubert. Sie baten mich instŠndig, ihnen das MŠrchen aufzuschreiben, damit sie es šfters unter sich und vorlesend mit andern wiederholen kšnnten. Ich versprach es um so lieber, als ich dadurch einen Vorwand zu Wiederholung des Besuchs und Gelegenheit zu nŠherer Verbindung mir zu gewinnen hoffte. Die Gesellschaft trennte sich einen Augenblick, und alle mochten fŸhlen, da§, nach einem so lebhaft vollbrachten Tag, der Abend einigerma§en matt werden kšnnte. Von dieser Sorge befreite mich mein Freund, der sich fŸr uns die Erlaubnis erbat, sogleich Abschied nehmen zu dŸrfen, weil er, als ein flei§iger und in seinen Studien folgerechter akademischer BŸrger, diese Nacht in Drusenheim zuzubringen und morgen zeitig in Stra§burg zu sein wŸnsche.

Unser Nachtquartier erreichten wir beide schweigend; ich, weil ich einen Widerhaken im Herzen fŸhlte, der mich zurŸckzog, er, weil er etwas anderes im Sinne hatte, das er mir, als wir angelangt waren, sogleich mitteilte. - "Es ist doch wunderlich," fing er an, "da§ du gerade auf dieses MŠrchen verfallen bist. Hast du nicht bemerkt, da§ es einen ganz besondern Eindruck machte?" - "Freilich," versetzte ich darauf; "wie hŠtte ich nicht bemerken sollen, da§ die €ltere bei einigen Stellen, mehr als billig, lachte, die JŸngere den Kopf schŸttelte, da§ ihr euch bedeutend ansaht, und da§ du selbst beinah aus deiner Fassung gekommen wŠrest. Ich leugne nicht, es hŠtte mich fast irre gemacht: denn es fuhr mir durch den


Kopf, da§ es vielleicht unschicklich sei, den guten Kindern solche Fratzen zu erzŠhlen, die ihnen besser unbekannt blieben, und ihnen von den MŠnnern so schlechte Begriffe zu geben, als sie von der Figur des Abenteurers sich notwendig bilden mŸssen." - "Keineswegs!" versetzte jener; "du errŠtst es nicht, und wie solltest du's erraten? Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt, als du glaubst: denn die gro§e Gesellschaft um sie her gibt ihnen zu manchem Nachdenken Anla§, und so ist Ÿberrhein gerade ein solches Ehepaar, wie du es, nur Ÿbertrieben und mŠrchenhaft, schilderst. Er gerade so gro§, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, da§ er sie wohl auf der Hand tragen kšnnte. Ihr Ÿbriges VerhŠltnis, ihre Geschichte pa§t ebenfalls so genau zu deiner ErzŠhlung, da§ die MŠdchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hŠttest? Ich versichert 'nein!' und du wirst wohl tun, das MŠrchen ungeschrieben zu lassen. Durch Zšgern und VorwŠnde wollen wir schon eine Entschuldigung finden."

Ich verwunderte mich sehr: denn ich hatte weder an ein diesrheinisches noch an ein Ÿberrheinisches Paar gedacht, ja ich hŠtte gar nicht anzugeben gewu§t, wie ich auf den Einfall gekommen. In Gedanken mochte ich mich gern mit solchen SpŠ§en, ohne weitere Beziehung, beschŠftigen, und so, glaubte ich, sollte es auch andern sein, wenn ich sie erzŠhlte.

Als ich in der Stadt wieder an meine GeschŠfte kam, fŸhlte ich die Beschwerlichkeit derselben mehr als sonst: denn der zur TŠtigkeit geborene Mensch Ÿbernimmt sich in Planen und Ÿberladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend ein physisches oder moralisches Hindernis dazutritt, um das UnverhŠltnismŠ§ige der KrŠfte zu dem Unternehmen ins klare zu bringen.

Das Juristische trieb ich mit so viel Flei§, als nštig war, um die Promotion mit einigen Ehren zu absolvieren; das Medizinische reizte mich, weil es mir die Natur nach allen Seiten, wo nicht aufschlo§, doch gewahr werden lie§, und ich war daran durch Umgang und Gewohnheit gebunden;


der Gesellschaft mu§te ich auch einige Zeit und Aufmerksamkeit widmen: denn in manchen Familien war mir mehreres zu Lieb und zu Ehren geschehn. Aber alles dies wŠre zu tragen und fortzufŸhren gewesen, hŠtte nicht das, was Herder mir auferlegt, unendlich auf mir gelastet. Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die Armut der deutschen Literatur bedeckte; er hatte mir so manches Vorurteil mit Grausamkeit zerstšrt; an dem vaterlŠndischen Himmel blieben nur wenige bedeutende Sterne, indem er die Ÿbrigen alle nur als vorŸberfahrende Schnuppen behandelte; ja, was ich von mir selbst hoffen und wŠhnen konnte, hatte er mir derma§en verkŸmmert, da§ ich an meinen eignen FŠhigkeiten zu verzweifeln anfing. Zu gleicher Zeit jedoch ri§ er mich fort auf den herrlichen breiten Weg, den er selbst zu durchwandern geneigt war, machte mich aufmerksam auf seine Lieblingsschriftsteller, unter denen Swift und Hamann obenan standen, und schŸttelte mich krŠftiger auf, als er mich gebeugt hatte. Zu dieser vielfachen Verwirrung nunmehr eine angehende Leidenschaft, die, indem sie mich zu verschlingen drohte, zwar von jenen ZustŠnden mich abziehn, aber wohl schwerlich darŸber erheben konnte. Dazu kam noch ein kšrperliches †bel, da§ mir nŠmlich nach Tische die Kehle wie zugeschnŸrt war; welches ich erst spŠter sehr leicht los wurde, als ich einem roten Wein, den wir in der Pension gewšhnlich und sehr gern tranken, entsagte. Diese unertrŠgliche Unbequemlichkeit hatte mich auch in Sesenheim verlassen, so da§ ich mich dort doppelt vergnŸgt befand; als ich aber zu meiner stŠdtischen DiŠt zurŸckkehrte, stellte sie sich zu meinem gro§en Verdru§ sogleich wieder ein. Alles dies machte mich nachdenklich und mŸrrisch, und mein €u§eres mochte mit dem Innern Ÿbereinstimmen.

Verdrie§licher als jemals, weil eben nach Tische jenes †bel sich heftig eingefunden hatte, wohnte ich dem Klinikum bei. Die gro§e Heiterkeit und Behaglichkeit, womit der verehrte Lehrer uns von Bett zu Bett fŸhrte, die genaue Bemerkung


bedeutender Symptome, die Beurteilung des Gangs der Krankheit Ÿberhaupt, die schšne hippokratische VerfŸhrungsart, wodurch sich, ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die Gestalten des Wissens heraufgaben, die Schlu§reden, mit denen er gewšhnlich seine Stunden zu kršnen pflegte, das alles zog mich zu ihm und machte mir ein fremdes Fach, in das ich nur wie durch eine Ritze hineinsah, um desto reizender und lieber. Mein Abscheu gegen die Kranken nahm immer mehr ab, je mehr ich diese ZustŠnde in Begriffe verwandeln lernte, durch welche die Heilung, die Wiederherstellung menschlicher Gestalt und Wesens als mšglich erschien. Er mochte mich wohl, als einen seltsamen jungen Menschen, besonders ins Auge gefa§t und mir die wunderliche Anomalie, die mich zu seinen Stunden hinfŸhrte, verziehn haben. Diesmal schlo§ er seinen Vortrag nicht, wie sonst, mit einer Lehre, die sich auf irgend eine beobachtete Krankheit bezogen hŠtte, sondern sagte mit Heiterkeit: "Meine Herren! wir sehen einige Ferien vor uns. Benutzen sie dieselben, sich aufzumuntern; die Studien wollen nicht allein ernst und flei§ig, sie wollen auch heiter und mit Geistesfreiheit behandelt werden. Geben sie Ihrem Kšrper Bewegung, durchwandern sie zu Fu§ und zu Pferde das schšne Land; der Einheimische wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue EindrŸcke geben und eine angenehme Erinnerung zurŸcklassen."

Es waren unser eigentlich nur zwei, an welche diese Ermahnung gerichtet sein konnte; mšge dem andern dieses Rezept ebenso eingeleuchtet haben als mir! Ich glaubte eine Stimme vom Himmel zu hšren, und eilte was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich sauber herauszuputzen. Ich schickte nach Weyland, er war nicht zu finden. Dies hielt meinen Entschlu§ nicht auf, aber leider verzogen sich die Anstalten, und ich kam nicht so frŸh weg, als ich gehofft hatte. So stark ich auch ritt, Ÿberfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu verfehlen, und der Mond beleuchtete mein leidenschaftliches Unternehmen. Die Nacht war win-


dig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen frŸh auf ihren Anblick warten zu mŸssen.

Es war schon spŠt, als ich in Sesenheim mein Pferd einstellte. Der Wirt, auf meine Frage, ob wohl in der Pfarre noch Licht sei, versicherte mich, die Frauenzimmer seien eben erst nach Hause gegangen; er glaube gehšrt zu haben, da§ sie noch einen Fremden erwarteten. Das war mir nicht recht; denn ich hŠtte gewŸnscht, der einzige zu sein. Ich eilte nach, um wenigstens, so spŠt noch, als der erste zu erscheinen. Ich fand die beiden Schwestern vor der TŸre sitzend; sie schienen nicht sehr verwundert, aber ich war es, als Friedrike Olivien ins Ohr sagte, so jedoch, da§ ich's hšrte: "Hab ich's nicht gesagt? da ist er!" Sie fŸhrten mich ins Zimmer, und ich fand eine kleine Kollation aufgestellt. Die Mutter begrŸ§te mich als einen alten Bekannten; wie mich aber die €ltere bei Licht besah, brach sie in ein lautes GelŠchter aus: denn sie konnte wenig an sich halten.

Nach diesem ersten etwas wunderlichen Empfang ward sogleich die Unterredung frei und heiter, und was mir diesen Abend verborgen blieb, erfuhr ich den andern Morgen. Friedrike hatte vorausgesagt, da§ ich kommen wŸrde; und wer fŸhlt nicht einiges Behagen beim Eintreffen einer Ahndung, selbst einer traurigen? Alle VorgefŸhle, wenn sie durch das Ereignis bestŠtigt werden, geben dem Menschen einen hšheren Begriff von sich selbst, es sei nun, da§ er sich so zart fŸhlend glauben kann, um einen Bezug in der Ferne zu tasten, oder so scharfsinnig, um notwendige aber doch ungewisse VerknŸpfungen gewahr zu werden. - Oliviens Lachen blieb auch kein Geheimnis; sie gestand, da§ es ihr sehr lustig vorgekommen, mich diesmal geputzt und wohl ausstaffiert zu sehn; Friedrike hingegen fand es vorteilhaft, eine solche Erscheinung mir nicht als Eitelkeit auszulegen, vielmehr den Wunsch, ihr zu gefallen, darin zu erblicken.

FrŸh bei Zeiten rief mich Friedrike zum Spazierengehn; Mutter und Schwester waren beschŠftigt, alles zum Empfang mehrerer GŠste vorzubereiten. Ich geno§ an der Seite


des lieben MŠdchens der herrlichen SonntagsfrŸhe auf dem Lande, wie sie uns der unschŠtzbare Hebel vergegenwŠrtigt hat. Sie schilderte mir die erwartete Gesellschaft und bat mich, ihr beizustehn, da§ alle VergnŸgungen wo mšglich gemeinsam und in einer gewissen Ordnung mšchten genossen werden. "Gewšhnlich," sagte sie, "zerstreut man sich einzeln, Scherz und Spiel wird nur obenhin gekostet, so da§ zuletzt fŸr den einen Teil nichts Ÿbrig bleibt, als die Karten zu ergreifen, und fŸr den andern, im Tanze sich auszurasen."

Wir entwarfen demnach unsern Plan, was vor und nach Tische geschehn sollte, machten einander wechselseitig mit neuen geselligen Spielen bekannt, waren einig und vergnŸgt, als uns die Glocke nach der Kirche rief, wo ich denn, an ihrer Seite, eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.

ZeitverkŸrzend ist immer die NŠhe der Geliebten, doch verging mir diese Stunde auch unter besonderem Nachdenken. Ich wiederholte mir die VorzŸge, die sie soeben aufs freiste vor mir entwickelte: besonnene Heiterkeit, NaivetŠt mit Bewu§tsein, Frohsinn mit Voraussehn; Eigenschaften, die unvertrŠglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr €u§eres gar hold bezeichneten. Nun hatte ich aber auch ernstere Betrachtungen Ÿber mich selbst anzustellen, die einer freien Heiterkeit eher Eintrag taten.

Seitdem jenes leidenschaftliche MŠdchen meine Lippen verwŸnscht und geheiligt (denn jede Weihe enthŠlt ja beides), hatte ich mich, aberglŠubisch genug, in acht genommen, irgend ein MŠdchen zu kŸssen, weil ich solches auf eine unerhšrte geistige Weise zu beschŠdigen fŸrchtete. Ich Ÿberwand daher jede LŸsternheit, durch die sich der JŸngling gedrungen fŸhlt, diese viel oder wenig sagende Gunst einem reizenden MŠdchen abzugewinnen. Aber selbst in der sittigsten Gesellschaft erwartete mich eine lŠstige PrŸfung. Eben jene mehr oder minder geistreichen sogenannten kleinen Spiele, durch welche ein munterer jugendlicher Kreis gesammelt und vereinigt wird, sind gro§enteils auf PfŠnder gegrŸndet, bei deren Einforderung die KŸsse kei-


nen unbedeutenden Lšsewert haben. Ich hatte mir nun ein fŸr allemal vorgenommen, nicht zu kŸssen, und wie uns irgend ein Mangel oder Hindernis zu TŠtigkeiten aufregt, zu denen man sich sonst nicht hingeneigt hŠtte, so bot ich alles auf, was an mir von Talent und Humor war, mich durchzuwinden und dabei vor der Gesellschaft und fŸr die Gesellschaft eher zu gewinnen als zu verlieren. Wenn zu Einlšsung eines Pfandes ein Vers verlangt werden sollte, so richtete man die Forderung meist an mich. Nun war ich immer vorbereitet und wu§te bei solcher Gelegenheit etwas zum Lobe der Wirtin, oder eines Frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte, vorzubringen. Traf es sich, da§ mir allenfalls ein Ku§ auferlegt wurde, so suchte ich mich mit einer Wendung herauszuziehn, mit der man gleichfalls zufrieden war; und da ich Zeit gehabt hatte, vorher darŸber nachzudenken, so fehlte es mir nicht an mannigfaltigen Zierlichkeiten; doch gelangen die aus dem Stegreife immer am besten.

Als wir nach Hause kamen, schwirrten die von mehreren Seiten angekommenen GŠste schon lustig durch einander, bis Friedrike sie sammelte und zu einem Spaziergang nach jenem schšnen Platze lud und fŸhrte. Dort fand man eine reichliche Kollation und wollte mit geselligen Spielen die Stunde des Mittagessens erwarten. Hier wu§te ich, in Einstimmung mit Friedriken, ob sie gleich mein Geheimnis nicht ahndete, Spiele ohne PfŠnder, und PfŠnderlšsungen ohne KŸsse zu bereiten und durchzufŸhren.

Meine Kunstfertigkeit und Gewandtheit war um so nštiger, als die mir sonst ganz fremde Gesellschaft geschwind ein VerhŠltnis zwischen mir und dem lieben MŠdchen mochte geahndet haben, und sich nun schalkhaft alle MŸhe gab, mir dasjenige aufzudringen, was ich heimlich zu vermeiden suchte. Denn bemerkt man in solchen Zirkeln eine angehende Neigung junger Personen, so sucht man sie verlegen zu machen oder nŠher zusammenzubringen, ebenso wie man in der Folge, wenn sich eine Leidenschaft erklŠrt hat, bemŸht ist,


sie wieder auseinander zu ziehen; wie es denn dem geselligen Menschen ganz gleichgŸltig ist, ob er nutzt oder schadet, wenn er nur unterhalten wird.

Ich konnte mit einiger Aufmerksamkeit an diesem Morgen Friedrikens ganzes Wesen gewahr werden, dergestalt, da§ sie mir fŸr die ganze Zeit immer dieselbe blieb. Schon die freundlichen, vorzŸglich an sie gerichteten GrŸ§e der Bauern gaben zu verstehn, da§ sie ihnen wohltŠtig sei und ihr Behagen errege. Zu Hause stand die €ltere der Mutter bei; alles, was kšrperliche Anstrengung erforderte, ward nicht von Friedriken verlangt, man schonte sie, wie man sagte, ihrer Brust wegen.

Es gibt Frauenspersonen, die uns im Zimmer besonders wohl gefallen, andere, die sich besser im Freien ausnehmen; Friedrike gehšrte zu den letztern. Ihr Wesen, ihre Gestalt trat niemals reizender hervor, als wenn sie sich auf einem erhšhten Fu§pfad hinbewegte; die Anmut ihres Betragens schien mit der beblŸmten Erde, und die unverwŸstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern. Diesen erquicklichen €ther, der sie umgab, brachte sie auch mit nach Hause, und es lie§ sich bald bemerken, da§ sie Verwirrungen auszugleichen und die EindrŸcke kleiner unangenehmer ZufŠlligkeiten leicht wegzulšschen verstand.

Die reinste Freude, die man an einer geliebten Person finden kann, ist die, zu sehen, da§ sie andere erfreut. Friedrikens Betragen in der Gesellschaft war allgemein wohltŠtig. Auf SpaziergŠngen schwebte sie, ein belebender Geist, hin und wider, und wu§te die LŸcken auszufŸllen, welche hier und da entstehn mochten. Die Leichtigkeit ihrer Bewegungen haben wir schon gerŸhmt, und am allerzierlichsten war sie, wenn sie lief. So wie das Reh seine Bestimmung ganz zu erfŸllen scheint, wenn es leicht Ÿber die keimenden Saaten wegfliegt, so schien auch sie ihre Art und Weise am deutlichsten auszudrŸcken, wenn sie, etwas Vergessenes zu holen, etwas Verlorenes zu suchen, ein entferntes Paar herbeizurufen, etwas Notwendiges zu bestellen, Ÿber Rain und Matten leich-


ten Laufes hineilte. Dabei kam sie niemals au§er Atem, und blieb všllig im Gleichgewicht; daher mu§te die allzu gro§e Sorge der Eltern fŸr Ihre Brust manchem Ÿbertrieben scheinen.

Der Vater, der uns manchmal durch Wiesen und Felder begleitete, war šfters nicht gŸnstig gepaart. Ich gesellte mich deshalb zu ihm, und er verfehlte nicht, sein Lieblingsthema wieder anzustimmen und mich von dem vorgeschlagenen Bau des Pfarrhauses umstŠndlich zu unterhalten. Er beklagte sich besonders, da§ er die sorgfŠltig gefertigten Risse nicht wieder erhalten kšnne, um darŸber nachzudenken und eine und die andere Verbesserung zu Ÿberlegen. Ich erwiderte darauf, es sei leicht, sie zu ersetzen, und erbot mich zur Fertigung eines Grundrisses, auf welchen doch vorerst alles ankomme. Er war es wohl zufrieden, und bei der nštigen Ausmessung sollte der Schulmeister an Hand gehen, welchen aufzuregen er denn auch sogleich forteilte, damit ja der Fu§ - und Zollstab morgen frŸh bereit wŠre.

Als er hinweggegangen war, sagte Friedrike: "Sie sind recht gut, die schwache Seite des lieben Vaters zu hegen, und nicht, wie die andern, die dieses GesprŠch schon ŸberdrŸssig sind, ihn zu meiden oder davon abzubrechen. Freilich mu§ ich Ihnen bekennen, da§ wir Ÿbrigen den Bau nicht wŸnschen; er wŸrde der Gemeine zu hoch zu stehn kommen und uns auch. Neues Haus, neues HausgerŠte! Unsern GŠsten wŸrde es bei uns nicht wohler sein, sie sind nun einmal das alte GebŠude gewohnt. Hier kšnnen wir sie reichlich bewirten, dort fŠnden wir uns in einem weitern Raume beengt. So steht die Sache; aber unterlassen Sie nicht, gefŠllig zu sein, ich danke es Ihnen von Herzen."

Ein anderes Frauenzimmer, das sich zu uns gesellte, fragte nach einigen Romanen, ob Friedrike solche gelesen habe. Sie verneinte es; denn sie hatte Ÿberhaupt wenig gelesen; sie war in einem heitern sittlichen Lebensgenu§ aufgewachsen und demgemŠ§ gebildet. Ich hatte den "Wakefield" auf der Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn anzubieten; die €hnlichkeit der ZustŠnde war zu auffallend und zu bedeutend. -


"Ich lese sehr gern Romane," sagte sie; "man findet darin so hŸbsche Leute, denen man wohl Šhnlich sehen mšchte."

Die Ausmessung des Hauses geschah des andern Morgens. Sie ging ziemlich langsam vonstatten, da ich in solchen KŸnsten so wenig gewandt war als der Schulmeister. Endlich kam ein leidlicher Entwurf zustande. Der Vater sagte mir seine Absicht und war nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm, um den Ri§ in der Stadt mit mehr Bequemlichkeit zu verfertigen. Friedrike entlie§ mich froh; sie war von meiner Neigung Ÿberzeugt, wie ich von der ihrigen, und die sechs Stunden schienen keine Entfernung mehr. Es war so leicht, mit der Diligence nach Drusenheim zu fahren und sich durch dieses Fuhrwerk, sowie durch ordentliche und au§erordentliche Boten, in Verbindung zu erhalten, wobei George den Spediteur machen sollte.

In der Stadt angelangt, beschŠftigte ich mich in den frŸhesten Stunden - denn an langen Schlaf war nicht mehr zu denken - mit dem Risse, den ich so sauber als mšglich zeichnete. Indessen hatte ich ihr BŸcher geschickt und ein kurzes freundliches Wort dazu geschrieben. Ich erhielt sogleich Antwort und erfreute mich ihrer leichten, hŸbschen, herzlichen Hand. Ebenso war Inhalt und Stil natŸrlich, gut, liebevoll, von innen heraus, und so wurde der angenehme Eindruck, den sie auf mich gemacht, immer erhalten und erneuert. Ich wiederholte mir die VorzŸge ihres holden Wesens nur gar zu gern, und nŠhrte die Hoffnung, sie bald und auf lŠngere Zeit wiederzusehn.

Es bedurfte nun nicht mehr eines Zurufs von seiten des braven Lehrers; er hatte mich durch jene Worte zur rechten Zeit so aus dem Grunde kuriert, da§ ich ihn und seine Kranken nicht leicht wiederzusehen Lust hatte. Der Briefwechsel mit Friedriken wurde lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feste, wozu auch Ÿberrheinische Freunde kommen wŸrden; ich sollte mich auf lŠngere Zeit einrichten. Ich tat es, indem ich einen tŸchtigen Mantelsack auf die Diligence packte; und in wenig Stunden befand ich mich


in ihrer NŠhe. Ich traf eine gro§e und lustige Gesellschaft, nahm den Vater beiseite, Ÿberreichte ihm den Ri§, Ÿber den er gro§e Freude bezeigte; ich besprach mit ihm, was ich bei der Ausarbeitung gedacht hatte; er war au§er sich vor VergnŸgen, besonders lobte er die Reinlichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Jugend auf geŸbt und mir diesmal auf dem schšnsten Papier noch besondere MŸhe gegeben. Allein dieses VergnŸgen wurde unserm guten Wirte gar bald verkŸmmert, da er, gegen meinen Rat, in der Freude seines Herzens, den Ri§ der Gesellschaft vorlegte. Weit entfernt, daran die erwŸnschte Teilnahme zu Šu§ern, achteten die einen diese kšstliche Arbeit gar nicht; andere, die etwas von der Sache zu verstehn glaubten, machten es noch schlimmer: sie tadelten den Entwurf als nicht kunstgerecht, und als der Alte einen Augenblick nicht aufmerkte, handhabten sie diese saubern BlŠtter als Brouillons, und einer zog mit harten Bleistiftstrichen seine VerbesserungsvorschlŠge dergestalt derb Ÿber das zarte Papier, da§ an Wiederherstellung der ersten Reinheit nicht zu denken war.

Den hšchst verdrie§lichen Mann, dem sein VergnŸgen so schmŠhlich vereitelt worden, vermochte ich kaum zu tršsten, So sehr ich ihm auch versicherte, da§ ich sie selbst nur fŸr EntwŸrfe gehalten, worŸber wir sprechen und neue Zeichnungen darauf bauen wollten. Er ging dem allen ungeachtet hšchst verdrie§lich weg, und Friedrike dankte mir fŸr die Aufmerksamkeit gegen den Vater ebensosehr als fŸr die Geduld bei der Unart der MitgŠste.

Ich aber kannte keinen Schmerz noch Verdru§ in ihrer NŠhe. Die Gesellschaft bestand aus jungen, ziemlich lŠrmenden Freunden, die ein alter Herr noch zu Ÿberbieten trachtete und noch wunderlicheres Zeug angab, als sie ausŸbten. Man hatte schon beim FrŸhstŸck den Wein nicht gespart; bei einem sehr wohl besetzten Mittagstische lie§ man sich's an keinem Genu§ ermangeln, und allen schmeckte es, nach der angreifenden LeibesŸbung, bei ziemlicher WŠrme, um so besser, und wenn der alte Amtmann des Guten ein


wenig zu viel getan hatte, so war die Jugend nicht weit hinter ihm zurŸckgeblieben.

Ich war grenzenlos glŸcklich an Friedrikens Seite; gesprŠchig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch GefŸhl, Achtung und AnhŠnglichkeit gemŠ§igt. Sie in gleichem Falle, offen, heiter, teilnehmend und mitteilend. Wir schienen allein fŸr die Gesellschaft zu leben und lebten blo§ wechselseitig fŸr uns.

Nach Tische suchte man den Schatten, gesellschaftliche Spiele wurden vorgenommen, und PfŠnderspiele kamen an die Reihe. Bei Lšsung der PfŠnder ging alles jeder Art ins †bertriebene: GebŠrden, die man verlangte, Handlungen, die man ausŸben, Aufgaben, die man lšsen sollte, alles zeigte von einer verwegenen Lust, die keine Grenzen kennt. Ich selbst steigerte diese wilden Scherze durch manchen Schwank, Friedrike glŠnzte durch manchen neckischen Einfall; sie erschien mir lieblicher als je; alle hypochondrischen aberglŠubischen Grillen waren mir verschwunden, und als sich die Gelegenheit gab, meine so zŠrtlich Geliebte recht herzlich zu kŸssen, versŠumte ich's nicht, und noch weniger versagte ich mir die Wiederholung dieser Freude.

Die Hoffnung der Gesellschaft auf Musik wurde endlich befriedigt, sie lie§ sich hšren und alles eilte zum Tanz. Die Allemanden, das Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und Ende. Alle waren zu diesem Nationaltanz aufgewachsen; auch ich machte meinen geheimen Lehrmeisterinnen Ehre genug, und Friedrike, welche tanzte wie sie ging, sprang und lief, war sehr erfreut, an mir einen geŸbten Partner zu finden. Wir hielten meist zusammen, mu§ten aber bald Schicht machen, weil man ihr von allen Seiten zuredete, nicht weiter fortzurasen. Wir entschŠdigten uns durch einen einsamen Spaziergang Hand in Hand, und an jenem stillen Platze durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung, da§ wir uns von Grund aus liebten.

€ltere Personen, die vom Spiel aufgestanden waren, zogen uns mit sich fort. Bei der Abendkollation kam man ebenso-


wenig zu sich selbst; es ward bis tief in die Nacht getanzt, und an Gesundheiten sowie an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte es so wenig als am Mittag.

Ich hatte kaum einige Stunden sehr tief geschlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich aufweckte. In solchen Stunden und Lagen ist es, wo die Sorge, die Reue den wehrlos hingestreckten Menschen zu Ÿberfallen pflegen. Meine Einbildungskraft stellte mir zugleich die lebhaftesten Bilder dar; ich sehe Lucinden, wie sie, nach dem heftigen Kusse, leidenschaftlich von mir zurŸcktritt, mit glŸhender Wange, mit funkelnden Augen jene VerwŸnschung ausspricht, wodurch nur ihre Schwester bedroht werden soll, und wodurch sie unwissend fremde Schuldlose bedroht. Ich sehe Friedriken gegen ihr Ÿber stehn, erstarrt vor dem Anblick, bleich und die Folgen jener VerwŸnschung fŸhlend, von der sie nichts wei§. Ich finde mich in der Mitte, so wenig imstande die geistigen Wirkungen jenes Abenteuers abzulehnen, als jenen UnglŸck weissagenden Ku§ zu vermeiden. Die zarte Gesundheit Friedrikens schien den gedrohten Unfall zu beschleunigen, und nun kam mir ihre Liebe zu mir recht unselig vor; ich wŸnschte Ÿber alle Berge zu sein.

Was aber noch Schmerzlicheres fŸr mich im Hintergrunde lag, will ich nicht verhehlen. Ein gewisser DŸnkel unterhielt bei mir jenen Aberglauben; meine Lippen - geweiht oder verwŸnscht - kamen mir bedeutender vor als sonst, und mit nicht geringer SelbstgefŠlligkeit war ich mir meines enthaltsamen Betragens bewu§t, indem ich mir manche unschuldige Freude versagte, teils um jenen magischen Vorzug zu bewahren, teils um ein harmloses Wesen nicht zu verletzen, wenn ich ihn aufgŠbe.

Nunmehr aber war alles verloren und unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen Zustand zurŸckgekehrt, ich glaubte das liebste Wesen verletzt, ihr unwiederbringlich geschadet zu haben; und so war jene VerwŸnschung, anstatt da§ ich sie hŠtte los werden sollen, von meinen Lippen in mein eignes Herz zurŸckgeschlagen.


Das alles raste zusammen in meinem durch Liebe und Leidenschaft, Wein und Tanz aufgeregten Blute, verwirrte mein Denken, peinigte mein GefŸhl, so da§ ich, besonders im Gegensatz mit den gestrigen behaglichen Freuden, mich in einer Verzweiflung fŸhlte, die ohne Grenzen schien. GlŸcklicherweise blickte durch eine Spalte im Laden das Tagelicht mich an, und alle MŠchte der Nacht Ÿberwindend, stellte mich die hervortretende Sonne wieder auf meine FŸ§e; ich war bald im Freien und schnell erquickt, wo nicht hergestellt.

Der Aberglaube, sowie manches andre WŠhnen, verliert sehr leicht an seiner Gewalt, wenn er, statt unserer Eitelkeit zu schmeicheln, ihr in den Weg tritt, und diesem zarten Wesen eine bšse Stunde machen will; wir sehen alsdann recht gut, da§ wir ihn loswerden kšnnen, sobald wir wollen; wir entsagen ihm um so leichter, je mehr alles, was wir ihm entziehn, zu unserm Vorteil gereicht. Der Anblick Friedrikens, das GefŸhl ihrer Liebe, die Heiterkeit der Umgebung, alles machte mir VorwŸrfe, da§ ich in der Mitte der glŸcklichsten Tage so traurige Nachtvšgel bei mir beherbergen mšgen; ich glaubte sie auf ewig verscheucht zu haben. Des lieben MŠdchens immer mehr annŠherndes zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich recht glŸcklich, da§ sie mir diesmal beim Abschied šffentlich, wie andern Freunden und Verwandten, einen Ku§ gab.

In der Stadt erwarteten mich gar manche GeschŠfte und Zerstreuungen, aus denen ich mich oft, durch einen jetzt regelmŠ§ig eingeleiteten Briefwechsel mit meiner Geliebten, zu ihr sammelte. Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe; sie mochte etwas Neues erzŠhlen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern, vorŸbergehend reflektieren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, springend so leicht auftrŠte als sicher. Auch ich schrieb sehr gern an sie: denn die VergegenwŠrtigung ihrer VorzŸge vermehrte meine Neigung auch in der Abwesenheit, so da§ diese Unterhaltung einer


persšnlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir sogar angenehmer, teurer wurde.

Denn jener Aberglaube hatte všllig weichen mŸssen. Er grŸndete sich zwar auf EindrŸcke frŸherer Jahre, allein der Geist des Tags, das Rasche der Jugend, der Umgang mit, kalten, verstŠndigen MŠnnern, alles war ihm ungŸnstig, so da§ sich nicht leicht jemand in meiner ganzen Umgebung gefunden hŠtte, dem nicht ein Bekenntnis meiner Grille vollkommen lŠcherlich gewesen wŠre. Allein das Schlimmste war, da§ jener Wahn, indem er floh, eine wahre Betrachtung Ÿber den Zustand zurŸcklie§, in welchem sich immer junge Leute befinden, deren frŸhzeitige Neigungen sich keinen dauerhaften Erfolg versprechen dŸrfen. So wenig war mir geholfen, den Irrtum los zu sein, da§ Verstand und †berlegung mir nur noch schlimmer in diesem Falle mitspielten. Meine Leidenschaft wuchs, je mehr ich den Wert des trefflichen MŠdchens kennen lernte, und die Zeit rŸckte heran, da ich so viel Liebes und Gutes, vielleicht auf immer, verlieren sollte.

Wir hatten eine Zeitlang zusammen still und anmutig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, den "Landpriester von Wakefield" nach Sesenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermutet zu Ÿberreichen, als hŠtte es weiter gar nichts zu sagen. Ich wu§te mich zu fassen und las so heiter und freimŸtig, als ich nur konnte. Auch die Gesichter meiner Zuhšrer erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm, abermals zu einer Vergleichung genštigt zu sein. Hatten sie zu Raymond und Melusine komische Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst in einem Spiegel, der keineswegs verhŠ§lichte. Man gestand sich's nicht ausdrŸcklich, aber man verleugnete es nicht, da§ man sich unter Geistes- und GefŸhlsverwandten bewege.

Alle Menschen guter Art empfinden bei zunehmender Bildung, da§ sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Ge-


fŸhl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen. Was uns fŸr eine wirkliche zugeteilt sei, erfahren wir nur allzu deutlich; was die zweite betrifft, darŸber kšnnen wir selten ins klare kommen. Der Mensch mag seine hšhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er deshalb doch innerlich stšrenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein fŸr allemal den Entschlu§ fa§t, zu erklŠren, das Rechte sei das, was ihm gemŠ§ ist.

Unter die lŠ§lichsten Versuche, sich etwas Hšheres anzubilden, sich einem Hšheren gleich zu stellen, gehšrt wohl der jugendliche Trieb, sich mit Romanenfiguren zu vergleichen. Er ist hšchst unschuldig, und, was man auch dagegen eifern mag, hšchst unschŠdlich. Er unterhŠlt uns in Zeiten, wo wir vor Langerweile umkommen oder zu leidenschaftlicher Unterhaltung greifen mŸ§ten.

Wie oft wiederholt man nicht die Litanei vom Schaden der Romane, und was ist es denn fŸr ein UnglŸck, wenn ein artiges MŠdchen, ein hŸbscher junger Mann sich an die Stelle der Person setzt, der es besser und schlechter geht als ihm selbst? Ist denn das bŸrgerliche Leben so viel wert, oder verschlingen die BedŸrfnisse des Tags den Menschen so ganz, da§ er jede schšne Forderung von sich ablehnen soll?

So sind als kleine Nebenzweige der romantischpoetischen Fiktionen die historisch-poetischen Taufnamen, die sich an die Stelle der heiligen, nicht selten zum €rgernis der taufenden Geistlichen, in die deutsche Kirche eingedrungen, ohne Zweifel anzusehn. Auch dieser Trieb, sein Kind durch einen wohlklingenden Namen, wenn er auch sonst nichts weiter hinter sich hŠtte, zu adeln, ist lšblich, und diese VerknŸpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar Ÿber das ganze Leben der Person einen anmutigen Schimmer. Ein schšnes Kind, welches wir mit Wohlgefallen Berta nennen, wŸrden wir zu beleidigen glauben, wenn wir es Urselblandine nennen sollten. Gewi§, einem gebildeten Menschen, geschweige denn einem


Liebhaber, wŸrde ein solcher Name auf den Lippen stocken. Der kalt und einseitig urteilenden Welt ist nicht zu verargen, wenn sie alles, was phantastisch hervortritt, fŸr lŠcherlich und verwerflich achtet; der denkende Kenner der Menschheit aber mu§ es nach seinem Werte zu wŸrdigen wissen.

FŸr den Zustand der Liebenden an dem schšnen Ufer des Rheins war diese Vergleichung, zu der sie ein Schalk genštigt hatte, von den unmutigsten Folgen. Man denkt nicht Ÿber sich, wenn man sich im Spiegel betrachtet, aber man fŸhlt sich und lŠ§t sich gelten. So ist es auch mit jenen moralischen Nachbildern, an denen man seine Sitten und Neigungen, seine Gewohnheiten und Eigenheiten, wie im Schattenri§, erkennt und mit brŸderlicher Innigkeit zu fassen und zu umarmen strebt.

Die Gewohnheit, zusammen zu sein, befestigte sich immer mehr; man wu§te nicht anders, als da§ ich diesem Kreis angehšre. Man lie§ es geschehn und gehn, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte. Und welche Eltern finden sich nicht genštigt, Tšchter und Sšhne in so schwebenden ZustŠnden eine Weile hinwalten zu lassen, bis sich etwas zufŠllig fŸrs Leben bestŠtigt, besser, als es ein lange angelegter Plan hŠtte hervorbringen kšnnen.

Man glaubte sowohl auf Friedrikens Gesinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit, fŸr die man, wegen jenes wunderlichen Enthaltens selbst von unschuldigen Liebkosungen, ein gŸnstiges Vorurteil gefa§t hatte, všllig vertrauen zu kšnnen. Man lie§ uns unbeobachtet, wie es Ÿberhaupt dort und damals Sitte war, und es hing von uns ab, in kleinerer oder grš§erer Gesellschaft, die Gegend zu durchstreifen und die Freunde der Nachbarschaft zu besuchen. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau, fand ich die Personen zerstreut, die ich in Sesenheim vereinigt gesehn, jeden bei sich, als freundlichen Wirt, gastfrei und so gern KŸche und Keller als GŠrten und Weinberge, ja die ganze Gegend aufschlie§end. Die Rheininseln waren denn auch šfters ein


Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kŸhlen Bewohner des klaren Rheines in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hŠtten uns hier, in den traulichen FischerhŸtten, vielleicht mehr als billig angesiedelt, hŠtten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. †ber diese unertrŠgliche Stšrung einer der schšnsten Lustpartien, wo sonst alles glŸckte, wo die Neigung der Liebenden mit dem guten Erfolge des Unternehmens nur zu wachsen schien, brach ich wirklich, als wir zu frŸh, ungeschickt und ungelegen nach Hause kamen, in Gegenwart des guten geistlichen Vaters, in gotteslŠsterliche Reden aus und versicherte, da§ diese Schnaken allein mich von dem Gedanken abbringen kšnnten, als habe ein guter und weiser Gott die Welt erschaffen. Der alte fromme Herr rief mich dagegen ernstlich zur Ordnung und verstŠndigte mich, da§ diese MŸcken und anderes Ungeziefer erst nach dem Falle unserer ersten Eltern entstanden, oder, wenn deren im Paradiese gewesen, daselbst nur angenehm gesummet und nicht gestochen hŠtten. Ich fŸhlte mich zwar sogleich besŠnftigt: denn ein Zorniger ist wohl zu begŸtigen, wenn es uns glŸckt, ihn zum LŠcheln zu bringen; ich versicherte jedoch, es habe des Engels mit dem flammenden Schwerte gar nicht bedurft, um das sŸndige Ehepaar aus dem Garten zu treiben; er mŸsse mir vielmehr erlauben, mir vorzustellen, da§ dies durch gro§e Schnaken des Tigris und Euphrat geschehn sei. Und so hatte ich ihn wieder zum Lachen gebracht, denn der gute Mann verstand Spa§, oder lie§ ihn wenigstens vorŸbergehn.

Ernsthafter jedoch und herzerhebender war der Genu§ der Tags- und Jahreszeiten in diesem herrlichen Lande. Man durfte sich nur der Gegenwart hingeben, um diese Klarheit des reinen Himmels, diesen Glanz der reichen Erde diese lauen Abende, diese warmen NŠchte an der Seite der Geliebten oder in ihrer NŠhe zu genie§en. Monate lang beglŸckten uns reine Štherische Morgen, wo der Himmel sich in


seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit ŸberflŸssigem Tau getrŠnkt hatte; und damit dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, tŸrmten sich oft Wolken Ÿber die entfernten Berge, bald in dieser, bald in jener Gegend. Sie standen Tage, ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trŸben, und selbst die vorŸbergehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das GrŸn, das schon wieder im Sonnenschein glŠnzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen, zweifarbige SŠume eines dunkelgrauen, beinah schwarzen himmlischen Bandstreifens waren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber auch flŸchtiger, als ich sie irgend beobachtet.

Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefŸhlt hatte, wieder hervor. Ich legte fŸr Friedriken manche Lieder bekannten Melodien unter. Sie hŠtten ein artiges BŠndchen gegeben; wenige davon sind Ÿbrig geblieben, man wird sie leicht aus meinen Ÿbrigen herausfinden.

Da ich meiner wunderlichen Studien und Ÿbrigen VerhŠltnisse wegen doch šfters nach der Stadt zurŸckzukehren genštigt war, so entsprang dadurch fŸr unsere Neigung ein neues Leben, das uns vor allem Unangenehmen bewahrte, was an solche kleine LiebeshŠndel als verdrie§liche Folge sich gewšhnlich zu schlie§en pflegt. Entfernt von mir arbeitete sie fŸr mich, und dachte auf irgend eine neue Unterhaltung, wenn ich zurŸckkŠme; entfernt von ihr beschŠftigte ich mich fŸr sie, um durch eine neue Gabe, einen neuen Einfall ihr wieder neu zu sein. Gemalte BŠnder waren damals eben erst Mode geworden; ich malte ihr gleich ein paar StŸcke und sendete sie mit einem kleinen Gedicht voraus, da ich diesmal lŠnger, als ich gedacht, ausbleiben mu§te. Um auch die dem Vater getane Zusage eines neuen und ausgearbeiteten Baurisses noch Ÿber Versprechen zu halten, beredete ich einen jungen BauverstŠndigen, statt meiner zu arbeiten. Dieser hatte so viel Lust an der Aufgabe als GefŠlligkeit gegen mich, und ward noch mehr durch die Hoff-


nung eines guten Empfangs in einer so angenehmen Familie belebt. Er verfertigte Grundri§, Aufri§ und Durchschnitt des Hauses; Hof und Garten war nicht vergessen; auch ein detaillierter, aber sehr mŠ§iger Anschlag war hinzugefŸgt, um die Mšglichkeit der AusfŸhrung eines weitlŠuftigen und kostspieligen Unternehmens als leicht und tulich vorzuspiegeln.

Diese Zeugnisse unserer freundschaftlichen BemŸhungen verschafften uns den liebreichsten Empfang; und da der Vater sah, da§ wir den besten Willen hatten, ihm zu dienen, so trat er mit noch einem Wunsche hervor; es war der, seine zwar hŸbsche aber einfarbige Chaise mit Blumen und Zieraten staffiert zu sehn. Wir lie§en uns bereitwillig finden. Farben, Pinsel und sonstige BedŸrfnisse wurden von den KrŠmern und Apothekern der nŠchsten StŠdte herbeigeholt. Damit es aber auch an einem Wakefieldschen Mi§lingen nicht fehlen mšchte, so bemerkten wir nur erst, als alles auf das flei§igste und bunteste gemalt war, da§ wir einen falschen Firnis genommen hatten, der nicht trocknen wollte: Sonnenschein und Zugluft, reines und feuchtes Wetter, nichts wollte fruchten. Man mu§te sich indessen eines alten Rumpelkastens bedienen, und es blieb uns nichts Ÿbrig, als die Verzierung mit mehr MŸhe wieder abzureiben, als wir sie aufgemalt hatten. Die Unlust bei dieser Arbeit vergrš§erte sich noch, als uns die MŠdchen ums Himmelswillen baten, langsam und vorsichtig zu verfahren, um den Grund zu schonen; welcher denn doch, nach dieser Operation, zu seinem ursprŸnglichen Glanze nicht wieder zurŸckzubringen war.

Durch solche unangenehme kleine ZwischenfŠlligkeiten wurden wir jedoch so wenig als Doktor Primrose und seine liebenswŸrdige Familie in unserm heitern Leben gestšrt: denn es begegnete manches unerwartete GlŸck sowohl uns als auch Freunden und Nachbarn; Hochzeiten und Kindtaufen, Richtung eines GebŠudes, Erbschaft, Lotteriegewinn wurden wechselseitig verkŸndigt und mitgenossen.


Wir trugen alle Freude, wie ein Gemeingut, zusammen und wu§ten sie durch Geist und Liebe zu steigern. Es war nicht das erste und letzte Mal, da§ ich mich in Familien, in geselligen Kreisen befand, gerade im Augenblick ihrer hšchsten BlŸte, und wenn ich mir schmeicheln darf, etwas zu dem Glanz solcher Epochen beigetragen zu haben, so mu§ ich mir dagegen vorwerfen, da§ solche Zeiten uns eben deshalb schneller vorŸbergeeilt und frŸher verschwunden.

Nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare PrŸfung ausstehn. Ich will es PrŸfung nennen, obgleich dies nicht das rechte Wort ist. Die lŠndliche Familie, der ich befreundet war, hatte verwandte HŠuser in der Stadt, von gutem Ansehn und Ruf und in behaglichen VermšgensumstŠnden. Die jungen StŠdter waren šfters in Sesenheim. Die Šltern Personen, MŸtter und Tanten, weniger beweglich, hšrten so mancherlei von dem dortigen Leben, von der wachsenden Anmut der Tšchter, selbst von meinem Einflu§, da§ sie mich erst wollten kennen lernen, und, nachdem ich sie šfters besucht und auch bei ihnen wohl empfangen war, uns auch alle einmal beisammen zu sehen verlangten, zumal als sie jenen auch eine freundliche Gegenaufnahme schuldig zu sein glaubten.

Lange ward hierŸber hin und her gehandelt. Die Mutter konnte sich schwer von der Haushaltung trennen, Olivie hatte einen Abscheu vor der Stadt, in die sie nicht pa§te, Friedrike keine Neigung dahin; und so verzšgerte sich die Sache, bis sie endlich dadurch entschieden ward, da§ es mir unmšglich fiel, innerhalb vierzehn Tagen aufs Land zu kommen, da man sich denn lieber in der Stadt und mit einigem Zwange als gar nicht sehen wollte. Und so fand ich nun meine Freundinnen, die ich nur auf lŠndlicher Szene zu sehen gewohnt war, deren Bild mir nur auf einem Hintergrunde von schwankenden Baumzweigen, beweglichen BŠchen, nickenden Blumenwiesen und einem meilenweit freien Horizonte bisher erschien - ich sah sie nun zum ersten Mal in stŠdtischen, zwar weiten Zimmern, aber doch in der


Enge, in Bezug auf Tapeten, Spiegel, Standuhren und Porzellanpuppen.

Das VerhŠltnis zu dem, was man liebt, ist so entschieden, da§ die Umgebung wenig sagen will; aber da§ es die gehšrige, natŸrliche, gewohnte Umgebung sei, dies verlangt das GemŸt. Bei meinem lebhaften GefŸhl fŸr alles GegenwŠrtige konnte ich mich nicht gleich in den Widerspruch des Augenblicks finden. Das anstŠndige, ruhig-edle Betragen der Mutter pa§te vollkommen in diesen Kreis, sie unterschied sich nicht von den Ÿbrigen Frauen; Olivie dagegen bewies sich ungeduldig, wie ein Fisch auf dem Strande. Wie sie mich sonst in dem Garten anrief oder auf dem Felde bei Seite winkte, wenn sie mir etwas Besonderes zu sagen hatte, so tat sie auch hier, indem sie mich in eine Fenstertiefe zog; sie tat es mit Verlegenheit und ungeschickt, weil sie fŸhlte, da§ es nicht pa§te, und es doch tat. Sie hatte mir das Unwichtigste von der Welt zu sagen, nichts als was ich schon wu§te: da§ es ihr entsetzlich weh sei, da§ sie sich an den Rhein, Ÿber den Rhein, ja in die TŸrkei wŸnsche. Friedrike hingegen war in dieser Lage hšchst merkwŸrdig Eigentlich genommen pa§te sie auch nicht hinein; aber dies zeugte fŸr ihren Charakter, da§ sie, anstatt sich in diesen Zustand zu finden, unbewu§t den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so tat sie es auch hier. Jeden Augenblick wu§te sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, Setzte sie alles in Bewegung und beruhigte gerade dadurch die Gesellschaft, die eigentlich nur von der Langenweile beunruhigt wird. Sie erfŸllte damit vollkommen den Wunsch der stŠdtischen Tanten, welche ja auch einmal, von ihrem Kanapee aus, Zeugen jener lŠndlichen Spiele und Unterhaltungen sein wollten. War dieses zur GenŸge geschehn, so wurde die Garderobe, der Schmuck, und was die stŠdtischen, franzšsisch gekleideten Nichten besonders auszeichnete, betrachtet und ohne Neid bewundert. Auch mit mir machte Friedrike sich's leicht, indem sie mich behandelte wie immer. Sie schien mir keinen andern Vorzug zu


geben, als den, da§ sie ihr Begehren, ihre WŸnsche eher an mich als an einen andern richtete und mich dadurch als ihren Diener anerkannte.

Diese Dienerschaft nahm sie einen der folgenden Tage mit Zuversicht in Anspruch, als sie mir vertraute, die Damen wŸnschten mich lesen zu hšren. Die Tšchter des Hauses hatten viel davon erzŠhlt: denn in Sesenheim las ich, was und wann man's verlangte. Ich war sogleich bereit, nur bat ich um Ruhe und Aufmerksamkeit auf mehrere Stunden. Dies ging man ein, und ich las an einem Abend den ganzen "Hamlet" ununterbrochen, in den Sinn des StŸcks eindringend, wie ich es nur vermochte, mit Lebhaftigkeit und Leidenschaft mich ausdrŸckend, wie es der Jugend gegeben ist. Ich erntete gro§en Beifall. Friedrike hatte von Zeit zu Zeit tief geatmet und ihre Wangen eine fliegende Ršte Ÿberzogen. Diese beiden Symptome eines bewegten zŠrtlichen Herzens, bei scheinbarer Heiterkeit und Ruhe von au§en, waren mir nicht unbekannt und der einzige Lohn, nach dem ich strebte. Sie sammelte den Dank, da§ sie mich veranla§t hatte, mit Freuden ein, und versagte sich, nach ihrer zierlichen Weise, den kleinen Stolz nicht, in mir und durch mich geglŠnzt zu haben.

Dieser Stadtbesuch sollte nicht lange dauern, aber die Abreise verzšgerte sich. Friedrike tat das Ihrige zur geselligen Unterhaltung, ich lie§ es auch nicht fehlen; aber die reichen HŸlfsquellen, die auf dem Lande so ergiebig sind, versiegten bald in der Stadt, und der Zustand ward um so peinlicher, als die €ltere nach und nach ganz aus der Fassung kam. Die beiden Schwestern waren die einzigen in der Gesellschaft, welche sich deutsch trugen. Friedrike hatte sich niemals anders gedacht und glaubte Ÿberall so recht zu sein, sie verglich sich nicht; aber Olivien war es ganz unertrŠglich, so mŠgdehaft ausgezeichnet in dieser vornehm erscheinenden Gesellschaft einherzugehn. Auf dem Lande bemerkte sie kaum die stŠdtische Tracht an andern, sie verlangte sie nicht; in der Stadt konnte sie die lŠndliche nicht ertragen. Dies


alles zu dem Ÿbrigen Geschicke stŠdtischer Frauenzimmer, zu den hundert Kleinigkeiten einer ganz entgegengesetzten Umgebung wŸhlte einige Tage so in dem leidenschaftlichen Busen, da§ ich alle schmeichelnde Aufmerksamkeit auf sie zu wenden hatte, um sie, nach dem Wunsche Friedrikens, zu begŸtigen. Ich fŸrchtete eine leidenschaftliche Szene. Ich sah den Augenblick, da sie sich mir zu FŸ§en werfen und mich bei allem Heiligen beschwšren werde, sie aus diesem Zustande zu retten. Sie war himmlisch gut, wenn sie sich nach ihrer Weise behaben konnte, aber ein solcher Zwang setzte sie gleich in Mi§behagen und konnte sie zuletzt bis zur Verzweiflung treiben. Nun suchte ich zu beschleunigen, was die Mutter mit Olivien wŸnschte und was Friedriken nicht zuwider war. Diese im Gegensatze mit ihrer Schwester zu loben, enthielt ich mich nicht; ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverŠndert und auch in diesen Umgebungen so frei wie den Vogel auf den Zweigen zu finden. Sie war artig genug zu erwidern, da§ ich ja da sei, sie wolle weder hinaus noch herein, wenn ich bei ihr wŠre.

Endlich sah ich sie abfahren, und es fiel mir wie ein Stein vom Herzen: denn meine Empfindung hatte den Zustand von Friedriken und Olivien geteilt; ich war zwar nicht leidenschaftlich geŠngstigt wie diese, aber ich fŸhlte mich doch keineswegs wie jene behaglich.

Da ich eigentlich nach Stra§burg gegangen war, um zu promovieren, so gehšrte es freilich unter die UnregelmŠ§igkeiten meines Lebens, da§ ich ein solches HauptgeschŠft als eine Nebensache betrachtete. Die Sorge wegen des Examens hatte ich mir auf eine sehr leichte Weise beiseitegeschafft; es war nun aber auch an die Disputation zu denken: denn von Frankfurt abreisend hatte ich meinem Vater versprochen und mir selbst fest vorgesetzt, eine solche zu schreiben. Es ist der Fehler derjenigen, die manches, ja viel vermšgen, da§ sie sich alles zutrauen, und die Jugend mu§ sogar in diesem Falle sein, damit nur etwas aus ihr werde. Eine †bersicht der Rechtswissenschaft und ihres ganzen Fachwerks


hatte ich mir so ziemlich verschafft, einzelne rechtliche GegenstŠnde interessierten mich hinlŠnglich, und ich glaubte, da ich mir den braven Leyser zum Vorbild genommen hatte, mit meinem kleinen Menschenverstand ziemlich durchzukommen. Es zeigten sich gro§e Bewegungen in der Jurisprudenz; es sollte mehr nach Billigkeit geurteilt werden; alle Gewohnheitsrechte sah man tŠglich gefŠhrdet, und besonders dem Kriminalwesen stand eine gro§e VerŠnderung bevor. Was mich selbst betraf, so fŸhlte ich wohl, da§ mir zur AusfŸllung jener Rechtstopik, die ich mir gemacht hatte, unendlich vieles fehle; das eigentliche Wissen ging mir ab, und keine innere Richtung drŠngte mich zu diesen GegenstŠnden. Auch mangelte der Ansto§ von au§en, ja mich hatte eine ganz andere FakultŠt mit fortgerissen. †berhaupt, wenn ich Interesse finden sollte, so mu§te ich einer Sache irgend etwas abgewinnen, ich mu§te etwas an ihr gewahr werden, das mir fruchtbar schien und Aussichten gab. So hatte ich mir einige Materien wohl gemerkt, auch sogar darauf gesammelt, und nahm auch meine Kollektaneen vor, Ÿberlegte das, was ich behaupten, das Schema, wonach ich die einzelnen Elemente ordnen wollte, nochmals, und arbeitete so eine Zeitlang; allein ich war klug genug, bald zu sehen, da§ ich nicht fortkommen kšnne und da§, um eine besondere Materie abzuhandeln, auch ein besonderer und lang anhaltender Flei§ erforderlich sei, ja da§ man nicht einmal ein solches Besondere mit GlŸck vollfŸhren werde, wenn man nicht im Ganzen, wo nicht Meister, doch wenigstens Altgeselle sei.

Die Freunde, denen ich meine Verlegenheit mitteilte, fanden mich lŠcherlich, weil man Ÿber Theses ebenso gut, ja noch besser als Ÿber einen Traktat disputieren kšnne; in Stra§burg sei das gar nicht ungewšhnlich. Ich lie§ mich zu einem solchen Ausweg sehr geneigt finden, allein mein Vater, dem ich deshalb schrieb, verlangte ein ordentliches Werk, das ich, wie er meinte, sehr wohl ausfertigen kšnnte, wenn ich nur wollte, und mir die gehšrige Zeit dazu nŠhme. Ich war nun genštigt, mich auf irgend ein Allgemeines zu werfen,


und etwas zu wŠhlen, was mir gelŠufig wŠre. Die Kirchengeschichte war mir fast noch bekannter als die Weltgeschichte, und mich hatte von jeher der Konflikt, in welchem sich die Kirche, der šffentlich anerkannte Gottesdienst, nach zwei Seiten hin befindet und immer befinden wird, hšchlich interessiert. Denn einmal liegt sie in ewigem Streit mit dem Staat, Ÿber den sie sich erheben, und sodann mit den einzelnen, die sie alle zu sich versammeln will. Der Staat von seiner Seite will ihr die Oberherrschaft nicht zugestehn, und die einzelnen widersetzen sich ihrem Zwangsrechte. Der Staat will alles zu šffentlichen, allgemeinen Zwecken, der einzelne zu hŠuslichen, herzlichen, gemŸtlichen. Ich war von Kindheit auf Zeuge solcher Bewegungen gewesen, wo die Geistlichkeit es bald mit ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne festgesetzt, da§ der Staat, der Gesetzgeber, das Recht habe, einen Kultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und sich benehmen solle, die Laien hingegen sich Šu§erlich und šffentlich genau zu richten hŠtten; Ÿbrigens sollte die Frage nicht sein, was jeder bei sich denke, fŸhle oder sinne. Dadurch glaubte ich alle Kollisionen auf einmal gehoben zu haben. Ich wŠhlte deshalb zu meiner Disputation die erste HŠlfte dieses Themas: da§ nŠmlich der Gesetzgeber nicht allein berechtigt, sondern verpflichtet sei, einen gewissen Kultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichkeit noch die Laien sich lossagen dŸrften. Ich fŸhrte dieses Thema teils historisch, teils rŠsonierend aus, indem ich zeigte, da§ alle šffentlichen Religionen durch HeerfŸhrer, Kšnige und mŠchtige MŠnner eingefŸhrt worden, ja da§ dieses sogar der Fall mit der christlichen sei. Das Beispiel des Protestantismus lag ja ganz nahe. Ich ging bei dieser Arbeit um so kŸhner zu Werke, als ich sie eigentlich nur meinen Vater zu befriedigen schrieb, und nichts sehnlicher wŸnschte und hoffte, als da§ sie die Zensur nicht passieren mšchte. Ich hatte noch von Behrisch her eine unŸberwindliche Abneigung, etwas von mir gedruckt zu sehen, und


mein Umgang mit Herdern hatte mir dadurch všllig zur Reife gekommen.

Da ich diese Arbeit fast ganz aus mir selbst schšpfte, und das Latein gelŠufig sprach und schrieb, so verflo§ mir die Zeit, die ich auf die Abhandlung verwendete, sehr angenehm. Die Sache hatte wenigstens einigen Grund; die Darstellung war, rednerisch genommen, nicht Ÿbel, das Ganze hatte eine ziemliche Rundung. Sobald ich damit zu Rande war, ging ich sie mit einem guten Lateiner durch, der, ob er gleich meinen Stil im ganzen nicht verbessern konnte, doch alle auffallenden MŠngel mit leichter Hand vertilgte, so da§ etwas zustande kam, das sich aufzeigen lie§. Eine reinliche Abschrift wurde meinem Vater sogleich zugeschickt, welcher zwar nicht billigte, da§ keiner von den frŸher vorgenommenen GegenstŠnden ausgefŸhrt worden sei, jedoch mit der KŸhnheit des Unternehmens als ein všllig protestantisch Gesinnter wohl zufrieden war. Mein Seltsames wurde geduldet, meine Anstrengung gelobt, und er versprach sich von der Bekanntmachung dieses Werkchens eine vorzŸgliche Wirkung.

Ich Ÿberreichte nun meine Hefte der FakultŠt, und diese betrug sich glŸcklicherweise so klug als artig. Der Dekan, ein lebhafter gescheiter Mann, fing mit vielen Lobeserhebungen meiner Arbeit an, ging dann zum Bedenklichen derselben Ÿber, welches er nach und nach in ein GefŠhrliches zu verwandeln wu§te und damit schlo§, da§ es nicht tŠtlich sein mšchte, diese Arbeit als akademische Dissertation bekannt zu machen. Der Aspirant habe sich der FakultŠt als einen denkenden jungen Mann gezeigt, von dem sie das Beste hoffen dŸrfe; sie wolle mich gern, um die Sache nicht aufzuhalten, Ÿber Theses disputieren lassen. Ich kšnne ja in der Folge meine Abhandlung, wie sie vorliege oder weiter ausgearbeitet, lateinisch oder in einer andern Sprache herausgeben; dies wŸrde mir, als einem Privatmann und Protestanten, Ÿberall leicht werden, und ich hŠtte mich des


Beifalls um desto reiner und allgemeiner alsdann zu erfreuen. Kaum verbarg ich dem guten Manne, welchen Stein mir sein Zureden vom Herzen wŠlzte; bei jedem neuen Argument, das er vorbrachte, um mich durch seine Weigerung nicht zu betrŸben oder zu erzŸrnen, ward es mir immer leichter im GemŸt, und ihm zuletzt auch, als ich ganz unerwartet seinen GrŸnden nichts entgegensetzte, sie vielmehr hšchst einleuchtend fand und versprach, mich in allem nach seinem Rat und nach seiner Anleitung zu benehmen. Ich setzte mich nun wieder mit meinem Repetenten zusammen. Theses wurden ausgewŠhlt und gedruckt, und die Disputation ging, unter Opposition meiner Tischgenossen, mit gro§er Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorŸber; da mir denn meine alte †bung, im "Corpus juris" aufzuschlagen, gar sehr zustatten kam, und ich fŸr einen wohlunterrichteten Menschen gelten konnte. Ein guter herkšmmlicher Schmaus beschlo§ die Feierlichkeit.

Mein Vater war indessen sehr unzufrieden, da§ dieses Werkchen nicht als Disputation ordentlich gedruckt worden war, weil er gehofft hatte, ich sollte bei meinem Einzuge in Frankfurt Ehre damit einlegen. Er wollte es daher besonders herausgegeben wissen; ich stellte ihm aber vor, da§ die Materie, die nur skizziert sei, kŸnftig weiter ausgefŸhrt werden mŸ§te. Er hob zu diesem Zwecke das Manuskript sorgfŠltig auf, und ich habe es nach mehreren Jahren noch unter seinen Papieren gesehn.

Meine Promotion war am 6. August 1771 geschehn, den Tag darauf starb Schšpflin im fŸnfundsiebenzigsten Jahre. Auch ohne nŠhere BerŸhrung hatte derselbe bedeutend auf mich eingewirkt: denn vorzŸgliche mitlebende MŠnner sind den grš§eren Sternen zu vergleichen, nach denen, solange sie nur Ÿber dem Horizont stehen, unser Auge sich wendet, und sich gestŠrkt und gebildet fŸhlt, wenn es ihm vergšnnt ist, solche Vollkommenheiten in sich aufzunehmen. Die freigebige Natur hatte Schšpflinen ein vorteilhaftes €u§ere verliehn, schlanke Gestalt, freundliche Augen, redseligen


Mund, eine durchaus angenehme Gegenwart. Auch Geistesgaben erteilte sie ihrem Liebling nicht kŠrglich, und sein GlŸck war, ohne da§ er sich mŸhsam angestrengt hŠtte, die Folge angeborner und ruhig ausgebildeter Verdienste. Er gehšrte zu den glŸcklichen Menschen, welche Vergangenheit und Gegenwart zu vereinigen geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknŸpfen verstehn. Im Badenschen geboren, in Basel und Stra§burg erzogen, gehšrte er dem paradiesischen Rheintal ganz eigentlich an, als einem ausgebreiteten wohlgelegenen Vaterlande. Auf historische und antiquarische GegenstŠnde hingewiesen, ergriff er sie munter durch eine glŸckliche Vorstellungskraft, und erhielt sie sich durch das bequemste GedŠchtnis. Lern - und lehrbegierig wie er war, ging er einen gleich vorschreitenden Studien- und Lebensgang. Nun emergiert und eminiert er bald ohne Unterbrechung irgend einer Art; er verbreitet sich mit Leichtigkeit in der literarischen und bŸrgerlichen Welt: denn historische Kenntnisse reichen Ÿberall hin, und Leutseligkeit schlie§t sich Ÿberall an. Er reist durch Deutschland, Holland, Frankreich, Italien; kommt in BerŸhrung mit allen Gelehrten seiner Zeit; er unterhŠlt die FŸrsten, und nur, wenn durch seine lebhafte Redseligkeit die Stunden der Tafel, der Audienz verlŠngert werden, ist er den Hofleuten lŠstig. Dagegen erwirbt er sich das Vertrauen der StaatsmŠnner, arbeitet fŸr sie die grŸndlichsten Deduktionen und findet so Ÿberall einen Schauplatz fŸr seine Talente. Man wŸnscht ihn an gar manchem Orte festzuhalten; allein er beharrt bei seiner Treue fŸr Stra§burg und den franzšsischen Hof. Seine unverrŸckte deutsche Redlichkeit wird auch dort anerkannt, man schŸtzt ihn sogar gegen den mŠchtigen PrŠtor Klinglin, der ihn heimlich anfeindet. Gesellig und gesprŠchig von Natur, verbreitet er sich, wie im Wissen und GeschŠften, so auch im Umgange, und man begriffe kaum, wo er alle Zeit hergenommen, wŸ§ten wir nicht, da§ eine Abneigung gegen die Frauen ihn durch sein ganzes Leben begleitet,


wodurch er so manche Tage und Stunden gewann, welche von frauenhaft Gesinnten glŸcklich vergeudet werden.

†brigens gehšrt er auch als Autor dem gemeinen Wesen und als Redner der Menge. Seine Programme, seine Reden und Anreden sind dem besondern Tag, der eintretenden Feierlichkeit gewidmet, ja sein gro§es Werk "Alsatia illustrata" gehšrt dem Leben an, indem er die Vergangenheit wieder hervorruft, verblichene Gestalten auffrischt, den behauenen, den gebildeten Stein wieder belebt, erloschene, zerstŸckte Inschriften zum zweitenmal vor die Augen, vor den Sinn des Lesers bringt. Auf solche Weise erfŸllt seine TŠtigkeit das Elsa§ und die Nachbarschaft; in Baden und der Pfalz behŠlt er bis ins hšchste Alter einen ununterbrochenen Einflu§; in Mannheim stiftet er die Akademie der Wissenschaften und erhŠlt sich als PrŠsident derselben bis an seinen Tod.

GenŠhert habe ich mich diesem vorzŸglichen Manne niemals als in einer Nacht, da wir ihm ein FackelstŠndchen brachten. Den mit Linden Ÿberwšlbten Hof des alten StiftgebŠudes erfŸllten unsere Pechfeuer mehr mit Rauch, als da§ sie ihn erleuchtet hŠtten. Nach geendigtem MusikgerŠusch kam er herab und trat unter uns; und hier war er recht an seinem Platze. Der schlank und wohl gewachsene heitere Greis stand mit leichtem freien Wesen wŸrdig vor uns und hielt uns wert genug, eine wohlgedachte Rede, ohne Spur von Zwang und Pedantismus, vŠterlich liebevoll auszusprechen, so da§ wir uns in dem Augenblick etwas dŸnkten, da er uns wie die Kšnige und FŸrsten behandelte, die er šffentlich anzureden so oft berufen war. Wir lie§en unsere Zufriedenheit Ÿberlaut vernehmen, Trompeten- und Paukenschall erklang wiederholt, und die allerliebste, hoffnungsvolle akademische Plebs verlor sich mit innigem Behagen nach Hause.

Seine SchŸler und Studienverwandten, Koch und Oberlin, fanden zu mir schon ein nŠheres VerhŠltnis. Meine Liebhaberei zu altertŸmlichen Resten war leidenschaftlich.


Sie lie§en mich das Museum wiederholt betrachten, welches die Belege zu seinem gro§en Werke Ÿber Elsa§ vielfach enthielt. Eben dieses Werk hatte ich erst nach jener Reise, wo ich noch AltertŸmer an Ort und Stelle gefunden, nŠher kennen gelernt, und nunmehr vollkommen gefšrdert, konnte ich mir, bei grš§ern und kleinern Exkursionen, das Rheintal als ršmische Besitzung vergegenwŠrtigen und gar manchen Traum der Vorzeit mir wachend ausmalen.

Kaum hatte ich mir hierin einigerma§en aufgeholfen, als mich Oberlin zu den Denkmalen der Mittelzeit hinwies und mit den daher noch Ÿbrigen Ruinen und Resten, Siegeln und Dokumenten bekannt machte, ja eine Neigung zu den sogenannten Minnesingern und Heldendichtern einzuflš§en suchte. Diesem wackeren Manne, sowie Herrn Koch, bin ich viel schuldig geworden, und wenn es ihrem Willen und Wunsche nach gegangen wŠre, so hŠtte ich ihnen das GlŸck meines Lebens verdanken mŸssen. Damit verhielt es sich aber folgendergestalt.

Schšpflin, der sich in der hšheren SphŠre des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte und den gro§en Einflu§ wohl kannte, welchen solche und verwandte Studien bei Hšfen und in Kabinetten einem fŠhigen Kopfe zu verschaffen geeignet sind, fŸhlte eine unŸberwindliche, ja ungerechte Abneigung gegen den Zustand des Zivilisten, und hatte die gleiche Gesinnung den Seinigen eingeflš§t.. Obgenannte beide MŠnner, Freunde von Salzmann, hatten auf eine liebreiche Weise von mir Kenntnis genommen. Das leidenschaftliche Ergreifen Šu§erer GegenstŠnde, die Darstellungsart, womit ich die VorzŸge derselben herauszuheben und ihnen ein besonderes Interesse zu verleihen wu§te, schŠtzten sie hšher als ich selbst. Meine geringe, ich kann wohl sagen notdŸrftige BeschŠftigung mit dem Zivilrechte war ihnen nicht unbemerkt geblieben; sie kannten mich genug, um zu wissen, wie leicht ich bestimmbar sei; aus meiner Lust zum akademischen Leben hatte ich auch kein Geheimnis gemacht, und sie dachten mich daher fŸr Ge-


schichte, Staatsrecht, Redekunst, erst nur im VorŸbergehn, dann aber entschiedener, zu erwerben. Stra§burg selbst bot Vorteile genug. Eine Aussicht auf die deutsche Kanzlei in Versailles, der Vorgang von Schšpflin, dessen Verdienst mir freilich unerreichbar schien, sollte zwar nicht zur Nachahmung, doch zur Nacheiferung reizen und vielleicht dadurch ein Šhnliches Talent zur Ausbildung gelangen, welches sowohl dem, der sich dessen rŸhmen dŸrfte, ersprie§lich, als andern, die es fŸr sich zu gebrauchen dŠchten, nŸtzlich sein kšnnte. Diese meine Gšnner, und Salzmann mit ihnen, legten auf mein GedŠchtnis und auf meine FŠhigkeit, den Sinn der Sprachen zu fassen, einen gro§en Wert, und suchten hauptsŠchlich dadurch ihre Absichten und VorschlŠge zu motivieren.

Wie nun aus allem diesem nichts geworden, und wie es gekommen, da§ ich wieder von der franzšsischen Seite auf die deutsche herŸbergetreten, gedenk ich hier zu entwickeln. Man erlaube mir, wie bisher, zum †bergange einige allgemeine Betrachtungen.

Es sind wenig Biographien, welche einen reinen, ruhigen, steten Fortschritt des Individuums darstellen kšnnen. Unser Leben ist, wie das Ganze, in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt. Unser Wollen ist ein VorausverkŸnden dessen, was wir unter allen UmstŠnden tun werden. Diese UmstŠnde aber ergreifen uns auf ihre eigne Weise. Das Was liegt in uns, das Wie hŠngt selten von uns ab, nach dem Warum dŸrfen wir nicht fragen, und deshalb verweist man uns mit Recht aufs Quia.

Die franzšsische Sprache war mir von Jugend auf lieb; ich hatte sie in einem bewegteren Leben, und ein bewegteres Leben durch sie kennen gelernt. Sie war mir ohne Grammatik und Unterricht, durch Umgang und †bung, wie eine zweite Muttersprache zu eigen geworden. Nun wŸnschte ich mich derselben mit grš§erer Leichtigkeit zu bedienen, und zog deswegen Stra§burg zum abermaligen


akademischen Aufenthalt andern hohen Schulen vor, aber leider sollte ich dort gerade das Umgekehrte von meinen Hoffnungen erfahren, und von dieser Sprache, diesen Sitten eher abals ihnen zugewendet werden.

Die Franzosen, welche sich Ÿberhaupt eines guten Betragens beflei§igen, sind gegen Fremde, die ihre Sprache zu reden anfangen, nachsichtig, sie werden niemanden Ÿber irgend einen Fehler auslachen, oder ihn deshalb ohne Umschweif tadeln. Da sie jedoch nicht wohl ertragen mšgen, da§ in ihrer Sprache gesŸndigt wird, so haben sie die Art, eben dasselbe, was man gesagt hat, mit einer anderen Wendung zu wiederholen und gleichsam hšflich zu bekrŠftigen, sich dabei aber des eigentlichen Ausdrucks, den man hŠtte gebrauchen sollen, zu bedienen, und auf diese Weise den VerstŠndigen und Aufmerksamen auf das Rechte und Gehšrige zu fŸhren.

So sehr man nun, wenn es einem Ernst ist, wenn man Selbstverleugnung genug hat, sich fŸr einen SchŸler zu geben, hiebei gewinnt und gefšrdert wird, so fŸhlt man sich doch immer einigerma§en gedemŸtiget, und, da man doch auch um der Sache willen redet, oft allzusehr unterbrochen, ja abgelenkt, und man lŠ§t ungeduldig das GesprŠch fallen. Dies begegnete besonders mir vor andern, indem ich immer etwas Interessantes zu sagen glaubte, dagegen aber auch etwas Bedeutendes vernehmen, und nicht immer blo§ auf den Ausdruck zurŸckgewiesen sein wollte; ein Fall, der bei mir šfter eintrat, weil mein Franzšsisch viel buntscheckiger war als das irgend eines andern Fremden. Von Bedienten, Kammerdienern und Schildwachen, jungen und alten Schauspielern, theatralischen Liebhabern, Bauern und Helden hatte ich mir die Redensarten, sowie die Akzentuationen gemerkt, und dieses babylonische Idiom sollte sich durch ein wunderliches Ingrediens noch mehr verwirren, indem ich den franzšsischen reformierten Geistlichen gern zuhšrte und ihre Kirchen um so lieber besuchte, als ein sonntŠgiger Spaziergang nach Bockenheim dadurch nicht allein er-


laubt, sondern geboten war. Aber auch hiermit sollte es noch nicht genug sein: denn als ich in den JŸnglingsjahren immer mehr auf die Deutschheit des sechzehnten Jahrhunderts gewiesen ward, so schlo§ ich gar bald auch die Franzosen jener herrlichen Epoche in diese Neigung mit ein. Montaigne, Amyot, Rabelais, Marot waren meine Freunde, und erregten in mir Anteil und Bewunderung. Alle diese verschiedenen Elemente bewegten sich nun in meiner Rede chaotisch durch einander, so da§ fŸr den Zuhšrer die Intention Ÿber dem wunderlichen Ausdruck meist verloren ging, ja da§ ein gebildeter Franzose mich nicht mehr hšflich zurechtweisen, sondern geradezu tadeln und schulmeistern mu§te. Abermals ging es mir also hier wie vordem in Leipzig, nur da§ ich mich diesmal nicht auf das Recht meiner Vatergegend, so gut als andere Provinzen idiotisch zu sprechen, zurŸckziehn konnte, sondern hier, auf fremdem Grund und Boden, mich einmal hergebrachten Gesetzen fŸgen sollte.

Vielleicht hŠtten wir uns auch wohl hierein ergeben, wenn uns nicht ein bšser Genius in die Ohren geraunt hŠtte, alle BemŸhungen eines Fremden, Franzšsisch zu reden, wŸrden immer ohne Erfolg bleiben: denn ein geŸbtes Ohr hšre den Deutschen, den Italiener, den EnglŠnder unter seiner franzšsischen Maske gar wohl heraus; geduldet werde man, aber keineswegs in den Scho§ der einzig sprachseligen Kirche aufgenommen.

Nur wenige Ausnahmen gab man zu. Man nannte uns einen Herrn von Grimm, aber selbst Schšpflin sollte den Gipfel nicht erreicht haben. Sie lie§en gelten, da§ er frŸh die Notwendigkeit, sich vollkommen franzšsisch auszudrŸcken, wohl eingesehn; sie billigten seine Neigung, sich jedermann mitzuteilen, besonders aber die Gro§en und Vornehmen zu unterhalten; lobten sogar, da§ er, auf dem Schauplatz, wo er stand, die Landessprache zu der seinigen zu machen und sich mšglichst zum franzšsischen Gesellschafter und Redner auszubilden gesucht. Was hilft ihm aber das Verleugnen seiner Muttersprache, das BemŸhen um eine


fremde? Niemand kann er es recht machen. In der Gesellschaft will man ihn eitel finden: als wenn sich jemand ohne SelbstgefŸhl und SelbstgefŠlligkeit andern mitteilen mšchte und kšnntet Sodann versichern die feinen Welt- und Sprachkenner, er disseriere und dialogiere mehr, als da§ er eigentlich konversiere. Jenes ward als Erb- und Grundfehler der Deutschen, dieses als die Kardinaltugend der Franzosen allgemein anerkannt. Als šffentlichem Redner geht es ihm nicht besser. LŠ§t er eine wohl ausgearbeitete Rede an den Kšnig oder die FŸrsten drucken, so passen die Jesuiten auf, die ihm, als einem Protestanten, gram sind, und zeigen das Unfranzšsische seiner Wendungen.

Anstatt uns nun hieran zu tršsten und, als grŸnes Holz, dasjenige zu ertragen, was dem dŸrren auflag, so Šrgerte uns dagegen diese pedantische Ungerechtigkeit; wir verzweifeln und Ÿberzeugen uns vielmehr an diesem auffallenden Beispiele, da§ die BemŸhung vergebens sei, den Franzosen durch die Sache genug zu tun, da sie an die Šu§ern Bedingungen, unter welchen alles erscheinen soll, allzu genau gebunden sind. Wir fassen daher den umgekehrten Entschlu§, die franzšsische Sprache gŠnzlich abzulehnen und uns mehr als bisher mit Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen.

Auch hiezu fanden wir im Leben Gelegenheit und Teilnahme. Elsa§ war noch nicht lange genug mit Frankreich verbunden, als da§ nicht noch bei alt und jung eine liebevolle AnhŠnglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache, Tracht sollte Ÿbrig geblieben sein. Wenn der †berwundene die HŠlfte seines Daseins notgedrungen verliert, so rechnet er sich's zur Schmach, die andere HŠlfte freiwillig aufzugeben. Er hŠlt daher an allem fest, was ihm die vergangene gute Zeit zurŸckrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glŸcklichen Epoche nŠhren kann. Gar manche Einwohner von Stra§burg bildeten zwar abgesonderte, aber doch dem Sinne nach verbundene kleine Kreise, welche durch die vielen Untertanen deutscher FŸrsten, die unter


franzšsischer Hoheit ansehnliche Strecken Landes besa§en, stets vermehrt und rekrutiert wurden: denn VŠter und Sšhne hielten sich Studierens oder GeschŠfts wegen lŠnger oder kŸrzer in Stra§burg auf.

An unserm Tische ward gleichfalls nichts wie Deutsch gesprochen. Salzmann drŸckte sich im Franzšsischen mit vieler Leichtigkeit und Eleganz aus, war aber unstreitig dem Streben und der Tat nach ein vollkommener Deutscher; Lersen hŠtte man als Muster eines deutschen JŸnglings aufstellen kšnnen; Meyer von Lindau schlenderte lieber auf gut deutsch, als da§ er sich auf gut franzšsisch hŠtte zusammennehmen sollen, und wenn unter den Ÿbrigen auch mancher zu gallischer Sprache und Sitte hinneigte, so lie§en sie doch, solange sie bei uns waren, den allgemeinen Ton auch Ÿber sich schalten und walten.

Von der Sprache wendeten wir uns zu den StaatsverhŠltnissen. Zwar wu§ten wir von unserer Reichsverfassung nicht viel Lšbliches zu sagen; wir gaben zu, da§ sie aus lauter gesetzlichen Mi§brŠuchen bestehe, erhuben uns aber um desto hšher Ÿber die franzšsische gegenwŠrtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen Mi§brŠuchen verwirre, deren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte sehen lasse, und gestatten mŸsse, da§ eine gŠnzliche VerŠnderung der Dinge schon in schwarzen Aussichten šffentlich prophezeit werde.

Blickten wir hingegen nach Norden, so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polarstern, her, um den sich Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien. Sein †bergewicht in allem offenbarte sich am stŠrksten, als in der franzšsischen Armee das preu§ische Exerzitium und sogar der preu§ische Stock eingefŸhrt werden sollte. Wir verziehen ihm Ÿbrigens seine Vorliebe fŸr eine fremde Sprache, da wir ja die Genugtuung empfanden, da§ ihm seine franzšsischen Poeten, Philosophen und Literatoren Verdru§ zu machen fortfuhren und wiederholt erklŠrten, er sei nur als Eindringling anzusehn und zu behandeln.


Was uns aber von den Franzosen gewaltiger als alles andere entfernte, war die wiederholte unhšfliche Behauptung da§ es den Deutschen Ÿberhaupt, sowie dem nach franzšsischer Kultur strebenden Kšnige, an Geschmack fehle. †ber diese Redensart, die, wie ein Refrain, sich an jedes Urteil anschlo§, suchten wir uns durch Nichtachtung zu beruhigen; aufklŠren darŸber konnten wir uns aber um so weniger, als man uns versichern wollte, schon MŽnage habe gesagt, die franzšsischen Schriftsteller besŠ§en alles, nur nicht Geschmack; so wie wir denn auch aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren hatten, da§ die neusten Autoren sŠmtlich des Geschmacks ermangelten, und Voltaire selbst diesem hšchsten Tadel nicht ganz entgehen kšnne. Schon frŸher und wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen als Wahrheit und Aufrichtigkeit des GefŸhls, und den raschen derben Ausdruck desselben.

Freundschaft, Liebe, BrŸderschaft,

TrŠgt die sich nicht von selber vor?

war Losung und Feldgeschrei, woran sich die Glieder unserer kleinen akademischen Horde zu erkennen und zu erquicken pflegten. Diese Maxime lag zum Grunde allen unsern geselligen Gelagen, bei welchen uns denn freilich manchen Abend Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheil zu besuchen nicht verfehlte.

Will man in dem bisher ErzŠhlten nur Šu§ere zufŠllige AnlŠsse und persšnliche Eigenheiten finden, so hatte die franzšsische Literatur an sich selbst gewisse Eigenschaften, welche den strebenden JŸngling mehr absto§en als anziehn mu§ten. Sie war nŠmlich bejahrt und vornehm, und durch beides kann die nach Lebensgenu§ und Freiheit umschauende Jugend nicht ergštzt werden.

Seit dem sechzehnten Jahrhundert hatte man den Gang der franzšsischen Literatur niemals všllig unterbrochen gesehen, ja die innern politischen und religišsen Unruhen sowohl als die Šu§eren Kriege beschleunigten ihre Fort-


schritte; schon vor hundert Jahren aber, so hšrte man allgemein behaupten, solle sie in ihrer vollen BlŸte gestanden haben. Durch gŸnstige UmstŠnde sei auf einmal eine reichliche Ernte gereift und glŸcklich eingebracht worden, dergestalt, da§ die grš§ten Talente des achtzehnten Jahrhunderts sich nur bescheidentlich mit einer Nachlese begnŸgen mŸssen.

Indessen war aber doch auch gar manches veraltet, das Lustspiel am ersten, welches immer wieder aufgefrischt werden mu§te, um sich, zwar minder vollkommen, aber doch mit neuem Interesse, dem Leben und den Sitten anzuschmiegen. Der Tragšdien waren viele vom Theater verschwunden, und Voltaire lie§ die jetzt dargebotene bedeutende Gelegenheit nicht aus den HŠnden, Corneilles Werke herauszugeben, um zu zeigen, wie mangelhaft sein VorgŠnger gewesen sei, den er, der allgemeinen Stimme nach, nicht erreicht haben sollte.

Und eben dieser Voltaire, das Wunder seiner Zeit, war nun selbst bejahrt wie die Literatur, die er beinah ein Jahrhundert hindurch belebt und beherrscht hatte. Neben ihm existierten und vegetierten noch, in mehr oder weniger tŠtigem und glŸcklichem Alter, viele Literatoren, die nach und nach verschwanden. Der Einflu§ der SozietŠt auf die Schriftsteller nahm immer mehr Ÿberhand: denn die beste Gesellschaft, bestehend aus Personen von Geburt, Rang und Vermšgen, wŠhlte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standespersonen und Literatoren bildeten sich wechselsweise, und mu§ten sich wechselsweise verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die franzšsische Kritik, verneinend, herunterziehend, mi§redend. Die hšhere Klasse bediente sich solcher Urteile gegen die Schriftsteller, die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so unter einander, ja gegen ihre Gšnner. Konnte man dem Publikum nicht imponieren, so suchte man es zu Ÿberraschen, oder durch Demut zu gewinnen; und so entsprang, abgesehen davon, was Kirche


und Staat im Innersten bewegte, eine solche literarische GŠrung, da§ Voltaire selbst seiner vollen TŠtigkeit, seines ganzen †bergewichts bedurfte, um sich Ÿber dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hie§ er laut ein altes eigenwilliges Kind; seine unermŸdet fortgesetzten BemŸhungen betrachtete man als eitles Bestreben eines abgelebten Alters; gewisse GrundsŠtze, auf denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Ausbreitung er seine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr schŠtzen und ehren; ja seinen Gott, durch dessen Bekenntnis er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen fortfuhr, lie§ man ihm nicht mehr gelten; und so mu§te er selbst, der Altvater und Patriarch, gerade wie sein jŸngster Mitbewerber, auf den Augenblick merken, nach neuer Gunst haschen, seinen Freunden zu viel Gutes, seinen Feinden zu viel †bles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenschaftlich wahrheitsliebenden Strebens, unwahr und falsch handeln. War es denn wohl der MŸhe wert, ein so tŠtiges gro§es Leben gefŸhrt zu haben, wenn es abhŠngiger enden sollte, als es angefangen hatte? Wie unertrŠglich ein solcher Zustand sei, entging seinem hohen Geiste, seiner zarten Reizbarkeit nicht; er machte sich manchmal sprung- und sto§weise Luft, lie§ seiner Laune den ZŸgel schie§en und hieb mit ein paar Fechterstreichen Ÿber die Schnur, wobei sich meist Freunde und Feinde unwillig gebŠrdeten: denn jedermann glaubte ihn zu Ÿbersehn, obschon niemand es ihm gleich tun konnte. Ein Publikum, das immer nur die Urteile alter MŠnner hšrt, wird gar zu leicht altklug, und nichts ist unzulŠnglicher als ein reifes Urteil, von einem unreifen Geiste aufgenommen.

Uns JŸnglingen, denen, bei einer deutschen Natur- und Wahrheitsliebe, als beste FŸhrerin im Leben und Lernen, die Redlichkeit gegen uns selbst und andere immer vor Augen schwebte, ward die parteiische Unredlichkeit Voltaires und die Verbildung so vieler wŸrdigen GegenstŠnde immer mehr zum Verdru§, und wir bestŠrkten uns tŠglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Religion und die heili-


gen BŸcher, worauf sie gegrŸndet ist, um den sogenannten Pfaffen zu schaden, niemals genug herabsetzen kšnnen und mir dadurch manche unangenehme Empfindung erregt. Da ich nun aber gar vernahm, da§ er, um die †berlieferung einer SŸndflut zu entkrŠften, alle versteinte Muscheln leugnete, und solche nur fŸr Naturspiele gelten lie§, so verlor er gŠnzlich mein Vertrauen: denn der Augenschein hatte mir auf dem Bastberge deutlich genug gezeigt, da§ ich mich auf altem abgetrockneten Meeresgrund, unter den Exuvien seiner Ureinwohner befinde. Ja! diese Berge waren einstmals von Wellen bedeckt; ob vor oder wŠhrend der SŸndflut, das konnte mich nicht rŸhren, genug, das Rheintal war ein ungeheuerer See, eine unŸbersehliche Bucht gewesen; das konnte man mir nicht ausreden. Ich gedachte vielmehr in Kenntnis der LŠnder und Gebirge vorzuschreiten, es mšchte sich daraus ergeben, was da wollte.

Bejahrt also und vornehm war an sich selbst und durch Voltairen die franzšsische Literatur. Lasset uns diesem merkwŸrdigen Manne noch einige Betrachtung widmen!

Auf tŠtiges und geselliges Leben, auf Politik, auf Erwerb im gro§en, auf das VerhŠltnis zu den Herren der Erde und Benutzung dieses VerhŠltnisses, damit er selbst zu den Herren der Erde gehšre, dahin war von Jugend auf Voltaires Wunsch und BemŸhung gewendet. Nicht leicht hat sich jemand so abhŠngig gemacht, um unabhŠngig zu sein. Auch gelang es ihm, die Geister zu unterjochen; die Nation fiel ihm zu. Vergebens entwickelten seine Gegner mŠ§ige Talente und einen ungeheueren Ha§; nichts gereichte zu seinem Schaden. Den Hof zwar konnte er nie mit sich versšhnen, aber dafŸr waren ihm fremde Kšnige zinsbar. Katharina und Friedrich die Gro§en, Gustav von Schweden, Christian von DŠnemark, Poniatowski von Polen, Heinrich von Preu§en, Karl von Braunschweig bekannten sich als seine Vasallen; sogar PŠpste glaubten ihn durch einige Nachgiebigkeit kirren zu mŸssen. Da§ Joseph der Zweite sich von ihm abhielt, gereichte diesem FŸrsten nicht einmal


zum Ruhme: denn es hŠtte ihm und Seinen Unternehmungen nicht geschadet, wenn er, bei so schšnem Verstande, bei so herrlichen Gesinnungen, etwas geistreicher, ein besserer SchŠtzer des Geistes gewesen wŠre.

Das was ich hier gedrŠngt und in einigem Zusammenhange vortrage, tšnte zu jener Zeit, als Ruf des Augenblicks, als ewig zwiespŠltiger Mi§klang, unzusammenhŠngend und unbelehrend in unseren Ohren. Immer hšrte man nur das Lob der Vorfahren. Man forderte etwas Gutes, Neues; aber immer das Neuste wollte man nicht. Kaum hatte auf dem lŠngst erstarrten Theater ein Patriot nationalfranzšsische, herzerhebende GegenstŠnde dargestellt, kaum hatte "Die Belagerung von Calais" sich einen enthusiastischen Beifall gewonnen, so sollte schon dieses StŸck, mitsamt seinen vaterlŠndischen Gesellen, hohl und in jedem Sinne verwerflich sein. Die Sittenschilderungen des Destouches, an denen ich mich als Knabe so oft ergetzt, hie§ man schwach, der Name dieses Ehrenmannes war verschollen, und wie viel andere Schriftsteller mŸ§te ich nicht nennen, um derentwillen ich den Vorwurf, als urteile ich wie ein Provinzler, habe erdulden mŸssen, wenn ich gegen jemand, der mit dem neusten literarischen Strome dahinfuhr, irgend einen Anteil an solchen MŠnnern und ihren Werken gezeigt hatte.

So wurden wir andern deutschen Gesellen denn immer verdrie§licher. Nach unsern Gesinnungen, nach unserer Natureigenheit liebten wir die EindrŸcke der GegenstŠnde festzuhalten, sie nur langsam zu verarbeiten, und, wenn es ja sein sollte, sie so spŠt als mšglich fahren zu lassen. Wir waren Ÿberzeugt, durch treues Aufmerken, durch fortgesetzte BeschŠftigung lasse sich allen Dingen etwas abgewinnen, und man mŸsse durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punkt gelangen, wo sich mit dem Urteil zugleich der Grund desselben aussprechen lasse. Auch verkannten wir nicht, da§ die gro§e und herrliche franzšsische Welt uns manchen Vorteil und Gewinn darbiete: denn Rousseau hatte uns wahrhaft zugesagt. Betrachten wir aber sein Leben und sein


Schicksal, so war er doch genštigt, den grš§ten Lohn fŸr alles, was er geleistet, darin zu finden, da§ er unerkannt und vergessen in Paris leben durfte.

Wenn wir von den EnzyklopŠdisten reden hšrten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zu Mute, als wenn man zwischen den unzŠhligen bewegten Spulen und WeberstŸhlen einer gro§en Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarren und Rasseln; vor allem Aug und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden Anstalt, in Betrachtung dessen, was alles dazu gehšrt, um ein StŸck Tuch zu fertigen, sich den eignen Rock selbst verleidet fŸhlt, den man auf dem Leibe trŠgt.

Diderot war nahe genug mit uns verwandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein wahrer Deutscher ist. Aber auch sein Standpunkt war schon zu hoch, sein Gesichtskreis zu weit, als da§ wir uns hŠtten zu ihm stellen und an seine Seite setzen kšnnen. Seine Naturkinder jedoch, die er mit gro§er rednerischer Kunst herauszuheben und zu adeln wu§te, behagten uns gar sehr, Seine wackeren Wilddiebe und SchleichhŠndler entzŸckten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parna§ nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheueren WeltverŠnderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien.

Uns ziemt jedoch, diese Betrachtungen noch an die Seite zu lehnen und zu bemerken, was genannte beide MŠnner auf Kunst gewirkt. Auch hier wiesen sie, auch von ihr drŠngten sie uns zur Natur.

Die hšchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die TŠuschung einer hšheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche Ÿbrig bleibt.


Als ein ideelles Lokal hatte die BŸhne, durch Anwendung der perspektivischen Gesetze auf hinter einander gestellten Kulissen, den hšchsten Vorteil erlangt, und nun wollte man diesen Gewinn mutwillig aufgeben, die Seiten des Theaters zuschlie§en und wirkliche StubenwŠnde formieren. Mit einem Solchen BŸhnenlokal sollte denn auch das StŸck selbst, die Art zu spielen der Akteurs, kurz, alles zusammentreffen, und ein ganz neues Theater dadurch entspringen.

Die franzšsischen Schauspieler hatten im Lustspiel den Gipfel des Kunstwahren erreicht. Der Aufenthalt in Paris, die Beobachtung des €u§ern der Hofleute, die Verbindung der Akteurs und Aktricen durch LiebeshŠndel mit den hšheren StŠnden, alles trug dazu bei, die hšchste Gewandtheit und Schicklichkeit des geselligen Lebens gleichfalls auf die BŸhne zu verpflanzen, und hieran hatten die Naturfreunde wenig auszusetzen; doch glaubten sie einen gro§en Vorschritt zu tun, wenn sie ernsthafte und tragische GegenstŠnde, deren das bŸrgerliche Leben auch nicht ermangelt, zu ihren StŸcken erwŠhlten, sich der Prosa gleichfalls zu hšherem Ausdruck bedienten, und so die unnatŸrlichen Verse zugleich mit der unnatŸrlichen Deklamation und Gestikulation allmŠhlich verbannten.

Hšchst merkwŸrdig ist es und nicht so allgemein beachtet, da§ zu dieser Zeit selbst der alten strengen, rhythmischen, kunstreichen Tragšdie mit einer Revolution gedroht ward, die nur durch gro§e Talente und die Macht des Herkommens abgelenkt werden konnte.

Es stellte sich nŠmlich dem Schauspieler Lecain, der seine Helden mit besondrem theatralischen Anstand, mit Erhebung und Kraft spielte, und sich vom NatŸrlichen und Gewšhnlichen entfernt hielt, ein Mann gegenŸber, mit Namen Aufresne, der aller Unnatur den Krieg erklŠrte und in seinem tragischen Spiel die hšchste Wahrheit auszudrŸcken suchte. Dieses Verfahren mochte zu dem des Ÿbrigen Pariser Theaterpersonals nicht passen. Er stand allein, jene hielten sich an einander geschlossen, und er, hartnŠckig ge-


nug auf seinem Sinne bestehend, verlie§ lieber Paris und kam durch Stra§burg. Dort sahen wir ihn die Rolle des August im "Cinna", des Mithridat und andere dergleichen mit der wahrsten natŸrlichsten WŸrde spielen. Als ein schšner gro§er Mann trat er auf, mehr schlank als stark, nicht eigentlich von imposantem, aber von edlem gefŠlligem Wesen. Sein Spiel war Ÿberlegt und ruhig, ohne kalt zu sein, und krŠftig genug, wo es erfordert wurde. Er war ein sehr geŸbter KŸnstler, und von den wenigen, die das KŸnstliche ganz in die Natur und die Natur ganz in die Kunst zu verwandeln wissen. Diese sind es eigentlich, deren mi§verstandene VorzŸge die Lehre von der falschen NatŸrlichkeit jederzeit veranlassen.

Und so will ich denn auch noch eines kleinen, aber merkwŸrdig Epoche machenden Werks gedenken: es ist Rousseaus "Pygmalion". Viel kšnnte man darŸber sagen: denn diese wunderliche Produktion schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulšsen. Wir sehen einen KŸnstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee au§er sich, kunstgemŠ§ dargestellt und ihr ein hšheres Leben verliehen zu haben; nein! sie soll auch in das irdische Leben zu ihm herabgezogen werden. Er will das Hšchste, was Geist und Tat hervorgebracht, durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zerstšren.

Alles dieses und manches andere, recht und tšricht, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch mehr bei, die Begriffe zu verwirren; wir trieben uns auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewu§t und unbewu§t, willig oder unwillig, unaufhaltsam mitwirkten. Auf philosophische Weise erleuchtet und gefšrdert zu werden, hatten wir keinen Trieb noch Hang, Ÿber religiose GegenstŠnde glaubten wir uns selbst aufgeklŠrt zu haben, und so war der heftige Streit franzšsischer Philosophen mit


dem Pfafftum uns ziemlich gleichgŸltig. Verbotene, zum Feuer verdammte BŸcher, welche damals gro§en LŠrmen machten, Ÿbten keine Wirkung auf uns. Ich gedenke statt aller des "Systme de la nature", das wir aus Neugier in die Hand nahmen. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefŠhrlich sein kšnnte. Es kam uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, da§ wir MŸhe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, da§ wir davor wie vor einem Gespenste schauderten. Der Verfasser glaubt sein Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in der Vorrede versichert, da§ er, als ein abgelebter Greis, soeben in die Grube steigend, der Mit- und Nachwelt die Wahrheit verkŸnden wolle.

Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten bemerkt zu haben, da§ von alten Leuten eigentlich an der Welt nichts geschŠtzt werde, was liebenswŸrdig und gut an ihr ist. "Alte Kirchen haben dunkle GlŠser! - Wie Kirschen und Beeren schmecken, mu§ man Kinder und Sperlinge fragen!" dies waren unsere Lust- und Leibworte; und so schien uns jenes Buch, als die rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt. Alles sollte notwendig sein und deswegen kein Gott. Kšnnte es denn aber nicht auch notwendig einen Gott geben? fragten wir. Dabei gestanden wir freilich, da§ wir uns den Notwendigkeiten der Tage und NŠchte, der Jahreszeiten, der klimatischen EinflŸsse, der physischen und animalischen ZustŠnde nicht wohl entziehn kšnnten; doch fŸhlten wir etwas in uns, das als vollkommene WillkŸr erschien, und wieder etwas, das sich mit dieser WillkŸr ins Gleichgewicht zu setzen suchte.

Die Hoffnung, immer vernŸnftiger zu werden, uns von den Šu§eren Dingen, ja von uns selbst immer unabhŠngiger zu machen, konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Freiheit klingt so schšn, da§ man es nicht entbehren kšnnte, und wenn es einen Irrtum bezeichnete.

Keiner von uns hatte das Buch hinausgelesen: denn wir fanden uns in der Erwartung getŠuscht, in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur ward angekŸndigt, und


wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgšttin, zu erfahren. Physik und Chemie, Himmels- und Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anatomie und so manches andere hatte nun seit Jahren und bis auf den letzten Tag uns immer auf die geschmŸckte gro§e Welt hingewiesen, und wir hŠtten gern von Sonnen und Sternen, von Planeten und Monden, von Bergen, TŠlern, FlŸssen und Meeren und von allem, was darin lebt und webt, das NŠhere sowie das Allgemeinere erfahren. Da§ hierbei wohl manches vorkommen mŸ§te, was dem gemeinen Menschen als schŠdlich, der Geistlichkeit als gefŠhrlich, dem Staat als unzulŠ§lich erscheinen mšchte, daran hatten wir keinen Zweifel, und wir hofften, dieses BŸchlein sollte nicht unwŸrdig die Feuerprobe bestanden haben. Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen PhŠnomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wŠren wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hŠtte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir: denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verlŠ§t er sie sogleich, um dasjenige, was hšher als die Natur, oder als hšhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.

Wenn uns jedoch dieses Buch einigen Schaden gebracht hat, So war es der, da§ wir aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik, recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten uns nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen.


So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles franzšsischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt, ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und doch unzulŠnglich, So da§ wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzugeben, wenn uns nicht ein anderer Einflu§ schon seit langer Zeit zu hšheren, freieren und ebenso wahren als dichterischen Weltansichten und GeistesgenŸssen vorbereitet und uns erst heimlich und mŠ§ig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger beherrscht hŠtte.

Ich brauche kaum zu sagen, da§ hier Shakespeare gemeint sei, und nachdem ich dieses ausgesprochen, bedarf es keiner weitern AusfŸhrung. Shakespeare ist von den Deutschen mehr als von allen anderen Nationen, ja vielleicht mehr als von seiner eignen erkannt. Wir haben ihm alle Gerechtigkeit, Billigkeit und Schonung, die wir uns unter einander selbst versagen, reichlich zugewendet; vorzŸgliche MŠnner beschŠftigten sich, seine Geistesgaben im gŸnstigsten Lichte zu zeigen, und ich habe jederzeit, was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten, ja ihn zu entschuldigen gesagt, gern unterschrieben. Die Einwirkung dieses au§erordentlichen Geistes auf mich ist frŸher dargestellt, und Ÿber seine Arbeiten einiges versucht worden, welches Zustimmung gefunden hat; und so mag es hier an dieser allgemeinen ErklŠrung genug sein, bis ich eine Nachlese von Betrachtungen Ÿber so gro§e Verdienste, die ich an dieser Stelle einzuschalten in Versuchung geriet, Freunden, die mich hšren mšgen, mitzuteilen im Falle bin.

GegenwŠrtig will ich nur die Art, wie ich mit ihm bekannt geworden, nŠher anzeigen. Es geschah ziemlich frŸh, in Leipzig, durch Dodds "Beauties of Shakespeare". Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstŸckelt mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so gefa§t und so geistreich, da§ wir ein ganzes Werk nach seinem Wert in


uns aufzunehmen vermšchten. Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen? Junge Leute besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von glŠnzenden Stellen gar lšblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch als einer der schšnsten Epochen meines Lebens derjenigen, welche gedachtes Werk bei mir bezeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die gro§en SprŸche, die treffenden Schilderungen, die humoristischen ZŸge, alles traf mich einzeln und gewaltig.

Nun erschien Wielands †bersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen. Wir Deutsche hatten den Vorteil, da§ mehrere bedeutende Werke fremder Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herŸbergebracht wurden. Shakespeare prosaisch Ÿbersetzt, erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verstŠndliche und jedem Leser gemŠ§e LektŸre sich schnell verbreiten, und gro§e Wirkung hervorbringen. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und grŸndlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fšrdernde ist dasjenige, was vom Dichter Ÿbrig bleibt, wenn er in Prose Ÿbersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein blendendes €u§ere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln wei§, und, wenn er gegenwŠrtig ist, verdeckt. Ich halte daher zum Anfang jugendlicher Bildung prosaische †bersetzungen fŸr vorteilhafter als die poetischen; denn es lŠ§t sich bemerken, da§ Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen mu§, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergetzen, und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstšren. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunŠchst eine prosaische †bersetzung des Homer zu unternehmen wŠre; aber freilich mŸ§te sie der Stufe wŸrdig sein, auf der sich die deutsche Literatur gegenwŠrtig befindet. Ich Ÿberlasse dies und das Vorgesagte unsern wŸrdigen PŠdagogen zur Betrachtung, denen ausgebreitete Erfahrung hierŸber am besten zu


Gebote steht. Nur will ich noch, zu Gunsten meines Vorschlags, an Luthers BibelŸbersetzung erinnern: denn da§ dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfa§tes Werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache wie aus einem Gusse Ÿberlieferte, hat die Religion mehr gefšrdert, als wenn er die EigentŸmlichkeiten des Originals im einzelnen hŠtte nachbilden wollen. Vergebens hat man nachher sich mit dem Buche Hiob, den Psalmen und andern GesŠngen bemŸht, sie uns in ihrer poetischen Form genie§bar zu machen. FŸr die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte †bertragung immer die beste. Jene kritischen †bersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander.

Und so wirkte in unserer Stra§burger SozietŠt Shakespeare, Ÿbersetzt und im Original, stŸckweise und im ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, da§, wie man bibelfeste MŠnner hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten, die Tugenden und MŠngel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren GesprŠchen nachbildeten, an seinen Quibbles die grš§te Freude hatten, und durch †bersetzung derselben, ja durch originalen Mutwillen mit ihm wetteiferten. Hiezu trug nicht wenig bei, da§ ich ihn vor allen mit gro§em Enthusiasmus ergriffen hatte. Ein freudiges Bekennen, da§ etwas Hšheres Ÿber mir schwebe, war ansteckend fŸr meine Freunde, die sich alle dieser Sinnesart hingaben. Wir leugneten die Mšglichkeit nicht, solche Verdienste nŠher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurteilen; aber dies behielten wir uns fŸr spŠtere Epochen vor: gegenwŠrtig wollten wir nur freudig teilnehmen, lebendig nachbilden, und, bei so gro§em Genu§, an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und mŠkeln, vielmehr tat es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren. Will jemand unmittelbar erfahren, was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders Ÿber Shakespeare,


in dem Hefte "Von deutscher Art und Kunst"; ferner Lenzens "Anmerkungen Ÿbers Theater", denen eine †bersetzung von "Love's labour's lost" hinzugefŸgt war. Herder dringt in das Tiefere von Shakespeares Wesen und stellt es herrlich dar; Lenz betrŠgt sich mehr bilderstŸrmerisch gegen die Herkšmmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und Ÿberall nach Shakespearescher Weise gehandelt haben. Da ich diesen so talentvollen als seltsamen Menschen hier zu erwŠhnen veranla§t werde, so ist wohl der Ort, versuchsweise einiges Ÿber ihn zu sagen. Ich lernte ihn erst gegen das Ende meines Stra§burger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu treffen, und teilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige JŸnglinge, Šhnliche Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Kšpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte ZŸge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz, ein Persšnchen, wie mir unter nordischen JŸnglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz flie§ende Sprache, und ein Betragen, das, zwischen ZurŸckhaltung und SchŸchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine flie§ende Hand. FŸr seine Sinnesart wŸ§te ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wšrterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfa§t. Niemand war vielleicht eben deswegen fŠhiger als er, die Ausschweifungen und AuswŸchse des Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obengedachte †bersetzung gibt ein Zeugnis hievon. Er behandelt seinen Autor mit gro§er Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er wei§ sich die RŸstung oder vielmehr die Possenjacke seines VorgŠngers so gut anzupassen, sich seinen GebŠrden so humoristisch gleichzustellen, da§ er demjenigen, den solche Dinge anmuteten, gewi§ Beifall abgewann.


Die AbsurditŠten der Clowns machten besonders unsers ganze GlŸckseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen begŸnstigten Menschen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Wildes folgenderma§en gelungen war:

Die schšne Prinzessin scho§ und traf

Eines jungen Hirschleins Leben;

Es fiel dahin in schweren Schlaf,

Und wird ein BrŠtlein geben.

Der Jagdhund boll! - Ein L zu Hirsch

So wird es denn ein Hirschel;

Doch setzt ein ršmisch L zu Hirsch,

So macht es fŸnfzig Hirschel.

Ich mache hundert Hirschel draus,

Schreib' Hirschell mit zwei LLen.

Die Neigung zum Absurden, die sich frei und unbewunden bei der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe zurŸcktritt, ohne sich deshalb gŠnzlich zu verlieren, war bei uns in voller BlŸte, und wir suchten auch durch OriginalspŠ§e unsern gro§en Meister zu feiern. Wir waren sehr glorios, wenn wir der Gesellschaft etwas der Art vorlegen konnten, welches einigerma§en gebilligt wurde, wie z.B. folgendes auf einen Rittmeister, der auf einem wilden Pferde zu Schaden gekommen war:

Ein Ritter wohnt in diesem Haus;

Ein Meister auch daneben;

Macht man davon einen Blumenstrau§,

So wird's einen Rittmeister geben.

Ist er nun Meister von dem Ritt,

FŸhrt er mit Recht den Namen;

Doch nimmt der Ritt den Meister mit,

Weh ihm und seinem Samen!

†ber solche Dinge ward sehr ernsthaft gestritten, ob sie des Clowns wŸrdig oder nicht, und ob sie aus der wahr-


haften reinen Narrenquelle geflossen, oder ob etwa Sinn und Verstand sich auf eine ungehšrige und unzulŠssige Weise mit eingemischt hŠtten. †berhaupt aber konnten sich diese seltsamen Gesinnungen um so heftiger verbreiten, und um so mehrere waren im Falle daran teilzunehmen, als Lessing, der das gro§e Vertrauen besa§, in seiner "Dramaturgie" eigentlich das erste Signal dazu gegeben hatte.

In so gestimmter und aufgeregter Gesellschaft gelang mir manche angenehme Fahrt nach dem oberen Elsa§, woher ich aber eben deshalb keine sonderliche Belehrung zurŸckbrachte. Die vielen kleinen Verse, die uns bei jeder Gelegenheit entquollen, und die wohl eine muntere Reisebeschreibung ausstatten konnten, sind verloren gegangen. In dem Kreuzgange der Abtei Molsheim bewunderten wir die farbigen ScheibengemŠlde; in der fruchtbaren Gegend zwischen Kolmar und Schlettstadt ertšnten possierliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so vieler FrŸchte umstŠndlich auseinander gesetzt und angepriesen, auch die wichtige Streitfrage Ÿber den freien oder beschrŠnkten Handel derselben sehr lustig genommen wurde. In Ensisheim sahen wir den ungeheuren Aerolithen in der Kirche aufgehangen, und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemŠ§, Ÿber die LeichtglŠubigkeit der Menschen, nicht vorahndend, da§ dergleichen luftgeborene Wesen, wo nicht auf unsern eignen Acker herabfallen, doch wenigstens in unsern Kabinetten sollten verwahrt werden.

Einer mit hundert, ja tausend GlŠubigen auf den Ottilienberg begangenen Wallfahrt denk ich noch immer gern. Hier, wo das GrundgemŠuer eines ršmischen Kastells noch Ÿbrig, sollte sich in Ruinen und Steinritzen eine schšne Grafentochter, aus frommer Neigung, aufgehalten haben. Unfern der Kapelle, wo sich die Wanderer erbauen, zeigt man ihren Brunnen und erzŠhlt gar manches Anmutige. Das Bild, das ich mir von ihr machte, und ihr Name prŠgte sich tief bei mir ein. Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine meiner zwar spŠtem, aber darum nicht minder


geliebten Tšchter damit ausstattete, die von frommen und reinen Herzen so gŸnstig aufgenommen wurde.

Auch auf dieser Hšhe wiederholt sich dem Auge das herrliche Elsa§, immer dasselbe und immer neu; ebenso wie man im Amphitheater, man nehme Platz wo man wolle, das ganze Volk Ÿbersieht, nur seine Nachbarn am deutlichsten, so ist es auch hier mit BŸschen, Felsen, HŸgeln, WŠldern, Feldern, Wiesen und Ortschaften in der NŠhe und in der Ferne. Am Horizont wollte man uns sogar Basel zeigen; da§ wir es gesehen, will ich nicht beschwšren, aber das entfernte Blau der Schweizergebirge Ÿbte auch hier sein Recht Ÿber uns aus, indem es uns zu sich forderte, und, da wir nicht diesem Triebe folgen konnten, ein schmerzliches GefŸhl zurŸcklie§.

Solchen Zerstreuungen und Heiterkeiten gab ich mich um so lieber und zwar bis zur Trunkenheit hin, als mich mein leidenschaftliches VerhŠltnis zu Friedriken nunmehr zu Šngstigen anfing. Eine solche jugendliche, aufs Geratewohl gehegte Neigung ist der nŠchtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften, glŠnzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwŠrts zwar wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Friedrike blieb sich immer gleich; sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, da§ dieses VerhŠltnis sich so bald endigen kšnne. Olivie hingegen, die mich zwar auch ungern vermi§te, aber doch nicht so viel als jene verlor, war voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir Ÿber meinen vermutlichen Abschied und suchte Ÿber sich selbst und ihre Schwester sich zu tršsten. Ein MŠdchen, das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewogenheit nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein JŸngling befindet, der mit ErklŠrungen ebenso weit gegen ein Frauenzimmer herausgegangen ist. Er spielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als einem werdenden Manne, erwartet man schon eine gewisse †bersicht seines Zustandes,


und ein entschiedener Leichtsinn will ihn nicht kleiden. Die Ursachen eines MŠdchens, das sich zurŸckzieht, scheinen immer gŸltig, die des Mannes niemals.

Allein wie soll eine schmeichelnde Leidenschaft uns voraussehn lassen, wohin sie uns fŸhren kann? Denn auch selbst alsdann, wenn wir schon ganz verstŠndig auf sie Verzicht getan, kšnnen wir sie noch nicht loslassen; wir ergetzen uns an der lieblichen Gewohnheit, und sollte es auch auf eine verŠnderte Weise sein. So ging es auch mir. Wenngleich die Gegenwart Friedrikens mich Šngstigte, so wu§te ich doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und mich mit ihr zu unterhalten. Ich kam seltner hinaus, aber unsere Briefe wechselten desto lebhafter. Sie wu§te mir ihre ZustŠnde mit Heiterkeit, ihre GefŸhle mit Anmut zu vergegenwŠrtigen, so wie ich mir ihre Verdienste mit Gunst und Leidenschaft vor die Seele rief. Die Abwesenheit machte mich frei, und meine ganze Zuneigung blŸhte erst recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne. Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich Ÿber die Zukunft verblenden; zerstreut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit und dringender GeschŠfte. Ich hatte bisher mšglich gemacht, das Mannigfaltigste zu leisten, durch immer lebhafte Teilnahme am GegenwŠrtigen und Augenblicklichen; allein gegen das Ende drŠngte sich alles gar gewaltsam Ÿber einander, wie es immer zu gehn pflegt, wenn man sich von einem Orte loslšsen soll.

Noch ein Zwischenereignis nahm mir die letzten Tage weg. Ich befand mich nŠmlich in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Landhause, von wo man die Vorderseite des MŸnsters und den darŸber emporsteigenden Turm gar herrlich sehn konnte. "Es ist schade," sagte jemand, "da§ das Ganze nicht fertig geworden und da§ wir nur den einen Turm haben." Ich versetzte dagegen: "Es ist mir ebenso leid, diesen einen Turm nicht ganz ausgefŸhrt zu sehn; denn die vier Schnecken setzen viel zu stumpf ab, es hŠtten darauf noch vier leichte Turmspitzen gesollt, sowie eine hšhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht."


Als ich diese Behauptung mit gewšhnlicher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner muntrer Mann an und fragte: "Wer hat Ihnen das gesagt?" - "Der Turm selbst," versetzte ich. "Ich habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet, und ihm so viel Neigung erwiesen, da§ er sich zuletzt entschlo§, mir dieses offenbare Geheimnis zu gestehn." - "Er hat sie nicht mit Unwahrheit berichtet," versetzte jener; "ich kann es am besten wissen, denn ich bin der Schaffner, der Ÿber die Baulichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserem Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen, und die ich Ihnen zeigen kann." - Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung dieser GefŠlligkeit. Er lie§ mich die unschŠtzbaren Rollen sehn; ich zeichnete geschwind die in der AusfŸhrung fehlenden Spitzen durch šlgetrŠnktes Papier und bedauerte, nicht frŸher von diesem Schatz unterrichtet gewesen zu sein. Aber so sollte es mir immer ergehn, da§ ich durch Anschauen und Betrachten der Dinge erst mŸhsam zu einem Begriff gelangen mu§te, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wŠre, wenn man mir ihn Ÿberliefert hŠtte.

In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die TrŠnen in den Augen, und mir war sehr Ÿbel zu Mute. Nun ritt ich auf dem Fu§pfade gegen Drusenheim, und da Ÿberfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nŠmlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschŸttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, da§ ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir getrŠumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen. Es


mag sich Ÿbrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Beruhigung. Der Schmerz, das herrliche Elsa§, mit allem, was ich darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohn, auf einer friedlichen und erheiternden Reise so ziemlich wieder.

In Mannheim angelangt, eilte ich mit grš§ter Begierde, den Antikensaal zu sehn, von dem man viel RŸhmens machte. Schon in Leipzig, bei Gelegenheit der Winckelmannschen und Lessingschen Schriften, hatte ich viel von diesen bedeutenden Kunstwerken reden hšren, desto weniger aber gesehn: denn au§er Laokoon, dem Vater, und dem Faun mit den Krotalen befanden sich keine AbgŸsse auf der Akademie; und was uns Oeser bei Gelegenheit dieser Bildnisse zu sagen beliebte, war freilich rŠtselhaft genug. Wie will man aber auch AnfŠngern von dem Ende der Kunst einen Begriff geben?

Direktor Verschaffelts Empfang war freundlich. Zu dem Saale fŸhrte mich einer seiner Gesellen, der, nachdem er mir aufgeschlossen, mich meinen Neigungen und Betrachtungen Ÿberlie§. Hier stand ich nun, den wundersamsten EindrŸcken ausgesetzt, in einem gerŠumigen, viereckten, bei au§erordentlicher Hšhe fast kubischen Saal, in einem durch Fenster unter dem Gesims von oben wohl erleuchteten Raum: die herrlichsten Statuen des Altertums nicht allein an den WŠnden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen FlŠche durch einander aufgestellt; ein Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine gro§e ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrŠngen mu§te. Alle diese herrlichen Gebilde konnten durch Auf- und Zuziehn der VorhŠnge in das vorteilhafteste Licht gestellt werden; Ÿberdies waren sie auf ihren Postamenten beweglich und nach Belieben zu wenden und zu drehen.

Nachdem ich die erste Wirkung dieser unwiderstehlichen Masse eine Zeitlang geduldet hatte, wendete ich mich zu


denen Gestalten, die mich am meisten anzogen, und wer kann leugnen, da§ Apoll von Belvedere, durch seine mŠ§ige Kolossalgrš§e, den schlanken Bau, die freie Bewegung, den siegenden Blick, auch Ÿber unsere Empfindung vor allen andern den Sieg davon trage? Sodann wendete ich mich zu Laokoon, den ich hier zuerst mit seinen Sšhnen in Verbindung sah. Ich vergegenwŠrtigte mir so gut als mšglich das, was Ÿber ihn verhandelt und gestritten worden war, und suchte mir einen Gesichtspunkt; allein ich ward bald da- bald dorthin gezogen. Der sterbende Fechter hielt mich lange fest, besonders aber hatte ich der Gruppe von Kastor und Pollux, diesen kostbaren, obgleich problematischen Resten, die seligsten Augenblicke zu danken. Ich wu§te noch nicht, wie unmšglich es sei, sich von einem genie§enden Anschaun sogleich Rechenschaft zu geben. Ich zwang mich zu reflektieren, und so wenig es mir gelingen wollte, zu irgend einer Art von Klarheit zu gelangen, so fŸhlte ich doch, da§ jedes einzelne dieser gro§en versammelten Masse fa§lich, ein jeder Gegenstand natŸrlich und in sich selbst bedeutend sei.

Auf Laokoon jedoch war meine grš§te Aufmerksamkeit gerichtet, und ich entschied mir die berŸhmte Frage, warum er nicht schreie, dadurch, da§ ich mir aussprach, er kšnne nicht schreien. Alle Handlungen und Bewegungen der drei Figuren gingen mir aus der ersten Konzeption der Gruppe hervor. Die ganze so gewaltsame als kunstreiche Stellung des Hauptkšrpers war aus zwei AnlŠssen zusammengesetzt, aus dem Streben gegen die Schlangen, und aus dem Fliehn vor dem augenblicklichen Bi§. Um diesen Schmerz zu mildern, mu§te der Unterleib eingezogen und das Schreien unmšglich gemacht werden. So entschied ich mich auch, da§ der jŸngere Sohn nicht gebissen sei, und wie ich mir sonst noch das Kunstreiche dieser Gruppe auszulegen suchte. Ich schrieb hierŸber einen Brief an Oesern, der aber nicht sonderlich auf meine Auslegung achtete, sondern nur meinen guten Willen mit einer allgemeinen Aufmunterung er-


widerte. Ich aber war glŸcklich genug, jenen Gedanken festzuhalten und bei mir mehrere Jahre ruhen zu lassen, bis er sich zuletzt an meine sŠmtlichen Erfahrungen und †berzeugungen anschlo§, in welchem Sinne ich ihn sodann bei Herausgabe der "PropylŠen" mitteilte.

Nach eifriger Betrachtung so vieler erhabenen plastischen Werke sollte es mir auch an einem Vorschmack antiker Architektur nicht fehlen. Ich fand den Abgu§ eines Kapitells der Rotonde, und ich leugne nicht, da§ beim Anblick jener so ungeheuren als eleganten AkanthblŠtter mein Glaube an die nordische Baukunst etwas zu wanken anfing.

Dieses gro§e und bei mir durchs ganze Leben wirksame frŸhzeitige Schauen war dennoch fŸr die nŠchste Zeit von geringen Folgen. Wie gern hŠtte ich mit dieser Darstellung ein Buch angefangen, anstatt da§ ich's damit ende: denn kaum war die TŸre des herrlichen Saals hinter mir zugeschlossen, so wŸnschte ich mich selbst wieder zu finden, ja ich suchte jene Gestalten eher, als lŠstig, aus meiner Einbildungskraft zu entfernen, und nur erst durch einen gro§en Umweg sollte ich in diesen Kreis zurŸckgefŸhrt werden. Indessen ist die stille Fruchtbarkeit solcher EindrŸcke ganz unschŠtzbar, die man genie§end, ohne zersplitterndes Urteil in sich aufnimmt. Die Jugend ist dieses hšchsten GlŸcks fŠhig, wenn sie nicht kritisch sein will, sondern das Vortreffliche und Gute, ohne Untersuchung und Sonderung, auf sich wirken lŠ§t.


 

Zwšlftes Buch

 

Der Wanderer war nun endlich gesŸnder und froher nach Hause gelangt als das erstemal, aber in seinem ganzen Wesen zeigte sich doch etwas †berspanntes, welches nicht všllig auf geistige Gesundheit deutete. Gleich zu Anfang brachte ich meine Mutter in den Fall, da§ sie zwischen meines Vaters rechtlichem Ordnungsgeist und meiner vielfachen ExzentrizitŠt die VorfŠlle in ein gewisses Mittel zu richten und zu schlichten beschŠftigt sein mu§te. In Mainz hatte mir ein harfespielender Knabe so wohl gefallen, da§ ich ihn, weil die Messe gerade vor der TŸre war, nach Frankfurt einlud, ihm Wohnung zu geben und ihn zu befšrdern versprach. In diesem Ereignis trat wieder einmal diejenige Eigenheit hervor, die mich in meinem Leben so viel gekostet hat, da§ ich nŠmlich gern sehe, wenn jŸngere Wesen sich um mich versammeln und an mich anknŸpfen, wodurch ich denn freilich zuletzt mit ihrem Schicksal belastet werde. Eine unangenehme Erfahrung nach der andern konnte mich von dem angebornen Trieb nicht zurŸckbringen, der noch gegenwŠrtig, bei der deutlichsten †berzeugung, von Zeit zu Zeit mich irre zu fŸhren droht. Meine Mutter, klŠrer als ich, sah wohl voraus, wie sonderbar es meinem Vater vorkommen mŸ§te, wenn ein musikalischer Me§lŠufer von einem so ansehnlichen Hause her zu Gasthšfen und Schenken ginge, sein Brot zu verdienen; daher sorgte sie in der Nachbarschaft fŸr Herberge und Kost desselben; ich empfahl ihn meinen Freunden, und so befand sich das Kind nicht Ÿbel. Nach mehreren Jahren sah ich ihn wieder, wo er grš§er und tšlpischer geworden war, ohne in seiner Kunst viel zugenommen zu haben. Die wackere Frau, mit dem ersten ProbestŸck des Ausgleichens und Vertuschens wohl


zufrieden, dachte nicht, da§ sie diese Kunst in der nŠchsten Zeit durchaus nštig haben wŸrde. Der Vater, in seinen verjŠhrten Liebhabereien und BeschŠftigungen ein zufriedenes Leben fŸhrend, war behaglich, wie einer, der trotz allen Hindernissen und VerspŠtungen seine Plane durchsetzt. Ich hatte nun promoviert, der erste Schritt zu dem fernem bŸrgerlichen, stufenweisen Lebensgange war getan. Meine Disputation hatte seinen Beifall, ihn beschŠftigte die nŠhere Betrachtung derselben und manche Vorbereitung zu einer kŸnftigen Herausgabe. WŠhrend meines Aufenthalts im Elsa§ hatte ich viel kleine Gedichte, AufsŠtze, Reisebemerkungen und manches fliegende Blatt geschrieben. Diese zu rubrizieren, zu ordnen, die Vollendung zu verlangen unterhielt ihn, und so war er froh in der Erwartung, da§ meine bisher unŸberwundene Abneigung, etwas dieser Dinge gedruckt zu sehn, sich nŠchstens verlieren werde. Die Schwester hatte einen Kreis von verstŠndigen und liebenswŸrdigen Frauenzimmern um sich versammelt. Ohne herrisch zu sein, herrschte sie Ÿber alle, indem ihr Verstand gar manches Ÿbersehn und ihr guter Wille vieles ausgleichen konnte, sie auch Ÿberdies in dem Fall war, eher die Vertraute als die Rivalin zu spielen. Von Šltern Freunden und Bekannten fand ich an Horn den unverŠnderlich treuen Freund und heiteren Gesellschafter; mit Riese ward ich auch vertraut, der meinen Scharfsinn zu Ÿben und zu prŸfen nicht verfehlte, indem er, durch anhaltenden Widerspruch, einem dogmatischen Enthusiasmus, in welchen ich nur gar zu gern verfiel, Zweifel und Verneinung entgegensetzte. Andere traten nach und nach zu diesem Kreis, deren ich kŸnftig gedenke; jedoch standen unter den Personen, die mir den neuen Aufenthalt in meiner Vaterstadt angenehm und fruchtbar machten, die GebrŸder Schlosser allerdings obenan. Der Šltere, Hieronymus, ein grŸndlicher und eleganter Rechtsgelehrter, hatte als Sachwalter ein allgemeines Vertrauen. Unter seinen BŸchern und Akten, in Zimmern, wo die grš§te Ordnung herrschte, war sein liebster Aufenthalt;


dort habÕ ich ihn niemals anders als heiter und teilnehmend gefunden. Auch in grš§erer Gesellschaft erwies er sich angenehm und unterhaltend: denn sein Geist war, durch eine ausgebreitete LektŸre, mit allem Schšnen der Vorwelt geziert. Er verschmŠhte nicht, bei Gelegenheit, durch geistreiche lateinische Gedichte die geselligen Freuden zu vermehren; wie ich denn noch verschiedene scherzhafte Distichen von ihm besitze, die er unter einige von mir gezeichnete PortrŠte seltsamer, allgemein bekannter Frankfurter Karikaturen geschrieben hatte. …fters beriet ich mich mit ihm Ÿber meinen einzuleitenden Lebens- und GeschŠftsgang, und hŠtten mich nicht hundertfŠltige Neigungen, Leidenschaften und Zerstreuungen von diesem Wege fortgerissen, er wŸrde mir der sicherste FŸhrer geworden sein. NŠher an Alter stand mir sein Bruder Georg, der sich von Treptow, aus den Diensten des Herzogs Eugen von WŸrtemberg, wieder zurŸckgezogen hatte. An Weltkenntnis, an praktischem Geschick vorgeschritten, war er in seiner †bersicht der deutschen und auswŠrtigen Literatur auch nicht zurŸckgeblieben. Er schrieb, wie vormals, gern in allen Sprachen, regte mich aber dadurch nicht weiter an, da ich, mich dem Deutschen ausschlie§lich widmend, die Ÿbrigen nur insoweit kultivierte, da§ ich die besten Autoren im Original einigerma§en zu lesen imstande war. Seine Rechtschaffenheit zeigte sich immer als dieselbe, ja die Bekanntschaft mit der Welt mochte ihn veranla§t haben, strenger, sogar starrer auf seinen wohlmeinenden Gesinnungen zu beharren.

Durch diese beiden Freunde ward ich denn auch gar bald mit Merck bekannt, dem ich durch Herdern, von Stra§burg aus, nicht ungŸnstig angekŸndigt war. Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den grš§ten Einflu§ gehabt, war von Geburt ein DarmstŠdter. Von seiner frŸheren Bildung wŸ§te ich wenig zu sagen. Nach vollendeten Studien fŸhrte er einen JŸngling nach der Schweiz, wo er eine Zeitlang blieb, und beweiht zurŸckkam. Als ich ihn kennen lernte, war er Kriegs-


zahlmeister in Darmstadt. Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich sehr schšne Kenntnisse, besonders der neueren Literaturen, erworben, und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehn. Treffend und scharf zu urteilen war ihm gegeben. Man schŠtzte ihn als einen wackern entschlossenen GeschŠftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er Ÿberall ein, als ein sehr angenehmer Gesellschafter fŸr die, denen er sich durch bei§ende ZŸge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt, eine hervordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben seinem Blick, der aufmerkend hin und wider ging, etwas Tigerartiges. Lavaters "Physiognomik " hat uns sein Profil aufbewahrt. In seinem Charakter lag ein wunderbares Mi§verhŠltnis: von Natur ein braver, edler, zuverlŠssiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert, und lie§ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, da§ er eine unŸberwindliche Neigung fŸhlte, vorsŠtzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu sein. VerstŠndig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke ihre Hšrner hervorstreckt, irgend etwas zu tun, was einen andern krŠnkte, verletzte, ja was ihm schŠdlich ward. Doch wie man gern mit etwas GefŠhrlichem umgeht, wenn man selber davor sicher zu sein glaubt, so hatte ich eine desto grš§ere Neigung, mit ihm zu leben und seiner guten Eigenschaften zu genie§en, da ein zuversichtliches GefŸhl mich ahnden lie§, da§ er seine schlimme Seite nicht gegen mich kehren werde. Wie er sich nun, durch diesen sittlich unruhigen Geist, durch dieses BedŸrfnis, die Menschen hŠmisch und tŸckisch zu behandeln, von einer Seite das gesellige Leben verdarb, so widersprach eine andere Unruhe, die er auch recht sorgfŠltig in sich nŠhrte, seinem innern Behagen. Er fŸhlte nŠmlich einen gewissen dilettantischen Produktionstrieb, dem er um so mehr nachhing, als er sich in Prosa und Versen leicht und glŸcklich ausdrŸckte, und unter den schšnen Geistern jener Zeit eine Rolle zu spielen gar wohl wagen


durfte. Ich besitze selbst noch poetische Episteln von ungemeiner KŸhnheit, Derbheit und Swiftischer Galle, die sich durch originelle Ansichten der Personen und Sachen hšchlich auszeichnen, aber zugleich mit so verletzender Kraft geschrieben sind, da§ ich sie nicht einmal gegenwŠrtig publizieren mšchte, sondern sie entweder vertilgen, oder als auffallende Dokumente des geheimen Zwiespalts in unserer Literatur der Nachwelt aufbewahren mu§. Da§ er jedoch bei allen seinen Arbeiten verneinend und zerstšrend zu Werke ging, war ihm selbst unangenehm, und er sprach es oft aus, er beneide mich um meine unschuldige Darstellungslust, welche aus der Freude an dem Vorbild und dem Nachgebildeten entspringe.

†brigens hŠtte ihm sein literarischer Dilettantismus eher Nutzen als Schaden gebracht, wenn er nicht den unwiderstehlichen Trieb gefŸhlt hŠtte, auch im technischen und merkantilischen Fach aufzutreten. Denn wenn er einmal seine FŠhigkeiten zu verwŸnschen anfing, und au§er sich war, die AnsprŸche an ein ausŸbendes Talent nicht genialisch genug befriedigen zu kšnnen, So lie§ er bald die bildende, bald die Dichtkunst fahren und sann auf fabrikmŠ§ige kaufmŠnnische Unternehmungen, welche Geld einbringen sollten, indem sie ihm Spa§ machten.

In Darmstadt befand sich Ÿbrigens eine Gesellschaft von sehr gebildeten MŠnnern. Geheimerat von Hesse, Minister des Landgrafen, Professor Petersen, Rektor Wenck und andere waren die Einheimischen, zu deren Wert sich manche fremde Benachbarte und viele Durchreisende abwechselnd gesellten. Die GeheimerŠtin von Hesse und ihre Schwester, Demoiselle Flachsland, waren Frauenzimmer von seltenen Verdiensten und Anlagen, die letztre, Herders Braut, doppelt interessant durch ihre Eigenschaften und ihre Neigung zu einem so vortrefflichen Manne.

Wie sehr dieser Kreis mich belebte und fšrderte, wŠre nicht auszusprechen. Man hšrte gern die Vorlesung meiner gefertigten oder angefangenen Arbeiten, man munterte


mich auf, wenn ich offen und umstŠndlich erzŠhlte, was ich eben vorhatte, und schalt mich, wenn ich bei jedem neuen Anla§ das FrŸherbegonnene zurŸcksetzte. "Faust" war schon vorgeruckt, "Gštz von Berlichingen" baute sich nach und nach so in meinem Geiste zusammen, das Studium des fŸnfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts beschŠftigte mich, und jenes MŸnstergebŠude hatte einen sehr ernsten Eindruck in mir zurŸckgelassen, der als Hintergrund zu solchen Dichtungen gar wohl dastehn konnte.

Was ich Ÿber jene Baukunst gedacht und gewŠhnt hatte, schrieb ich zusammen. Das erste, worauf ich drang, war, da§ man sie deutsch und nicht gotisch nennen, nicht fŸr auslŠndisch, sondern fŸr vaterlŠndisch halten solle; das zweite, da§ man sie nicht mit der Baukunst der Griechen und Ršmer vergleichen dŸrfe, weil sie aus einem ganz anderen Prinzip entsprungen sei. Wenn jene, unter einem glŸcklicheren Himmel, ihr Dach auf SŠulen ruhen lie§en, so entstand ja schon an und fŸr sich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen die Witterung schŸtzen, und mit Mauern Ÿberall umgeben mŸssen, haben den Genius zu verehren, der Mittel fand, massiven WŠnden Mannigfaltigkeit zu geben, sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge wŸrdig und erfreulich auf der gro§en FlŠche zu beschŠftigen. Dasselbe galt von den TŸrmen, welche nicht, wie die Kuppeln, nach innen einen Himmel bilden, Sondern au§en gen Himmel streben, und das Dasein des Heiligtums, das sich an ihre Base gelagert, weit umher den LŠndern verkŸnden sollten. Das Innere dieser wŸrdigen GebŠude wagte ich nur durch poetisches Anschauen und durch fromme Stimmung zu berŸhren.

HŠtte ich diese Ansichten, denen ich ihren Wert nicht absprechen will, klar und deutlich, in vernehmlichem Stil abzufassen beliebt, so hŠtte der Druckbogen "Von deutscher Baukunst, D. M. Ervini a Steinbach " schon damals, als ich ihn herausgab, mehr Wirkung getan und die vaterlŠndischen Freunde der Kunst frŸher aufmerksam gemacht; so aber


verhŸllte ich, durch Hamanns und Herders Beispiel verfŸhrt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen, und verfinsterte das Licht, das mir aufgegangen war, fŸr mich und andere. Demungeachtet wurden diese BlŠtter gut aufgenommen und in dem Herderschen Heft "Von deutscher Art und Kunst " nochmals abgedruckt.

Wenn ich mich nun, teils aus Neigung, teils zu dichterischen und andern Zwecken, mit vaterlŠndischen AltertŸmern sehr gern beschŠftigte und sie mir zu vergegenwŠrtigen suchte; so ward ich durch die biblischen Studien und durch religišse AnklŠnge von Zeit zu Zeit wieder abgelenkt, da ja Luthers Leben und Taten, die in dem sechzehnten Jahrhundert so herrlich hervorglŠnzen, mich immer wieder zu den Heiligen Schriften und zu Betrachtung religišser GefŸhle und Meinungen hinleiten mu§ten. Die Bibel als ein zusammengetragenes, nach und nach entstandenes, zu verschiedenen Zeiten Ÿberarbeitetes Werk anzusehn, schmeichelte meinem kleinen DŸnkel, indem diese Vorstellungsart noch keineswegs herrschend, viel weniger in dem Kreis aufgenommen war, in welchem ich lebte. Was den Hauptsinn betraf, hielt ich mich an Luthers Ausdruck, im einzelnen ging ich wohl zur Schmidischen wšrtlichen †bersetzung, und suchte mein weniges HebrŠisch dabei so gut als mšglich zu benutzen. Da§ in der Bibel sich WidersprŸche finden, wird jetzt niemand in Abrede sein. Diese suchte man dadurch auszugleichen, da§ man die deutlichere Stelle zum Grunde legte, und die widersprechende, weniger klare jener anzuŠhnlichen bemŸht war. Ich dagegen wollte durch PrŸfung herausfinden, welche Stelle den Sinn der Sache am meisten aussprŠche; an diese hielt ich mich und verwarf die anderen als untergeschoben.

Denn schon damals hatte sich bei mir eine Grundmeinung festgesetzt, ohne da§ ich zu sagen wŸ§te, ob sie mir eingeflš§t, ob sie bei mir angeregt worden, oder ob sie aus eignem Nachdenken entsprungen sei. Es war nŠmlich die:


bei allem, was uns Ÿberliefert, besonders aber schriftlich Ÿberliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das UrsprŸngliche, Gšttliche, Wirksame, Unantastbare, UnverwŸstliche, und keine Zeit, keine Šu§ere Einwirkung noch Bedingung kšnne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Kšrpers einer wohlgebildeten Seele. So sei nun Sprache, Dialekt, EigentŸmlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Kšrper eines jeden geistigen Werks anzusehn; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis ausgesetzt: wie denn Ÿberhaupt keine †berlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein gegeben wŸrde, in der Folge jederzeit vollkommen verstŠndlich sein kšnnte, jenes wegen UnzulŠnglichkeit der Organe, durch welche Ÿberliefert wird, dieses wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher FŠhigkeiten und Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden.

Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwŠgen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde; alles €u§ere hingegen, was auf uns unwirksam, oder einem Zweifel unterworfen sei, habe man der Kritik zu Ÿberlassen, welche, wenn sie auch imstande sein sollte, das Ganze zu zerstŸckeln und zu zersplittern, dennoch niemals dahin gelangen wŸrde, uns den eigentlichen Grund, an dem wir festhalten, zu rauben, ja uns nicht einen Augenblick an der einmal gefa§ten Zuversicht irre zu machen.

Diese aus Glauben und Schauen entsprungene †berzeugung, welche in allen FŠllen, die wir fŸr die wichtigsten erkennen, anwendbar und stŠrkend ist, liegt zum Grunde meinem sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau, und


ist als ein wohl angelegtes und reichlich wucherndes Kapital anzusehn, ob wir gleich in einzelnen FŠllen zu fehlerhafter Anwendung verleitet werden kšnnen. Durch diesen Begriff ward mir denn die Bibel erst recht zugŠnglich. Ich hatte sie, wie bei dem Religionsunterricht der Protestanten geschieht, mehrmals durchlaufen, ja, mich mit derselben sprungweise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekannt gemacht. Die derbe NatŸrlichkeit des Alten Testaments und die zarte NaivetŠt des Neuen hatte mich im einzelnen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegentreten, aber die verschiedenen Charakter der verschiedenen BŸcher machten mich nun nicht mehr irre: ich wu§te mir ihre Bedeutung der Reihe nach treulich zu vergegenwŠrtigen und hatte Ÿberhaupt zu viel GemŸt an dieses Buch verwandt, als da§ ich es jemals wieder hŠtte entbehren sollen. Eben von dieser gemŸtlichen Seite war ich gegen alle Spšttereien geschŸtzt, weil ich deren Unredlichkeit sogleich einsah. Ich verabscheute sie nicht nur, sondern ich konnte darŸber in Wut geraten, und ich erinnere mich noch genau, da§ ich in kindlich fanatischem Eifer Voltairen, wenn ich ihn hŠtte habhaft werden kšnnen, wegen seines "Sauls " gar wohl erdrosselt hŠtte. Jede Art von redlicher Forschung dagegen sagte mir hšchlich zu, die AufklŠrungen Ÿber des Orients LokalitŠt und KostŸm, welche immer mehr Licht verbreiteten, nahm ich mit Freuden auf, und fuhr fort, allen meinen Scharfsinn an den so werten †berlieferungen zu Ÿben.

Man wei§, wie ich schon frŸher mich in den Zustand der Urwelt, die uns das erste Buch Mosis schildert, einzuweihen suchte. Weil ich nun schrittweise und ordentlich zu verfahren dachte, so griff ich, nach einer langen Unterbrechung, das zweite Buch an. Allein welch ein Unterschied Gerade wie die kindliche FŸlle aus meinem Leben verschwunden war, so fand ich auch das zweite Buch von dem ersten durch eine ungeheure Kluft getrennt. Das všllige Vergessen vergangener Zeit spricht sich schon aus in den wenigen bedeutenden Worten: "Da kam ein neuer Kšnig


auf in €gypten, der wu§te nichts von Joseph." Aber auch das Volk, wie die Sterne des Himmels unzŠhlbar, hatte beinah den Ahnherrn vergessen, dem Jehovah gerade dieses nunmehr erfŸllte Versprechen unter dem Sternenhimmel getan hatte. Ich arbeitete mich mit unsŠglicher MŸhe, mit unzulŠnglichen HŸlfsmitteln und KrŠften durch die fŸnf BŸcher und geriet dabei auf die wunderlichsten EinfŠlle. Ich glaubte gefunden zu haben, da§ nicht unsere Zehn Gebote auf den Tafeln gestanden, da§ die Israeliten keine vierzig Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die WŸste gewandert, und ebenso bildete ich mir ein, Ÿber den Charakter Mosis ganz neue AufschlŸsse geben zu kšnnen.

Auch das Neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher; ich verschonte es nicht mit meiner Sonderungslust, aber aus Liebe und Neigung stimmte ich doch in jenes heilsame Wort mit ein: "Die Evangelisten mšgen sich widersprechen, wenn sich nur das Evangelium nicht widerspricht." - Auch in dieser Region glaubte ich allerhand Entdeckungen zu machen. Jene Gabe der Sprachen, am Pfingstfeste in Glanz und Klarheit erteilt, deutete ich mir auf eine etwas abstruse Weise, nicht geeignet, sich viele Teilnehmer zu verschaffen.

In eine der Hauptlehren des Luthertums, welche die BrŸdergemeine noch geschŠrft hatte, das SŸndhafte im Menschen als vorwaltend anzusehn, versuchte ich mich zu schicken, obgleich nicht mit sonderlichem GlŸck. Doch hatte ich mir die Terminologie dieser Lehre so ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich derselben in einem Briefe, den ich unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder zu erlassen beliebte. Das Hauptthema desselbigen Schreibens war jedoch die Losung der damaligen Zeit, sie hie§ Toleranz, und galt unter den besseren Kšpfen und Geistern.

Solche Dinge, die nach und nach entstanden, lie§ ich, um mich an dem Publikum zu versuchen, im folgenden Jahre auf meine Kosten drucken, verschenkte sie, oder gab sie der


Eichenbergischen Buchhandlung, um sie so gut als mšglich zu verhšken, ohne da§ mir dadurch einiger Vorteil zugewachsen wŠre. Hier und da gedenkt eine Rezension derselben, bald gŸnstig, bald ungŸnstig, doch gleich waren sie verschollen. Mein Vater bewahrte sie sorgfŠltig in seinem Archiv, sonst wŸrde ich kein Exemplar davon besitzen. Ich werde sie, sowie einiges Ungedruckte der Art, was ich noch vorgefunden, der neuen Ausgabe meiner Werke hinzufŸgen.

Da ich mich nun sowohl zu dem sibyllinischen Stil solcher BlŠtter als zu der Herausgabe derselben eigentlich durch Hamann hatte verleiten lassen, so scheint mir hier eine schickliche Stelle, dieses wŸrdigen einflu§reichen Mannes zu gedenken, der uns damals ein ebenso gro§es Geheimnis war, als er es immer dem Vaterlande geblieben ist. Seine "sokratischen DenkwŸrdigkeiten " erregten Aufsehen, und waren solchen Personen besonders lieb, die sich mit dem blendenden Zeitgeiste nicht vertragen konnten. Man ahndete hier einen tiefdenkenden grŸndlichen Mann, der, mit der offenbaren Welt und Literatur genau bekannt, doch auch noch etwas Geheimes, Unerforschliches gelten lie§, und sich darŸber auf eine ganz eigne Weise aussprach. Von denen, die damals die Literatur des Tags beherrschten, ward er freilich fŸr einen abstrusen SchwŠrmer gehalten, eine aufstrebende Jugend aber lie§ sich wohl von ihm anziehn. Sogar die Stillen im Lande, wie sie halb im Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jene frommen Seelen, welche, ohne sich zu irgend einer Gesellschaft zu bekennen, eine unsichtbare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Aufmerksamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht weniger ihrem Freunde Moser war der "Magus aus Norden " eine willkommene Erscheinung. Man setzte sich um so mehr mit ihm in VerhŠltnis, als man erfahren hatte, da§ er, von knappen hŠuslichen UmstŠnden gepeinigt, sich dennoch diese schšne und hohe Sinnesweise zu erhalten verstand. Bei dem gro§en Einflusse des PrŠsidenten von Moser wŠre es leicht gewesen, einem so genŸgsamen Manne ein leidliches und


bequemes Dasein zu verschaffen. Die Sache war auch eingeleitet, ja man hatte sich so weit schon verstŠndigt und genŠhert, da§ Hamann die weite Reise von Kšnigsberg nach Darmstadt unternahm. Als aber der PrŠsident zufŠllig abwesend war, kehrte jener wunderliche Mann, aus welchem Anla§ wei§ man nicht, sogleich wieder zurŸck; man blieb jedoch in einem freundlichen BriefverhŠltnis. Ich besitze noch zwei Schreiben des Kšnigsbergers an seinen Gšnner, die von der wundersamen Gro§heit und Innigkeit ihres Verfassers Zeugnis ablegen.

Aber ein so gutes VerstŠndnis sollte nicht lange dauern. Diese frommen Menschen hatten sich jenen auch nach ihrer Weise fromm gedacht, sie hatten ihn als den Magus aus Norden mit Ehrfurcht behandelt, und glaubten, da§ er sich auch so fort in ehrwŸrdigem Betragen darstellen wŸrde. Allein er hatte schon durch die "Wolken, ein Nachspiel Sokratischer DenkwŸrdigkeiten " einigen Ansto§ gegeben, und da er nun gar die "KreuzzŸge des Philologen " herausgab, auf deren Titelblatt nicht allein das Ziegenprofil eines gehšrnten Pans zu sehen war, sondern auch auf einer der ersten Seiten ein gro§er, in Holz geschnittener Hahn, taktgebend jungen HŠhnchen, die mit Noten in den Krallen vor ihm da standen, sich hšchst lŠcherlich zeigte, wodurch gewisse Kirchenmusiken, die der Verfasser nicht billigen mochte, scherzhaft durchgezogen werden sollten: so entstand unter den Wohl- und Zartgesinnten ein Mi§behagen, welches man dem Verfasser merken lie§, der denn auch, dadurch nicht erbaut, einer engeren Vereinigung sich entzog. Unsere Aufmerksamkeit auf diesen Mann hielt jedoch Herder immer lebendig, der, mit seiner Braut und uns in Korrespondenz bleibend, alles, was von jenem merkwŸrdigen Geiste nur ausging, sogleich mitteilte. Darunter gehšrten denn auch seine Rezensionen und Anzeigen, eingerŸckt in die "Kšnigsberger Zeitung," die alle einen hšchst sonderbaren Charakter trugen. Ich besitze eine meist vollstŠndige Sammlung seiner Schriften und einen sehr bedeutenden handschriftlichen Auf-


satz Ÿber Herders Preisschrift, den Ursprung der Sprache betreffend, worin er dieses Herdersche ProbestŸck, auf die eigenste Art, mit wunderlichen Schlaglichtern beleuchtet.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eine Herausgabe der Hamannschen Werke entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befšrdern, und alsdann, wenn diese wichtigen Dokumente wieder vor den Augen des Publikums liegen, mšchte es Zeit sein, Ÿber den Verfasser, dessen Natur und Wesen das NŠhere zu besprechen; inzwischen will ich noch einiges hier schon beibringen, um so mehr, als noch vorzŸgliche MŠnner leben, die ihm auch ihre Neigung geschenkt, und deren Beistimmung oder Zurechtweisung mir sehr willkommen sein wŸrde. Das Prinzip, auf welches die sŠmtlichen €u§erungen Hamanns sich zurŸckfŸhren lassen, ist dieses: "Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, mu§ aus sŠmtlichen vereinigten KrŠften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich." Eine herrliche Maxime! aber schwer zu befolgen. Von Leben und Kunst mag sie freilich gelten; bei jeder †berlieferung durchs Wort hingegen, die nicht gerade poetisch ist, findet sich eine gro§e Schwierigkeit: denn das Wort mu§ sich ablšsen, es mu§ sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, mu§ fŸr den Augenblick einseitig werden; es gibt keine Mitteilung, keine Lehre ohne Sonderung. Da nun aber Hamann ein fŸr allemal dieser Trennung widerstrebte, und, wie er in einer Einheit empfand, imaginierte, dachte, so auch sprechen wollte, und das gleiche von andern verlangte; so trat er mit seinem eignen Stil und mit allem, was die andern hervorbringen konnten, in Widerstreit. Um das Unmšgliche zu leisten, greift er daher nach allen Elementen; die tiefsten geheimsten Anschauungen, wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen, erleuchtende Verstandesblitze, die aus einem solchen Zusammentreffen hervorstrahlen, bedeutende Bilder, die in diesen Regionen schweben, andringende SprŸche der heiligen und Profanskriben-


ten, und was sich sonst noch humoristisch hinzufŸgen mag, alles dieses bildet die wunderbare Gesamtheit seines Stils, seiner Mitteilungen. Kann man sich nun in der Tiefe nicht zu ihm gesellen, auf den Hšhen nicht mit ihm wandeln, der Gestalten, die ihm vorschweben, sich nicht bemŠchtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeuteten Stelle herausfinden; so wird es um uns nur trŸber und dunkler, je mehr wir ihn studieren, und diese Finsternis wird mit den Jahren immer zunehmen, weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Literatur augenblicklich herrschende Eigenheiten vorzŸglich gerichtet waren. Unter meiner Sammlung befinden sich einige seiner gedruckten Bogen, wo er an dem Rande eigenhŠndig die Stellen zitiert hat, auf die sich seine Andeutungen beziehn. SchlŠgt man sie auf, so gibt es abermals ein zweideutiges Doppellicht, das uns hšchst angenehm erscheint, nur mu§ man durchaus auf das Verzicht tun, was man gewšhnlich Verstehen nennt. Solche BlŠtter verdienen auch deswegen sibyllinisch genannt zu werden, weil man sie nicht an und fŸr sich betrachten kann, sondern auf Gelegenheit warten mu§, wo man etwa zu ihren Orakeln seine Zuflucht nŠhme. Jedesmal, wenn man sie aufschlŠgt, glaubt man etwas Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle inwohnende Sinn uns auf eine vielfache Weise berŸhrt und aufregt.

Persšnlich habe ich ihn nie gesehn, auch kein unmittelbares VerhŠltnis zu ihm durch Briefe gehabt. Mir scheint er in Lebens- und FreundschaftsverhŠltnissen hšchst klar gewesen zu sein und die BezŸge der Menschen untereinander und auf ihn sehr richtig gefŸhlt zu haben. Alle Briefe, die ich von ihm sah, waren vortrefflich und viel deutlicher als seine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit und UmstŠnde sowie auf persšnliche VerhŠltnisse klarer hervortrat. Soviel glaubte ich jedoch durchaus zu ersehn, da§ er, die †berlegenheit seiner Geistesgaben aufs naivste fŸhlend, sich jederzeit fŸr etwas weiser und klŸger gehalten als seine Korrespondenten, denen er mehr ironisch als herzlich be-


gegnete. GŠlte dies auch nur von einzelnen FŠllen, so war es fŸr mich doch die Mehrzahl, und Ursache, da§ ich mich ihm zu nŠhern niemals Verlangen trug.

Zwischen Herder und uns waltete dagegen ein gemŸtlich literarischer Verkehr hšchst lebhaft fort, nur schade, da§ er sich niemals ruhig und rein erhalten konnte. Aber Herder unterlie§ sein Necken und Schelten nicht; Mercken brauchte man nicht viel zu reizen, der mich denn auch zur Ungeduld aufzuregen wu§te. Weil nun Herder unter allen Schriftstellern und Menschen Swiften am meisten zu ehren schien, so hie§ er unter uns gleichfalls der Dechant, und dieses gab abermals zu mancherlei Irrungen und Verdrie§lichkeiten Anla§. Dessen ungeachtet freuten wir uns hšchlich, als wir vernahmen, da§ er in BŸckeburg sollte angestellt werden, welches ihm doppelt Ehre brachte: denn sein neuer Patron hatte den hšchsten Ruf als ein einsichtiger, tapferer, obwohl sonderbarer Mann gewonnen. Thomas Abbt war in diesen Diensten bekannt und berŸhmt geworden, dem Verstorbenen klagte das Vaterland nach und freute sich an dem Denkmal, das ihm sein Gšnner gestiftet. Nun sollte Herder an der Stelle des zu frŸh Verblichenen alle diejenigen Hoffnungen erfŸllen, welche sein VorgŠnger so wŸrdig erregt hatte.

Die Epoche, worin dieses geschah, gab einer solchen Anstellung doppelten Glanz und Wert; denn mehrere deutsche FŸrsten folgten schon dem Beispiel des Grafen von der Lippe, da§ sie nicht blo§ gelehrte und eigentlich geschŠftsfŠhige, sondern auch geistreiche und vielversprechende MŠnner in ihre Dienste aufnahmen. Es hie§: Klopstock sei von dem Markgrafen Karl von Baden berufen worden, nicht zu eigentlichem GeschŠftsdienst, sondern um, durch seine Gegenwart, Anmut und Nutzen der hšheren Gesellschaft mitzuteilen. So wie nun hierdurch das Ansehn auch dieses vortrefflichen FŸrsten wuchs, der allem NŸtzlichen und Schšnen seine Aufmerksamkeit schenkte, so mu§te die Verehrung fŸr Klopstock gleichfalls nicht wenig zunehmen. Lieb und wert war alles, was von ihm ausging; sorgfŠltig schrieben wir die Oden


ab und die Elegien, wie sie ein jeder habhaft werden konnte. Hšchst vergnŸgt waren wir daher, als die gro§e LandgrŠfin Karoline von Hessen-Darmstadt eine Sammlung derselben veranstaltete, und eins der wenigen Exemplare in unsere HŠnde kam, das uns instand setzte, die eignen handschriftlichen Sammlungen zu vervollzŠhligen. Daher sind uns jene ersten Lesarten lange Zeit die liebsten geblieben, ja wir haben uns noch oft an Gedichten, die der Verfasser nachher verworfen, erquickt und erfreut. So wahr ist, da§ das aus einer schšnen Seele hervordringende Leben nur um desto freier wirkt, je weniger es durch Kritik in das Kunstfach herŸbergezogen erscheint.

Klopstock hatte sich und andern talentvollen MŠnnern, durch seinen Charakter und sein Betragen, Ansehn und WŸrde zu verschaffen gewu§t; nun sollten sie ihm aber auch wo mšglich die Sicherung und Verbesserung ihres hŠuslichen Bestandes verdanken. Der Buchhandel nŠmlich bezog sich in frŸherer Zeit mehr auf bedeutende wissenschaftliche FakultŠtswerke, auf stehende Verlagsartikel, welche mŠ§ig honoriert wurden. Die Produktion von poetischen Schriften aber wurde als etwas Heiliges angesehn, und man hielt es beinahe fŸr Simonie, ein Honorar zu nehmen oder zu steigern. Autoren und Verlegen standen in dem wunderlichsten WechselverhŠltnis. Beide erschienen, wie man es nehmen wollte, als Patrone und als Klienten. Jene, die neben ihrem Talent, gewšhnlich als hšchst sittliche Menschen vom Publikum betrachtet wurden, hatten einen geistigen Rang und fŸhlten sich durch das GlŸck der Arbeit belohnt; diese begnŸgten sich gern mit der zweiten Stelle und genossen eines ansehnlichen Vorteils: nun aber setzte die Wohlhabenheit den reichen BuchhŠndler wieder Ÿber den armen Poeten, und so stand alles in dem schšnsten Gleichgewicht. Wechselseitige Gro§mut und Dankbarkeit war nicht selten: Breitkopf und Gottsched blieben lebenslang Hausgenossen; Knickerei und NiedertrŠchtigkeit, besonders der Nachdrucker, waren noch nicht im Schwange.


Dessen ungeachtet war untern den deutschen Autoren eine allgemeine Bewegung entstanden. Sie verglichen ihren eignen sehr mŠ§igen, wo nicht Šrmlichen Zustand mit dem Reichtum der angesehenen BuchhŠndler; sie betrachteten, wie gro§ der Ruhm eines Gellert, eines Rabener sei, und in welcher huslichen Enge ein allgemein beliebter deutscher Schriftsteller sich behelfen mŸsse, wenn er sich nicht durch sonst irgend einen Erwerb das Leben erleichterte. Auch die mittleren und geringeern Geister fŸhlten ein lebhaftes Verlangen, ihre Lage verbessert zu sehn, sich von Verlegern unabhŠngig zu machen.

Nun trat Klopstock hervor und bot seine "Gelehrtenrepublik " auf Subskription an. Obgleich die spŠtern GesŠnge des "Messias," teils ihres Inhalts, teils der Behandlung wegen, nicht die Wirkung tun konnten wie die frŸhern, die, selbst rein und unschuldig, in eine reine und unschuldige Zeit kamen; so blieb doch die Achtung gegen den Dichter immer gleich, der sich, durch die Herausgabe seiner Oden, die Herzen, Geister und GemŸter vieler Menschen zugewendet hatte. Viele wohldenkende MŠnner, darunter mehrere von gro§em Einflu§, erboten sich, Vorausbezahlung anzunehmen, die auf einen Louisdor gesetzt war, weil es hie§, da§ man nicht sowohl das Buch bezahlen, als den Verfasser, bei dieser Gelegenheit, fŸr seine Verdienste um das Vaterland belohnen sollte. Hier drŠngte sich nun jedermann hinzu, selbst JŸnglinge und MŠdchen, die nicht viel aufzuwenden hatten, eršffneten ihre SparbŸchsen; MŠnner und Frauen, der obere, der mittlere Stand trugen zu dieser heiligen Spende bei, und es kamen vielleicht tausend PrŠnumeranten zusammen. Die Erwartung war aufs hšchste gespannt, das Zutrauen so gro§ als mšglich.

Hiernach mu§te das Werk, bei seiner Erscheinung, den seltsamsten Erfolg von der Welt haben; zwar immer von bedeutendem Wert, aber nichts weniger als allgemein ansprechend. Wie Klopstock Ÿber Poesie und Literatur dachte, war in Form einer alten deutschen Druidenrepublik


dargestellt, seine Maximen Ÿber das Echte und Falsche in lakonischen KernsprŸchen angedeutet, wobei jedoch manches Lehrreiche der seltsamen Form aufgeopfert wurde. FŸr Schriftsteller und Literatoren war und ist das Buch unschŠtzbar, konnte aber auch nur in diesem Kreise wirksam und nŸtzlich sein. Wer selbst gedacht hatte, folgte dem Denker, wer das Echte zu suchen und zu schŠtzen wu§te, fand sich durch den grŸndlichen braven Mann belehrt; aber der Liebhaber, der Leser ward nicht aufgeklŠrt, ihm blieb das Buch versiegelt, und doch hatte man es in alle HŠnde gegeben, und indem jedermann ein vollkommen brauchbares Werk erwartete, erhielten die meisten ein solches, dem sie auch nicht den mindesten Geschmack abgewinnen konnten. Die BestŸrzung war allgemein, die Achtung gegen den Mann aber so gro§, da§ kein Murren, kaum ein leises Murmeln entstand. Die junge schšne Welt verschmerzte den Verlust und verschenkte nun scherzend die teuer erworbenen Exemplare. Ich erhielt selbst mehrere von guten Freundinnen, deren keines aber mir geblieben ist.

Diese dem Autor gelungene, dem Publikum aber mi§lungene Unternehmung hatte die bšse Folge, da§ nun so bald nicht mehr an Subskription und PrŠnumeration zu denken war; doch hatte sich jener Wunsch zu allgemein verbreitet, als da§ der Versuch nicht hŠtte erneuert werden sollen. Dieses nun im gro§en und ganzen zu tun, erbot sich die Dessauische Verlagshandlung. Hier sollten Gelehrte und Verleger, in geschlossenem Bund, des zu hoffenden Vorteils beide verhŠltnismŠ§ig genie§en. Das so lange peinlich empfundene BedŸrfnis erweckte hier abermals ein gro§es Zutrauen, das sich aber nicht lange erhalten konnte, und leider schieden die Teilhaber nach kurzen BemŸhungen mit wechselseitigem Schaden auseinander.

Eine rasche Mitteilung war jedoch unter den Literaturfreunden schon eingeleitet; die Musenalmanache verbanden alle jungen Dichter, die Journale den Dichter mit den Ÿbrigen Schriftstellern. Meine Lust am Hervorbringen war gren-


zenlos; gegen mein Hervorgebrachtes verhielt ich mich gleichgŸltig; nur wenn ich es mir und andern in geselligem Kreise froh wieder vergegenwŠrtigte, erneute sich die Neigung daran. Auch nahmen viele gern an meinen grš§ern und kleinern Arbeiten teil, weil ich einen jeden, der sich nur einigerma§en zum Hervorbringen geneigt und geschickt fŸhlte, etwas in seiner eignen Art unabhŠngig zu leisten, dringend nštigte, und von allen gleichfalls wieder zu neuem Dichten und Schreiben aufgefordert wurde. Dieses wechselseitige, bis zur Ausschweifung gehende Hetzen und Treiben gab jedem nach seiner Art einen fršhlichen Einflu§, und aus diesem Quirlen und Schaffen, aus diesem Leben und Lebenlassen, aus diesem Nehmen und Geben, welches mit freier Brust, ohne irgend einen theoretischen Leitstern, von so viel JŸnglingen, nach eines jeden angebornem Charakter, ohne RŸcksichten getrieben wurde, entsprang jene berŸhmte, berufene und verrufene Literarepoche, in welcher eine Masse junger genialer MŠnner, mit aller Mutigkeit und aller Anma§ung, wie sie nur einer solchen Jahreszeit eigen sein mag, hervorbrachen, durch Anwendung ihrer KrŠfte manche Freude, manches Gute, durch den Mi§brauch derselben manchen Verdru§ und manches †bel stifteten; und gerade die aus dieser Quelle entspringenden Wirkungen und Gegenwirkungen sind das Hauptthema dieses Bandes.

Woran sollen aber junge Leute das hšchste Interesse finden, wie sollen sie unter ihresgleichen Interesse erregen, wenn die Liebe sie nicht beseelt, und wenn nicht Herzensangelegenheiten, von welcher Art sie auch sein mšgen, in ihnen lebendig sind? Ich hatte im stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dies machte mich mild und nachgiebig, und der Gesellschaft angenehmer als in glŠnzenden Zeiten, wo mich nichts an einen Mangel oder einen Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden vor mich hinstŸrmte.

Die Antwort Friedrikens auf einen schriftlichen Abschied zerri§ mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe GefŸhl, die sich zu mir, die sich an mir her-


angebildet hatten. Ich fŸhlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Mšglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwŠrtig; stets empfand ich, da§ sie mir fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes UnglŸck nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schšnste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer dŸsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, hšchst peinlich, ja unertrŠglich. Aber der Mensch will leben; daher nahm ich aufrichtigen Teil an andern, ich suchte ihre Verlegenheiten zu entwirren, und, was sich trennen wollte, zu verbinden, damit es ihnen nicht ergehen mšchte wie mir. Man pflegte mich daher den Vertrauten zu nennen, auch, wegen meines Umherschweifens in der Gegend, den Wanderer. Dieser Beruhigung fŸr mein GemŸt, die mir nur unter freiem Himmel, in TŠlern, auf Hšhen, in Gefilden und WŠldern zuteil ward, kam die Lage von Frankfurt zustatten, das zwischen Darmstadt und Homburg mitten inne lag, zwei angenehmen Orten, die durch Verwandtschaft beider Hšfe in gutem VerhŠltnis standen. Ich gewšhnte mich, auf der Stra§e zu leben, und wie ein Bote zwischen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wandern. Oft ging ich allein oder in Gesellschaft durch meine Vaterstadt, als wenn sie mich nichts anginge, speiste in einem der gro§en Gasthšfe in der Fahrgasse und zog nach Tische meines Wegs weiter fort. Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel "Wanderers Sturmlied," Ÿbrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich entgegen gehn mu§te.

Mein Herz war ungerŸhrt und unbeschŠftigt: ich vermied gewissenhaft alles nŠhere VerhŠltnis zu Frauenzimmern, und so blieb mir verborgen, da§ mich Unaufmerksamen und Unwissenden ein liebevoller Genius heimlich umschwebe. Eine


zarte liebenswŸrdige Frau hegte im stillen eine Neigung zu mir, die ich nicht gewahrte, und mich eben deswegen in ihrer wohltŠtigen Gesellschaft desto heiterer und anmutiger zeigte. Erst mehrere Jahre nachher, ja erst nach ihrem Tode, erfuhr ich das geheime himmlische Lieben, auf eine Weise, die mich erschŸttern mu§te; aber ich war schuldlos und konnte ein schuldloses Wesen rein und redlich betrauern, und um so schšner, als die Entdeckung gerade in eine Epoche fiel, wo ich, ganz ohne Leidenschaft, mir und meinen geistigen Neigungen zu leben das GlŸck hatte.

Aber zu der Zeit, als der Schmerz Ÿber Friedrikens Lage mich beŠngstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals HŸlfe bei der Dichtkunst. Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquŠlerische BŸ§ung einer innern Absolution wŸrdig zu werden. Die beiden Marien in "Gštz von Berlichingen" und "Clavigo", und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, mšchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.

Wie man aber Verletzungen und Krankheiten in der Jugend rasch Ÿberwindet, weil ein gesundes System des organischen Lebens fŸr ein krankes einstehen und ihm Zeit lassen kann, auch wieder zu gesunden, So traten kšrperliche †bungen glŸcklicherweise, bei mancher gŸnstigen Gelegenheit, gar vorteilhaft hervor, und ich ward zu frischem Ermannen, zu neuen Lebensfreuden und GenŸssen vielfŠltig aufgeregt. Das Reiten verdrŠngte nach und nach jene schlendernden, melancholischen, beschwerlichen und doch langsamen und zwecklosen Fu§wanderungen; man kam schneller, lustiger und bequemer zum Zweck. Die jŸngern Gesellen fŸhrten das Fechten wieder ein; besonders aber tat sich, bei eintretendem Winter, eine neue Welt vor uns auf, indem ich mich zum Schlittschuhfahren, welches ich nie versucht hatte, rasch entschlo§, und es in kurzer Zeit, durch †bung, Nachdenken und Beharrlichkeit, so weit brachte als nštig ist, um eine frohe und belebte Eisbahn mitzugenie§en, ohne sich gerade auszeichnen zu wollen.


Diese neue frohe TŠtigkeit waren wir denn auch Klopstocken schuldig, seinem Enthusiasmus fŸr diese glŸckliche Bewegung, den Privatnachrichten bestŠtigten, wenn seine Oden davon ein unverwerfliches Zeugnis ablegen. Ich erinnere mich ganz genau, da§, an einem heiteren Frostmorgen, ich aus dem Bette springend mir jene Stellen zurief:

Schon von dem GefŸhle der Gesundheit froh,

Hab' ich, weit hinab, wei§ an dem Gestade gemacht

Den bedeckenden Kristall.

Wie erhellt des Winters werdender Tag

Sanft den See! GlŠnzenden Reif, Sternen gleich,

Streute die Nacht Ÿber ihn aus!

Mein zaudernder und schwankender Entschlu§ war sogleich bestimmt, und ich flog strŠcklings dem Orte zu, wo ein so alter AnfŠnger mit einiger Schicklichkeit seine ersten †bungen anstellen konnte. Und fŸrwahr! diese KraftŠu§erung verdiente wohl von Klopstock empfohlen zu werden, die uns mit der frischesten Kindheit in BerŸhrung setzt, den JŸngling seiner Gelenkheit ganz zu genie§en aufruft, und ein stockendes Alter abzuwehren geeignet ist. Auch hingen wir dieser Lust unmŠ§ig nach. Einen herrlichen Sonnentag so auf dem Eise zu verbringen, genŸgte uns nicht; wir setzten unsere Bewegung bis spŠt in die Nacht fort. Denn wie andere Anstrengungen den Leib ermŸden, so verleiht ihm diese eine immer neue Schwungkraft. Der Ÿber den nŠchtlichen, weiten, zu Eisfeldern Ÿberfrorenen Wiesen aus den Wolken hervortretende Vollmond, die unserm Lauf entgegensŠuselnde Nachtluft, des bei abnehmendem Wasser sich senkenden Eises ernsthafter Donner, unserer eigenen Bewegungen sonderbarer Nachhall vergegenwŠrtigten uns Ossiansche Szenen ganz vollkommen. Bald dieser bald jener Freund lie§ in deklamatorischem Halbgesange eine Klopstockische Ode ertšnen, und wenn wir uns im DŠm-


merlichte zusammenfanden, erscholl das ungeheuchelte Lob des Stifters unserer Freuden.

Und sollte der unsterblich nicht sein,

Der Gesundheit uns und Freuden erfand,

Die das Ro§ mutig im Lauf niemals gab,

Welche der Ball selber nicht hat?

Solchen Dank verdient sich ein Mann, der irgend ein irdisches Tun durch geistige Anregung zu veredeln und wŸrdig zu verbreiten wei§!

Und so wie talentreiche Kinder, deren Geistesgaben schon frŸh wundersam ausgebildet sind, sich, wenn sie nur dŸrfen, den einfachsten Knabenspielen wieder zuwenden, verga§en wir nur allzu leicht unseren Beruf zu ernsteren Dingen; doch regte gerade diese oft einsame Bewegung, dieses gemŠchliche Schweben im Unbestimmten, gar manche meiner innern BedŸrfnisse wieder auf, die eine Zeitlang geschlafen hatten, und ich bin solchen Stunden die schnellere Ausbildung Šlterer VorsŠtze schuldig geworden.

Die dunkleren Jahrhunderte der deutschen Geschichte hatten von jeher meine Wi§begierde und Einbildungskraft beschŠftigt. Der Gedanke, den Gštz von Berlichingen in seiner Zeitumgebung zu dramatisieren, war mir hšchlich lieb und wert. Ich las die Hauptschriftsteller flei§ig; dem Werke "De pace publica " von Datt widmete ich alle Aufmerksamkeit; ich hatte es emsig durchstudiert, und mir jene seltsamen Einzelnheiten mšglichst veranschaulicht. Diese zu sittlichen und poetischen Absichten hin gerichteten BemŸhungen konnte ich auch nach einer anderen Seite brauchen, und da ich nunmehr Wetzlar besuchen sollte, war ich geschichtlich vorbereitet genug: denn das Kammergericht war doch auch in Gefolge des Landfriedens entstanden, und die Geschichte desselben konnte fŸr einen bedeutenden Leitfaden durch die verworrenen deutschen Ereignisse gelten. Gibt doch die Beschaffenheit der Gerichte und der


Heere die genauste Einsicht in die Beschaffenheit irgend eines Reichs. Die Finanzen selbst, deren Einflu§ man fŸr so wichtig hŠlt, kommen viel weniger in Betracht: denn wenn es dem Ganzen fehlt, so darf man dem Einzelnen nur abnehmen, was er mŸhsam zusammengescharrt und - gehalten hat, und so ist der Staat immer reich genug.

Was mir in Wetzlar begegnete, ist von keiner gro§en Bedeutung, aber es kann ein hšheres Interesse einflš§en, wenn man eine flŸchtige Geschichte des Kammergerichts nicht verschmŠhen will, um sich den ungŸnstigen Augenblick zu vergegenwŠrtigen, in welchem ich daselbst anlangte.

Die Herren der Erde sind es vorzŸglich dadurch, da§ sie, wie im Kriege die Tapfersten und Entschlossensten, so im Frieden die Weisesten und Gerechtesten um sich versammeln kšnnen. Auch zu dem Hofstaat eines deutschen Kaisers gehšrte ein solches Gericht, das ihn, bei seinen ZŸgen durch das Reich, immer begleitete. Aber weder diese Sorgfalt noch das Schwabenrecht, welches im sŸdlichen Deutschland, das Sachsenrecht, welches im nšrdlichen galt, weder die zu Aufrechthaltung derselben bestellten Richter, noch die AustrŠge der EbenbŸrtigen, weder die Schiedsrichter, durch Vertrag anerkannt, noch gŸtliche Vergleiche, durch die Geistlichen gestiftet, nichts konnte den aufgereizten ritterlichen Fehdegeist stillen, der bei den Deutschen durch innern Zwist, durch fremde FeldzŸge, besonders aber durch die Kreuzfahrten, ja durch GerichtsgebrŠuche selbst aufgeregt, genŠhrt und zur Sitte geworden. Dem Kaiser sowie den mŠchtigem StŠnden waren die Plackereien hšchst verdrie§lich, wodurch die Kleinen einander selbst, und, wenn sie sich verbanden, auch den Grš§ern lŠstig wurden. GelŠhmt war alle Kraft nach au§en, wie die Ordnung nach innen gestšrt; Ÿberdies lastete noch das Femgericht auf einem gro§en Teile des Vaterlands, von dessen Schrecknissen man sich einen Begriff machen kann, wenn man denkt, da§ es in eine geheime Polizei ausartete, die sogar zuletzt in die HŠnde von Privatleuten gelangte.


Diesen Unbilden einigerma§en zu steuern, ward vieles umsonst versucht, bis endlich die StŠnde ein Gericht aus eignen Mitteln dringend in Vorschlag brachten. Dieser, so wohlgemeint er auch sein mochte, deutete doch immer auf Erweiterung der stŠndischen Befugnisse, auf eine BeschrŠnkung der kaiserlichen Macht. Unter Friedrich dem Dritten verzšgert sich die Sache; sein Sohn Maximilian, von au§en gedrŠngt, gibt nach. Er bestellt den Oberrichter, die StŠnde senden die Beisitzer. Es sollten ihrer vierundzwanzig sein, anfangs begnŸgt man sich mit zwšlfen.

Ein allgemeiner Fehler, dessen sich die Menschen bei ihren Unternehmungen schuldig machen, war auch der erste und ewige Grundmangel des Kammergerichts: zu einem gro§en Zwecke wurden unzulŠngliche Mittel angewendet. Die Zahl der Assessoren war zu klein; wie sollte von ihnen die schwere und weitlŠuftige Aufgabe gelšst werden! Allein wer sollte auf eine hinlŠngliche Einrichtung dringen? Der Kaiser konnte eine Anstalt nicht begŸnstigen, die mehr wider als fŸr ihn zu wirken schien; weit grš§ere Ursache hatte er, sein eignes Gericht, seinen eignen Hofrat auszubilden. Betrachtet man dagegen das Interesse der StŠnde so konnte es ihnen eigentlich nur um Stillung des Bluts zu tun sein, ob die Wunde geheilt wŸrde, lag ihnen nicht so nah; und nun noch gar ein neuer Kostenaufwand! Man mochte sich's nicht ganz deutlich gemacht haben, da§ durch diese Anstalt jeder FŸrst seine Dienerschaft vermehre, freilich zu einem entschiedenen Zwecke, aber wer gibt gern Geld fŸrs Notwendige? Jedermann wŠre zufrieden, wenn er das NŸtzliche um Gottes willen haben kšnnte.

Anfangs sollten die Beisitzer von Sporteln leben, dann erfolgte eine mŠ§ige Bewilligung der StŠnde; beides war kŸmmerlich. Aber dem gro§en und auffallenden BedŸrfnis abzuhelfen, fanden sich willige, tŸchtige, arbeitsame MŠnner, und das Gericht ward eingesetzt. Ob man einsah, da§ hier nur von Linderung, nicht von Heilung des †bels die Rede sei, oder ob man sich, wie in Šhnlichen FŠllen, mit der Hoffnung schmeichelte, mit wenigem vieles zu leisten, ist


nicht zu entscheiden; genug, das Gericht diente mehr zum Vorwande, die Unruhstifter zu bestrafen, als da§ es grŸndlich dem Unrecht vorgebeugt hŠtte. Allein es ist kaum beisammen, so erwŠchst ihm eine Kraft aus sich selbst, es fŸhlt die Hšhe, auf die es gestellt ist, es erkennt seine gro§e politische Wichtigkeit. Nun sucht es sich durch auffallende TŠtigkeit ein entschiedneres Ansehn zu erwerben; frisch arbeiten sie weg alles, was kurz abgetan werden kann und mu§, was Ÿber den Augenblick entscheidet, oder was sonst leicht beurteilt werden kann, und so erscheinen sie im ganzen Reiche wirksam und wŸrdig. Die Sachen von schwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen RechtshŠndel, blieben im RŸckstand, und es war kein UnglŸck. Dem Staate liegt nur daran, da§ der Besitz gewi§ und sicher sei; ob man mit Recht besitze, kann ihn weniger kŸmmern. Deswegen erwuchs aus der nach und nach aufschwellenden ungeheuren Anzahl von verspŠteten Prozessen dem Reiche kein Schade. Gegen Leute, die Gewalt brauchten, war ja vorgesehn, und mit diesen konnte man fertig werden, die Ÿbrigen, die rechtlich um den Besitz stritten, sie lebten, genossen oder darbten, wie sie konnten, sie starben, verdarben, verglichen sich; das alles war aber nur Heil oder Unheil einzelner Familien, das Reich ward nach und nach beruhigt. Denn dem Kammergericht war ein gesetzliches Faustrecht gegen die Ungehorsamen in die HŠnde gegeben; hŠtte man den Bannstrahl schleudern kšnnen, dieser wŠre wirksamer gewesen.

Jetzo aber, bei der bald vermehrten, bald verminderten Anzahl der Assessoren, bei manchen Unterbrechungen, bei Verlegung des Gerichts von einem Ort an den andern, mu§ten diese Reste, diese Akten ins Unendliche anwachsen. Nun flŸchtete man in Kriegsnot einen Teil des Archivs von Speyer nach Aschaffenburg, einen Teil nach Worms, der dritte fiel in die HŠnde der Franzosen, welche ein Staatsarchiv erobert zu haben glaubten, und hernach geneigt gewesen wŠren, sich dieses Papierwusts zu entledigen, wenn nur jemand die Fuhren hŠtte daran wenden wollen.


Bei den westfŠlischen Friedensunterhandlungen sahen die versammelten tŸchtigen MŠnner wohl ein, was fŸr ein Hebel erfordert w erde, um jene sisyphische Last vom Platze zu bewegen. Nun sollten fŸnfzig Assessoren angestellt werden, diese Zahl ist aber nie erreicht worden: man begnŸgte sich abermals mit der HŠlfte, weil der Aufwand zu gro§ schien; allein hŠtten die Interessenten sŠmtlich ihren Vorteil bei der Sache gesehn, so wŠre das Ganze gar wohl zu leisten gewesen. Um fŸnfundzwanzig Beisitzer zu besolden, waren ohngefŠhr einhunderttausend Gulden nštig; wie leicht hŠtte Deutschland das Doppelte herbeigeschafft. Der Vorschlag, das Kammergericht mit eingezogenen geistlichen GŸtern auszustatten, konnte nicht durchgehn: denn wie sollten sich beide Religionsteile zu dieser Aufopferung verstehn? Die Katholiken wollten nicht noch mehr verlieren, und die Protestanten das Gewonnene jeder zu innern Zwecken verwenden. Die Spaltung des Reichs in zwei Religionsparteien hatte auch hier, in mehrerem Betracht, den schlimmsten Einflu§. Nun verminderte sich der Anteil der StŠnde an diesem ihrem Gericht immer mehr: die mŠchtigem suchten sich von dem Verbande loszulšsen; Freibriefe, vor keinem obern Gerichtshofe belangt zu werden, wurden immer lebhafter gesucht; die grš§eren blieben mit den Zahlungen zurŸck, und die kleineren, die sich in der Matrikel ohnehin bevorteilt glaubten, sŠumten, solange sie konnten.

Wie schwer war es daher, den zahltŠgigen Bedarf zu den Besoldungen aufzubringen. Hieraus entsprang ein neues GeschŠft, ein neuer Zeitverlust fŸr das Kammergericht; frŸher hatten die jŠhrlichen sogenannten Visitationen dafŸr gesorgt. FŸrsten in Person, oder ihre RŠte, begaben sich nur auf Wochen oder Monate an den Ort des Gerichts, untersuchten die Kassen, erforschten die Reste und Ÿbernahmen das GeschŠft, sie beizutreiben. Zugleich, wenn etwas in dem Rechts- und Gerichtsgange stocken, irgend ein Mi§brauch einschleichen wollte, waren sie befugt, dem abzuhelfen. Gebrechen der Anstalt sollten sie entdecken und heben, aber


persšnliche Verbrechen der Glieder zu untersuchen und zu bestrafen, ward erst spŠter ein Teil ihrer Pflicht. Weil aber Prozessierende den Lebenshauch ihrer Hoffnungen immer noch einen Augenblick verlŠngern wollen, und deshalb immer hšhere Instanzen suchen und hervorrufen; so wurden diese Visitatoren auch ein Revisionsgericht, vor dem man erst in bestimmten, offenbaren FŠllen Wiederherstellung, zuletzt aber in allen Aufschub und Verewigung des Zwists zu finden hoffte: wozu denn auch die Berufung an den Reichstag, und das Bestreben beider Religionsparteien, sich einander, wo nicht aufzuwiegen, doch im Gleichgewicht zu erhalten, das Ihrige beitrugen.

Denkt man sich aber, was dieses Gericht ohne solche Hindernisse, ohne so stšrende und zerstšrende Bedingungen, hŠtte sein kšnnen; so kann man es sich nicht merkwŸrdig und wichtig genug ausbilden. WŠre es gleich anfangs mit einer hinreichenden Anzahl von MŠnnern besetzt gewesen, hŠtte man diesen einen zulŠnglichen Unterhalt gesichert; unŸbersehbar wŠre bei der TŸchtigkeit deutscher MŠnner der ungeheure Einflu§ geworden, zu dem diese Gesellschaft hŠtte gelangen kšnnen. Den Ehrentitel Amphiktyonen, den man ihnen nur rednerisch zuteilte, wŸrden sie wirklich verdient haben; ja sie konnten sich zu einer Zwischenmacht erheben, beides, dem Oberhaupt und den Gliedern ehrwŸrdig.

Aber weit entfernt von so gro§en Wirkungen, schleppte das Gericht, au§er etwa eine kurze Zeit unter Karl dem FŸnften und vor dem Drei§igjŠhrigen Kriege, sich nur kŸmmerlich hin. Man begreift oft nicht, wie sich nur MŠnner finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen GeschŠft. Aber was der Mensch tŠglich treibt, lŠ§t er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, da§ etwas dabei herauskomme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart, und so haben sich drei Jahrhunderte hindurch die wŸrdigsten MŠnner mit diesen Arbeiten und GegenstŠnden beschŠftigt.


Eine charakteristische Galerie solcher Bilder wŸrde noch jetzt Anteil erregen und Mut einflš§en.

Denn gerade in solchen anarchischen Zeiten tritt der tŸchtige Mann am festesten auf, und der das Gute will, findet sich recht an seinem Platze. So stand z.B. das Direktorium FŸrstenbergs noch immer in gesegnetem Andenken, und mit dem Tode dieses vortrefflichen Manns beginnt die Epoche vieler verderblichen Mi§brŠuche.

Aber alle diese spŠteren und frŸheren Gebrechen entsprangen aus der ersten, einzigen Quelle: aus der geringen Personenzahl. Verordnet war, da§ die Beisitzer in einer entschiedenen Folge und nach bestimmter Ordnung vortragen sollten. Ein jeder konnte wissen, wann die Reihe ihn treffen werde, und welchen seiner ihm obliegenden Prozesse; er konnte darauf hinarbeiten, er konnte sich vorbereiten. Nun hŠuften sich aber die unseligen Reste; man mu§te sich entschlie§en, wichtigere RechtshŠndel auszuheben und au§er der Reihe vorzutragen. Die Beurteilung der Wichtigkeit einer Sache vor der andern ist, bei dem Zudrang von bedeutenden FŠllen, schwer, und die Auswahl lŠ§t schon Gunst zu; aber nun trat noch ein anderer bedenklicher Fall ein. Der Referent quŠlte sich und das Gericht mit einem schweren verwickelten Handel, und zuletzt fand sich niemand, der das Urteil einlšsen wollte. Die Parteien hatten sich verglichen, auseinander gesetzt, waren gestorben, hatten den Sinn geŠndert. Daher beschlo§ man, nur diejenigen GegenstŠnde vorzunehmen, welche erinnert wurden. Man wollte von der fortdauernden Beharrlichkeit der Parteien Ÿberzeugt sein, und hiedurch ward den grš§ten Gebrechen die Einleitung gegeben: denn wer seine Sache empfiehlt, mu§ sie doch jemand empfehlen, und wem empfŠhle man sie besser als dem, der sie unter HŠnden hat. Diesen, ordnungsgemŠ§, geheim zu halten ward unmšglich: denn bei so viel mitwissenden Subalternen, wie sollte derselbe verborgen bleiben? Bittet man um Beschleunigung, so darf man ja wohl auch um Gunst bitten: denn eben da§ man seine Sache betreibt, zeigt


ja an, da§ man sie fŸr gerecht hŠlt. Geradezu wird man es vielleicht nicht tun, gewi§ aber am ersten durch Untergeordnete; diese mŸssen gewonnen werden, und so ist die Einleitung zu allen Intrigen und Bestechungen gegeben.

Kaiser Joseph, nach eignem Antriebe und in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerst seine Aufmerksamkeit auf die Waffen und die Justiz. Er fa§te das Kammergericht ins Auge; herkšmmliche Ungerechtigkeiten, eingefŸhrte Mi§brŠuche waren ihm nicht unbekannt geblieben. Auch hier sollte aufgeregt, gerŸttelt und getan sein. Ohne zu fragen, ob es sein kaiserlicher Vorteil sei, ohne die Mšglichkeit eines glŸcklichen Erfolgs vorauszusehn, brachte er die Visitation in Vorschlag, und Ÿbereilte ihre Eršffnung. Seit hundertundsechsundsechzig Jahren hatte man keine ordentliche Visitation zustande gebracht; ein ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jŠhrlich, da die siebzehn Assessoren nicht einmal imstande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Prozesse hatten sich aufgehŠuft, jŠhrlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu. Auch auf die Visitatoren wartete keine geringe Anzahl von Revisionen, man wollte ihrer funfzigtausend zŠhlen. †berdies hinderte so mancher Mi§brauch den Gerichtsgang; als das Bedenklichste aber von allem erschienen im Hintergrunde die persšnlichen Verbrechen einiger Assessoren.

Als ich nach Wetzlar gehn sollte, war die Visitation schon einige Jahre im Gange, die Beschuldigten suspendiert, die Untersuchung weitvorgerŸckt; und weil nun die Kenner und Meister des deutschen Staatsrechts diese Gelegenheit nicht vorbeilassen durften, ihre Einsichten zu zeigen und sie dem gemeinen Besten zu widmen, so waren mehrere grŸndliche wohlgesinnte Schriften erschienen, aus denen sich, wer nur einige Vorkenntnisse besa§, grŸndlich unterrichten konnte. Ging man bei dieser Gelegenheit in die Reichsverfassung und die von derselben handelnden Schriften zurŸck, so war es auffallend, wie der monstršse Zustand dieses


durchaus kranken Kšrpers, der nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward, gerade den Gelehrten am meisten zusagte. Denn der ehrwŸrdige deutsche Flei§, der mehr auf Sammlung und Entwickelung von Einzelnheiten als auf Resultate losging, fand hier einen unversiegbaren Anla§ zu immer neuer BeschŠftigung, und man mochte nun das Reich dem Kaiser, die kleinern den grš§ern StŠnden, die Katholiken den Protestanten entgegensetzen, immer gab es, nach dem verschiedenen Interesse, notwendig verschiedene Meinungen, und immer Gelegenheit zu neuen KŠmpfen und Gegenreden.

Da ich mir alle diese Šltern und neuern ZustŠnde mšglichst vergegenwŠrtigt hatte, konnte ich mir von meinem Wetzlarschen Aufenthalt unmšglich viel Freude versprechen. Die Aussicht war nicht reizend, in einer zwar wohl gelegenen, aber kleinen und Ÿbel gebauten Stadt eine doppelte Welt zu finden: erst die einheimische alte hergebrachte, dann eine fremde neue, jene scharf zu prŸfen beauftragt, ein richtendes und ein gerichtetes Gericht; manchen Bewohner in Furcht und Sorge, er mšchte auch noch mit in die verhŠngte Untersuchung gezogen werden; angesehene, so lange fŸr wŸrdig geltende Personen der schŠndlichsten Missetaten Ÿberwiesen und zu schimpflicher Bestrafung bezeichnet: das alles zusammen machte das traurigste Bild und konnte nicht anreizen, tiefer in ein GeschŠft einzugehen, das, an sich selbst verwickelt, nun gar durch Untaten so verworren erschien.

Da§ mir, au§er dem deutschen Zivil- und Staatsrechte, hier nichts Wissenschaftliches sonderlich begegnen, da§ ich aller poetischen Mitteilung entbehren wŸrde, glaubte ich vorauszusehn, als mich, nach einigem Zšgern, die Lust meinen Zustand zu verŠndern, mehr als der Trieb nach Kenntnissen, in diese Gegend hinfŸhrte. Allein wie verwundert war ich, als mir, anstatt einer sauertšpfischen Gesellschaft, ein drittes akademisches Leben entgegensprang. An einer gro§en Wirtstafel traf ich beinah sŠmtliche Gesandtschafts-


untergeordnete, junge muntere Leute, beisammen; sie nahmen mich freundlich auf, und es blieb mir schon den ersten Tag kein Geheimnis, da§ sie ihr mittŠgiges Beisammensein durch eine romantische Fiktion erheitert hatten. Sie stellten nŠmlich, mit Geist und Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan sa§ der Heermeister, zur Seite desselben der Kanzler, sodann die wichtigsten Staatsbeamten; nun folgten die Ritter, nach ihrer AnciennetŠt; Fremde hingegen, die zusprachen, mu§ten mit den untersten PlŠtzen vorlieb nehmen, und fŸr sie war das GesprŠch meist unverstŠndlich, sich in der Gesellschaft die Sprache, au§er den RitterausdrŸcken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte. Einem jeden war ein Rittername zugelegt, mit einem Beiworte. Mich nannten Sie Gštz von Berlichingen, den Redlichen. Jenen verdiente ich mir durch meine Aufmerksamkeit fŸr den biedern deutschen Altvater, und diesen durch die aufrichtige Neigung und Ergebenheit gegen die vorzŸglichen MŠnner, die ich kennen lernte. Dem Grafen von Kielmannsegg bin ich bei diesem Aufenthalt vielen Dank schuldig geworden. Er war der Ernsteste von allen, hšchst tŸchtig und zuverlŠssig. Von GouŽ, ein schwer zu entziffernder und zu beschreibender Mann, eine derbe, breite, hannšvrische Figur, still in sich gekehrt. Es fehlte ihm nicht an Talenten mancher Art. Man hegte von ihm die Vermutung, da§ er ein natŸrlicher Sohn sei; auch liebte er mancherlei Seltsamkeiten, wie er denn die eigentliche Seele des wunderlichen Ritterbundes war, ohne da§ er nach der Stelle des Heermeisters gestrebt hŠtte. Vielmehr lie§ er, da gerade zu der Zeit dies Haupt der Ritterschaft abging, einen andern wŠhlen und Ÿbte durch diesen seinen Einflu§. So wu§te er auch manche kleine ZufŠlligkeiten dahin zu lenken, da§ sie bedeutend erschienen und in fabelhaften Formen durchgefŸhrt werden konnten. Bei diesem allen aber konnte man keinen ernsten Zweck bemerken; es war ihm blo§ zu tun, die Langeweile,


die er und seine Kollegen bei dem verzšgerten GeschŠft empfinden mu§ten, zu erheitern, und den leeren Raum, wŠre es auch nur mit Spinnegewebe, auszufŸllen. †brigens wurde dieses fabelhafte Fratzenspiel mit Šu§erlichem gro§en Ernst betrieben, ohne da§ jemand lŠcherlich finden durfte, wenn eine gewisse MŸhle als Schlo§, der MŸller als Burgherr behandelt wurde, wenn man "Die vier Haimonskinder" fŸr ein kanonisches Buch erklŠrte und Abschnitte daraus, bei Zeremonien, mit Ehrfurcht vorlas. Der Ritterschlag selbst geschah mit hergebrachten, von mehreren Ritterorden entlehnten Symbolen. Ein Hauptanla§ zum Scherze war ferner der, da§ man das Offenbare als ein Geheimnis behandelte; man trieb die Sache šffentlich, und es sollte nicht davon gesprochen werden. Die Liste der sŠmtlichen Ritter ward gedruckt, mit so viel Anstand als ein Reichstagskalender; und wenn Familien darŸber zu spotten und die ganze Sache fŸr absurd und lŠcherlich zu erklŠren wagten, so ward, zu ihrer Bestrafung, so lange intrigiert, bis man einen ernsthaften Ehemann, oder nahen Verwandten, beizutreten und den Ritterschlag anzunehmen bewogen hatte; da denn Ÿber den Verdru§ der Angehšrigen eine herrliche Schadenfreude entstand.

In dieses Ritterwesen verschlang sich noch ein seltsamer Orden, welcher philosophisch und mystisch sein sollte, und keinen eigentlichen Namen hatte. Der erste Grad hie§ der †bergang, der zweite des †bergangs †bergang, der dritte des †bergangs †bergang zum †bergang, und der vierte des †bergangs †bergang zu des †bergangs †bergang. Den hohen Sinn dieser Stufenfolge auszulegen, war nun die Pflicht der Eingeweihten, und dieses geschah nach Ma§gabe eines gedruckten BŸchleins, in welchem jene seltsamen Worte auf eine noch seltsamere Weise erklŠrt, oder vielmehr amplifiziert waren. Die BeschŠftigung mit diesen Dingen war der erwŸnschteste Zeitverderb. Behrischens Torheit und Lenzens Verkehrtheit schienen sich hier vereinigt zu haben; nur wiederhole ich, da§ auch nicht eine Spur von Zweck hinter diesen HŸllen finden war.


Ob ich nun gleich zu solchen Possen sehr gern beiriet, auch zuerst die Perikopen aus den "Vier Haimonskindern " in Ordnung brachte, und VorschlŠge tat, wie sie bei Festen und Feierlichkeiten vorgelesen werden sollten, auch selbst sie mit gro§er Emphase vorzutragen verstand; so hatte ich mich doch schon frŸher an solchen Dingen mŸde getrieben, und als ich daher meine Frankfurter und DarmstŠdter Umgebung vermi§te, war es mir hšchst lieb, Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schlo§, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiderte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geŸbt und geregelt; er beflei§igte sich der franzšsischen Eleganz und freute sich des Teils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen GegenstŠnden beschŠftigt. Wir brachten viele vergnŸgte Stunden zusammen zu, in denen wir uns wechselseitig unsere Kenntnisse, VorsŠtze und Neigungen mitteilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an, zumal da er, mit den Gšttingern in VerhŠltnis stehend, fŸr Boies Almanach auch von meinen Gedichten etwas verlangte.

Dadurch kam ich mit jenen in einige BerŸhrung, die sich, jung und talentvoll, zusammenhielten, und nachher so viel und mannigfaltig wirkten. Die beiden Grafen Stoiberg, BŸrger, Vo§, Hšlty und andere waren im Glauben und Geiste um Klopstock versammelt, dessen Wirkung sich nach allen Seiten hin erstreckte. In einem solchen, sich immer mehr erweiternden deutschen Dichterkreise entwickelte sich zugleich, mit so mannigfaltigen poetischen Verdiensten, auch noch ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz eigentlichen Namen zu geben wŸ§te. Man kšnnte ihn das BedŸrfnis der UnabhŠngigkeit nennen, welches immer im Frieden entspringt, und gerade da, wo man eigentlich nicht abhŠngig ist. Im Kriege ertrŠgt man die rohe Gewalt so gut man kann, man fŸhlt sich wohl physisch und škonomisch verletzt, aber nicht moralisch; der Zwang beschŠmt niemanden, und es ist kein schimpflicher Dienst, der Zeit zu dienen; man gewšhnt sich, von Feind und Freund zu leiden, man hat WŸnsche und


keine Gesinnungen. Im Frieden hingegen tut sich der Freiheitssinn der Menschen immer mehr hervor, und je freier man ist, desto freier will man sein. Man will nichts Ÿber sich dulden: wir wollen nicht beengt sein, niemand soll beengt sein, und dies zarte ja kranke GefŸhl erscheint in schšnen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit. Dieser Geist und Sinn zeigte sich damals Ÿberall, und gerade da nur wenige bedrŸckt waren, wollte man auch diese von zufŠlligem Druck befrein, und so entstand eine gewisse sittliche Befehdung, Einmischung der einzelnen ins Regiment, die, mit lšblichen AnfŠngen, zu unabsehbar unglŸcklichen Folgen hinfŸhrte.

Voltaire hat durch den Schutz, den er der Familie Calas angedeihen lie§, gro§es Aufsehn erregt und sich ehrwŸrdig gemacht. FŸr Deutschland fast noch auffallender und wichtiger war das Unternehmen Lavaters gegen den Landvogt gewesen. Der Šsthetische Sinn, mit dem jugendlichen Mut verbunden, Strebte vorwŠrts, und da man noch vor kurzem studierte, um zu €mtern zu gelangen, so fing man nun an den Aufseher der Beamten zu machen, und die Zeit war nah, wo der Theater- und Romanendichter seine Bšsewichter am liebsten unter Ministern und Amtleuten aufsuchte. Hieraus entstand eine halb eingebildete, halb wirkliche Welt von Wirkung und Gegenwirkung, in der wir spŠterhin die heftigsten Angebereien und Verhetzungen erlebt haben, welche sich die Verfasser von Zeitschriften und TagblŠttern, mit einer Art von Wut, unter dem Schein der Gerechtigkeit erlaubten, und um so unwiderstehlicher dabei zu Werke gingen, als sie das Publikum glauben machten, vor ihm sei der wahre Gerichtshof: tšricht! da kein Publikum eine exekutive Gewalt hat, und in dem zerstŸckten Deutschland die šffentliche Meinung niemanden nutzte oder schadete.

Unter uns jungen Leuten lie§ sich zwar nichts von jener Art spŸren, welche tadelnswert gewesen wŠre; aber eine gewisse Šhnliche Vorstellung hatte sich unsrer bemŠchtigt, die, aus Poesie, Sittlichkeit und einem edlen Bestreben zusammengeflossen, zwar unschŠdlich aber doch fruchtlos war.


Durch die "Hermannsschlacht" und die Zueignung derselben an Joseph den Zweiten hatte Klopstock eine wunderbare Anregung gegeben. Die Deutschen, die sich vom Druck der Ršmer befreiten, waren herrlich und mŠchtig dargestellt, und dieses Bild gar wohl geeignet, das SelbstgefŸhl der Nation zu erwecken. Weil aber im Frieden der Patriotismus eigentlich nur darin besteht, da§ jeder vor seiner TŸre kehre, seines Amts warte, auch seine Lektion lerne, damit es wohl im Hause stehe; so fand das von Klopstock erregte VaterlandsgefŸhl keinen Gegenstand, an dem es sich hŠtte Ÿben kšnnen. Friedrich hatte die Ehre eines Teils der Deutschen gegen eine verbundene Welt gerettet, und es war jedem Gliede der Nation erlaubt, durch Beifall und Verehrung dieses gro§en FŸrsten, teil an seinem Siege zu nehmen; aber wo denn nun hin mit jenem erregten kriegerischen TrotzgefŸhl? welche Richtung sollte es nehmen, und welche Wirkung hervorbringen? Zuerst war es blo§ poetische Form, und die nachher so oft gescholtenen, ja lŠcherlich gefundenen Bardenlieder hŠuften sich durch diesen Trieb, durch diesen Ansto§. Keine Šu§eren Feinde waren zu bekŠmpfen; nun bildete man sich Tyrannen, und dazu mu§ten die FŸrsten und ihre Diener ihre Gestalten erst im allgemeinen, sodann nach und nach im besondern hergeben; und hier schlo§ sich die Poesie an jene oben gerŸgte Einmischung in die Rechtspflege mit Heftigkeit an, und es ist merkwŸrdig, Gedichte aus jener Zeit zu sehn, die ganz in einem Sinne geschrieben sind, wodurch alles Obere, es sei nun monarchisch oder aristokratisch, aufgehoben wird.

Was mich betraf, so fuhr ich fort, die Dichtkunst zum Ausdruck meiner GefŸhle und Grillen zu benutzen. Kleine Gedichte, wie "Der Wanderer", fallen in diese Zeit; sie wurden in den "Gšttinger Musenalmanach" aufgenommen. Was aber von jener Sucht in mich eingedrungen sein mochte, davon strebte ich mich kurz nachher im "Gštz von Berlichingen" zu befrein, indem ich schilderte, wie in wŸsten Zeiten der wohldenkende brave Mann allenfalls an die Stelle des Ge-


setzes und der ausŸbenden Gewalt zu treten sich entschlie§t, aber in Verzweiflung ist, wenn er dem anerkannten verehrten Oberhaupt zweideutig, ja abtrŸnnig erscheint.

Durch Klopstocks Oden war denn auch in die deutsche Dichtkunst nicht sowohl die nordische Mythologie, als vielmehr die Nomenklatur ihrer Gottheiten eingeleitet; und ob ich gleich mich sonst gern alles dessen bediente, was mir gereicht ward; so konnte ich es doch nicht von mir gewinnen, mich derselben zu bedienen, und zwar aus folgenden Ursachen. Ich hatte die Fabeln der "Edda" schon lŠngst aus der Vorrede zu Mallets "DŠnischer Geschichte" kennen gelernt, und mich derselben sogleich bemŠchtigt; sie gehšrten unter diejenigen MŠrchen, die ich, von einer Gesellschaft aufgefordert, am liebsten erzŠhlte. Herder gab mir den Resenius in die HŠnde, und machte mich mit den Heldensagen mehr bekannt. Aber alle diese Dinge, wie wert ich sie hielt, konnte ich nicht in den Kreis meines Dichtungsvermšgens aufnehmen; wie herrlich sie mir auch die Einbildungskraft anregten, entzogen sie sich doch ganz dem sinnlichen Anschaun, indessen die Mythologie der Griechen, durch die grš§ten KŸnstler der Welt in sichtliche, leicht einzubildende Gestalten verwandelt, noch vor unsern Augen in Menge dastand. Gštter lie§ ich Ÿberhaupt nicht viel auftreten, weil sie mir noch au§erhalb der Natur, die ich nachzubilden verstand, ihren Wohnsitz hatten. Was hŠtte mich nun gar bewegen sollen, Wodan fŸr Jupiter, und Thor fŸr Mars zu setzen, und, statt der sŸdlichen genau umschriebenen Figuren, Nebelbilder, ja blo§e WortklŠnge in meine Dichtungen einzufŸhren? Von einer Seite schlossen sie sich vielmehr an die Ossianschen gleichfalls formlosen Helden, nur derber und riesenhafter an, von der andern lenkte ich sie nach dem heiteren MŠrchen hin: denn der humoristische Zug, der durch die ganze nordische Mythe durchgeht, war mir hšchst lieb und bemerkenswert. Sie schien mir die einzige, welche durchaus mit sich selbst scherzt, einer wunderlichen Dynastie von Gšttern abenteuerliche Riesen, Zauberer und Ungeheuer ent-


gegensetzt, die nur beschŠftigt sind, die hšchsten Personen wŠhrend ihres Regiments zu irren, zum besten zu haben, und hinterdrein mit einem schmŠhlichen unvermeidlichen Untergang zu bedrohen.

Ein Šhnliches, wo nicht gleiches Interesse gewannen mir die indischen Fabeln ab, die ich aus Dappers Reisen zuerst kennen lernte, und gleichfalls mit gro§er Lust in meinen MŠrchenvorrat hineinzog. Der Altar des Ram gelang mir vorzŸglich im NacherzŠhlen, und ungeachtet der gro§en Mannigfaltigkeit der Personen dieses MŠrchens blieb doch der Affe Hannemann der Liebling meines Publikums. Aber auch diese unfšrmlichen und Ÿberfšrmlichen Ungeheuer konnten mich nicht eigentlich poetisch befriedigen; sie lagen zu weit von dem Wahren ab, nach welchem mein Sinn unablŠssig hinstrebte.

Doch gegen alle diese kunstwidrigen Gespenster sollte es mein Sinn fŸr das Schšne durch die herrlichste Kraft geschŸtzt werden. GlŸcklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn gro§e Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen. Auch das Homerische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen hšchst begŸnstigte: denn das bestŠndige Hinweisen auf Natur bewirkte zuletzt, da§ man auch die Werke der Alten von dieser Seite betrachten lernte. Was mehrere Reisende zu AufklŠrung der Heiligen Schriften getan, leisteten andere fŸr den Homer. Durch Guys ward man eingeleitet, Wood gab der Sache den Schwung. Eine Gšttinger Rezension des anfangs sehr seltenen Originals machte uns mit der Absicht bekannt, und belehrte uns, wie weit sie ausgefŸhrt worden. Wir sahen nun nicht mehr in jenen Gedichten ein angespanntes und aufgedunsenes Heldenwesen, sondern die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart, und suchten uns dieselbe mšglichst heranzuziehen. Zwar wollte uns zu gleicher Zeit nicht všllig in den Sinn, wenn behauptet wurde,


da§, um die Homerischen Naturen recht zu verstehn, man sich mit den wilden Všlkern und ihren Sitten bekannt machen mŸsse, wie sie uns die Reisebeschreiber der neuen Welten schildern: denn es lie§ sich doch nicht leugnen, da§ sowohl EuropŠer als Asiaten in den Homerischen Gedichten schon auf einem hohen Grade der Kultur dargestellt worden, vielleicht auf einem hšhern, als die Zeiten des Trojanischen Kriegs mochten genossen haben. Aber jene Maxime war doch mit dem herrschenden Naturbekenntnis Ÿbereinstimmend, und insofern mochten wir sie gelten lassen.

Bei allen diesen BeschŠftigungen, die sich auf Menschenkunde im hšheren Sinne, sowie auf Dichtkunst im nŠchsten und lieblichsten bezogen, mu§te ich doch jeden Tag erfahren, da§ ich mich in Wetzlar aufhielt. Das GesprŠch Ÿber den Zustand des VisitationsgeschŠftes und seiner immer wachsenden Hindernisse, die Entdeckung neuer Gebrechen klang stŸndlich durch. Hier war nun abermals das Heilige Ršmische Reich versammelt, nicht blo§ zu Šu§erlichen Feierlichkeiten, sondern zu einem ins Allertiefste greifenden GeschŠfte. Aber auch hier mu§te mir jener halbleere Speisesaal am Kršnungstage einfallen, wo die geladenen GŠste au§en blieben, weil sie zu vornehm waren. Hier hatten sie sich zwar eingefunden, aber man mu§te noch schlimmere Symptome gewahr werden. Der Unzusammenhalt des Ganzen, das Widerspiel der Teile kamen fortwŠhrend zum Vorschein, und es war kein Geheimnis geblieben, da§ FŸrsten untereinander sich die Absicht vertraulich mitgeteilt hatten: man mŸsse sehn, ob man nicht, bei dieser Gelegenheit, dem Oberhaupt etwas abgewinnen kšnne?

Welchen Ÿblen Eindruck das kleine Detail aller Anekdoten von NachlŠssigkeiten und VersŠumnissen, Ungerechtigkeiten und Bestechungen auf einen jungen Menschen machen mu§te, der das Gute wollte und sein Inneres in diesem Sinne bearbeitete, wird jeder Redliche mitfŸhlen. Wo soll unter solchen UmstŠnden Ehrfurcht vor dem Gesetz und dem Richter entspringen? Aber hŠtte man auch auf die


Wirkungen der Visitation das grš§te Zutrauen gesetzt, hŠtte man glauben kšnnen, da§ sie všllig ihre hohe Bestimmung erfŸllen werde; fŸr einen frohen vorwŠrts schreitenden JŸngling war doch hier kein Heil zu finden. Die Fšrmlichkeiten dieses Prozesses an sich gingen alle auf ein Verschleifen; wollte man einigerma§en wirken und etwas bedeuten, so mu§te man nur immer demjenigen dienen, der unrecht hatte, stets dem Beklagten, und in der Fechtkunst der verdrehenden und ausweichenden Streiche recht gewandt sein.

Ich verlor mich daher einmal Ÿber das andre, da mir, in dieser Zerstreuung, keine Šsthetische Arbeiten gelingen wollten, in Šsthetische Spekulationen; wie denn alles Theoretisieren auf Mangel oder Stockung von Produktionskraft hindeutet. FrŸher mit Mercken, nunmehr manchmal mit Gottern, machte ich den Versuch, Maximen auszufinden, wonach man beim Hervorbringen zu Werke gehn kšnnte. Aber weder mir noch ihnen wollte es gelingen. Merck war Zweifler und Eklektiker, Gotter hielt sich an solche Beispiele, die ihm am meisten zusagten. Die Sulzersche Theorie war angekŸndigt, mehr fŸr den Liebhaber als fŸr den KŸnstler. In diesem Gesichtskreise werden vor allem sittliche Wirkungen gefordert, und hier entsteht sogleich ein Zwiespalt zwischen der hervorbringenden und benutzenden Klasse; denn ein gutes Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber moralische Zwecke vom KŸnstler fordern, hei§t ihm sein Handwerk verderben.

Was die Alten Ÿber diese wichtigen GegenstŠnde gesagt, hatte ich seit einigen Jahren flei§ig, wo nicht in einer Folge studiert, doch sprungweise gelesen. Aristoteles, Cicero, Quintilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle diese MŠnner setzten eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie fŸhrten mich in eine an Kunstwerken unendlich reiche Welt, sie entwickelten die Verdienste vortrefflicher Dichter und Redner, von deren meisten uns nur die Namen Ÿbrig geblieben sind, und Ÿberzeugten mich nur allzu lebhaft, da§ erst eine gro§e FŸlle von


GegenstŠnden vor uns liegen mŸsse, ehe man darŸber denken kšnne, da§ man erst selbst etwas leisten, ja da§ man fehlen mŸsse, um seine eignen FŠhigkeiten und die der andern kennen zu lernen. Meine Bekanntschaft mit so vielem Guten jener alten Zeiten war doch immer nur schul- und buchmŠ§ig und keineswegs lebendig, da es doch, besonders bei den gerŸhmtesten Rednern, auffiel, da§ sie sich durchaus im Leben gebildet hatten, und da§ man von den Eigenschaften ihres Kunstcharakters niemals sprechen konnte, ohne ihren persšnlichen GemŸtscharakter zugleich mitzuerwŠhnen. Bei Dichtern schien dies weniger der Fall; Ÿberall aber trat Natur und Kunst nur durch Leben in BerŸhrung, und so blieb das Resultat von allem meinen Sinnen und Trachten jener alte Vorsatz, die innere und Šu§ere Natur zu erforschen, und in liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten zu lassen.

Zu diesen Wirkungen, welche weder Tag noch Nacht in mir ruhten, lagen zwei gro§e, ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reichtum ich nur einigerma§en zu schŠtzen brauchte, um etwas Bedeutendes hervorzubringen. Es war die Šltere Epoche, in welche das Leben Gštzens von Berlichingen fŠllt, und die neuere, deren unglŸckliche BlŸte im "Werther " geschildert ist.

Von der historischen Vorbereitung zu der ersten Arbeit habe ich bereits gesprochen; die ethischen AnlŠsse zu der zweiten sollen gegenwŠrtig eingeleitet werden.

Jener Vorsatz, meine innere Natur nach ihren Eigenheiten gewŠhren, und die Šu§ere nach ihren Eigenschaften auf mich einflie§en zu lassen, trieb mich an das wunderliche Element, in welchem "Werther " ersonnen und geschrieben ist. Ich suchte mich innerlich von allem Fremden zu entbinden, das €u§ere liebevoll zu betrachten, und alle Wesen, vom menschlichen an, so tief hinab, als sie nur fa§lich sein mšchten, jedes in seiner Art auf mich wirken zu lassen. Dadurch entstand eine wundersame Verwandtschaft mit den einzelnen GegenstŠnden der Natur, und ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so da§ ein jeder Wechsel, es sei


der Ortschaften und Gegenden, oder der Tags- und Jahreszeiten, oder was sonst sich ereignen konnte, mich aufs innigste berŸhrte. Der malerische Blick gesellte sich zu dem dichterischen, die schšne lŠndliche, durch den freundlichen Flu§ belebte Landschaft vermehrte meine Neigung zur Einsamkeit und begŸnstigte meine stillen nach allen Seiten hin sich ausbreitenden Betrachtungen.

Aber seitdem ich jenen Familienkreis zu Sesenheim und nun wieder meinen Freundeszirkel zu Frankfurt und Darmstadt verlassen, war mir eine Leere im Busen geblieben, die ich auszufŸllen nicht vermochte; ich befand mich daher in einer Lage, wo uns die Neigung, sobald sie nur einigerma§en verhŸllt auftritt, unversehens Ÿberschleichen und alle guten VorsŠtze vereiteln kann.

Und indem nun der Verfasser zu dieser Stufe seines Unternehmens gelangt, fŸhlt er sich zum erstenmal bei der Arbeit leicht ums Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst, was es eigentlich sein soll. Es hat sich nicht als selbstŠndig angekŸndigt; es ist vielmehr bestimmt, die LŸcken eines Autorlebens auszufŸllen, manches BruchstŸck zu ergŠnzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten. Was aber schon getan ist, soll und kann nicht wiederholt werden; auch wŸrde der Dichter jetzt die verdŸsterten SeelenkrŠfte vergebens aufrufen, umsonst von ihnen fordern, da§ sie jene lieblichen VerhŠltnisse wieder vergegenwŠrtigen mšchten, welche ihm den Aufenthalt im Lahntale so hoch verschonten. GlŸcklicherweise hatte der Genius schon frŸher dafŸr gesorgt und ihn angetrieben, in vermšgender Jugendzeit das nŠchst Vergangene festzuhalten, zu schildern und kŸhn genug zur gŸnstigen Stunde šffentlich aufzustellen. Da§ hier das BŸchlein "Werther" gemeint sei, bedarf wohl keiner nŠhern Bezeichnung; von den darin aufgefŸhrten Personen aber, sowie von den dargestellten Gesinnungen, wird nach und nach einiges zu eršffnen sein.

Unter den jungen MŠnnern, welche, der Gesandtschaft zugegeben, sich zu ihrem kŸnftigen Dienstlauf vorŸben soll-


ten, fand sich einer, den wir kurz und gut den BrŠutigam zu nennen pflegten. Er zeichnete sich aus durch ein ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der Ansichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden. Seine heitere TŠtigkeit, sein anhaltender Flei§ empfahl ihn dergestalt den Vorgesetzten, da§ man ihm eine baldige Anstellung versprach. Hiedurch berechtigt, unternahm er, sich mit einem Frauenzimmer zu verloben, das seiner GemŸtsart und seinen WŸnschen všllig zusagte. Nach dem Tode ihrer Mutter hatte sie sich als Haupt einer zahlreichen jŸngeren Familie hšchst tŠtig erwiesen und den Vater in seinem Witwerstand allein aufrecht erhalten, so da§ ein kŸnftiger Gatte von ihr das gleiche fŸr sich und seine Nachkommenschaft hoffen und ein entschiedenes hŠusliches GlŸck erwarten konnte. Ein jeder gestand, auch ohne diese Lebenszwecke eigennŸtzig fŸr sich im Auge zu haben, da§ sie ein wŸnschenswertes Frauenzimmer sei. Sie gehšrte zu denen, die, wenn sie nicht heftige Leidenschaften einflš§en, doch ein allgemeines Gefallen zu erregen geschaffen sind. Eine leicht aufgebaute, nett gebildete Gestalt, eine reine gesunde Natur und die daraus entspringende frohe LebenstŠtigkeit, eine unbefangene Behandlung des tŠglich Notwendigen, das alles war ihr zusammen gegeben. In der Betrachtung solcher Eigenschaften ward auch mir immer wohl, und ich gesellte mich gern zu denen, die sie besa§en; und wenn ich nicht immer Gelegenheit fand, ihnen wirkliche Dienste zu leisten, so teilte ich mit ihnen lieber als mit andern den Genu§ jener unschuldigen Freuden, die der Jugend immer zur Hand sind und ohne gro§e BemŸhung und Aufwand ergriffen werden. Da es nun ferner ausgemacht ist, da§ die Frauen sich nur fŸr einander putzen und unter einander den Putz zu steigern unermŸdet sind; so waren mir diejenigen die liebsten, welche mit einfacher Reinlichkeit dem Freunde, dem BrŠutigam die stille Versicherung geben, da§ es eigentlich nur fŸr ihn geschehen, und da§ ohne viel UmstŠnde und Aufwand ein ganzes Leben so fortgefŸhrt werden kšnne.


Solche Personen sind nicht allzu sehr mit sich selbst beschŠftigt; sie haben Zeit, die Au§enwelt zu betrachten, und Gelassenheit genug, sich nach ihr zu richten, sich ihr gleichzustellen; sie werden klug und verstŠndig ohne Anstrengung, und bedŸrfen zu ihrer Bildung wenig BŸcher. So war die Braut. Der BrŠutigam, bei seiner durchaus rechtlichen und zutraulichen Sinnesart, machte jeden, den er schŠtzte, bald mit ihr bekannt, und sah gern, weil er den grš§ten Teil des Tages den GeschŠften eifrig oblag, wenn seine Verlobte, nach vollbrachten hŠuslichen BemŸhungen, sich sonst unterhielt und sich gesellig auf SpaziergŠngen und Landpartien mit Freunden und Freundinnen ergetzte. Lotte - denn so wird sie denn doch wohl hei§en - war anspruchslos in doppeltem Sinne: erst ihrer Natur nach, die mehr auf ein allgemeines Wohlwollen als auf besondere Neigungen gerichtet war, und dann hatte sie sich ja fŸr einen Mann bestimmt, der, ihrer wert, sein Schicksal an das ihrige fŸrs Leben zu knŸpfen sich bereit erklŠren mochte. Die heiterste Luft wehte in ihrer Umgebung. Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, da§ Eltern ihren Kindern eine ununterbrochene Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas Schšneres, wenn Geschwister Geschwistern das gleiche leisten. Dort glauben wir mehr Naturtrieb und bŸrgerliches Herkommen, hier mehr Wahl und freies GemŸt zu erblicken.

Der neue Ankšmmling, všllig frei von allen Banden, sorglos in der Gegenwart eines MŠdchens, das, schon versagt, den gefŠlligsten Dienst nicht als Bewerbung auslegen und sich desto eher daran erfreuen konnte, lie§ sich ruhig gehen, war aber bald dergestalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, da§ er sich selbst nicht mehr kannte. MŸ§ig und trŠumerisch, weil ihm keine Gegenwart genŸgte, fand er das, was ihm abging, in einer Freundin, die, indem sie fŸrs ganze Jahr lebte, nur fŸr den Augenblick zu leben schien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre NŠhe nicht missen, denn sie vermittelte ihm die Alltagswelt,


und so waren sie, bei einer ausgedehnten Wirtschaft, auf dem Acker und den Wiesen, auf dem Krautland wie im Garten, bald unzertrennliche GefŠhrten. Erlaubten es dem BrŠutigam seine GeschŠfte, so war er an seinem Teil dabei; sie hatten sich alle drei an einander gewšhnt, ohne es zu wollen, und wu§ten nicht, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu kšnnen. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten sie sich am taureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergetzliche Tšne, hei§e Stunden folgten, ungeheure Gewitter brachen herein, man schlo§ sich nur desto mehr an einander, und mancher kleine Familienverdru§ war leicht ausgelšscht durch fortdauernde Liebe. Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der ganze Kalender hŠtte mŸssen rot gedruckt werden. Verstehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glŸcklich-unglŸcklichen Freunde der Neuen Heloise geweissagt worden: Und zu den FŸ§en seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wŸnschen Hanf zu brechen, heute, morgen und Ÿbermorgen, ja sein ganzes Leben.

Nur wenig, aber gerade so viel als nštig sein mag, kann, ich nunmehr von einem jungen Manne sagen, dessen Name in der Folgezeit nur allzu oft genannt worden. Es war Jerusalem, der Sohn des frei und zart denkenden Gottesgelehrten. Auch er war bei einer Gesandtschaft angestellt: Seine Gestalt gefŠllig, mittlerer Grš§e, wohlgebaut; ein mehr rundes als lŠngliches Gesicht; weiche ruhige ZŸge und was sonst noch einem hŸbschen blonden JŸngling zukommen mag; blaue sodann, mehr anziehend als sprechend zu nennen. Seine Kleidung war die unter den Niederdeutschen, in Nachahmung der EnglŠnder, hergebrachte: blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen Stolpen. Der Verfasser hat ihn nie besucht, auch nicht bei sich gesehen; manchmal traf er ihn bei Freunden. Die


€u§erungen des jungen Mannes waren mŠ§ig, aber wohlwollend. Er nahm an den verschiedensten Produktionen teil; besonders liebte er solche Zeichnungen und Skizzen, in welchen man einsamen Gegenden ihren stillen Charakter abgewonnen hatte. Er teilte bei solchen Gelegenheiten Ge§nersche Radierungen mit, und munterte die Liebhaber auf, darnach zu studieren. An allem jenen Ritterwesen und Mummenspiel nahm er wenig oder keinen Anteil, lebte sich und seinen Gesinnungen. Man sprach von einer entschiedenen Leidenschaft zu der Gattin eines Freundes. …ffentlich sah man sie nie miteinander. †berhaupt wu§te man wenig von ihm zu sagen, au§er da§ er sich mit der englischen Literatur beschŠftige. Als der Sohn eines wohlhabenden Mannes brauchte er sich weder Šngstlich GeschŠften zu widmen, noch um baldige Anstellung dringend zu bewerben.

Jene Ge§nerschen Radierungen vermehrten die Lust und den Anteil an lŠndlichen GegenstŠnden, und ein kleines Gedicht, welches wir in unsern engern Kreis mit Leidenschaft aufnahmen lie§ uns von nun an nichts anders mehr beachten. Das "Deserted village" von Goldsmith mu§te jedermann auf jener Bildungsstufe, in jenem Gesinnungskreise hšchlich zusagen. Nicht als lebendig oder wirksam, sondern als ein vergangenes, verschwundenes Dasein ward alles das geschildert, was man so gern mit Augen sah, was man liebte, schŠtzte, in der Gegenwart leidenschaftlich aufsuchte, um jugendlich munter teil daran zu nehmen. Fest und Feiertage auf dem Lande, Kirchweihen und JahrmŠrkte, dabei unter der Dorflinde erst die ernste Versammlung der €ltesten, verdrŠngt von der heftigem Tanzlust der JŸngern, und wohl gar die Teilnahme gebildeter StŠnde. Wie schicklich erschienen diese VergnŸgungen, gemŠ§igt durch einen braven Landgeistlichen, der auch dasjenige, was allenfalls Ÿbergriff, was zu HŠndeln und Zwist Anla§ geben konnte, gleich zu schlichten und abzutun verstand. Auch hier fanden wir unsern ehrlichen Wakefield wieder, in seinem wohlbekannten Kreise, aber nicht mehr wie er leibte und lebte, sondern


als Schatten, zurŸckgerufen durch des elegischen Dichters leise Klagetšne. Schon der Gedanke dieser Darstellung ist einer der glŸcklichsten, Sobald einmal der Vorsatz gefa§t ist, ein unschuldiges Vergangene mit anmutiger Trauer wieder heranzufordern. Und wie gelungen ist in jedem Sinne dem EnglŠnder dieses gemŸtliche Vorhaben! Ich teilte den Enthusiasmus fŸr dieses allerliebste Gedicht mit Gottern, dem die von uns beiden unternommene †bersetzung besser als mir geglŸckt ist: denn ich hatte allzu Šngstlich die zarte Bedeutsamkeit des Originals in unserer Sprache nachzubilden getrachtet, und war daher wohl mit einzelnen Stellen, nicht aber mit dem Ganzen Ÿbereingekommen.

Ruht nun, wie man sagt, in der Sehnsucht das grš§te GlŸck, und darf die wahre Sehnsucht nur auf ein Unerreichbares gerichtet sein; so traf wohl alles zusammen, um den JŸngling, den wir gegenwŠrtig auf seinen IrrgŠngen begleiten, zum glŸcklichsten Sterblichen zu machen. Die Neigung zu einer versagten Braut, das Bestreben, MeisterstŸcke fremder Literatur der unsrigen zu erwerben und anzueignen, die BemŸhung, NaturgegenstŠnde nicht nur mit Worten, sondern auch mit Griffel und Pinsel ohne eigentliche Technik, nachzuahmen: jedes einzeln wŠre schon hinreichend gewesen das Herz zu schwellen und die Brust zu beklemmen. Damit aber der so sŸ§ Leidende aus diesen ZustŠnden gerissen und ihm zu neuer Unruhe neue VerhŠltnisse bereitet wŸrden, so ergab sich folgendes.

In Gie§en befand sich Hšpfner, Professor der Rechte. Er war als tŸchtig in seinem Fach, als denkender und wackerer Mann, von Mercken und Schlossern anerkannt und hšchlich geehrt. Schon lŠngst hatte ich seine Bekanntschaft gewŸnscht, und nun, als jene beiden Freunde bei ihm einen Besuch abzustatten gedachten, um Ÿber literarische GegenstŠnde zu unterhandeln, ward beliebt da§ ich, bei dieser Gelegenheit, mich gleichfalls nach Gie§en begeben sollte. Weil wir aber, wie es in dem †bermut froher und friedlicher Zeiten zu geschehn pflegt, nicht leicht etwas auf geradem Wege


vollbringen konnten, sondern, wie wahrhafte Kinder, auch dem Notwendigen irgend einen Scherz abzugewinnen suchten; so sollte ich, als der Unbekannte, in fremder Gestalt erscheinen, und meiner Lust, verkleidet aufzutreten, hier abermals GenŸge tun. An einem heiteren Morgen, vor Sonnenaufgang, schritt ich daher von Wetzlar an der Lahn hin, das liebliche Tal hinauf; Solche Wanderungen machten wieder mein grš§tes GlŸck. Ich erfand, verknŸpfte, arbeitete durch, und war in der Stille mit mir selbst heiter und froh; ich legte mir zurecht, was die ewig widersprechende Welt mir ungeschickt und verworren aufgedrungen hatte. Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Hšpfners Wohnung und pochte an seine Studierstube. Als er mir "Herein!" gerufen hatte, trat ich bescheidentlich vor ihn, als ein Studierender, der von Akademien sich nach Hause verfŸgen und unterwegs die wŸrdigsten MŠnner wollte kennen lernen. Auf seine Fragen nach meinen nŠheren VerhŠltnissen war ich vorbereitet; ich erzŠhlte ein glaubliches prosaisches MŠrchen, womit er zufrieden schien, und als ich mich hierauf fŸr einen Juristen angab, bestand ich nicht Ÿbel: denn ich kannte sein Verdienst in diesem Fach und wu§te, da§ er sich eben mit dem Naturrecht beschŠftigte. Doch stockte das GesprŠch einigemal, und es schien, als wenn er einem Stammbuch oder meiner Beurlaubung entgegensŠhe. Ich wu§te jedoch immer zu zaudern, indem ich Schlossern gewi§ erwartete, dessen PŸnktlichkeit mir bekannt war. Dieser kam auch wirklich, ward von seinem Freund bewillkommnet, und nahm, als er mich von der Seite angesehn, wenig Notiz von mir. Hšpfner aber zog mich ins GesprŠch und zeigte sich durchaus als einen humanen wohlwollenden Mann. Endlich empfahl ich mich und eilte nach dem Wirtshause, wo ich mit Mercken einige flŸchtige Worte wechselte und das Weitere verabredete!

Die Freunde hatten sich vorgenommen, Hšpfnern zu Tische zu bitten und zugleich jenen Christian Heinrich Schmid, der in dem deutschen Literarwesen zwar eine sehr untergeordnete, aber doch eine Rolle spielte. Auf diesen war


der Handel eigentlich angelegt, und er sollte fŸr manches, was er gesŸndigt hatte, auf eine lustige Weise bestraft werden. Als die GŠste sich in dem Speisesaale versammelt hatten, lie§ ich durch den Kellner fragen, ob die Herren mir erlauben wollten mitzuspeisen? Schlosser, dem ein gewisser Ernst gar wohl zu Gesicht stand, widersetzte sich, weil sie ihre freundschaftliche Unterhaltung nicht durch einen Dritten wollten gestšrt wissen. Auf das Andringen des Kellners aber und die FŸrsprache Hšpfners, der versicherte, da§ ich ein leidlicher Mensch sei, wurde ich eingelassen, und betrug mich zu Anfang der Tafel bescheiden und verschŠmt. Schlosser und Merck taten sich keinen Zwang an, und ergingen sich Ÿber manches so offen, als wenn kein Fremder dabei wŠre. Die wichtigsten literarischen Angelegenheiten sowie die bedeutendsten MŠnner kamen zur Sprache. Ich erwies mich nun etwas kŸhner, und lie§ mich nicht stšren, wenn Schlosser mir manchmal ernstlich, Merck spšttisch etwas abgab; doch richtete ich auf Schmiden alle meine Pfeile, die seine mir wohlbekannten Blš§en scharf und sicher trafen.

Ich hatte mich bei meinem Nš§el Tischwein mŠ§ig verhalten; die Herren aber lie§en sich besseren reichen, und ermangelten nicht, auch mir davon mitzuteilen. Nachdem viele Angelegenheiten des Tags durchgesprochen waren, zog sich die Unterhaltung ins Allgemeine, und man behandelte die Frage, die, solange es Schriftsteller gibt, sich immer wiederholen wird, ob nŠmlich die Literatur im Auf- oder Absteigen, im Vor- oder RŸckschritt begriffen sei? Diese Frage, worŸber sich besonders Alte und Junge, Angehende und Abtretende selten vergleichen, sprach man mit Heiterkeit durch, ohne da§ man gerade die Absicht gehabt hŠtte, sich darŸber entschieden zu verstŠndigen. Zuletzt nahm ich das Wort und sagte: "Die Literaturen, scheint es mir, haben Jahrszeiten, die, miteinander abwechselnd, wie in der Natur, gewisse PhŠnomene hervorbringen, und sich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, da§ man irgend eine Epoche einer Literatur im ganzen loben


oder tadeln kšnne; besonders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen werden, so hoch erhebt und rŸhmt, andere dagegen schilt und niederdrŸckt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das FrŸhjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Kuckucks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl tun, und die MŸcken, welche dem GefŸhl so verdrie§lich fallen, werden durch eben die SonnenwŠrme hervorgerufen, beherzigte man dies, so wŸrde man dieselbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hšren, und die vergebliche MŸhe, dieses und jenes Mi§fŠllige auszurotten, wŸrde nicht so oft verschwendet werden." Die Gesellschaft sah mich mit Verwunderung an, woher mir so viele Weisheit und so viele Toleranz kŠme? Ich aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen Erscheinungen mit Naturprodukten zu vergleichen, und ich wei§ nicht, wie ich sogar auf die Mollusken kam, und allerlei Wunderliches von ihnen herauszusetzen wu§te. Ich sagte, es seien dies Geschšpfe, denen man zwar eine Art von Kšrper, ja sogar eine gewisse Gestalt nicht ableugnen kšnne; da sie aber keine Knochen hŠtten, so wŸ§te man doch nichts Rechts mit ihnen anzufangen, und sie seien nichts Besseres als ein lebendiger Schleim; jedoch mŸsse das Meer auch solche Bewohner haben. Da ich das Gleichnis Ÿber die GebŸhr fortsetzte, um den gegenwŠrtigen Schmid und diese Art der charakterlosen Literatoren zu bezeichnen, so lie§ man mich bemerken, da§ ein zu weit ausgedehntes Gleichnis zuletzt gar nichts mehr sei. - "So will ich auf die Erde zurŸckkehren!" versetzte ich, "und vom Efeu sprechen. Wie jene keine Knochen, so hat dieser keinen Stamm, mag aber gern Ÿberall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen. An alte Mauern gehšrt er hin, an denen ohnehin nichts mehr zu verderben ist, von neuen GebŠuden entfernt man ihn billig; die BŠume saugt er aus, und am allerunertrŠglichsten ist er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sei ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe."


Ungeachtet man mir abermals die Dunkelheit und Unanwendbarkeit meiner Gleichnisse vorwarf, ward ich immer lebhafter gegen alle parasitische Kreaturen, und machte, soweit meine damaligen Naturkenntnisse reichten, meine Sachen noch ziemlich artig. Ich sang zuletzt ein Vivat allen selbstŠndigen MŠnnern, ein Pereat den Andringlingen, ergriff nach Tische Hšpfners Hand, schŸttelte sie derb, erklŠrte ihn fŸr den bravsten Mann von der Welt, und umarmte ihn sowie die andern zuletzt recht herzlich. Der wackere neue Freund glaubte wirklich zu trŠumen, bis endlich Schlosser und Merck das RŠtsel auflšsten und der entdeckte Scherz eine allgemeine Heiterkeit verbreitete, in welche Schmid selbst mit einstimmte, der durch Anerkennung seiner wirklichen Verdienste, und durch unsere Teilnahme an seinen Liebhabereien, wieder begŸtigt wurde.

Diese geistreiche Einleitung konnte nicht anders als den literarischen Kongre§ beleben und begŸnstigen, auf den es eigentlich angesehn war. Merck, bald Šsthetisch, bald literarisch, bald kaufmŠnnisch tŠtig, hatte den wohldenkenden, unterrichteten, in so vielen FŠchern kenntnisreichen Schlosser angeregt, die "Frankfurter Gelehrten Anzeigen" in diesem Jahr herauszugeben. Sie hatten sich Hšpfnern und andere Akademiker in Gie§en, in Darmstadt einen verdienten Schulmann, den Rektor Wenck, und sonst manchen wackeren Mann zugesellt. Jeder hatte in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse genug, und der Zeitsinn lie§ diese MŠnner nach einem Sinne wirken. Die zwei ersten JahrgŠnge dieser Zeitung (denn nachher kam sie in andere HŠnde) geben ein wundersames Zeugnis, wie ausgebreitet die Einsicht, wie rein die †bersicht, wie redlich der Wille der Mitarbeiter gewesen. Das Humane und WeltbŸrgerliche wird befšrdert; wackere und mit Recht berŸhmte MŠnner werden gegen Zudringlichkeit aller Art geschŸtzt; man nimmt sich ihrer an gegen Feinde, besonders auch gegen SchŸler, die das †berlieferte nun zum Schaden ihrer Lehrer mi§brauchen. Am interessantesten sind beinah die Rezensionen Ÿber


andere Zeitschriften, die Berliner "Bibliothek", den "Deutschen Merkur"; wo man die Gewandtheit in so vielen FŠchern, die Einsicht sowie die Billigkeit mit Recht bewundert.

Was mich betrifft, so sahen sie wohl ein, da§ mir nicht mehr als alles zum eigentlichen Rezensenten fehle. Mein historisches Wissen hing nicht zusammen, die Geschichte der Welt, der Wissenschaften, der Literatur hatte mich nur epochenweis, die GegenstŠnde selbst aber nur teil- und massenweis angezogen. Die Mšglichkeit, mir die Dinge auch au§er ihrem Zusammenhange lebendig zu machen und zu vergegenwŠrtigen, setzte mich in den Fall, in einem Jahrhundert, in einer Abteilung der Wissenschaft všllig zu Hause zu sein, ohne da§ ich weder von dem Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet gewesen wŠre. Ebenso war ein gewisser theoretisch-praktischer Sinn in mir aufgegangen, da§ ich von den Dingen, mehr wie sie sein sollten als wie sie waren Rechenschaft geben konnte ohne eigentlichen philosophischen Zusammenhang, aber sprungweise treffend. Hiezu kam eine sehr leichte Fassungskraft und ein freundliches Aufnehmen der Meinungen anderer, wenn sie nur nicht mit meinen †berzeugungen in geradem Widerspruch standen.

Jener literarische Verein ward Ÿberdies durch eine lebhafte Korrespondenz und, bei der NŠhe der Ortschaften, durch šftere persšnliche Unterhandlungen begŸnstigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referierte, manchmal fand sich ein Korreferent; die Angelegenheit ward besprochen, an verwandte angeknŸpft, und hatte sich zuletzt ein gewisses Resultat ergeben, so Ÿbernahm einer die Redaktion. Dadurch sind mehrere Rezensionen so tŸchtig als lebhaft, so angenehm als befriedigend. Mir fiel sehr oft die Rolle des ProtokollfŸhrers zu; meine Freunde erlaubten mir, auch innerhalb ihrer Arbeiten zu scherzen, und sodann bei GegenstŠnden, denen ich mich gewachsen fŸhlte, die mir besonders am Herzen lagen, selbstŠndig aufzutreten. Vergebens wŸrde ich unternehmen, darstellend oder betrachtend, den eigent-


lichen Geist und Sinn jener Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht die beiden JahrgŠnge gedachter Zeitung mir die entschiedensten Dokumente selbst anbšten. AuszŸge von Stellen, an denen ich mich wieder erkenne, mšgen mit Šhnlichen AufsŠtzen kŸnftig am schicklichen Ort erscheinen.

Bei einem so lebhaften Austausch von Kenntnissen, Meinungen, †berzeugungen lernte ich Hšpfnern sehr bald nŠher kennen und gewann ihn lieb. Sobald wir allein waren, sprach ich mit ihm Ÿber GegenstŠnde seines Fachs, welches ja auch mein Fach sein sollte, und fand eine sehr natŸrlich zusammenhŠngende AufklŠrung und Belehrung. Ich war mir damals noch nicht deutlich bewu§t, da§ ich wohl aus BŸchern und im GesprŠch, nicht aber durch den zusammenhŠngenden Kathedervortrag etwas lernen konnte. Das Buch erlaubte mir, bei einer Stelle zu verweilen, ja rŸckwŠrts zu sehen, welches der mŸndliche Vortrag und der Lehrer nicht gestatten konnte. Manchmal ergriff mich zu Anfang der Stunde ein Gedanke, dem ich nachhing, darŸber das Folgende verlor und ganz aus dem Zusammenhang geriet. Und so war es mir auch in den juristischen Kollegien ergangen, weshalb ich gar manchen Anla§ nehmen konnte, mich mit Hšpfnern zu besprechen, der denn sehr gern in meine Zweifel und Bedenken einging, auch manche LŸcke ausglich, so da§ in mir der Wunsch entstand, in Gie§en bei ihm zu verweilen, um mich an ihm zu unterrichten, ohne mich doch von meinen wetzlarischen Neigungen allzu weit zu entfernen. Gegen diesen meinen Wunsch arbeiteten die beiden Freunde erst unwissend, sodann wissentlich: denn beide eilten nicht allein selbst von hier wegzukommen, sondern beide hatten sogar ein Interesse, mich aus dieser Gegend wegzubringen.

Schlosser entdeckte mir, da§ er erst in ein freundschaftliches, dann in ein nŠheres VerhŠltnis zu meiner Schwester gekommen sei, und da§ er sich nach einer baldigen Anstellung umsehe, um sich mit ihr zu verbinden. Diese ErklŠrung machte mich einigerma§en betroffen, ob ich sie gleich


in meiner Schwester Briefen schon lŠngst hŠtte finden sollen; aber wir gehen leicht Ÿber das hinweg, was die gute Meinung, die wir von uns selbst hegen, verletzen kšnnte, und ich bemerkte nun erst, da§ ich wirklich auf meine Schwester eifersŸchtig sei: eine Empfindung, die ich mir um so weniger verbarg, als seit meiner RŸckkehr von Stra§burg unser VerhŠltnis noch viel inniger geworden war. Wieviel Zeit hatten wir nicht gebraucht, um uns wechselseitig die kleinen Herzensangelegenheiten, Liebes- und andere HŠndel mitzuteilen, die in der Zwischenzeit vorgefallen waren! und hatte sich nicht auch im Felde der Einbildungskraft vor mir eine neue Welt aufgetan, in die ich sie doch auch einfŸhren mu§te? Meine eignen kleinen Machwerke, eine weit ausgebreitete Weltpoesie mu§ten ihr nach und nach bekannt werden. So Ÿbersetzte ich ihr aus dem Stegreife solche Homerische Stellen, an denen sie zunŠchst Anteil nehmen konnte. Die Clarkesche wšrtliche †bersetzung las ich deutsch, so gut es gehen wollte, herunter, mein Vortrag verwandelte sich gewšhnlich in metrische Wendungen und Endungen, und die Lebhaftigkeit, womit ich die Bilder gefa§t hatte, die Gewalt, womit ich sie aussprach, hoben alle Hindernisse einer verschrŠnkten Wortstellung; dem, was ich geistreich hingab, folgte sie mit dem Geiste. Manche Stunden des Tags unterhielten wir uns auf diese Weise; versammelte sich hingegen ihre Gesellschaft, so wurden der Wolf Fenris und der Affe Hannemann einstimmig hervorgerufen, und wie oft habe ich nicht die berŸhmte Geschichte, wie Thor und seine Begleiter von den zauberischen Riesen geŠfft werden, umstŠndlich wiederholen mŸssen! Daher ist mir auch von allen diesen Dichtungen ein so angenehmer Eindruck geblieben, da§ sie noch immer unter das Werteste gehšren, was meine Einbildungskraft sich hervorrufen mag. In mein VerhŠltnis zu den DarmstŠdtern hatte ich meine Schwester auch hineingezogen, und sogar meine Wanderungen und Entfernungen mu§ten unser Band fester knŸpfen, da ich mich von allem, was mir begegnete, brieflich mit


ihr unterhielt, ihr jedes kleine Gedicht, wenn es auch nur ein Ausrufungszeichen gewesen wŠre, sogleich mitteilte, und ihr zunŠchst alle Briefe, die ich erhielt, und alle Antworten, die ich darauf erteilte, sehen lie§. Alle diese lebhafte Regung hatte seit meiner Abreise von Frankfurt gestockt, mein Aufenthalt zu Wetzlar war zu einer solchen Unterhaltung nicht ausgiebig genug, und dann mochte die Neigung zu Lotten den Aufmerksamkeiten gegen meine Schwester Eintrag tun; genug, sie fŸhlte sich allein, vielleicht vernachlŠssigt, und gab um so eher den redlichen BemŸhungen eines Ehrenmanns Gehšr, welcher, ernst und verschlossen, zuverlŠssig und schŠtzenswert, ihr seine Neigung, mit der er sonst sehr kargte, leidenschaftlich zugewendet hatte. Ich mu§te mich nun wohl darein ergeben, und meinem Freunde sein GlŸck gšnnen, indem ich mir jedoch heimlich mit Selbstvertrauen zu sagen nicht unterlie§, da§, wenn der Bruder nicht abwesend gewesen wŠre, es mit dem Freunde so weit nicht hŠtte gedeihen kšnnen.

Meinem Freund und vermutlichen Schwager war nun freilich sehr daran gelegen, da§ ich nach Hause zurŸckkehrte, weil durch meine Vermittelung ein freierer Umgang mšglich ward, dessen das GefŸhl dieses von zŠrtlicher Neigung unvermutet getroffenen Mannes Šu§erst zu bedŸrfen schien. Er nahm daher, als er sich bald entfernte, von mir das Versprechen, da§ ich ihm zunŠchst folgen wollte.

Von Mercken, der eben freie Zeit hatte, hoffte ich nun, da§ er seinen Aufenthalt in Gie§en verlŠngern wŸrde, damit ich einige Stunden des Tags mit meinem guten Hšpfner zubringen kšnnte, indessen der Freund seine Zeit an die "Frankfurter Gelehrten Anzeigen" wendete; allein er war nicht zu bewegen, und wie meinen Schwager die Liebe, so trieb diesen der Ha§ von der UniversitŠt hinweg. Denn wie es angeborene Antipathien gibt, so wie gewisse Menschen die Katzen nicht leiden kšnnen, andern dieses oder jenes in der Seele zuwider ist, so war Merck ein Todfeind aller akademischen BŸrger, die nun freilich zu jener Zeit in Gie§en sich


in der tiefsten Roheit gefielen. Mir waren sie ganz recht: ich hŠtte sie wohl auch als Masken in eins meiner Fastnachtsspiele brauchen kšnnen; aber ihm verdarb ihr Anblick bei Tage, und des Nachts ihr GebrŸll jede Art von gutem Humor. Er hatte die schšnste Zeit seiner jungen Tage in der franzšsischen Schweiz zugebracht und nachher den erfreulichen Umgang von Hof-, Welt- und GeschŠftsleuten und gebildeten Literatoren genossen; mehrere MilitŠrpersonen, in denen ein Streben nach Geisteskultur rege geworden, suchten ihn auf, und so bewegte er sein Leben in einem sehr gebildeten Zirkel. Da§ ihn daher jenes Unwesen Šrgerte, war nicht zu verwundern; allein seine Abneigung gegen die Studiosen war wirklich leidenschaftlicher, als es einem gesetzten Mann geziemte, wiewohl er mich durch seine geistreichen Schilderungen ihres ungeheuerlichen Aussehns und Betragens sehr oft zum Lachen brachte. Hšpfners Einladungen und mein Zureden halfen nichts, ich mu§te baldmšglichst mit ihm nach Wetzlar wandern.

Kaum konnte ich erwarten, bis ich ihn bei Lotten eingefŸhrt; allein seine Gegenwart in diesem Kreise geriet mir nicht zum Gedeihen: denn wie Mephistopheles, er mag hintreten wohin er will, wohl schwerlich Segen mitbringt; so machte er mir, durch seine GleichgŸltigkeit gegen diese geliebte Person, wenn er mich auch nicht zum Wanken brachte, doch wenigstens keine Freude. Ich konnte es wohl voraussehen, wenn ich mich erinnert hŠtte, da§ gerade solche schlanke zierliche Personen, die eine lebendige Heiterkeit um sich her verbreiten, ohne weitere AnsprŸche zu machen, ihm nicht sonderlich gefielen. Er zog sehr schnell die junonische Gestalt einer ihrer Freundinnen vor, und da es ihm an Zeit gebrach, ein nŠheres VerhŠltnis anzuknŸpfen; so schalt er mich recht bitter aus, da§ ich mich nicht um diese prŠchtige Gestalt bemŸht, um so mehr, da sie frei, ohne irgend ein VerhŠltnis sich befinde. Ich verstehe eben meinen Vorteil nicht, meinte er, und er sehe hšchst ungern auch hier meine besondere Liebhaberei, die Zeit zu verderben.


Wenn es gefŠhrlich ist, einen Freund mit den VorzŸgen seiner Geliebten bekannt zu machen, weil er sie wohl auch reizend und begehrenswŸrdig finden mšchte; so ist die umgekehrte Gefahr nicht geringer, da§ er uns durch seine Abstimmung irre machen kann. Dieses war zwar hier der Fall nicht: denn ich hatte mir das Bild ihrer LiebenswŸrdigkeit tief genug eingedruckt, als da§ es so leicht auszulšschen gewesen wŠre; aber seine Gegenwart, sein Zureden beschleunigte doch den Entschlu§, den Ort zu verlassen. Er stellte mir eine Rheinreise, die er eben mit Frau und Sohn zu machen im Begriff sei, so reizend vor, und erregte die Sehnsucht, diejenigen GegenstŠnde endlich mit Augen zu sehn, von denen ich so oft mit Neid hatte erzŠhlen hšren. - Nun, als er sich entfernt hatte, trennte ich mich von Charlotten zwar mit reinerem Gewissen als von Friedriken, aber doch nicht ohne Schmerz. Auch dieses VerhŠltnis war durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaftlicher als billig von meiner Seite geworden; sie dagegen und ihr BrŠutigam hielten sich mit Heiterkeit in einem Ma§e, das nicht schšner und liebenswŸrdiger sein konnte, und die eben hieraus entspringende Sicherheit lie§ mich jede Gefahr vergessen. Indessen konnte ich mir nicht verbergen, da§ diesem Abenteuer sein Ende bevorstehe: denn von der zunŠchst erwarteten Befšrderung des jungen Mannes hing die Verbindung mit dem liebenswŸrdigen MŠdchen ab; und da der Mensch, wenn er einigerma§en resolut ist, auch das Notwendige selbst zu wollen Ÿbernimmt, so fa§te ich den Entschlu§, mich freiwillig zu entfernen, ehe ich durch das UnertrŠgliche vertrieben wŸrde.


 

Dreizehntes Buch

 

Mit Merck war verabredet, da§ wir uns zur schšnen Jahrszeit in Koblenz bei Frau von La Roche treffen wollten. Ich hatte mein GepŠck nach Frankfurt, und was ich unterwegs brauchen kšnnte, durch eine Gelegenheit die Lahn hinunter gesendet, und wanderte nun diesen schšnen, durch seine KrŸmmungen lieblichen, in seinen Ufern so mannigfaltigen Flu§ hinunter, dem Entschlu§ nach frei, dem GefŸhle nach befangen, in einem Zustande, in welchem uns die Gegenwart der stummlebendigen Natur so wohltŠtig ist. Mein Auge, geŸbt, die malerischen und Ÿbermalerischen Schšnheiten der Landschaft zu entdecken, schwelgte in Betrachtung der NŠhen und Fernen, der bebuschten Felsen, der sonnigen Wipfel, der feuchten Grunde, der thronenden Schlšsser und der aus der Ferne lockenden blauen Bergreihen.

Ich wanderte auf dem rechten Ufer des Flusses, der in einiger Tiefe und Entfernung unter mir, von reichem WeidengebŸsch zum Teil verdeckt, im Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der alte Wunsch wieder auf, solche GegenstŠnde wŸrdig nachahmen zu kšnnen. ZufŠllig hatte ich ein schšnes Taschenmesser in der linken Hand, und in dem Augenblicke trat aus dem tiefen Grunde der Seele gleichsam befehlshaberisch hervor: ich sollte dies Messer ungesŠumt in den Flu§ schleudern. SŠhe ich es hineinfallen, so wŸrde mein kŸnstlerischer Wunsch erfŸllt werden; wŸrde aber das Eintauchen des Messers durch die ŸberhŠngenden WeidenbŸsche verdeckt, so sollte ich Wunsch und BemŸhung fahren lassen. So schnell, als diese Grille in mir aufstieg, war sie auch ausgefŸhrt. Denn ohne auf die Brauchbarkeit des Messers zu sehn, das gar manche GerŠtschaften in sich vereinigte, schleuderte ich es mit der Linken, wie ich es hielt,


gewaltsam nach dem Flusse hin. Aber auch hier mu§te ich die trŸgliche Zweideutigkeit der Orakel, Ÿber die man sich im Altertum so bitter beklagt, erfahren. Des Messers Eintauchen in den Flu§ ward mir durch die letzten Weidenzweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende Wasser sprang wie eine starke FontŠne in die Hšhe, und war mir vollkommen sichtbar. Ich legte diese Erscheinung nicht zu meinen Gunsten aus, und der durch sie in mir erregte Zweifel war in der Folge schuld, da§ ich diese †bungen unterbrochner und fahrlŠssiger anstellte, und dadurch selbst Anla§ gab, da§ die Deutung des Orakels sich erfŸllte. Wenigstens war mir fŸr den Augenblick die Au§enwelt verleidet, ich ergab mich meinen Einbildungen und Empfindungen, und lie§ die wohlgelegenen Schlšsser und Ortschaften Weilburg, Limburg, Diez und Nassau nach und nach hinter mir, meistens allein, nur manchmal auf kurze Zeit mich zu einem andern gesellend.

Nach einer so angenehmen Wanderung von einigen Tagen gelangte ich nach Ems, wo ich einige Male des sanften Bades geno§, und sodann auf einem Kahne den Flu§ hinabwŠrts fuhr. Da eršffnete sich mir der alte Rhein, die schšne Lage von Oberlahnstein entzŸckte mich; Ÿber alles aber herrlich und majestŠtisch erschien das Schlo§ Ehrenbreitstein, welches in seiner Kraft und Macht, vollkommen gerŸstet, dastand. In hšchst lieblichem Kontrast lag an seinem Fu§ das wohlgebaute …rtchen, Thal genannt, wo ich mich leicht zu der Wohnung des Geheimenrats von La Roche finden konnte. AngekŸndigt von Merck, ward ich von dieser edlen Familie sehr freundlich empfangen, und geschwind als ein Glied derselben betrachtet. Mit der Mutter verband mich mein belletristisches und sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, und mit den Tšchtern meine Jugend.

Das Haus, ganz am Ende des Tals, wenig erhšht Ÿber dem Flu§ gelegen, hatte die freie Aussicht den Strom hinabwŠrts. Die Zimmer waren hoch und gerŠumig, und die WŠnde ga-


lerieartig mit aneinandersto§enden GemŠlden behangen. Jedes Fenster, nach allen Seiten hin, machte den Rahmen zu einem natŸrlichen Bilde, das durch den Glanz einer milden Sonne sehr lebhaft hervortrat; ich glaubte nie so heitere Morgen und so herrliche Abende gesehn zu haben.

Nicht lange war ich allein der Gast im Hause. Zu dem Kongre§, der hier teils im artistischen, teils im empfindsamen Sinne gehalten werden sollte, war auch Leuchsenring beschieden, der von DŸsseldorf heraufkam. Dieser Mann, von schšnen Kenntnissen in der neuern Literatur, hatte sich auf verschiedenen Reisen, besonders aber bei einem Aufenthalte in der Schweiz, viele Bekanntschaften und, da er angenehm und einschmeichelnd war, viele Gunst erworben. Er fŸhrte mehrere Schatullen bei sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten: denn es war Ÿberhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, da§ man mit keinem einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spŠhte sein eigen Herz aus und das Herz der andern, und bei der GleichgŸltigkeit der Regierungen gegen eine solche Mitteilung, bei der durchgreifenden Schnelligkeit der Taxisschen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto griff dieser sittliche und literarische Verkehr bald weiter um sich.

Solche Korrespondenzen, besonders mit bedeutenden Personen, wurden sorgfŠltig gesammelt und alsdann, bei freundschaftlichen ZusammenkŸnften, auszugsweise vorgelesen; und so ward man, da politische Diskurse wenig Interesse hatten, mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt.

Leuchsenrings Schatullen enthielten in diesem Sinne manche SchŠtze. Die Briefe einer Julie Bondeli wurden sehr hoch geachtet; sie war, als Frauenzimmer von Sinn und Verdienst und als Rousseaus Freundin, berŸhmt. Wer mit diesem au§erordentlichen Manne nur irgend in VerhŠltnis gestanden hatte, geno§ teil an der Glorie, die von ihm aus-


ging, und in seinem Namen war eine stille Gemeinde weit und breit ausgesŠet.

Ich wohnte diesen Vorlesungen gerne bei, indem ich dadurch in eine unbekannte Welt versetzt wurde, und das Innere mancher kurz vergangenen Begebenheit kennen lernte. Freilich war nicht alles gehaltreich; und Herr von La Roche, ein heiterer Welt- und GeschŠftsmann, der sich, obgleich Katholik, schon in Schriften Ÿber das Mšnch- und Pfafftum lustig gemacht hatte, glaubte auch hier eine VerbrŸderung zu sehen, wo mancher einzelne ohne Wert sich durch Verbindung mit bedeutenden Menschen aufstutze, wobei am Ende wohl er, aber nicht jene gefšrdert wŸrden. Meistens entzog sich dieser wackere Mann der Gesellschaft, wenn die Schatullen eršffnet wurden. Hšrte er auch wohl einmal einige Briefe mit an, so konnte man eine schalkhafte Bemerkung erwarten. Unter andern sagte er einstens, er Ÿberzeuge sich bei dieser Korrespondenz noch mehr von dem, was er immer geglaubt habe, da§ Frauenzimmer alles Siegellack sparen kšnnten, sie sollten nur ihre Briefe mit Stecknadeln zustecken und dŸrften versichert sein, da§ sie uneršffnet an Ort und Stelle kŠmen. Auf gleiche Weise pflegte er mit allem, was au§er dem Lebens- und TŠtigkeitskreise lag, zu scherzen und folgte hierin der Sinnesart seines Herrn und Meisters, des Grafen Stadion, kurmainzischen Ministers, welcher gewi§ nicht geeignet war, den Welt- und Kaltsinn des Knaben durch Ehrfurcht vor irgend einem Ahndungsvollen ins Gleichgewicht zu setzen.

Eine Anekdote von dem gro§en praktischen Sinne des Grafen hingegen mšge hier Platz finden. Als er den verwaisten La Roche lieb gewann und zu seinem Zšgling erkor, forderte er von dem Knaben gleich die Dienste eines SekretŠrs. Er gab ihm Briefe zu beantworten, Depeschen auszuarbeiten, die denn auch von ihm mundiert, šfter chiffriert, gesiegelt und Ÿberschrieben werden mu§ten. Dieses dauerte mehrere Jahre. Als der Knabe zum JŸngling herangereift war und dasjenige wirklich leistete, was er sich bisher nur


eingebildet hatte, fŸhrte ihn der Graf an einen gro§en Schreibtisch, in welchem sŠmtliche Briefe und Pakete, unerbrochen, als Exerzitien der erstem Zeit, aufbewahrt lagen.

Eine andere †bung, die der Graf seinem Zšgling zumutete, wird nicht so allgemeinen Beifall finden. La Roche nŠmlich hatte sich Ÿben mŸssen, die Hand seines Herrn und Meisters aufs genauste nachzuahmen, um ihn dadurch der Qual des Selbstschreibens zu Ÿberheben. Allein nicht nur in GeschŠften sollte dieses Talent genutzt werden, auch in LiebeshŠndeln hatte der junge Mann die Stelle seines Lehrers zu vertreten. Der Graf war leidenschaftlich einer hohen und geistreichen Dame verbunden. Wenn er in deren Gesellschaft bis tief in die Nacht verweilte, sa§ indessen sein SekretŠr zu Hause und schmiedete die hei§esten Liebesbriefe; darunter wŠhlte der Graf und sendete noch gleich zur Nachtzeit das Blatt an seine Geliebte, welche sich denn doch wohl daran von dem unverwŸstlichen Feuer ihres leidenschaftlichen Anbeters Ÿberzeugen mu§te. Dergleichen frŸhe Erfahrungen mochten denn freilich dem JŸngling nicht den besten Begriff von schriftlichen Liebesunterhaltungen gegeben haben.

Ein unversšhnlicher Ha§ gegen das Pfafftum hatte sich bei diesem Manne, der zwei geistlichen KurfŸrsten diente, festgesetzt, wahrscheinlich entsprungen aus der Betrachtung des rohen, geschmacklosen, geistverderblichen Fratzenwesens, welches die Mšnche in Deutschland an manchen Orten zu treiben pflegten, und dadurch eine jede Art von Bildung hinderten und zerstšrten. Seine "Briefe Ÿber das Mšnchswesen " machten gro§es Aufsehen; sie wurden von allen Protestanten und von vielen Katholiken mit gro§em Beifall aufgenommen.

Wenn sich aber Herr von La Roche gegen alles, was man Empfindung nennen kšnnte, auflehnte, und wenn er selbst den Schein derselben entschieden von sich abhielt, so verhehlte er doch nicht eine vŠterlich zarte Neigung zu seiner Šltesten Tochter, welche freilich nicht anders als liebenswŸrdig war: eher klein als gro§ von Gestalt, niedlich ge-


baut; eine freie anmutige Bildung, die schwŠrzesten Augen und eine Gesichtsfarbe, die nicht reiner und blŸhender gedacht werden konnte. Auch sie liebte ihren Vater und neigte sich zu seinen Gesinnungen. Ihm, als tŠtigem GeschŠftsmann, war die meiste Zeit durch Berufsarbeiten weggenommen, und weil die einkehrenden GŠste eigentlich durch seine Frau und nicht durch ihn angezogen wurden, so konnte ihm die Gesellschaft wenig Freude geben. Bei Tische war er heiter, unterhaltend, und suchte wenigstens seine Tafel von der empfindsamen WŸrze frei zu halten.

Wer die Gesinnungen und die Denkweise der Frau von La Roche kennt- und sie ist durch ein langes Leben und viele Schriften einem jeden Deutschen ehrwŸrdig bekannt geworden-, der mšchte vielleicht vermuten, da§ hieraus ein hŠusliches Mi§verhŠltnis hŠtte entstehn mŸssen. Aber keineswegs! Sie war die wunderbarste Frau, und ich wŸ§te ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher gro§ als klein, hatte sie bis in ihre hšheren Jahre eine gewisse Eleganz der Gestalt sowohl als des Betragens zu erhalten gewu§t, die zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer wŸrdigen bŸrgerlichen Frau gar anmutig schwebte. Im Anzuge war sie sich mehrere Jahre gleich geblieben. Ein nettes FlŸgelhŠubchen stand dem kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe und WŸrde. Sie sprach gut und wu§te dem, was sie sagte, durch Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen jedermann vollkommen gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht das Eigenste ihres Wesens ausgesprochen; es zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an allem teilzunehmen, aber im Grunde wirkte nichts auf sie. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die ZŠrtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne da§ ihr in der Welt durch Gutes und Bšses, oder in der Literatur durch Vortreffliches und


Schwaches wŠre beizukommen gewesen. Dieser Sinnesart verdankt sie ihre SelbststŠndigkeit bis in ein hohes Alter, bei manchen traurigen, ja kŸmmerlichen Schicksalen. Doch um nicht ungerecht zu sein, mu§ ich erwŠhnen, da§ ihre beiden Sšhne, damals Kinder von blendender Schšnheit, ihr manchmal einen Ausdruck ablockten, der sich von demjenigen unterschied, dessen sie sich zum tŠglichen Gebrauch bediente.

So lebte ich in einer neuen wundersam angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis Merck mit seiner Familie herankam. Hier entstanden sogleich neue Wahlverwandtschaften: denn indem die beiden Frauen sich einander nŠherten, hatte Merck mit Herrn von La Roche als Welt- und GeschŠftskenner, als unterrichtet und gereist, nŠhere BerŸhrung. Der Knabe gesellte sich zu den Knaben, und die Tšchter fielen mir zu, von denen die Šlteste mich gar bald besonders anzog. Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfŠngt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden Himmelslichter.

Nun fehlte es nicht an reicher Unterhaltung in und au§er dem Hause. Man durchstrich die Gegend; Ehrenbreitstein diesseits, die Kartause jenseits wurden bestiegen. Die Stadt, die MoselbrŸcke, die FŠhre, die uns Ÿber den Rhein brachte, alles gewŠhrte das mannigfachste VergnŸgen. Noch nicht erbaut war das neue Schlo§; man fŸhrte uns an den Platz, wo es stehn sollte, man lie§ uns die vorschlŠgigen Risse davon sehen.

In diesem heiterem Zustande entwickelte sich jedoch innerlich der Stoff der UnvertrŠglichkeit, der in gebildeten wie in ungebildeten Gesellschaften gewšhnlich seine unfreundlichen Wirkungen zeigt. Merck, zugleich kalt und unruhig, hatte nicht lange jene Briefwechsel mit angehšrt, als er Ÿber die Dinge, von denen die Rede war, sowie Ÿber die Per-


sonen und ihre VerhŠltnisse gar manchen schalkhaften Einfall laut werden lie§, mir aber im stillen die wunderlichsten Dinge eršffnete, die eigentlich darunter verborgen sein sollten. Von politischen Geheimnissen war zwar keineswegs die Rede, auch nicht von irgend etwas, das einen gewissen Zusammenhang gehabt hŠtte; er machte mich nur auf Menschen aufmerksam, die, ohne sonderliche Talente, mit einem gewissen Geschick sich persšnlichen Einflu§ zu verschaffen wissen, und durch die Bekanntschaft mit vielen aus sich selbst etwas zu bilden suchen; und von dieser Zeit an hatte ich Gelegenheit, dergleichen mehr zu bemerken. Da solche Personen gewšhnlich den Ort verŠndern, und als Reisende bald hier bald da eintreffen, so kommt ihnen die Gunst der Neuheit zugute, die man ihnen nicht beneiden noch verkŸmmern sollte: denn es ist dieses eine herkšmmliche Sache, die jeder Reisende zu seinem Vorteil, jeder Bleibende zu seinem Nachteil šfters erfahren hat.

Dem sei nun wie ihm wolle, genug, wir nŠhrten von jener Zeit an eine gewisse unruhige, ja neidische Aufmerksamkeit auf dergleichen Leute, die auf ihre eigne Hand hin und wider zogen, sich in jeder Stadt vor Anker legten, und wenigstens in einigen Familien Einflu§ zu gewinnen suchten. Einen zarten und weichen dieser Zunftgenossen habe ich im "Pater Brey", einen andern, tŸchtigern und derbern, in einem kŸnftig mitzuteilenden Fastnachtsspiele, das den Titel fŸhrt: "Satyros, oder der vergštterte Waldteufel", wo nicht mit Billigkeit, doch wenigstens mit gutem Humor dargestellt.

Indessen wirkten die wunderlichen Elemente unserer kleinen Gesellschaft noch so ganz leidlich auf einander; wir waren teils durch eigne Sitte und Lebensart gebŠndigt, teils aber auch durch jene besondere Weise der Hausfrau gemildert, welche, von dem, was um sie vorging, nur leicht berŸhrt, sich immer gewissen ideellen Vorstellungen hingab, und, indem sie solche freundlich und wohlwollend zu Šu§ern verstand, alles Scharfe, was in der Gesellschaft hervortreten mochte, zu mildern und das Unebne auszugleichen wu§te.


Merck hatte noch eben zur rechten Zeit zum Aufbruch geblasen, so da§ die Gesellschaft in dem besten VerhŠltnis aus einander ging. Ich fuhr mit ihm und den Seinigen auf einer nach Mainz rŸckkehrenden Jacht den Rhein aufwŠrts, und obschon dieses an sich sehr langsam ging, so ersuchten wir noch Ÿberdies den Schiffer, sich ja nicht zu Ÿbereilen. So genossen wir mit Mu§e der unendlich mannigfaltigen GegenstŠnde, die, bei dem herrlichsten Wetter, jede Stunde an Schšnheit zuzunehmen und sowohl an Grš§e als an GefŠlligkeit immer neu zu wechseln scheinen; und ich wŸnsche nur, indem ich die Namen Rheinfels und St. Goar, Bacharach, Bingen, Elfeld und Biebrich ausspreche, da§ jeder meiner Leser im Stande sei, sich diese Gegenden in der Erinnerung hervorzurufen.

Wir hatten flei§ig gezeichnet, und uns wenigstens dadurch die tausendfŠltige Abwechselung jenes herrlichen Ufers fester eingedruckt; aber auch unser VerhŠltnis verinnigte sich durch dieses lŠngere Zusammensein, durch die vertrauliche Mitteilung Ÿber so mancherlei Dinge, dergetalt, da§ Merck einen gro§en Einflu§ Ÿber mich gewann, und ich ihm als ein guter Gesell zu einem behaglichen Dasein unentbehrlich ward. Mein durch die Natur geschŠrfter Blick warf sich wieder auf die Kunstbeschauung, wozu mir die schšnen Frankfurter Sammlungen an GemŠlden und Kupferstichen die beste Gelegenheit gaben, und ich bin der Neigung der Herren Ettling, Ehrenreich, besonders aber dem braven Nothnagel sehr viel schuldig geworden. Die Natur in der Kunst zu sehen, ward bei mir zu einer Leidenschaft, die in ihren hšchsten Augenblicken andern, selbst passionierten Liebhabern, fast wie Wahnsinn erscheinen mu§te; und wie konnte eine solche Neigung besser gehegt werden, als durch eine fortdauernde Betrachtung der trefflichen Werke der NiederlŠnder. Damit ich mich aber auch mit diesen Dingen werktŠtig bekannt machen mšchte, rŠumte mir Nothnagel ein Kabinett ein, wo ich alles fand, was zur …lmalerei nštig war, und ich malte einige einfache Stilleben nach dem Wirklichen,


auf deren einem ein Messerstiel von Schildpatt, mit Silber eingelegt, meinen Meister, der mich erst vor einer Stunde besucht hatte, dergestalt Ÿberraschte, da§ er behauptete, es mŸsse wŠhrend der Zeit einer von seinen untergeordneten KŸnstlern bei mir gewesen sein.

HŠtte ich geduldig fortgefahren, mich an solchen GegenstŠnden zu Ÿben, ihnen Licht und Schatten und die Eigenheiten ihrer OberflŠche abzugewinnen, ich hŠtte mir eine gewisse Praxis bilden und zum Hšheren den Weg bahnen kšnnen; so aber verfolgte mich der Fehler aller Dilettanten, mit dem Schwersten anzufangen, ja sogar das Unmšgliche leisten zu wollen, und ich verwickelte mich bald in grš§ere Unternehmungen, in denen ich stecken blieb, sowohl weil sie weit Ÿber meine technischen FŠhigkeiten hinauslagen, als weil ich die liebevolle Aufmerksamkeit und den gelassenen Flei§, durch den auch schon der AnfŠnger etwas leistet, nicht immer rein und wirksam erhalten konnte.

Auch wurde ich zu gleicher Zeit abermals in eine hšhere SphŠre gerissen, indem ich einige schšne GipsabgŸsse antiker Kšpfe anzuschaffen Gelegenheit fand. Die Italiener nŠmlich, welche die Messen beziehn, brachten manchmal dergleichen gute Exemplare mit, und verkauften sie auch wohl, nachdem sie eine Form darŸber genommen. Auf diesem Wege stellte ich mir ein kleines Museum auf, indem ich die Kšpfe des Laokoon, seiner Sšhne, der Niobe Tšchter allmŠhlich zusammenbrachte, nicht weniger die Nachbildungen der bedeutendsten Werke des Altertums im kleinen aus der Verlassenschaft eines Kunstfreundes ankaufte, und so mir jenen gro§en Eindruck, den ich in Mannheim gewonnen hatte, mšglichst wieder zu beleben suchte.

Indem ich nun alles was von Talent, Liebhaberei oder sonst irgendeiner Neigung in mir leben mochte, auszubilden, zu nŠhren und zu unterhalten suchte, verwendete ich eine gute Zeit des Tages, nach dem Wunsch meines Vaters, auf die Advokatur, zu deren AusŸbung ich zufŠlligerweise die beste Gelegenheit fand. Nach dem Tode des Gro§vaters


war mein Oheim Textor in den Rat gekommen, und Ÿbergab mir die kleineren Sachen, denen ich gewachsen war; welches die GebrŸder Schlosser auch taten. Ich machte mich mit den Akten bekannt, mein Vater las sie ebenfalls mit vielem VergnŸgen, da er sich, durch Veranlassung des Sohns, wieder in einer TŠtigkeit sah, die er lange entbehrt hatte. Wir besprachen uns darŸber, und mit gro§er Leichtigkeit machte ich alsdann die nštigen AufsŠtze. Wir hatten einen trefflichen Kopisten zur Hand, auf den man sich zugleich wegen aller Kanzleifšrmlichkeiten verlassen konnte; und so war mir dieses GeschŠft eine um so angenehmere Unterhaltung, als es mich dem Vater nŠher brachte, der, mit meinem Benehmen in diesem Punkte všllig zufrieden, allem Ÿbrigen, was ich trieb, gerne nachsah, in der sehnlichen Erwartung da§ ich nun bald auch schriftstellerischen Ruhm einernten wŸrde.

Weil nun in jeder Zeitepoche alles zusammenhŠngt, indem die herrschenden Meinungen und Gesinnungen sich auf die vielfachste Weise verzweigen, so befolgte man in der Rechtslehre nunmehr auch nach und nach alle diejenigen Maximen, nach welchen man Religion und Moral behandelte. Unter den Sachwaltern als den JŸngern, sodann unter den Richtern als den €ltern verbreitete sich der Humanismus, und alles wetteiferte, auch in rechtlichen VerhŠltnissen hšchst menschlich zu sein. GefŠngnisse wurden gebessert, Verbrechen entschuldigt, Strafen gelindert, die Legitimationen erleichtert, Scheidungen von Mi§heiraten befšrdert, und einer unserer vorzŸglichen Sachwalter erwarb sich den hšchsten Ruhm, als er einem Scharfrichtersohne den Eingang in das Kollegium der €rzte zu erfechten wu§te. Vergebens widersetzten sich Gilden und Kšrperschaften; ein Damm nach dem andern ward durchbrochen. Die Duldsamkeit der Religionsparteien gegen einander ward nicht blo§ gelehrt, sondern ausgeŸbt, und mit einem noch grš§ern Einflusse ward die bŸrgerliche Verfassung bedroht, als man Duldsamkeit gegen die Juden, mit Verstand, Scharfsinn und Kraft, der gutmŸtigen Zeit anzuempfehlen bemŸht war. Diese neuen


GegenstŠnde rechtlicher Behandlung, welche au§erhalb des Gesetzes und des Herkommens lagen und nur an billige Beurteilung, an gemŸtliche Teilnahme Anspruch machten, forderten zugleich einen natŸrlicheren und lebhafteren Stil. Hier war uns, den JŸngsten, ein heiteres Feld eršffnet, in welchem wir uns mit Lust herumtummelten, und ich erinnere mich noch gar wohl, da§ ein Reichshofratsagent mir, in einem solchen Falle, ein sehr artiges Belobungsschreiben zusendete. Die franzšsischen Plaidoyers dienten uns zu Mustern und zur Anregung.

Und somit waren wir auf dem Wege bessere Redner als Juristen zu werden, worauf mich der solide Georg Schlosser einstmals tadelnd aufmerksam machte. Ich hatte ihm erzŠhlt, da§ ich meiner Partei eine mit vieler Energie zu ihren Gunsten abgefa§te Streitschrift vorgelesen, worŸber sie mir gro§e Zufriedenheit bezeigt. Hierauf erwiderte er mir: "Du hast dich in diesem Fall mehr als Schriftsteller, denn als Advokat bewiesen. Man mu§ niemals fragen, wie eine solche Schrift dem Klienten, sondern wie sie dem Richter gefallen kšnne."

Wie nun aber niemand noch so ernste und dringende GeschŠfte haben mag, denen er seinen Tag widmet, da§ er nicht demungeachtet abends so viel Zeit fŠnde, das Schauspiel zu besuchen; so ging es auch mir, der ich, in Ermangelung einer vorzŸglichen BŸhne, Ÿber das deutsche Theater zu denken nicht aufhšrte, um zu erforschen, wie man auf demselben allenfalls tŠtig mitwirken kšnnte. Der Zustand desselben in der zweiten HŠlfte des vorigen Jahrhunderts ist bekannt genug, und jedermann, der sich davon zu unterrichten verlangt, findet Ÿberall bereite HŸlfsmittel. Ich denke deswegen hier nur einige allgemeine Bemerkungen einzuschalten.

Das GlŸck der BŸhne beruhte mehr auf der Persšnlichkeit der Schauspieler als auf dem Werte der StŸcke. Dies war besonders bei halb oder ganz extemporierten StŸcken der Fall, wo alles auf den Humor und das Talent der komischen Schauspieler ankam. Der Stoff solcher StŸcke mu§ aus dem gemeinsten Leben genommen sein, den Sitten des Volks


gemŠ§, vor welchem man spielt. Aus dieser unmittelbaren Anwendbarkeit entspringt der gro§e Beifall, dessen sie sich jederzeit zu erfreuen haben. Diese waren immer im sŸdlichen Deutschland zu Hause, wo man sie bis auf den heutigen Tag beibehŠlt, und nur von Zeit zu Zeit dem Charakter der possenhaften Masken einige VerŠnderung zu geben durch den Personenwechsel genštigt ist. Doch nahm das deutsche Theater, dem ernsten Charakter der Nation gemŠ§, sehr bald eine Wendung nach dem sittlichen, welche durch eine Šu§ere Veranlassung noch mehr beschleunigt ward. Unter den strengen Christen entstand nŠmlich die Frage, ob das Theater zu den sŸndlichen und auf alle FŠlle zu vermeidenden Dingen gehšre, oder zu den gleichgŸltigen, welche dem Guten gut, und nur dem Bšsen bšs werden kšnnten. Strenge Eiferer verneinten das letztere, und hielten fest darŸber, da§ kein Geistlicher je ins Theater gehen solle. Nun konnte die Gegenrede nicht mit Nachdruck gefŸhrt werden, als wenn man das Theater nicht allein fŸr unschŠdlich, sondern sogar fŸr nŸtzlich angab. Um nŸtzlich zu sein, mu§te es sittlich sein, und dazu bildete es sich im nšrdlichen Deutschland um so mehr aus, als durch einen gewissen Halbgeschmack die lustige Person vertrieben ward, und, obgleich geistreiche Kšpfe fŸr sie einsprachen, dennoch weichen mu§te, da sie sich bereits von der Derbheit des deutschen Hanswursts gegen die Niedlichkeit und Zierlichkeit der italienischen und franzšsischen Harlekine gewendet hatte. Selbst Scapin und Crispin verschwanden nach und nach; den letztern habe ich zum letztenmal von Koch, in seinem hohen Alter, spielen sehn.

Schon die Richardsonschen Romane hatten die bŸrgerliche Welt auf eine zartere Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Die strengen und unausbleiblichen Folgen eines weiblichen Fehltritts waren in der "Clarisse" auf eine grausame Weise zergliedert. Lessings "Mi§ Sara Sampson" behandelte dasselbe Thema. Nun lie§ "Der Kaufmann von London" einen verfŸhrten JŸngling in der schrecklichsten Lage sehen. Die franzšsischen Dramen hatten denselben Zweck, verfuhren aber mŠ§iger


und wu§ten durch Vermittelung am Ende zu gefallen. Diderots "Hausvater", "Der ehrliche Verbrecher", "Der EssighŠndler", "Der Philosoph ohne es zu wissen", "Eugenie" und mehr dergleichen Werke waren dem ehrbaren BŸrger- und Familiensinn gemŠ§, der immer mehr obzuwalten anfing. Bei uns gingen "Der dankbare Sohn", "Der Deserteur aus Kindesliebe" und ihre Sippschaft denselben Weg. "Der Minister", "Clementine" und die Ÿbrigen Geblerischen StŸcke, "Der deutsche Hausvater" von Gemmingen, alle brachten den Wert des mittleren, ja des unteren Standes zu einer gemŸtlichen Anschauung, und entzŸckten das gro§e Publikum. Ekhof durch seine edle Persšnlichkeit, die dem Schauspielerstand eine gewisse WŸrde mitteilte, deren er bisher entbehrte, hob die ersten Figuren solcher StŸcke ungemein, indem der Ausdruck von Rechtlichkeit ihm, als einem rechtlichen Manne, vollkommen gelang.

Indem nun das deutsche Theater sich všllig zur Verweichlichung hinneigte, stand Schršder als Schriftsteller und Schauspieler auf, und bearbeitete, durch die Verbindung Hamburgs mit England veranla§t, englische Lustspiele. Er konnte dabei den Stoff derselben nur im allgemeinsten brauchen: denn die Originale sind meistens formlos, und wenn sie auch gut und planmŠ§ig anfangen, so verlieren sie sich doch zuletzt ins Weite. Es scheint ihren Verfassern nur darum zu tun, die wunderlichsten Szenen anzubringen, und wer an ein gehaltenes Kunstwerk gewšhnt ist, sieht sich zuletzt ungern ins Grenzenlose getrieben. †berdies geht ein wildes und unsittliches, gemeinwŸstes Wesen bis zum UnertrŠglichen so entschieden durch, da§ es schwer sein mšchte, dem Plan und den Charaktern alle ihre Unarten zu benehmen. Sie sind eine derbe und dabei gefŠhrliche Speise, die blo§ einer gro§en und halbverdorbenen Volksmasse zu einer gewissen Zeit genie§bar und verdaulich gewesen sein mag. Schršder hat an diesen Dingen mehr getan, als man gewšhnlich wei§; er hat sie von Grund aus verŠndert, dem deutschen Sinne angeŠhnlicht, und sie mšglichst gemildert.


Es bleibt ihnen aber immer ein herber Kern, weil der Scherz gar oft auf Mi§handlung von Personen beruht, sie mšgen es verdienen oder nicht. In diesen Darstellungen, welche sich gleichfalls auf dem Theater verbreiteten, lag also ein heimliches Gegengewicht jener allzu zarten Sittlichkeit, und die Wirkung beider Arten gegen einander hinderte glŸcklicherweise die Eintšnigkeit, in die man sonst verfallen wŠre.

Der Deutsche, gut- und gro§mŸtig von Natur, will niemand gemi§handelt wissen. Weil aber kein Mensch, wenn er auch noch so gut denkt, sicher ist, da§ man ihm nicht etwas gegen seine Neigung unterschiebe, auch das Lustspiel Ÿberhaupt immer etwas Schadenfreude bei dem Zuschauer voraussetzt oder erweckt, wenn es behagen soll; so geriet man, auf einem natŸrlichen Wege, zu einem bisher fŸr unnatŸrlich gehaltenen Benehmen: dieses war, die hšheren StŠnde herabzusetzen und sie mehr oder weniger anzutasten. Die prosaische und poetische Satire hatte sich bisher immer gehŸtet, Hof und Adel zu berŸhren. Rabener enthielt sich nach jener Seite hin alles Spottes, und blieb in einem niederen Kreise. ZachariŠ beschŠftigt sich viel mit Landedelleuten, stellt ihre Liebhabereien und Eigenheiten komisch dar, aber ohne Mi§achtung. ThŸmmels "Wilhelmine", eine kleine geistreiche Komposition, so angenehm als kŸhn, erwarb sich gro§en Beifall, vielleicht auch mit deswegen, weil der Verfasser, ein Edelmann und Hofgenosse, die eigne Klasse nicht eben schonend behandelte. Den entschiedensten Schritt jedoch tat Lessing in der "Emilia Galotti", wo die Leidenschaften und rŠnkevollen VerhŠltnisse der hšheren Regionen schneidend und bitter geschildert sind. Alle diese Dinge sagten dem aufgeregten Zeitsinne vollkommen zu, und Menschen von weniger Geist und Talent glaubten das gleiche, ja noch mehr tun zu dŸrfen; wie denn Gro§mann in sechs unappetitlichen "SchŸsseln" alle Leckerspeisen seiner PšbelkŸche dem schadenfrohen Publikum auftischte. Ein redlicher Mann, Hofrat Reinhard, machte bei dieser unerfreulichen Tafel den Haushofmeister, zu Trost und Erbauung sŠmt-


licher GŠste. Von dieser Zeit an wŠhlte man die theatralischen Bšsewichter immer aus den hšheren StŠnden; doch mu§te die Person Kammerjunker oder wenigstens GeheimsekretŠr sein, um sich einer solchen Auszeichnung wŸrdig zu machen. Zu den allergottlosesten Schaubildern aber erkor man die obersten Chargen und Stellen des Hofund Ziviletats im Adre§kalender, in welcher vornehmen Gesellschaft denn doch noch die Justitiarien, als Bšsewichter der ersten Instanz, ihren Platz fanden.

Doch indem ich schon fŸrchten mu§, Ÿber die Zeit hinausgegriffen zu haben, von der hier die Rede sein kann, kehre ich auf mich selbst zurŸck, um des Dranges zu erwŠhnen, den ich empfand, mich in freien Stunden mit den einmal ausgesonnenen theatralischen Planen zu beschŠftigen.

Durch die fortdauernde Teilnahme an Shakespeares Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, da§ mir der enge BŸhnenraum und die kurze einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlŠnglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Gštz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben, trieb mich in die historische Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus, da§ auch meine dramatische Form alle Theatergrenzen Ÿberschritt, und sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nŠhern suchte. Ich hatte mich davon, so wie ich vorwŠrts ging, mit meiner Schwester umstŠndlich unterhalten, die an solchen Dingen mit Geist und GemŸt teilnahm, und ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu schreiten, da§ sie zuletzt ungeduldig und wohlwollend dringend bat, mich nur nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehn, sondern endlich einmal das, was mir so gegenwŠrtig wŠre, auf das Papier festzubringen. Durch diesen Antrieb bestimmt, fing ich eines Morgens zu schreiben an, ohne da§ ich einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt hŠtte. Ich schrieb die ersten Szenen, und abends wurden sie Cornelien vorgelesen. Sie schenkte ihnen vielen Beifall, jedoch nur bedingt, indem


sie zweifelte, da§ ich so fortfahren wŸrde, ja sie Šu§erte sogar einen entschiedenen Unglauben an meine Beharrlichkeit. Dieses reizte mich nur um so mehr, ich fuhr den nŠchsten Tag fort, und so den dritten; die Hoffnung wuchs bei den tŠglichen Mitteilungen, auch mir ward alles von Schritt zu Schritt lebendiger, indem mir ohnehin der Stoff durchaus eigen geworden; und so hielt ich mich ununterbrochen ans Werk, das ich geradeswegs verfolgte, ohne weder rŸckwŠrts, noch rechts, noch links zu sehn, und in etwa sechs Wochen hatte ich das VergnŸgen, das Manuskript geheftet zu erblicken. Ich teilte es Mercken mit, der verstŠndig und wohlwollend darŸber sprach; ich sendete es Herdern zu, der sich unfreundlich und hart dagegen Šu§erte, und nicht ermangelte, in einigen gelegentlichen SchmŠhgedichten mich deshalb mit spšttischen Namen zu bezeichnen. Ich lie§ mich dadurch nicht irre machen, sondern fa§te meinen Gegenstand scharf ins Auge; der Wurf war einmal getan, und es fragte sich nur, wie man die Steine im Brett vorteilhaft setzte. Ich sah wohl, da§ mir auch hier niemand raten wŸrde, und als ich nach einiger Zeit mein Werk wie ein fremdes betrachten konnte, so erkannte ich freilich, da§ ich, bei dem Versuch, auf die Einheit der Zeit und des Orts Verzicht zu tun, auch der hšheren Einheit, die um desto mehr gefordert wird, Eintrag getan hatte. Da ich mich, ohne Plan und Entwurf, blo§ der Einbildungskraft und einem innern Trieb Ÿberlie§, so war ich von vornherein ziemlich bei der Klinge geblieben, und die ersten Akte konnten fŸr das, was sie sein sollten, gar fŸglich gelten; in den folgenden aber, und besonders gegen das Ende, ri§ mich eine wundersame Leidenschaft unbewu§t hin. Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswŸrdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt, unwillkŸrlich war meine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm Ÿberhand, und wie ohnehin gegen das Ende Gštz au§er TŠtigkeit gesetzt ist, und dann nur zu einer unglŸcklichen Teilnahme am Bauernkriege zurŸckkehrt, so war nichts natŸrlicher, als da§ eine reizende


Frau ihn bei dem Autor ausstach, der, die Kunstfesseln abschŸttelnd, in einem neuen Felde sich zu versuchen dachte. Diesen Mangel, oder vielmehr diesen tadelhaften †berflu§, erkannte ich gar bald, da die Natur meiner Poesie mich immer zur Einheit hindrŠngte. Ich hegte nun, anstatt der Lebensbeschreibung Gštzens und der deutschen AltertŸmer, mein eignes Werk im Sinne, und suchte ihm immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das, was daran fabelhaft oder blo§ leidenschaftlich war, auszulšschen, wobei ich freilich manches aufopferte, indem die menschliche Neigung der kŸnstlerischen †berzeugung weichen mu§te. So hatte ich mir z.B. etwas Rechts zugute getan, indem ich in einer grauserlich nŠchtlichen Zigeunerszene Adelheid auftreten und ihre schšne Gegenwart Wunder tun lie§. Eine nŠhere PrŸfung verbannte sie, so wie auch der im vierten und fŸnften Akte umstŠndlich ausgefŸhrte Liebeshandel zwischen Franzen und seiner gnŠdigen Frau sich ins Enge zog, und nur in seinen Hauptmomenten hervorleuchten durfte.

Ohne also an dem ersten Manuskript irgend etwas zu verŠndern, welches ich wirklich noch in seiner Urgestalt besitze, nahm ich mir vor, das Ganze umzuschreiben, und leistete dies auch mit solcher TŠtigkeit, da§ in wenigen Wochen ein ganz erneutes StŸck vor mir lag. Ich ging damit um so rascher zu Werke, je weniger ich die Absicht hatte, diese zweite Bearbeitung jemals drucken zu lassen, sondern sie gleichfalls nur als VorŸbung ansah, die ich kŸnftig, bei einer mit mehrerem Flei§ und †berlegung anzustellenden neuen Behandlung, abermals zum Grunde legen wollte. Als ich nun mancherlei VorschlŠge, wie ich dies anzufangen gedŠchte, Mercken vorzutragen anfing, spottete er mein und fragte, was denn das ewige Arbeiten und Umarbeiten hei§en solle? Die Sache werde dadurch nur anders und selten besser; man mŸsse sehn, was das eine fŸr Wirkung tue, und dann immer wieder was Neues unternehmen. - "Bei Zeit auf die ZŠun', so trocknen die Windeln!" rief er sprŸch-


wšrtlich aus; das SŠumen und Zaudern mache nur unsichere Menschen. Ich erwiderte ihm dagegen, da§ es unangenehm sein wŸrde, eine Arbeit, an die ich so viele Neigung verwendet, einem BuchhŠndler anzubieten, und mir vielleicht gar eine abschlŠgige Antwort zu holen: denn wie sollten sie einen jungen, namenlosen und noch dazu verwegenen Schriftsteller beurteilen? Schon meine "Mitschuldigen", auf die ich etwas hielt, hŠtte ich, als meine Scheu vor der Presse nach und nach verschwand, gern gedruckt gesehn; allein ich fand keinen geneigten Verleger.

Hier ward nun meines Freundes technisch-merkantilische Lust auf einmal rege. Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und BuchhŠndlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meinte, dieses seltsame und gewi§ auffallende Werk auf eigne Kosten herausgeben, und es werde davon ein guter Vorteil zu ziehen sein; wie er denn, mit so vielen andern, šfters den BuchhŠndlern ihren Gewinn nachzurechnen pflegte, der bei manchen Werken freilich gro§ war, besonders wenn man au§er acht lie§, wie viel wieder an anderen Schriften und durch sonstige HandelsverhŠltnisse verloren geht. Genug, es ward ausgemacht, da§ ich das Papier anschaffen, er aber fŸr den Druck sorgen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es gar nicht Ÿbel, meine wilde dramatische Skizze nach und nach in saubern AushŠngebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Paketen versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand Ÿberall eine gro§e Bewegung; das Aufsehen, das es machte, ward allgemein. Weil wir aber, bei unsern beschrŠnkten VerhŠltnissen, die Exemplare nicht schnell genug nach allen Orten zu verteilen vermochten, so erschien plštzlich ein Nachdruck; und da Ÿberdies gegen unsere Aussendungen freilich so bald keine Erstattung, am allerwenigsten eine bare, zurŸckerfolgen konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Kasse nicht in reichlichen UmstŠnden sein konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen


Seiten her viel Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beifall erwies, hšchst verlegen, wie ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wu§te, hegte dagegen die besten Hoffnungen, da§ sich nŠchstens alles wieder ins gleiche stellen wŸrde, ich bin aber nichts davon gewahr worden.

Schon bei den kleinen Flugschriften, die ich ungenannt herausgab, hatte ich das Publikum und die Rezensenten auf meine eignen Kosten kennen lernen, und ich war auf Lob und Tadel so ziemlich vorbereitet, besonders da ich seit mehreren Jahren immer nachging und beobachtete, wie man die Schriftsteller behandle, denen ich eine vorzŸgliche Aufmerksamkeit gewidmet hatte.

Hier konnte ich selbst in meiner Unsicherheit deutlich bemerken, wie doch so vieles grundlos, einseitig und willkŸrlich in den Tag hinein gesagt wurde. Mir begegnete nun dasselbe, und wenn ich nicht schon einigen Grund gehabt hŠtte, wie irre hŠtten mich die WidersprŸche gebildeter Menschen machen mŸssen! So stand z.B. im "Deutschen Merkur " eine weitlŠuftige wohlgemeinte Rezension, verfa§t von irgend einem beschrŠnkten Geiste. Wo er tadelte, konnte ich nicht mit ihm einstimmen, noch weniger, wenn er angab, wie die Sache hŠtte kšnnen anders gemacht werden. Erfreulich war es mir daher, wenn ich unmittelbar hinterdrein eine heitere ErklŠrung Wielands antraf, der im allgemeinen dem Rezensenten widersprach und sich meiner gegen ihn annahm. Indessen war doch jenes auch gedruckt, ich sah ein Beispiel von der dumpfen Sinnesart unterrichteter und gebildeter MŠnner; wie mochte es erst im gro§en Publikum aussehn!

Das VergnŸgen, mich mit Mercken Ÿber solche Dinge zu besprechen und aufzuklŠren, war von kurzer Dauer: denn die einsichtsvolle LandgrŠfin von Hessen - Darmstadt nahm ihn, auf ihrer Reise nach Petersburg, in ihr Gefolge. Die ausfŸhrlichen Briefe, die er mir schrieb, gaben mir eine weitere Aussicht in die Welt, die ich mir um so mehr zu eigen ma-


chen konnte, als die Schilderungen von einer bekannten und befreundeten Hand gezeichnet waren. Allein ich blieb dem ungeachtet dadurch auf lŠngere Zeit sehr einsam, und entbehrte gerade in dieser wichtigen Epoche seiner aufklŠrenden Teilnahme, deren ich denn doch so sehr bedurfte.

Denn wie man wohl den Entschlu§ fa§t, Soldat zu werden und in den Krieg zu gehen, sich auch mutig vorsetzt, Gefahr und Beschwerlichkeiten zu ertragen, sowie auch Wunden und Schmerzen, ja den Tod zu erdulden, aber sich dabei keineswegs die besonderen FŠlle vorstellt, unter welchen diese im allgemeinen erwarteten †bel uns Šu§erst unangenehm Ÿberraschen kšnnen: so ergeht es einem jeden, der sich in die Welt wagt, und besonders dem Autor, und so ging es auch mir. Da der grš§te Teil des Publikums mehr durch den Stoff als durch die Behandlung angeregt wird, so war die Teilnahme junger MŠnner an meinen StŸcken meistens stoffartig. Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen Vorschritt alles, was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich wohl Raum machen dŸrfte, und gerade die besten Kšpfe, in denen schon vorlŠufig etwas €hnliches spukte, wurden davon hingerissen. Ich besitze noch von dem trefflichen und in manchem Betracht einzigen BŸrger einen Brief, ich wei§ nicht an wen, der als wichtiger Beleg dessen gelten kann, was jene Erscheinung damals gewirkt und aufgeregt hat. Von der Gegenseite tadelten mich gesetzte MŠnner, da§ ich das Faustrecht mit zu gŸnstigen Farben geschildert habe, ja sie legten mir die Absicht unter, da§ ich jene unregelmŠ§igen Zeiten wieder einzufŸhren gedŠchte. Noch andere hielten mich fŸr einen grundgelehrten Mann, und verlangten, ich sollte die OriginalerzŠhlung des guten Gštz neu mit Noten herausgeben; wozu ich mich keineswegs geschickt fŸhlte, ob ich es mir gleich gefallen lie§, da§ man meinen Namen auf den Titel des frischen Abdrucks zu setzen beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen eines gro§en Daseins abzupflŸcken verstand, mich fŸr einen sorgfŠltigen KunstgŠrtner gehalten. Diese meine Gelahrtheit und


grŸndliche Sachkenntnis wurde jedoch wieder von andern in Zweifel gezogen. Ein angesehener GeschŠftsmann macht mir ganz unvermutet die Visite. Ich sehe mich dadurch hšchst geehrt, und um so mehr, als er sein GesprŠch mit dem Lobe meines "Gštz von Berlichingen " und meiner guten Einsichten in die deutsche Geschichte anfŠngt; allein ich finde mich doch betroffen, als ich bemerke, er sei eigentlich nur gekommen, um mich zu belehren, da§ Gštz von Berlichingen kein Schwager von Franz von Sickingen gewesen sei, und da§ ich also durch dieses poetische EhebŸndnis gar sehr gegen die Geschichte versto§en habe. Ich suchte mich dadurch zu entschuldigen, da§ Gštz ihn selber so nenne; allein mir ward erwidert, da§ dieses eine Redensart sei, welche nur ein nŠheres freundschaftliches VerhŠltnis ausdrŸcke, wie man ja in der neueren Zeit die Postillone auch Schwager nenne, ohne da§ ein Familienband sie an uns knŸpfe. Ich dankte, so gut ich konnte fŸr diese Belehrung und bedauerte nur, da§ dem †bel nicht mehr abzuhelfen sei. Dieses ward von seiner Seite gleichfalls bedauert, wobei er mich freundlichst zu fernerem Studium der deutschen Geschichte und Verfassung ermahnte, und mir dazu seine Bibliothek anbot, von der ich auch in der Folge guten Gebrauch machte.

Das Lustigste jedoch, was mir in dieser Art begegnete, war der Besuch eines BuchhŠndlers, der, mit einer heiteren FreimŸtigkeit, sich ein Dutzend solcher StŸcke ausbat, und sie gut zu honorieren versprach. Da§ wir uns darŸber sehr lustig machten, lŠ§t sich denken, und doch hatte er im Grunde so unrecht nicht denn ich war schon im Stillen beschŠftigt, von diesem Wendepunkt der deutschen Geschichte mich vor- und rŸckwŠrts zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein lšblicher Vorsatz, der, wie so manche andere, durch die flŸchtig vorbeirauschende Zeit vereitelt worden.

Jenes Schauspiel jedoch beschŠftigte bisher den Verfasser nicht allein, sondern wŠhrend es ersonnen, geschrieben, umgeschrieben, gedruckt und verarbeitet wurde, bewegten sich


noch viele andere Bilder und VorschlŠge in seinem Geiste. Diejenigen, welche dramatisch zu behandeln waren, erhielten den Vorzug, am šftersten durchgedacht und der Vollendung angenŠhert zu werden; allein zu gleicher Zeit entwickelte sich ein †bergang zu einer andern Darstellungsart, welche nicht zu den dramatischen gerechnet zu werden pflegt und doch mit ihnen gro§e Verwandtschaft hat. Dieser †bergang geschah hauptsŠchlich durch eine Eigenheit des Verfassers, die sogar das SelbstgesprŠch zum ZwiegesprŠch umbildete.

Gewšhnt, am liebsten seine Zeit in Gesellschaft zuzubringen, verwandelte er auch das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende Weise. Er pflegte nŠmlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, nieder zu sitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich, oder gab durch die gewšhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eignes hat. Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen schien, weiter auszufŸhren oder, was derselbe mi§billigte, zu bedingen, nŠher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefŠllig auf. Das Wunderlichste war dabei, da§ er niemals Personen seiner nŠheren Bekanntschaft wŠhlte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten, und mit denen er nur in einem vorŸbergehenden VerhŠltnis gestanden; aber es waren meist Personen, die, mehr empfŠnglicher als ausgebender Natur, mit reinem Sinne einen ruhigen Anteil an Dingen zu nehmen bereit sind, die in ihrem Gesichtskreise liegen, ob er sich gleich manchmal zu diesen dialektischen †bungen widersprechende Geister herbeirief. Hiezu bequemten sich nun Personen beiderlei Geschlechts, jedes Alters und Standes, und erwiesen sich gefŠllig und anmutig, da man sich nur von GegenstŠnden unterhielt, die ihnen deutlich und lieb waren. Hšchst wunderbar wŸrde es jedoch manchen vorgekommen


sein, wenn sie hŠtten erfahren kšnnen, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen wurden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwerlich eingefunden hŠtten.

Wie nahe ein solches GesprŠch im Geiste mit dem Briefwechsel verwandt sei, ist klar genug, nur da§ man hier ein hergebrachtes Vertrauen erwidert sieht, und dort ein neues, immer wechselnder, unerwidertes sich selbst zu schaffen wei§. Als daher jener †berdru§ zu schildern war, mit welchem die Menschen, ohne durch Not gedrungen zu sein, das Leben empfinden, mu§te der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung in Briefen darzustellen: denn jeder Unmut ist eine Geburt, ein Zšgling der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenu§ anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das, was ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurŸckgewiesen. Mag er sich allenfalls darŸber Šu§ern, so wird es durch Briefe geschehn: denn einem schriftlichen Ergu§, er sei fršhlich oder verdrie§lich, setz sich doch niemand unmittelbar entgegen; eine mit GegengrŸnden verfa§te Antwort aber gibt dem Einsamen Gelegenheit, sich in seinen Grillen zu befestigen, einen Anla§, sich noch mehr zu verstocken. Jene in diesem Sinne geschriebenen Wertherischen Briefe haben nun wohl deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiedener Inhalt erst in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen worden, sie sodann aber, in der Komposition selbst, nur an einen Freund und Teilnehmer gerichtet erscheinen. Mehr Ÿber die Behandlung des so viel besprochenen Werkleins zu sagen, mšchte kaum tŠtlich sein; Ÿber den Inhalt jedoch lŠ§t sich noch einiges hinzufŸgen.

Jener Ekel vor dem Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen, jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen Ÿberlassen, und, bei einer so oft durchgearbeiteten Materie, nur den Hauptpunkt beachten, wo sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles


Behagen am Leben ist auf eine regelmŠ§ige Wiederkehr der Šu§eren Dinge gegrŸndet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der BlŸten und FrŸchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genie§en kšnnen und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir fŸr diese GenŸsse sind, desto glŸcklicher fŸhlen wir uns; wŠlzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne da§ wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfŠnglich: dann tritt das grš§te †bel, die schwerste Krankheit ein, man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last. Von einem EnglŠnder wird erzŠhlt, er habe sich aufgehangen, um nicht mehr tŠglich sich aus- und anzuziehn. Ich kannte einen wackeren GŠrtner, den Aufseher einer gro§en Parkanlage, der einmal mit Verdru§ ausrief: "Soll ich denn immer diese Regenwolken von Abend gegen Morgen ziehen sehn!" Man erzŠhlt von einem unserer trefflichsten MŠnner, er habe mit Verdru§ das FrŸhjahr wieder aufgrŸnen gesehn, und gewŸnscht, es mšchte zur Abwechselung einmal rot erscheinen. Dieses sind eigentlich die Symptome des LebensŸberdrusses, der nicht selten in den Selbstmord auslŠuft, und bei denkenden in sich gekehrten Menschen hŠufiger war, als man glauben kann.

Nichts aber veranla§t mehr diesen †berdru§, als die Wiederkehr der Liebe. Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der zweiten und durch die zweite geht schon der hšchste Sinn der Liebe verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt und trŠgt, ist zerstšrt, sie erscheint vergŠnglich wie alles Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine †bertriebenheit hervor, die nichts Gutes stiften kann.

Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern bald gewahr, da§ moralische Epochen ebensogut wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade


der Gro§en, die Gunst der Gewaltigen, die Fšrderung der TŠtigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wandelt auf und nieder, ohne da§ wir es festhalten kšnnen, so wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht blo§e Naturereignisse: Sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ihrer niemals sicher.

Was aber den fŸhlenden JŸngling am meisten Šngstigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spŠt lernen wir einsehen, da§ wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewu§tsein ausŸben, von unseren Fehlern aber unbewu§t Ÿberrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen bestŠndig Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmšglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch einzelne GegenstŠnde leicht zu paralysierende Einbildungskraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Streben, sich aus einer solchen Klemme zu befreien nicht unnatŸrlich finden.

Solche dŸstere Betrachtungen jedoch, welche denjenigen, der sich ihnen ŸberlŠ§t, ins Unendliche fŸhren, hŠtten sich in den GemŸtern deutscher JŸnglinge nicht so entschieden entwickeln kšnnen, hŠtte sie nicht eine Šu§ere Veranlassung zu diesem traurigen GeschŠft angeregt und gefšrdert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren gro§e ein ernster TrŸbsinn begleitet, welchen sie einem jeden mitteilt, der sich mit ihr beschŠftigt. Der geistreiche Brite sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die alle seine KrŠfte anregt; er wird frŸher oder spŠter gewahr, da§ er allen seinen Verstand zusammennehmen mu§, um sich mit ihr ab-


zufinden. Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und rauschendes Leben gefŸhrt, und sich frŸh berechtigt gefunden, die irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich in den WeltgeschŠften versucht, und im Parlament, bei Hofe, im Ministerium, auf Gesandtschaftsposten teils die ersten, teils untere Rollen gespielt, und sich bei inneren Unruhen, Staats- und RegierungsverŠnderungen mitwirkend erwiesen und, wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freunden und Gšnnern šfter traurige als erfreuliche Erfahrungen gemacht! Wie viele sind verbannt, vertrieben, im GefŠngnis gehalten, an ihren GŸtern beschŠdigt worden!

Aber auch nur Zuschauer von so gro§en Ereignissen zu sein, fordert den Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter fŸhren, als zur Betrachtung der VergŠnglichkeit und des Unwerts aller irdischen Dinge. Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie hšchst gemŠ§, und, weil sie sich aus einem hšheren Zustande herschrieb, imposant. Man findet in ihr durchaus einen gro§en, tŸchtigen, weltgeŸbten Verstand, ein tiefes, zartes GemŸt, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Eigenschaften, die man von geistreichen gebildeten Menschen rŸhmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poeten. Die wahre Poesie kŸndet sich dadurch an, da§ sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch Šu§eres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien wei§, die auf uns drŸcken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhŠngt, in hšhere Regionen, und lŠ§t die verwirrten IrrgŠnge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glŸckliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mŠ§igen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im Durchschnitt nur einen dŸstern †berdru§ des Lebens zeigen. Nicht


Youngs "Nachtgedanken" allein, wo dieses Thema vorzŸglich durchgefŸhrt ist, sondern auch die Ÿbrigen betrachtenden Gedichte schweifen, eh man sich's versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Verstande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lšsen nicht hinreicht, da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen kann, im Stiche lŠ§t. Ganze BŠnde kšnnte man zusammendrucken, welche als ein Kommentar zu jenem schrecklichen Texte gelten kšnnen:

            Then old Age and Experience, hand in hand,

            Lead him to death, and make him understand,

            After a search so painful and so long,

            That all his life he has been in the wrong.

Was ferner die englischen Dichter noch zu Menschenhassern vollendet und das unangenehme GefŸhl von Widerwillen gegen alles Ÿber ihre Schriften verbreitet, ist, da§ sie sŠmtlich, bei den vielfachen Spaltungen ihres Gemeinwesens, wo nicht ihr ganzes Leben, doch den besten Teil desselben einer oder der andern Partei widmen mŸssen. Da nun ein solcher Schriftsteller die Seinigen, denen er ergeben ist, die Sache, der er anhŠngt, nicht loben und herausstreichen darf, weil er sonst nur Neid und Widerwillen erregen wŸrde; so Ÿbt er sein Talent, indem er von den Gegnern so Ÿbel und schlecht als mšglich spricht, und die satirischen Waffen, so sehr er nur vermag, schŠrft, ja vergiftet. Geschieht dieses nun von beiden Teilen, so wird die dazwischen liegende Welt zerstšrt und rein aufgehoben, so da§ man in einem gro§en, verstŠndig tŠtigen Volksverein zum allergelindesten nichts als Torheit und Wahnsinn entdecken kann. Selbst ihre zŠrtlichen Gedichte beschŠftigen sich mit traurigen GegenstŠnden. Hier stirbt ein verlassenes MŠdchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber, oder wird, ehe er voreilig schwimmend seine Geliebte erreicht, von einem Haifische gefressen; und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten Melodien wieder anstimmt, so kann er versichert sein, eine Anzahl Freunde


der Melancholie um sich zu versammeln. Miltons "Allegro" mu§ erst in heftigen Versen den Unmut verscheuchen ehe er zu einer sehr mŠ§igen Lust gelangen kann, und selbst der heitere Goldsmith verliert sich in elegische Empfindungen, wenn uns sein "Deserted village" ein verlorenes Paradies, das sein "Traveller" auf der ganzen Erde wiedersucht, so lieblich als traurig darstellt.

Ich zweifle nicht, da§ man mir auch muntre Werke, heitere Gedichte werde vorzeigen und entgegensetzen kšnnen; allein die meisten und besten derselben gehšren gewi§ in die Šltere Epoche, und die neueren, die man dahin rechnen kšnnte, neigen sich gleichfalls gegen die Satire, sind bitter und besonders die Frauen verachtend.

Genug, jene oben im allgemeinen erwŠhnten ernsten und die menschliche Natur untergrabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der eine, nach seiner GemŸtsart, die leichtere elegische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Sonderbar genug bestŠrkte unser Vater und Lehrer Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten wei§, selbst diesen Unwillen. Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen GemŸter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wu§te ein jeder auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dŸrfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von DŠnemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen kšniglichen Vater zu rŠchen hatte.

Damit aber ja allem diesem TrŸbsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal abgehe, so hatte uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn auf grauer, unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und einen schwer bewšlkten Himmel Ÿber uns erblickten. Bei Mondenschein ward dann erst diese kaledonische Nacht zum Tage; untergegangene Helden, verblŸhte MŠdchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten.


In einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von au§en zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bŸrgerlichen Leben hinhalten zu mŸssen, befreundete man sich, in unmutigem †bermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu kšnnen, und half sich damit Ÿber die Unbilden und Langeweile der Tage notdŸrftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, da§ eben "Werther" deswegen die gro§e Wirkung tat, weil er Ÿberall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns šffentlich und fa§lich darstellte. Wie genau die EnglŠnder mit diesem Jammer bekannt waren, beweisen die wenigen bedeutenden, vor dem Erscheinen "Werthers" geschriebenen Zeilen:

To griefs congenial prone,

More wounds than nature gave he knew,

While misery's form his fancy drew

In dark ideal hues and horrors not its own.

Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darŸber schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden mu§. Montesquieu erteilt seinen Helden und gro§en MŠnnern das Recht, sich nach Befinden den Tod zu geben, indem er sagt, es mŸsse doch einem jeden freistehen, den fŸnften Akt seiner Tragšdie da zu schlie§en, wo es ihm beliebe. Hier aber ist von solchen Personen nicht die Rede, die ein bedeutendes Leben tŠtig gefŸhrt, fŸr irgend ein gro§es Reich oder fŸr die Sache der Freiheit ihre Tage verwendet, und denen man wohl nicht verargen wird, wenn sie die Idee, die sie beseelt, sobald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch jenseits zu verfolgen denken. Wir haben es hier mit solchen zu tun, denen eigentlich aus Mangel von Taten,


in dem friedlichsten Zustande von der Welt, durch Ÿbertriebene Forderungen an sich selbst das Leben verleidet. Da ich selbst in dem Fall war, und am besten wei§, was fŸr Pein ich darin erlitten, was fŸr Anstrengung es mir gekostet, ihr zu entgehn; so will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich Ÿber die verschiedenen Todesarten, die man wŠhlen kšnnte, wohlbedŠchtig angestellt.

Es ist etwas so UnnatŸrliches, da§ der Mensch sich von sich selbst losrei§e, sich nicht allein beschŠdige, sondern vernichte, da§ er meistenteils zu mechanischen Mitteln greift, um seinen Vorsatz ins Werk zu richten. Wenn Ajax in sein Schwert fŠllt, so ist es die Last seines Kšrpers, die ihm den letzten Dienst erweiset. Wenn der Krieger seinen SchildtrŠger verpflichtet, ihn nicht in die HŠnde der Feinde geraten zu lassen, so ist es auch eine Šu§ere Kraft, deren er sich versichert, nur eine moralische statt einer physischen. Frauen suchen im Wasser die KŸhlung ihres Verzweifelns und das hšchst mechanische Mittel des Schie§gewehrs sichert eine schnelle Tat mit der geringsten Anstrengung. Des ErhŠngens erwŠhnt man nicht gern, weil es ein unedler Tod ist. In England kann es am ersten begegnen, weil man dort von Jugend auf so manchen hŠngen sieht, ohne da§ die Strafe gerade entehrend ist. Durch Gift, durch …ffnung der Adern gedenkt man nur langsam vom Leben zu scheiden, und der raffinierteste, schnellste, schmerzenloseste Tod durch eine Natter war einer Kšnigin wŸrdig, die ihr Leben in Glanz und Lust zugebracht hatte. Alles dieses aber sind Šu§ere Behelfe, sind Feinde, mit denen der Mensch gegen sich selbst einen Bund schlie§t.

Wenn ich nun alle diese Mittel Ÿberlegte, und mich sonst in der Geschichte weiter umsah, so fand ich unter allen denen, die sich selbst entleibt, keinen, der diese Tat mit solcher Gro§heit und Freiheit des Geistes verrichtet, als Kaiser Otho. Dieser, zwar als Feldherr im Nachteil, aber doch keineswegs aufs €u§erste gebracht, entschlie§t sich, zum Besten des Reichs, das ihm gewisserma§en schon angehšrte, und zur


Schonung so vieler Tausende, die Welt zu verlassen. Er begeht mit seinen Freunden ein heiteres Nachtmahl, und man findet am anderen Morgen, da§ er sich einen scharfen Dolch mit eigner Hand in das Herz gesto§en. Diese einzige Tat schien mir nachahmungswŸrdig, und ich Ÿberzeugte mich, da§, wer nicht hierin handeln kšnne wie Otho, sich nicht erlauben dŸrfe, freiwillig aus der Welt zu gehn. Durch diese †berzeugung rettete ich mich nicht sowohl von dem Vorsatz als von der Grille des Selbstmords, welche sich in jenen herrlichen Friedenszeiten bei einer mŸ§igen Jugend eingeschlichen hatte. Unter einer ansehnlichen Waffensammlung besa§ ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslšschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen mšchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrische Fratzen hinweg, und beschlo§ zu leben. Um dies aber mit Heiterkeit tun zu kšnnen, mu§te ich eine dichterische Aufgabe zur AusfŸhrung bringen, wo alles, was ich Ÿber diesen wichtigen Punkt empfunden, gedacht und gewŠhnt, zur Sprache kommen sollte. Ich versammelte hierzu die Elemente, die sich schon ein paar Jahre in mir herumtrieben, ich vergegenwŠrtigte mir die FŠlle, die mich am meisten gedrŠngt und geŠngstigt; aber es wollte sich nichts gestalten: es fehlte mir eine Begebenheit, eine Fabel, in welcher sie sich verkšrpern kšnnten.

Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode, und, unmittelbar nach dem allgemeinen GerŸchte, sogleich die genauste und umstŠndlichste Beschreibung des Vorgangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu "Werthern " gefunden, das Ganze scho§ von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im GefŠ§, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste ErschŸtterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird. Diesen seltsamen Gewinn festzuhalten, ein Werk von so


bedeutendem und mannigfaltigem Inhalt mir zu vergegenwŠrtigen, und in allen seinen Teilen auszufŸhren, war mir um so angelegener, als ich schon wieder in eine peinliche Lage geraten war, die noch weniger Hoffnung lie§ als die vorigen, und nichts als Unmut, wo nicht Verdru§, weissagte.

Es ist immer ein UnglŸck, in neue VerhŠltnisse zu treten, in denen man nicht hergekommen ist; wir werden oft wider unsern Willen zu einer falschen Teilnahme gelockt, uns peinigt die Halbheit solcher ZustŠnde, und doch sehen wir weder ein Mittel, sie zu ergŠnzen noch ihnen zu entsagen.

Frau von La Roche hatte ihre Šlteste Tochter nach Frankfurt verheiratet, kam oft sie zu besuchen, und konnte sich nicht recht in den Zustand finden, den sie doch selbst ausgewŠhlt hatte. Anstatt sich darin behaglich zu fŸhlen, oder zu irgend einer VerŠnderung Anla§ zu geben, erging sie sich in Klagen, so da§ man wirklich denken mu§te, ihre Tochter sei unglŸcklich, ob man gleich, da ihr nichts abging und ihr Gemahl ihr nichts verwehrte, nicht wohl einsah, worin das UnglŸck eigentlich bestŸnde. Ich war indessen in dem Hause gut aufgenommen und kam mit dem ganzen Zirkel in BerŸhrung, der aus Personen bestand, die teils zur Heirat beigetragen hatten, teils derselben einen glŸcklichen Erfolg wŸnschten. Der Dechant von St. Leonhard, Dumeiz, fa§te Vertrauen ja Freundschaft zu mir. Er war der erste katholische Geistliche, mit dem ich in nŠhere BerŸhrung trat, und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir Ÿber den Glauben, die GebrŠuche, die Šu§ern und innern VerhŠltnisse der Šltesten Kirche schšne und hinreichende AufschlŸsse gab. Der Gestalt einer wohlgebildeten, obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Servire, erinnere ich mich noch genau. Ich kam mit der Allesina-Schweitzerischen und andern Familien gleichfalls in BerŸhrung, und mit den Sšhnen in VerhŠltnisse, die sich lange freundschaftlich fortsetzten, und sah mich auf einmal in einem fremden Zirkel einheimisch, an dessen BeschŠftigungen, VergnŸgungen, selbst ReligionsŸbungen ich Anteil zu nehmen veranla§t, ja genštigt wurde.


Mein frŸheres VerhŠltnis zur jungen Frau, eigentlich ein geschwisterliches, ward nach der Heirat fortgesetzt; meine Jahre sagten den ihrigen zu, ich war der einzige in dem ganzen Kreise, an dem sie noch einen Widerklang jener geistigen Tšne vernahm, an die sie von Jugend auf gewšhnt war. Wir lebten in einem kindlichen Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wu§te und, obwohl mit GlŸcksgŸtern gesegnet, aus dem heiteren Thal-Ehrenbreitstein und einer fršhlichen Jugend in ein dŸster gelegenes Handelshaus versetzt, sich schon als Mutter von einigen Stiefkindern benehmen sollte. In so viel neue FamilienverhŠltnisse war ich ohne wirklichen Anteil, ohne Mitwirkung eingeklemmt. War man mit einander zufrieden, so schien sich das von selbst zu verstehn; aber die meisten Teilnehmer wendeten sich in verdrie§lichen FŠllen an mich, die ich durch eine lebhafte Teilnahme mehr zu verschlimmern als zu verbessern pflegte. Es dauerte nicht lange, so wurde mir dieser Zustand ganz unertrŠglich, aller Lebensverdru§, der aus solchen HalbverhŠltnissen hervorzugehn pflegt, schien doppelt und dreifach auf mir zu lasten, und es bedurfte eines neuen gewaltsamen Entschlusses, mich auch hiervon zu befreien.

Jerusalems Tod, der durch die unglŸckliche Neigung zu der Gattin eines Freundes verursacht ward, schŸttelte mich aus dem Traum, und weil ich nicht blo§ mit Beschaulichkeit das, was ihm und mir begegnet, betrachtete, sondern das €hnliche, was mir im Augenblicke selbst widerfuhr, mich in leidenschaftliche Bewegung setzte; so konnte es nicht fehlen, da§ ich jener Produktion, die ich eben unternahm, alle die Glut einhauchte, welche keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zulŠ§t. Ich hatte mich Šu§erlich všllig isoliert, ja die Besuche meiner Freunde verbeten, und so legte ich auch innerlich alles beiseite, was nicht unmittelbar hierher gehšrte. Dagegen fa§te ich alles


zusammen, was einigen Bezug auf meinen Vorsatz hatte, und wiederholte mir mein nŠchstes Leben, von dessen Inhalt ich noch keinen dichterischen Gebrauch gemacht hatte. Unter solchen UmstŠnden, nach so langen und vielen geheimen Vorbereitungen, schrieb ich den "Werther " in vier Wochen, ohne da§ ein Schema des Ganzen, oder die Behandlung eines Teils irgend vorher wŠre zu Papier gebracht gewesen.

Das nunmehr fertige Manuskript lag im Konzept, mit wenigen Korrekturen und AbŠnderungen, vor mir. Es ward sogleich geheftet: denn der Band dient der Schrift ungefŠhr wie der Rahmen einem Bilde: man sieht viel eher, ob sie denn auch in sich wirklich bestehe. Da ich dieses Werklein ziemlich unbewu§t, einem Nachtwandler Šhnlich, geschrieben hatte, so verwunderte ich mich selbst darŸber, als ich es nun durchging, um daran etwas zu Šndern und zu bessern. Doch in Erwartung, da§ nach einiger Zeit, wenn ich es in gewisser Entfernung besŠhe, mir manches beigehen wŸrde, das noch zu seinem Vorteil gereichen kšnnte, gab ich es meinen jŸngeren Freunden zu lesen, auf die es eine desto grš§ere Wirkung tat, als ich, gegen meine Gewohnheit, vorher niemanden davon erzŠhlt, noch meine Absicht entdeckt hatte. Freilich war es hier abermals der Stoff, der eigentlich die Wirkung hervorbrachte, und so waren sie gerade in einer der meinigen entgegengesetzten Stimmung: denn ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stŸrmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigne und fremde Schuld, durch zufŠllige und gewŠhlte Lebensweise, durch Vorsatz und †bereilung, durch HartnŠckigkeit und Nachgeben auf die gewaltsamste Art hin und wider getrieben worden. Ich fŸhlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zustatten gekommen. Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklŠrt fŸhlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man mŸsse die Poesie


in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschie§en; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im gro§en Publikum und dieses BŸchlein, was mir so viel genŸtzt hatte, ward als hšchst schŠdlich verrufen.

Allen den †beln jedoch und dem UnglŸck, das es hervorgebracht haben soll, wŠre zufŠlligerweise beinahe vorgebeugt worden, als es, bald nach seiner Entstehung, Gefahr lief vernichtet zu werden; und damit verhielt sich's also: Merck war seit kurzem von Petersburg zurŸckgekommen. Ich hatte ihn, weil er immer beschŠftigt war, nur wenig gesprochen, und ihm von diesem "Werther," der mir am Herzen lag, nur das Allgemeinste eršffnen kšnnen. Einst besuchte er mich, und als er nicht sehr gesprŠchig schien, bat ich ihn, mir zuzuhšren. Er setzte sich aufs Kanapee, und ich begann, Brief vor Brief, das Abenteuer vorzutragen. Nachdem ich eine Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beifallszeichen abzulocken, griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Mute, als er mich, da ich eine Pause machte, mit einem "Nun ja! es ist ganz hŸbsch " auf das schrecklichste niederschlug, und sich, ohne etwas weiter hinzuzufŸgen, entfernte. Ich war ganz au§er mir: denn wie ich wohl Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urteil Ÿber sie hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im Stil, die denn freilich alle bedenklich waren, vergriffen, und etwas ganz UnzulŠssiges verfertigt. WŠre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen, ich hŠtte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich ermannte mich wieder und verbrachte schmerzliche Tage, bis er mir endlich vertraute, da§ er in jenem Moment sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch geraten kann. Er habe deswegen nichts gesehn noch gehšrt, und wisse gar nicht, wovon in meinem Manuskripte die Rede sei. Die Sache hatte sich indessen, insofern sie sich herstellen lie§, wieder hergestellt, und Merck war in den Zeiten seiner Energie der Mann, sich ins Ungeheure zu schicken; sein Humor fand


sich wieder ein, nur war er noch bitterer geworden als vorher. Er schalt meinen Vorsatz, den "Werther" umzuarbeiten, mit derben AusdrŸcken, und verlangte ihn gedruckt zu sehn, wie er lag. Es ward ein sauberes Manuskript davon besorgt, das nicht lange in meinen HŠnden blieb: denn zufŠlligerweise an demselben Tage, an dem meine Schwester sich mit Georg Schlosser verheiratete, und das Haus, von einer freudigen Festlichkeit bewegt, glŠnzte, traf ein Brief von Weygand aus Leipzig ein, mich um ein Manuskript zu ersuchen. Ein solches Zusammentreffen hielt ich fŸr ein gŸnstiges Omen, ich sendete den "Werther" ab, und war sehr zufrieden, als das Honorar, das ich dafŸr erhielt, nicht ganz durch die Schulden verschlungen wurde, die ich um des "Gštz von Berlichingen" willen zu machen genštigt gewesen.

Die Wirkung dieses BŸchleins war gro§, ja ungeheuer, und vorzŸglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen ZŸndkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mŠchtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die ErschŸtterung deswegen so gro§, weil ein jeder mit seinen Ÿbertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publikum nicht verlangen, da§ es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, wie ich schon an meinen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorurteil wieder ein, entspringend aus der WŸrde eines gedruckten Buchs, da§ es nŠmlich einen didaktischen Zweck haben mŸsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie.

Von Rezensionen nahm ich wenig Notiz. Die Sache war fŸr mich všllig abgetan, jene guten Leute mochten nun auch sehn, wie sie damit fertig wurden. Doch verfehlten


meine Freunde nicht, diese Dinge zu sammeln, und, weil sie in meine Ansichten schon mehr eingeweiht waren, sich darŸber lustig zu machen. Die "Freuden des jungen Werther" mit welchen Nicolai sich hervortat, gaben uns zu mancherlei Scherzen Gelegenheit. Dieser Ÿbrigens brave, verdienst- und kenntnisreiche Mann hatte schon angefangen, alles niederzuhalten und zu beseitigen, was nicht zu seiner Sinnesart pa§te, die er, geistig sehr beschrŠnkt, fŸr die echte und einzige hielt. Auch gegen mich mu§te er sich sogleich versuchen, und jene BroschŸre kam uns bald in die HŠnde. Die hšchst zarte Vignette von Chodowiecki machte mir viel VergnŸgen; wie ich denn diesen KŸnstler Ÿber die Ma§en verehrte. Das Machwerk selbst war aus der rohen Hausleinwand zugeschnitten, welche recht derb zu bereiten der Menschenverstand in seinem Familienkreise sich viel zu schaffen macht. Ohne GefŸhl, da§ hier nichts zu vermitteln sei, da§ Werthers JugendblŸte schon von vornherein als vom tšdlichen Wurm gestochen erscheine, lŠ§t der Verfasser meine Behandlung bis Seite 214 gelten, und als der wŸste Mensch sich zum tšdlichen Schritte vorbereitet, wei§ der einsichtige psychische Arzt seinem Patienten eine mit HŸhnerblut geladene Pistole unterzuschieben, woraus denn ein schmutziger Spektakel, aber glŸcklicherweise kein Unheil hervorgeht. Lotte wird Werthers Gattin, und die ganze Sache endigt sich zu jedermanns Zufriedenheit.

Soviel wŸ§te ich mich davon zu erinnern: denn es ist mir nie wieder unter die Augen gekommen. Die Vignette hatte ich ausgeschnitten und unter meine liebsten Kupfer gelegt. Dann verfa§te ich, zur stillen und unverfŠnglichen Rache, ein kleines Spottgedicht, "Nicolai auf Werthers Grube", welches sich jedoch nicht mitteilen lŠ§t. Auch die Lust, alles zu dramatisieren, ward bei dieser Gelegenheit abermals rege. Ich schrieb einen prosaischen Dialog zwischen Lotte und Werther, der ziemlich neckisch ausfiel. Werther beschwert sich bitterlich, da§ die Erlšsung durch HŸhnerblut so schlecht abgelaufen. Er ist zwar am Leben geblieben, hat


sich aber die Augen ausgeschossen. Nun ist er in Verzweiflung, ihr Gatte zu sein und sie nicht sehen zu kšnnen, da ihm der Anblick ihres Gesamtwesens fast lieber wŠre, als die sŸ§en Einzelnheiten, deren er sich durchs GefŸhl versichern darf. Lotten, wie man sie kennt, ist mit einem blinden Manne auch nicht sonderlich geholfen, und so findet sich Gelegenheit, Nicolais Beginnen hšchlich zu schelten, da§ er sich ganz unberufen in fremde Angelegenheiten mische. Das Ganze war mit gutem Humor geschrieben, und schilderte mit freier Vorahndung jenes unglŸckliche dŸnkelhafte Bestreben Nicolais, sich mit Dingen zu befassen, denen er nicht gewachsen war, wodurch er sich und andern in der Folge viel Verdru§ machte, und darŸber zuletzt, bei so entschiedenen Verdiensten, seine literarische Achtung všllig verlor. Das Originalblatt dieses Scherzes ist niemals abgeschrieben worden und seit vielen Jahren verstoben. Ich hatte fŸr die kleine Produktion eine besondere Vorliebe. Die reine hei§e Neigung der beiden jungen Personen war durch die komisch-tragische Lage, in die sie sich versetzt fanden, mehr erhšht als geschwŠcht. Die grš§te ZŠrtlichkeit waltete durchaus, und auch der Gegner war nicht bitter, nur humoristisch behandelt. Nicht ganz so hšflich lie§ ich das BŸchlein selber sprechen, welches, einen alten Reim nachahmend sich also ausdrŸckte:

            Mag jener dŸnkelhafte Mann

            Mich als gefŠhrlich preisen;

            Der Plumpe, der nicht schwimmen kann,

            Er will's dem Wasser verweisen!

            Was schiert mich der Berliner Bann,

            GeschmŠcklerpfaffenwesen!

            Und wer mich nicht verstehen kann,

            Der lerne besser lesen.

Vorbereitet auf alles, was man gegen den "Werther" vorbringen wŸrde, fand ich so viele Widerreden keineswegs verdrie§lich; aber daran hatte ich nicht gedacht, da§ mir


durch teilnehmende, wohlwollende Seelen eine unleidliche Qual bereitet sei: denn anstatt da§ mir jemand Ÿber mein BŸchlein, wie es lag, etwas Verbindliches gesagt hŠtte, so wollten sie sŠmtlich ein fŸr allemal wissen, was denn eigentlich an der Sache wahr sei? worŸber ich denn sehr Šrgerlich wurde, und mich meistens hšchst unartig dagegen Šu§erte. Denn diese Frage zu beantworten, hŠtte ich mein Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um so manchen Elementen eine poetische Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zerstšren mŸssen, wodurch ja die wahrhaften Bestandteile selbst nicht vernichtet, wenigstens zerstreut und verzettelt worden wŠren. NŠher betrachtet, konnte ich jedoch dem Publikum die Forderung nicht verŸbeln. Jerusalems Schicksal hatte gro§es Aufsehen gemacht. Ein gebildeter, liebenswerter, unbescholtener junger Mann, der Sohn eines der ersten Gottesgelehrten und Schriftstellers, gesund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne bekannte Veranlassung, aus der Welt. Jedermann fragte nun, wie das mšglich gewesen, und als man von einer unglŸcklichen Liebe vernahm, war die ganze Jugend, als man von kleinen Verdrie§lichkeiten, die ihm in vornehmerer Gesellschaft begegnet, sprach, der ganze Mittelstand aufgeregt, und jedermann wŸnschte das Genauere zu erfahren. Nun erschien im "Werther" eine ausfŸhrliche Schilderung, in der man das Leben und die Sinnesart des genannten JŸnglings wieder zu finden meinte. LokalitŠt und Persšnlichkeit trafen zu, und bei der gro§en NatŸrlichkeit der Darstellung glaubte man sich nun vollkommen unterrichtet und befriedigt. Dagegen aber, bei nŠherer Betrachtung, pa§te wieder so vieles nicht, und es entstand fŸr die, welche das Wahre suchten, ein unertrŠgliches GeschŠft, indem eine sondernde Kritik hundert Zweifel erregen mu§. Auf den Grund der Sache war aber gar nicht zu kommen: denn was ich von meinem Leben und Leiden der Komposition zugewendet hatte, lie§ sich nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerkter junger Mensch, mein Wesen zwar nicht heimlich, aber doch im stillen getrieben hatte.


Bei meiner Arbeit war mir nicht unbekannt, wie sehr begŸnstigt jener KŸnstler gewesen, dem man Gelegenheit gab, eine Venus aus mehreren Schšnheiten herauszustudieren, und so nahm ich mir auch die Erlaubnis, an der Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hŸbschen Kinder meine Lotte zu bilden, obgleich die HauptzŸge von der geliebtesten genommen waren. Das forschende Publikum konnte daher €hnlichkeiten von verschiedenen Frauenzimmern entdecken, und den Damen war es auch nicht ganz gleichgŸltig, fŸr die rechte zu gelten. Diese mehreren Lotten aber brachten mir unendliche Qual, weil jedermann, der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei? Ich suchte mir wie Nathan mit den drei Ringen durchzuhelfen, auf einem Auswege, der freilich hšheren Wesen zukommen mag, wodurch sich aber weder das glŠubige, noch das lesende Publikum will befriedigen lassen. Dergleichen peinliche Forschungen hoffte ich in einiger Zeit loszuwerden; allein sie begleiteten mich durchs ganze Leben. Ich suchte mich davor auf Reisen durchs Inkognito zu retten, aber auch dieses HŸlfsmittel wurde mir unversehens vereitelt, und so war der Verfasser jenes Werkleins, wenn er je etwas Unrechtes und SchŠdliches getan, dafŸr genugsam, ja ŸbermŠ§ig durch solche unausweichliche Zudringlichkeiten bestraft.

Auf diese Weise bedrŠngt, ward er nur allzu sehr gewahr, da§ Autoren und Publikum durch eine ungeheuere Kluft getrennt sind, wovon sie, zu ihrem GlŸck, beiderseits keinen Begriff haben. Wie vergeblich daher alle Vorreden seien, hatte er schon lŠngst eingesehen: denn je mehr man seine Absicht klar zu machen gedenkt, zu desto mehr Verwirrung gibt man Anla§. Ferner mag ein Autor bevorworten so viel er will, das Publikum wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon abzulehnen suchte. Mit einer verwandten Eigenheit der Leser, die uns besonders bei denen, welche ihr Urteil drucken lassen, ganz komisch auffŠllt, ward ich gleichfalls frŸh bekannt. Sie leben nŠmlich in


dem Wahn, man werde, indem man etwas leistet, ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit zurŸck hinter dem, was sie eigentlich wollten und wŸnschten, ob sie gleich kurz vorher, ehe sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen Begriff hatten, da§ so etwas vorhanden oder nur mšglich sein kšnnte. Alles dieses beiseitegesetzt, so war nun das grš§te GlŸck oder UnglŸck, da§ jedermann von diesem seltsamen jungen Autor, der so unvermutet und so kŸhn hervorgetreten, Kenntnis gewinnen wollte. Man verlangte ihn zu sehen, zu sprechen, auch in der Ferne etwas von ihm zu vernehmen, und so hatte er einen hšchst bedeutenden, bald erfreulichen bald unerquicklichen, immer aber zerstreuenden Zudrang zu erfahren. Denn es lagen angefangene Arbeiten genug vor ihm, ja es wŠre fŸr einige Jahre hinreichend zu tun gewesen, wenn er mit hergebrachter Liebe sich daran hŠtte halten kšnnen; aber er war aus der Stille, der DŠmmerung, der Dunkelheit, welche ganz allein die reinen Produktionen begŸnstigen kann, in den LŠrmen des Tageslichts hervorgezogen, wo man sich in anderen verliert, wo man irre gemacht wird durch Teilnahme wie durch KŠlte, durch Lob und durch Tadel, weil diese Šu§ern BerŸhrungen niemals mit der Epoche unserer innern Kultur zusammentreffen, und uns daher, da sie nicht fšrdern kšnnen, notwendig schaden mŸssen.

Doch mehr als alle Zerstreuungen des Tags hielt den Verfasser von Bearbeitung und Vollendung grš§erer Werke die Lust ab, die Ÿber jene Gesellschaft gekommen war, alles, was im Leben einigerma§en Bedeutendes vorging, zu dramatisieren. Was dieses Kunstwort (denn ein solches war es, in jener produktiven Gesellschaft) eigentlich bedeutete, ist hier auseinander zu setzen. Durch ein geistreiches Zusammensein an den heitersten Tagen aufgeregt, gewšhnte man sich, in augenblicklichen kurzen Darstellungen alles dasjenige zu zersplittern, was man sonst zusammengehalten hatte, um grš§ere Kompositionen daraus zu erbauen. Ein einzelner einfacher Vorfall, ein glŸckliches naives, ja ein albernes Wort, ein Mi§verstand, eine Paradoxie, eine geistreiche Bemerkung,


persšnliche Eigenheiten oder Angewohnheiten, ja eine bedeutende Miene, und was nur immer in einem bunten rauschenden Leben vorkommen mag, alles ward in Form des Dialogs, der Katechisation, einer bewegten Handlung, eines Schauspiels dargestellt, manchmal in Prosa, šfters in Versen.

An dieser genialisch-leidenschaftlich durchgesetzten †bung bestŠtigte sich jene eigentlich poetische Denkweise. Man lie§ nŠmlich GegenstŠnde, Begebenheiten, Personen an und fŸr sich, sowie in allen VerhŠltnissen bestehen, man suchte sie nur deutlich zu fassen und lebhaft abzubilden. Alles Urteil, billigend oder mi§billigend, sollte sich vor den Augen des Beschauers in lebendigen Formen bewegen. Man kšnnte diese Produktionen belebte Sinngedichte nennen, die, ohne SchŠrfe und Spitzen, mit treffenden und entscheidenden ZŸgen reichlich ausgestattet waren. Das "Jahrmarktsfest" ist ein solches, oder vielmehr eine Sammlung solcher Epigramme. Unter allen dort auftretenden Masken sind wirkliche, in jener SozietŠt lebende Glieder, oder ihr wenigstens verbundene und einigerma§en bekannte Personen gemeint; aber der Sinn des RŠtsels blieb den meisten verborgen, alle lachten, und wenige wu§ten, da§ ihnen ihre eigensten Eigenheiten zum Scherze dienten. Der "Prolog zu Bahrdts neuesten Offenbarungen" gilt fŸr einen Beleg anderer Art; die kleinsten finden sich unter den gemischten Gedichten, sehr viele sind zerstoben und verloren gegangen, manche noch Ÿbrige lassen sich nicht wohl mitteilen. Was hiervon im Druck erschienen, vermehrte nur die Bewegung im Publikum, und die Neugierde auf den Verfasser; was handschriftlich mitgeteilt wurde, belebte den nŠchsten Kreis, der sich immer erweiterte. Doktor Bahrdt, damals in Gie§en, besuchte mich, scheinbar hšflich und zutraulich; er scherzte Ÿber den "Prolog", und wŸnschte ein freundliches VerhŠltnis. Wir jungen Leute aber fuhren fort, kein geselliges Fest zu begehen, ohne mit stiller Schadenfreude uns der Eigenheiten zu erfreuen, die wir an andern bemerkt und glŸcklich dargestellt hatten.


Mi§fiel es nun dem jungen Autor keineswegs, als ein literarisches Meteor angestaunt zu werden; so suchte er mit freudiger Bescheidenheit den bewŠhrtesten MŠnnern des Vaterlands seine Achtung zu bezeigen, unter denen vor allen andern der herrliche Justus Mšser zu nennen ist. Dieses unvergleichlichen Mannes kleine AufsŠtze, staatsbŸrgerlichen Inhalts, waren schon seit einigen Jahren in den "OsnabrŸcker IntelligenzblŠttern" abgedruckt, und mir durch Herder bekannt geworden, der nichts ablehnte, was irgend wŸrdig, zu seiner Zeit, besonders aber im Druck sich hervortat. Mšsers Tochter, Frau von Voigts, war beschŠftigt, diese zerstreuten BlŠtter zu sammeln. Wir konnten die Herausgabe kaum erwarten, und ich setzte mich mit ihr in Verbindung, um mit aufrichtiger Teilnahme zu versichern, da§ die fŸr einen bestimmten Kreis berechneten wirksamen AufsŠtze, sowohl der Materie als der Form nach, Ÿberall zum Nutzen und Frommen dienen wŸrden. Sie und ihr Vater nahmen diese €u§erung eines nicht ganz unbekannten Fremdlings gar wohl auf, indem eine Besorgnis, die sie gehegt, durch diese ErklŠrung vorlŠufig gehoben worden.

An diesen kleinen AufsŠtzen, welche, sŠmtlich in einem Sinne verfa§t, ein wahrhaft Ganzes ausmachen, ist die innigste Kenntnis des bŸrgerlichen Wesens im hšchsten Grade merkwŸrdig und rŸhmenswert. Wir sehen eine Verfassung auf der Vergangenheit ruhn, und noch als lebendig bestehn. Von der einen Seite hŠlt man am Herkommen fest, von der andern kann man die Bewegung und VerŠnderung der Dinge nicht hindern. Hier fŸrchtet man sich vor einer nŸtzlichen Neuerung, dort hat man Lust und Freude am Neuen, auch wenn es unnŸtz, ja schŠdlich wŠre. Wie vorurteilsfrei setzt der Verfasser die VerhŠltnisse der StŠnde aus einander, sowie den Bezug, in welchem die StŠdte, Flecken und Dšrfer wechselseitig stehn. Man erfŠhrt ihre Gerechtsame zugleich mit den rechtlichen GrŸnden, es wird uns bekannt, wo das Grundkapital des Staats liegt und was es fŸr Interessen bringt. Wir sehen den Besitz und seine Vorteile, dagegen


aber auch die Abgaben und Nachteile verschiedener Art, sodann den mannigfaltigen Erwerb; hier wird gleichfalls die Šltere und neuere Zeit einander entgegengesetzt.

OsnabrŸck, als Glied der Hanse, finden wir in der Šltern Epoche in gro§er HandelstŠtigkeit. Nach jenen ZeitverhŠltnissen hat es eine merkwŸrdige und schšne Lage; es kann sich die Produkte des Landes zueignen, und ist nicht allzu weit von der See entfernt, um auch dort selbst mitzuwirken. Nun aber, in der spŠteren Zeit, liegt es schon tief in der Mitte des Landes, es wird nach und nach vom Seehandel entfernt und ausgeschlossen. Wie dies zugegangen, wird von vielen Seiten dargestellt. Zur Sprache kommt der Konflikt Englands und der KŸsten, der HŠfen und des Mittellandes; hier werden die gro§en Vorteile derer, welche der See anwohnen, herausgesetzt, und ernstliche VorschlŠge getan, wie die Bewohner des Mittellandes sich dieselben gleichfalls zueignen kšnnten. Sodann erfahren wir gar manches von Gewerben und Handwerken, und wie solche durch Fabriken ŸberflŸgelt, durch KrŠmerei untergraben werden; wir sehen den Verfall, als den Erfolg von mancherlei Ursachen, und diesen Erfolg wieder als die Ursache neuen Verfalls, in einem ewigen schwer zu lšsenden Zirkel; doch zeichnet ihn der wackere StaatsbŸrger auf eine so deutliche Weise hin, da§ man noch glaubt, sich daraus retten zu kšnnen. Durchaus lŠ§t der Verfasser die grŸndlichste Einsicht in die besondersten UmstŠnde sehen. Seine VorschlŠge, sein Rat, nichts ist aus der Luft gegriffen, und doch so oft nicht ausfŸhrbar, deswegen er auch die Sammlung "Patriotische Phantasien" genannt, obgleich alles sich darin an das Wirkliche und Mšgliche hŠlt.

Da nun aber alles …ffentliche auf dem Familienwesen ruht, so wendet er auch dahin vorzŸglich seinen Blick. Als GegenstŠnde seiner ernsten und scherzhaften Betrachtungen finden wir die VerŠnderung der Sitten und Gewohnheiten, der Kleidungen, der DiŠt, des hŠuslichen Lebens, der Erziehung. Man mŸ§te eben alles, was in der bŸrgerlichen und


sittlichen Welt vorgeht, rubrizieren, wenn man die GegenstŠnde erschšpfen wollte, die er behandelt. Und diese Behandlung ist bewundernswŸrdig. Ein vollkommener GeschŠftsmann spricht zum Volke in WochenblŠttern, um dasjenige, was eine einsichtige wohlwollende Regierung sich vornimmt oder ausfŸhrt, einem jeden von der rechten Seite fa§lich zu machen; keineswegs aber lehrhaft, sondern in den mannigfaltigsten Formen, die man poetisch nennen kšnnte, und die gewi§ in dem besten Sinn fŸr rhetorisch gelten mŸssen. Immer ist er Ÿber seinen Gegenstand erhaben, und wei§ uns eine heitere Ansicht des Ernstesten zu geben, bald hinter dieser bald hinter jener Maske halb versteckt, bald in eigner Person sprechend, immer vollstŠndig und erschšpfend, dabei immer froh, mehr oder weniger ironisch, durchaus tŸchtig, rechtschaffen, wohlmeinend, ja manchmal derb und heftig, und dieses alles so abgemessen, da§ man zugleich den Geist, den Verstand, die Leichtigkeit, Gewandtheit, den Geschmack und Charakter des Schriftstellers bewundern mu§. In Absicht auf Wahl gemeinnŸtziger GegenstŠnde, auf tiefe Einsicht, freie †bersicht, glŸckliche Behandlung, so grŸndlichen als frohen Humor wŸ§te ich ihm niemand als Franklin zu vergleichen.

Ein solcher Mann imponierte uns unendlich und hatte den grš§ten Einflu§ auf eine Jugend, die auch etwas TŸchtiges wollte, und im Begriff stand, es zu erfassen. In die Formen seines Vortrags glaubten wir uns wohl auch finden zu kšnnen; aber wer durfte hoffen, sich eines so reichen Gehalts zu bemŠchtigen, und die widerspenstigsten GegenstŠnde mit so viel Freiheit zu handhaben.

Doch das ist unser schšnster und sŸ§ester Wahn, den wir nicht aufgeben dŸrfen, ob er uns gleich viel Pein im Leben verursacht, da§ wir das, was wir schŠtzen und verehren, uns auch wo mšglich zueignen, ja aus uns selbst hervorbringen und darstellen mšchten.


 

Vierzehntes Buch

 

Mit jener Bewegung nun, welche sich im Publikum verbreitete, ergab sich eine andere, fŸr den Verfasser vielleicht von grš§erer Bedeutung, indem sie sich in seiner nŠchsten Umgebung ereignete. €ltere Freunde, welche jene Dichtungen, die nun so gro§es Aufsehen machten, schon im Manuskript gekannt hatten, und sie deshalb zum Teil als die ihrigen ansahen, triumphierten Ÿber den guten Erfolg, den sie, kŸhn genug, zum voraus geweissagt. Zu ihnen fanden sich neue Teilnehmer, besonders solche, welche selbst eine produktive Kraft in sich spŸrten, oder zu erregen und zu hegen wŸnschten.

Unter den erstern tat sich Lenz am lebhaftesten und gar sonderbar hervor. Das €u§erliche dieses merkwŸrdigen Menschen ist schon umrissen, seines humoristischen Talents mit Liebe gedacht; nun will ich von seinem Charakter mehr in Resultaten als schildernd sprechen, weil es unmšglich wŠre, ihn durch die Umschweife seines Lebensganges zu begleiten, und seine Eigenheiten darstellend zu Ÿberliefern.

Man kennt jene SelbstquŠlerei, welche, da man von au§en und von andern keine Not hatte, an der Tagesordnung war, und gerade die vorzŸglichsten Geister beunruhigte. Was gewšhnliche Menschen, die sich nicht selbst beobachten, nur vorŸbergehend quŠlt, was sie sich aus dem Sinn zu schlagen suchen, das ward von den besseren scharf bemerkt, beachtet, in Schriften, Briefen und TagebŸchern aufbewahrt. Nun aber gesellten sich die strengsten sittlichen Forderungen an sich und andere zu der grš§ten FahrlŠssigkeit im Tun, und ein aus dieser halben Selbsterkenntnis entspringender DŸnkel verfŸhrte zu den seltsamsten Angewohnheiten und Unarten. Zu einem solchen Abarbeiten in der Selbstbeobachtung be-


rechtigte jedoch die aufwachende empirische Psychologie, die nicht gerade alles, was uns innerlich beunruhigt, fŸr bšs und verwerflich erklŠren wollte, aber doch auch nicht alles billigen konnte; und so war ein ewiger nie beizulegender Streit erregt. Diesen zu fŸhren und zu unterhalten, Ÿbertraf nun Lenz alle Ÿbrigen Un- oder HalbbeschŠftigten, welche ihr Inneres untergruben, und so litt er im allgemeinen von der Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen sein sollte; aber ein individueller Zuschnitt unterschied ihn von allen Ÿbrigen, die man durchaus fŸr offene redliche Seelen anerkennen mu§te. Er hatte nŠmlich einen entschiedenen Hang zur Intrige, und zwar zur Intrige an sich, ohne da§ er eigentliche Zwecke, verstŠndige, selbstische, erreichbare Zwecke dabei gehabt hŠtte; vielmehr pflegte er sich immer etwas Fratzenhaftes vorzusetzen, und eben deswegen diente es ihm zur bestŠndigen Unterhaltung. Auf diese Weise war er zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine Liebe wie sein Ha§ waren imaginŠr, mit seinen Vorstellungen und GefŸhlen verfuhr er willkŸrlich, damit er immerfort etwas zu tun haben mšchte. Durch die verkehrtesten Mittel suchte er seinen Neigungen und Abneigungen RealitŠt zu geben, und vernichtete sein Werk immer wieder selbst; und so hat er niemanden, den er liebte, jemals genŸtzt, niemanden, den er ha§te, jemals geschadet, und im ganzen schien er nur zu sŸndigen, um sich zu strafen, nur zu intrigieren, um eine neue Fabel auf eine alte pfropfen zu kšnnen.

Aus wahrhafter Tiefe, aus unerschšpflicher ProduktivitŠt ging sein Talent hervor, in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfindigkeit mit einander wetteiferten, das aber, bei aller seiner Schšnheit, durchaus krŠnkelte, und gerade diese Talente sind am schwersten zu beurteilen. Man konnte in seinen Arbeiten gro§e ZŸge nicht verkennen; eine liebliche ZŠrtlichkeit schleicht sich durch zwischen den albernsten und barockesten Fratzen, die man selbst einem so grŸndlichen und anspruchlosen Humor, einer wahrhaft komischen Gabe kaum verzeihen kann. Seine Tage waren aus lauter


Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine RŸhrigkeit eine Bedeutung zu geben wu§te, und er konnte um so mehr viele Stunden verschlendern, als die Zeit, die er zum Lesen anwendete, ihm, bei einem glŸcklichen GedŠchtnis, immer viel Frucht brachte, und seine originelle Denkweise mit mannigfaltigem Stoff bereicherte.

Man hatte ihn mit livlŠndischen Kavalieren nach Stra§burg gesendet, und einen Mentor nicht leicht unglŸcklicher wŠhlen kšnnen. Der Šltere Baron ging fŸr einige Zeit ins Vaterland zurŸck, und hinterlie§ eine Geliebte, an die er fest geknŸpft war. Lenz, um den zweiten Bruder, der auch um dieses Frauenzimmer warb, und andere Liebhaber zurŸckzudrŠngen und das kostbare Herz seinem abwesenden Freunde zu erhalten, beschlo§ nun, selbst sich in die Schšne verliebt zu stellen, oder, wenn man will, zu verlieben. Er setzte diese seine These mit der hartnŠckigsten AnhŠnglichkeit an das Ideal, das er sich von ihr gemacht hatte, durch, ohne gewahr werden zu wollen, da§ er so gut als die Ÿbrigen ihr nur zum Scherz und zur Unterhaltung diene. Desto besser fŸr ihn! denn bei ihm war es auch nur Spiel, welches desto lŠnger dauern konnte, als sie es ihm gleichfalls spielend erwiderte, ihn bald anzog, bald abstie§, bald hervorrief, bald hintansetzte. Man sei Ÿberzeugt, da§, wenn er zum Bewu§tsein kam, wie ihm denn das zuweilen zu geschehen pflegte, er sich zu einem solchen Fund recht behaglich GlŸck gewŸnscht habe.

†brigens lebte er, wie seine Zšglinge, meistens mit Offizieren der Garnison, wobei ihm die wundersamen Anschauungen, die er spŠter in dem Lustspiel "Die Soldaten" aufstellte, mšgen geworden sein. Indessen hatte diese frŸhe Bekanntschaft mit dem MilitŠr die eigene Folge fŸr ihn, da§ er sich fŸr einen gro§en Kenner des Waffenwesens hielt; auch hatte er wirklich dieses Fach nach und nach so im Detail studiert, da§ er, einige Jahre spŠter, ein gro§es Memoire an den franzšsischen Kriegsminister aufsetzte, wovon er sich den besten Erfolg versprach. Die Gebrechen jenes Zustandes waren


ziemlich gut gesehn, die Heilmittel dagegen lŠcherlich und unausfŸhrbar. Er aber hielt sich Ÿberzeugt, da§ er dadurch bei Hofe gro§en Einflu§ gewinnen kšnne, und wu§te es den Freunden schlechten Dank, die ihn, teils durch GrŸnde, teils durch tŠtigen Widerstand, abhielten, dieses phantastische Werk, das schon sauber abgeschrieben, mit einem Briefe begleitet, kuvertiert und fšrmlich adressiert war, zurŸckzuhalten, und in der Folge zu verbrennen.

MŸndlich und nachher schriftlich hatte er mir die sŠmtlichen IrrgŠnge seiner Kreuz- und Querbewegungen in bezug auf jenes Frauenzimmer vertraut. Die Poesie, die er in das Gemeinste zu legen wu§te, setzte mich oft in Erstaunen, so da§ ich ihn dringend bat, den Kern dieses weitschweifigen Abenteuers geistreich zu befruchten, und einen kleinen Roman daraus zu bilden; aber es war nicht seine Sache, ihm konnte nicht wohl werden, als wenn er sich grenzenlos im einzelnen verflo§ und sich an einem unendlichen Faden ohne Absicht hinspann. Vielleicht wird es dereinst mšglich, nach diesen PrŠmissen, seinen Lebensgang, bis zu der Zeit, da er sich in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen; gegenwŠrtig halte ich mich an das NŠchste, was eigentlich hierher gehšrt.

Kaum war "Gštz von Berlichingen" erschienen, als mir Lenz einen weitlŠuftigen Aufsatz zusendete, auf geringes Konzeptpapier geschrieben, dessen er sich gewšhnlich bediente, ohne den mindesten Rand weder oben noch unten noch an den Seiten zu lassen. Diese BlŠtter waren betitelt "†ber unsere Ehe", und sie wŸrden, wŠren sie noch vorhanden, uns gegenwŠrtig mehr aufklŠren als mich damals, da ich Ÿber ihn und sein Wesen noch sehr im Dunkeln schwebte. Das Hauptabsehen dieser weitlŠuftigen Schrift war, mein Talent und das seinige nebeneinander zu stellen; bald schien er sich mir zu subordinieren, bald sich mir gleichzusetzen; das alles aber geschah mit so humoristischen und zierlichen Wendungen, da§ ich die Ansicht, die er mir dadurch geben wollte, um so lieber aufnahm, als ich seine Gaben wirk-


lich sehr hoch schŠtzte und immer nur darauf drang, da§ er aus dem formlosen Schweifen sich zusammenziehen, und die Bildungsgabe, die ihm angeboren war, mit kunstgemŠ§er Fassung benutzen mšchte. Ich erwiderte sein Vertrauen freundlichst, und weil er in seinen BlŠttern auf die innigste Verbindung drang (wie denn auch schon der wunderliche Titel andeutete), so teilte ich ihm von nun an alles mit, sowohl das schon Gearbeitete, als was ich vorhatte; er sendete mir dagegen nach und nach seine Manuskripte, den "Hofmeister", den "Neuen Menoza", "Die Soldaten", Nachbildungen des Plautus, und jene †bersetzung des englischen StŸcks als Zugabe zu den "Anmerkungen Ÿber das Theater".

Bei diesen war es mir einigerma§en auffallend, da§ er in einem lakonischen Vorberichte sich dahin Šu§erte, als sei der Inhalt dieses Aufsatzes, der mit Heftigkeit gegen das regelmŠ§ige Theater gerichtet war, schon vor einigen Jahren, als Vorlesung, einer Gesellschaft von Literaturfreunden bekannt geworden, zu der Zeit also, wo "Gštz" noch nicht geschrieben gewesen. In Lenzens Stra§burger VerhŠltnissen schien ein literarischer Zirkel, den ich nicht kennen sollte, etwas problematisch; allein ich lie§ es hingehen, und verschaffte ihm zu dieser wie zu seinen Ÿbrigen Schriften bald Verleger, ohne auch nur im mindesten zu ahnden, da§ er mich zum vorzŸglichsten Gegenstande seines imaginŠren Hasses, und zum Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften Verfolgung ausersehn hatte.

VorŸbergehend will ich nur, der Folge wegen, noch eines guten Gesellen gedenken, der, obgleich von keinen au§erordentlichen Gaben, doch auch mitzŠhlte. Er hie§ Wagner, erst ein Glied der Stra§burger, dann der Frankfurter Gesellschaft; nicht ohne Geist, Talent und Unterricht. Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treulich an mir, und weil ich aus allem, was ich vorhatte, kein Geheimnis machte, so erzŠhlte ich ihm wie andern meine Absicht mit "Faust", besonders die Katastrophe von Gretchen. Er fa§te das Sujet auf, und benutzte es fŸr ein


Trauerspiel, "Die Kindesmšrderin". Es war das erstemal, da§ mir jemand etwas von meinen VorsŠtzen wegschnappte; es verdro§ mich, ohne da§ ich's ihm nachgetragen hŠtte. Ich habe dergleichen Gedankenraub und Vorwegnahmen nachher noch oft genug erlebt, und hatte mich, bei meinem Zaudern und BeschwŠtzen so manches Vorgesetzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu beschweren.

Wenn Redner und Schriftsteller, in Betracht der gro§en Wirkung, welche dadurch hervorzubringen ist, sich gern der Kontraste bedienen, und sollten sie auch erst aufgesucht und herbeigeholt werden, so mu§ es dem Verfasser um so angenehmer sein, da§ ein entschiedener Gegensatz sich ihm anbietet, indem er nach Lenzen von Klingern zu sprechen hat. Beide waren gleichzeitig, bestrebten sich in ihrer Jugend mit und neben einander. Lenz jedoch, als ein vorŸbergehendes Meteor, zog nur augenblicklich Ÿber den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand plštzlich, ohne im Leben eine Spur zurŸckzulassen; Klinger hingegen, als einflu§reicher Schriftsteller, als tŠtiger GeschŠftsmann, erhŠlt sich noch bis auf diese Zeit. Von ihm werde ich nun ohne weitere Vergleichung, die sich von selbst ergibt, sprechen, insofern es nštig ist, da er nicht im Verborgenen so manches geleistet und so vieles gewirkt, sondern beides, in weiterem und nŠherem Kreise, noch in gutem Andenken und Ansehn steht.

Klingers €u§eres - denn von diesem beginne ich immer am liebsten - war sehr vorteilhaft. Die Natur hatte ihm eine gro§e, schlanke, wohlgebaute Gestalt und eine regelmŠ§ige Gesichtsbildung gegeben; er hielt auf seine Person, trug sich nett, und man konnte ihn fŸr das hŸbscheste Mitglied der ganzen kleinen Gesellschaft ansprechen. Sein Betragen war weder zuvorkommend noch absto§end, und, wenn es nicht innerlich stŸrmte, gemŠ§igt.

Man liebt an dem MŠdchen was es ist, und an dem JŸngling was er ankŸndigt, und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. Er empfahl sich durch eine reine GemŸtlichkeit, und ein unverkennbar entschiedener Charak-


ter erwarb ihm Zutrauen. Auf ein ernstes Wesen war er von Jugend auf hingewiesen; er, nebst einer ebenso schšnen und wackern Schwester, hatte fŸr eine Mutter zu sorgen, die, als Witwe, solcher Kinder bedurfte, um sich aufrecht zu erhalten. Alles, was an ihm war, hatte er sich selbst verschafft und geschaffen, so da§ man ihm einen Zug von stolzer UnabhŠngigkeit, der durch sein Betragen durchging, nicht verargte. Entschiedene natŸrliche Anlagen, welche allen wohlbegabten Menschen gemein sind, leichte Fassungskraft, vortreffliches GedŠchtnis, Sprachengabe besa§ er in hohem Grade; aber alles schien er weniger zu achten als die Festigkeit und Beharrlichkeit, die sich ihm, gleichfalls angeboren, durch UmstŠnde všllig bestŠtigt hatten.

Einem solchen JŸngling mu§ten Rousseaus Werke vorzŸglich zusagen. "Emil" war sein Haupt- und Grundbuch, und jene Gesinnungen fruchteten um so mehr bei ihm, als sie Ÿber die ganze gebildete Welt allgemeine Wirkung ausŸbten, ja bei ihm mehr als bei andern. Denn auch er war ein Kind der Natur, auch er hatte von unten auf angefangen; das, was andere wegwerfen sollten, hatte er nie besessen, VerhŠltnisse, aus welchen sie sich retten sollten, hatten ihn nie beengt; und so konnte er fŸr einen der reinsten JŸnger jenes Naturevangeliums angesehen werden, und, in Betracht seines ernsten Bestrebens, seines Betragens als Mensch und Sohn, recht wohl ausrufen: "Alles ist gut, wie es aus den HŠnden der Natur kommt!" - Aber auch den Nachsatz: "Alles verschlimmert sich unter den HŠnden der Menschen!" drŠngte ihm eine widerwŠrtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit sich selbst, aber au§er sich mit der Welt des Herkommens zu kŠmpfen, von deren Fesseln der BŸrger von Genf uns zu erlšsen gedachte. Weil nun, in des JŸnglings Lage, dieser Kampf oft schwer und sauer ward, so fŸhlte er sich gewaltsamer in sich zurŸckgetrieben, als da§ er durchaus zu einer so frohen und freudigen Ausbildung hŠtte gelangen kšnnen: vielmehr mu§te er sich durchstŸrmen, durchdrŠngen; daher sich ein bitterer Zug in sein Wesen schlich, den er in der


Folge zum Teil gehegt und genŠhrt, mehr aber bekŠmpft und besiegt hat.

In seinen Produktionen, insofern sie mir gegenwŠrtig sind, zeigt sich ein strenger Verstand, ein biederer Sinn, eine rege Einbildungskraft, eine glŸckliche Beobachtung der menschlichen Mannigfaltigkeit und eine charakteristische Nachbildung der generischen Unterschiede. Seine MŠdchen und Knaben sind frei und lieblich, seine JŸnglinge glŸhend, seine MŠnner schlicht und verstŠndig, die Figuren, die er ungŸnstig darstellt, nicht zu sehr Ÿbertrieben; ihm fehlt es nicht an Heiterkeit und guter Laune, Witz und glŸcklichen EinfŠllen; Allegorien und Symbole stehen ihm zu Gebot; er wei§ uns zu unterhalten und zu vergnŸgen, und der Genu§ wŸrde noch reiner sein, wenn er sich und uns den heitern bedeutenden Scherz nicht durch ein bitteres Mi§wollen hier und da verkŸmmerte. Doch dies macht ihn eben zu dem, was er ist, und dadurch wird ja die Gattung der Lebenden und Schreibenden so mannigfaltig, da§ ein jeder theoretisch zwischen Erkennen und Irren, praktisch zwischen Beleben und Vernichten hin und wider wogt.

Klinger gehšrt unter die, welche sich aus sich selbst, aus ihrem GemŸte und Verstande heraus zur Welt gebildet hatten. Weil nun dieses mit und in einer grš§eren Masse geschah, und sie sich unter einander einer verstŠndlichen, aus der allgemeinen Natur und aus der VolkseigentŸmlichkeit hergie§enden Sprache mit Kraft und Wirkung bedienten; so waren ihnen frŸher und spŠter alle Schulformen Šu§erst zuwider, besonders wenn sie, von ihrem lebendigen Ursprung getrennt, in Phrasen ausarteten, und so ihre erste frische Bedeutung gŠnzlich verloren. Wie nun gegen neue Meinungen, Ansichten, Systeme, so erklŠren sich solche MŠnner auch gegen neue Ereignisse, hervortretende bedeutende Menschen, welche gro§e VerŠnderungen ankŸndigen oder bewirken: ein Verfahren, das ihnen keineswegs zu verargen ist, weil sie dasjenige von Grund aus gefŠhrdet sehen, dem sie ihr eignes Dasein und Bildung schuldig geworden.


Jenes Beharren eines tŸchtigen Charakters aber wird um desto wŸrdiger, wenn es sich durch das Welt - und GeschŠftsleben durcherhŠlt, und wenn eine Behandlungsart des Vorkšmmlichen, welche manchem schroff, ja gewaltsam scheinen mšchte, zur rechten Zeit angewandt, am sichersten zum Ziele fŸhrt. Dies geschah bei ihm, da er ohne Biegsamkeit (welches ohnedem die Tugend der geborenen ReichsbŸrger niemals gewesen), aber desto tŸchtiger, fester und redlicher sich zu bedeutenden Posten erhob, sich darauf zu erhalten wu§te, und mit Beifall und Gnade seiner hšchsten Gšnner fortwirkte, dabei aber niemals weder seine alten Freunde, noch den Weg, den er zurŸckgelegt, verga§. Ja, er suchte die vollkommenste Stetigkeit des Andenkens, durch alle Grade der Abwesenheit und Trennung, hartnŠckig zu erhalten; wie es denn gewi§ angemerkt zu werden verdient, da§ er, als ein anderer Willigis, in seinem durch Ordenszeichen geschmŸckten Wappen, Merkmale seiner frŸhesten Zeit zu verewigen nicht verschmŠhte.

Es dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der "Brief des Pastors" an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen Ÿberein. Bei seinem unablŠssigen Treiben ward unser Briefwechsel bald sehr lebhaft. Er machte soeben ernstliche Anstalten zu seiner grš§ern Physiognomik, deren Einleitung schon frŸher in das Publikum gelangt war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse, besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein fŸr allemal auch einen Heiland gezeichnet haben, wie ich ihn mir vorstellte. Dergleichen Forderungen des Unmšglichen gaben mir zu mancherlei Scherzen Anla§, und ich wu§te mir gegen seine Eigenheiten nicht anders zu helfen, als da§ ich die meinigen hervorkehrte.

Die Anzahl derer, welche keinen Glauben an die Physiognomik hatten, oder doch wenigstens sie fŸr ungewi§ und


trŸglich hielten, war sehr gro§, und sogar viele, die es mit Lavatern gut meinten, fŸhlten einen Kitzel, ihn zu versuchen und ihm wo mšglich einen Streich zu spielen. Er hatte sich in Frankfurt, bei einem nicht ungeschickten Maler, die Profile mehrerer namhaften Menschen bestellt. Der Absender erlaubte sich den Scherz, Bahrdts PortrŠt zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen eine zwar muntere aber donnernde Epistel zurŸckkam, mit allen TrŸmpfen und Beteuerungen, da§ dies mein Bild nicht sei, und was Lavater sonst alles, zu BestŠtigung der Physiognomischen Lehre bei dieser Gelegenheit mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes lie§ er eher gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen VorzŸgen, welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurŸck, die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als da§ er nicht durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigerma§en hŠtte abgesto§en werden sollen.

Der Begriff von der Menschheit, der sich in ihm und an seiner Menschheit herangebildet hatte, war so genau mit der Vorstellung verwandt, die er von Christo lebendig in sich trug, da§ es ihm unbegreiflich schien, wie ein Mensch leben und atmen kšnne, ohne zugleich ein Christ zu sein. Mein VerhŠltnis zu der christlichen Religion lag blo§ in Sinn und GemŸt, und ich hatte von jener physischen Verwandtschaft, zu welcher Lavater sich hinneigte, nicht den mindesten Begriff. €rgerlich war mir daher die heftige Zudringlichkeit eines so geist- als herzvollen Mannes, mit der er auf mich sowie auf Mendelssohn und andere losging, und behauptete, man mŸsse entweder mit ihm ein Christ, ein Christ nach seiner Art werden, oder man mŸsse ihn zu sich hinŸberziehen, man mŸsse ihn gleichfalls von demjenigen Ÿberzeugen, worin man seine Beruhigung finde. Diese Forderung, so unmittelbar dem liberalen Weltsinn, zu dem ich mich nach und


nach auch bekannte, entgegen stehend, tat auf mich nicht die beste Wirkung. Alle Bekehrungsversuche, wenn sie nicht gelingen, machen denjenigen, den man zum Proselyten ausersah, starr und verstockt, und dieses war um so mehr mein Fall, als Lavater zuletzt mit dem harten Dilemma hervortrat: Entweder Christ oder Atheist! Ich erklŠrte darauf, da§, wenn er mir mein Christentum nicht lassen wollte, wie ich es bisher gehegt hŠtte, so kšnnte ich mich wohl auch zum Atheismus entschlie§en, zumal da ich sŠhe, da§ niemand recht wisse, was beides eigentlich hei§en solle.

Dieses Hin- und Widerschreiben, so heftig es auch war, stšrte das gute VerhŠltnis nicht. Lavater hatte eine unglaubliche Geduld, Beharrlichkeit, Ausdauer; er war seiner Lehre gewi§, und bei dem entschiedenen Vorsatz, seine †berzeugung in der Welt auszubreiten, lie§ er sich's gefallen, was nicht durch Kraft geschehen konnte, durch Abwarten und Milde durchzufŸhren. †berhaupt gehšrte er zu den wenigen glŸcklichen Menschen, deren Šu§erer Beruf mit dem Innern vollkommen Ÿbereinstimmt, und deren frŸheste Bildung, stetig zusammenhŠngend mit der spŠtern, ihre FŠhigkeiten naturgemŠ§ entwickelt. Mit den zartesten sittlichen Anlagen geboren, bestimmte er sich zum Geistlichen. Er geno§ des nštigen Unterrichts und zeigte viele FŠhigkeiten, ohne sich jedoch zu jener Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich gelehrt nennt. Denn auch er, um so viel frŸher geboren als wir, ward von dem Freiheits- und Naturgeist der Zeit ergriffen, der jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren raunte: man habe, ohne viele Šu§ere HŸlfsmittel, Stoff und Gehalt genug in sich selbst, alles komme nur darauf an, da§ man ihn gehšrig entfalte. Die Pflicht des Geistlichen, sittlich im tŠglichen Sinne, religišs im hšheren, auf die Menschen zu wirken, traf mit seiner Denkweise vollkommen Ÿberein. Redliche und fromme Gesinnungen, wie er sie fŸhlte, den Menschen mitzuteilen, sie in ihnen zu erregen, war des JŸnglings entschiedenster Trieb, und seine liebste BeschŠftigung, wie auf sich selbst, so auf andere zu merken. Jenes ward ihm


durch ein inneres ZartgefŸhl, dieses durch einen scharfen Blick auf das €u§ere erleichtert, ja aufgedrungen. Zur Beschaulichkeit war er jedoch nicht geboren, zur Darstellung im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe; er fŸhlte sich vielmehr mit allen seinen KrŠften zur TŠtigkeit, zur Wirksamkeit gedrŠngt, so da§ ich niemand gekannt habe, der ununterbrochener handelte als er. Weil nun aber unser inneres sittliches Wesen in Šu§eren Bedingungen verkšrpert ist, es sei nun, da§ wir einer Familie, einem Stande, einer Gilde, einer Stadt, oder einem Staate angehšren; so mu§te er zugleich, insofern er wirken wollte, alle diese €u§erlichkeiten berŸhren und in Bewegung setzen, wodurch denn freilich mancher Ansto§, manche Verwickelung entsprang, besonders da das Gemeinwesen, als dessen Glied er geboren war, in der genausten und bestimmtesten BeschrŠnkung einer lšblichen hergebrachten Freiheit geno§. Schon der republikanische Knabe gewšhnt sich, Ÿber das šffentliche Wesen zu denken und mitzusprechen. In der ersten BlŸte seiner Tage sieht sich der JŸngling, als Zunftgenosse, bald in dem Fall, seine Stimme zu geben und zu versagen. Will er gerecht und selbstŠndig urteilen, so mu§ er sich von dem Wert seiner MitbŸrger vor allen Dingen Ÿberzeugen, er mu§ sie kennen lernen, er mu§ sich nach ihren Gesinnungen, nach ihren KrŠften umtun, und so, indem er andere zu erforschen trachtet, immer in seinen eignen Busen zurŸckkehren.

In solchen VerhŠltnissen Ÿbte sich Lavater frŸh, und eben diese LebenstŠtigkeit scheint ihn mehr beschŠftigt zu haben als Sprachstudien, als jene sondernde Kritik, die mit ihnen verwandt, ihr Grund sowie ihr Ziel ist. In spŠteren Jahren, da sich seine Kenntnisse, seine Einsichten unendlich weit ausgebreitet hatten, sprach er doch im Ernst und Scherz oft genug aus, da§ er nicht gelehrt sei; und gerade einem solchen Mangel von eindringendem Studium mu§ man zuschreiben, da§ er sich an den Buchstaben der Bibel, ja der BibelŸbersetzung hielt, und freilich fŸr das, was er suchte und beabsichtigte, hier genŸgsame Nahrung und HŸlfsmittel fand.


Aber gar bald ward jener zunft- und gildemŠ§ig langsam bewegte Wirkungskreis dem lebhaften Naturell zu enge. Gerecht zu sein wird dem JŸngling nicht schwer, und ein reines GemŸt verabscheut die Ungerechtigkeit, deren es sich selbst noch nicht schuldig gemacht hat. Die BedrŸckungen eines Landvogts lagen offenbar vor den Augen der BŸrger, schwerer waren sie vor Gericht zu bringen. Lavater gesellt sich einen Freund zu, und beide bedrohen, ohne sich zu nennen, jenen strafwŸrdigen Mann. Die Sache wird ruchbar, man sieht sich genštigt, sie zu untersuchen. Der Schuldige wird bestraft, aber die Veranlasser dieser Gerechtigkeit werden getadelt, wo nicht gescholten. In einem wohleingerichteten Staate soll das Rechte selbst nicht auf unrechte Weise geschehn.

Auf einer Reise, die Lavater durch Deutschland macht, setzt er sich mit gelehrten und wohldenkenden MŠnnern in BerŸhrung; allein er befestigt sich dabei nur mehr in seinen eignen Gedanken und †berzeugungen; nach Hause zurŸckgekommen, wirkt er immer freier aus sich selbst. Als ein edler guter Mensch, fŸhlt er in sich einen herrlichen Begriff von der Menschheit, und was diesem allenfalls in der Erfahrung widerspricht, alle die unleugbaren MŠngel, die einen jeden von der Vollkommenheit ablenken, sollen ausgeglichen werden durch den Begriff der Gottheit, die sich, in der Mitte der Zeiten, in die menschliche Natur herabgesenkt, um ihr frŸheres Ebenbild vollkommen wiederherzustellen.

So viel vorerst von den AnfŠngen dieses merkwŸrdigen Mannes, und nun vor allen Dingen eine heitere Schilderung unseres persšnlichen Zusammentreffens und Beisammenseins. Denn unser Briefwechsel hatte nicht lange gedauert, als er mir und andern ankŸndigte, er werde bald, auf einer vorzunehmenden Rheinreise, in Frankfurt einsprechen. Sogleich entstand im Publikum die grš§te Bewegung; alle waren neugierig, einen so merkwŸrdigen Mann zu sehn; viele hofften fŸr ihre sittliche und religišse Bildung zu gewinnen; die Zweifler dachten sich mit bedeutenden Ein-


wendungen hervorzutun, die Einbildischen waren gewi§, ihn durch Argumente, in denen sie sich selbst bestŠrkt hatten, zu verwirren und zu beschŠmen, und was sonst alles Williges und Unwilliges einen bemerkten Menschen erwartet, der sich mit dieser gemischten Welt abzugeben gedenkt.

Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und ich fand ihn gleich, wie mir ihn so manche Bilder schon Ÿberliefert hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen, da§ er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und engebildeten Realismus, da§, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die bedeutendsten Punkte zur Sprache, Ÿber die wir uns in Briefen am wenigsten vereinigen konnten; allein dieselben ausfŸhrlich zu behandeln, ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr, was mir noch nie vorgekommen.

Wir andern, wenn wir uns Ÿber Angelegenheiten des Geistes und Herzens unterhalten wollten, pflegten uns von der Menge, ja von der Gesellschaft zu entfernen, weil es, bei der vielfachen Denkweise und den verschiedenen Bildungsstufen, schon schwer fŠllt, sich auch nur mit wenigen zu verstŠndigen. Allein Lavater war ganz anders gesinnt; er liebte seine Wirkungen ins Weite und Breite auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in der Gemeine, fŸr deren Belehrung und Unterhaltung er ein besonderes Talent besa§, welches auf jener gro§en physiognomischen Gabe ruhte. Ihm war eine richtige Unterscheidung der Personen und Geister verliehen, so da§ er einem jeden geschwind ansah, wie ihm allenfalls zumute sein mšchte. FŸgte sich hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntnis, eine treuherzige Frage, so wu§te er aus der gro§en FŸlle innerer und Šu§erer Erfahrung, zu jedermanns Befriedigung, das Gehšrige zu erwidern. Die


tiefe Sanftmut seines Blicks, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtšnende treuherzige Schweizerdialekt, und wie manches andere, was ihn auszeichnete, gab allen, zu denen er sprach, die angenehmste Sinnesberuhigung; ja seine, bei flacher Brust, etwas vorgebogene Kšrperhaltung trug nicht wenig dazu bei, die †bergewalt seiner Gegenwart mit der Ÿbrigen Gesellschaft auszugleichen. Gegen Anma§ung und DŸnkel wu§te er sich sehr ruhig und geschickt zu benehmen: denn indem er auszuweichen schien, wendete er auf einmal eine gro§e Ansicht, auf welche der beschrŠnkte Gegner niemals denken konnte, wie einen diamantnen Schild hervor, und wu§te denn doch das daher entspringende Licht so angenehm zu mŠ§igen, da§ dergleichen Menschen, wenigstens in seiner Gegenwart, sich belehrt und Ÿberzeugt fŸhlten. Vielleicht hat der Eindruck bei manchen fortgewirkt: denn selbstische Menschen sind wohl zugleich auch gut; es kommt nur darauf an, da§ die harte Schale, die den fruchtbaren Kern umschlie§t, durch gelinde Einwirkung aufgelšst werde.

Was ihm dagegen die grš§te Pein verursachte, war die Gegenwart solcher Personen, deren Šu§ere HŠ§lichkeit sie zu entschiedenen Feinden jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Gestalten unwiderruflich stempeln mu§te. Sie wendeten gewšhnlich einen hinreichenden Menschenverstand, ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich mi§wollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkrŠften, die fŸr ihre Persšnlichkeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht jemand so gro§denkend wie Sokrates, der gerade seine faunische HŸlle zugunsten einer erworbenen Sittlichkeit gedeutet hŠtte. Die HŠrte, die Verstockung solcher Gegner war ihm fŸrchterlich, sein Gegenstreben nicht ohne Leidenschaft, so wie das Schmelzfeuer die widerstrebenden Erze als lŠstig und feindselig anfauchen mu§.

Unter solchen UmstŠnden war an ein vertrauliches GesprŠch, an ein solches, das Bezug auf uns selbst gehabt hŠtte, nicht zu denken, ob ich mich gleich durch Beobachtung der


Art, wie er die Menschen behandelte, sehr belehrt, jedoch nicht gebildet fand: denn meine Lage war ganz von der seinigen verschieden. Wer sittlich wirkt, verliert keine seiner BemŸhungen: denn es gedeiht davon weit mehr, als das Evangelium vom SŠmanne allzu bescheiden eingesteht; wer aber kŸnstlerisch verfŠhrt, der hat in jedem Werke alles verloren, wenn es nicht als ein solches anerkannt wird. Nun wei§ man, wie ungeduldig meine lieben teilnehmenden Leser mich zu machen pflegten, und aus welchen Ursachen ich hšchst abgeneigt war, mich mit ihnen zu verstŠndigen. Nun fŸhlte ich den Abstand zwischen meiner und der Lavaterschen Wirksamkeit nur allzu sehr: die seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, befreundete sich ihm in der NŠhe; und wer mich nach meinen Werken fŸr liebenswŸrdig hielt, fand sich sehr getŠuscht, wenn er an einen starren ablehnenden Menschen anstie§.

Merck, der von Darmstadt sogleich herŸbergekommen war, spielte den Mephistopheles, spottete besonders Ÿber das Zudringen der Weiblein, und als einige derselben die Zimmer, die man dem Propheten eingerŠumt, und besonders auch das Schlafzimmer mit Aufmerksamkeit untersuchten, sagte der Schalk: die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn hingelegt habe. - Mit alledem mu§te er sich so gut wie die andern exorzisieren lassen: denn Lips, der Lavatern begleitete, zeichnete sein Profil so ausfŸhrlich und brav, wie die Bildnisse bedeutender und unbedeutender Menschen, welche dereinst in dem gro§en Werke der Physiognomik angehŠuft werden sollten.

FŸr mich war der Umgang mit Lavatern hšchst wichtig und lehrreich: denn seine dringenden Anregungen brachten mein ruhiges, kŸnstlerisch beschauliches Wesen in Umtrieb; freilich nicht zu meinem augenblicklichen Vorteil, indem die Zerstreuung, die mich schon ergriffen hatte, sich nur vermehrte; allein es war so viel unter uns zur Sprache gekommen, da§ in mir die grš§te Sehnsucht entstand, diese Unter-


haltung fortzusetzen. Daher entschlo§ ich mich, ihn, wenn er nach Ems gehen wŸrde, zu begleiten, um unterwegs, im Wagen eingeschlossen und von der Welt abgesondert, diejenigen GegenstŠnde, die uns wechselseitig am Herzen lagen, frei abzuhandeln.

Sehr merkwŸrdig und folgereich waren mir indessen die Unterhaltungen Lavaters und der FrŠulein von Klettenberg. Hier standen nun zwei entschiedene Christen gegen einander Ÿber, und es war ganz deutlich zu sehen, wie sich eben dasselbe Bekenntnis nach den Gesinnungen verschiedener Personen umbildet. Man wiederholte so oft in jenen toleranten Zeiten, jeder Mensch habe seine eigne Religion, seine eigne Art der Gottesverehrung. Ob ich nun gleich dies nicht geradezu behauptete, so konnte ich doch im gegenwŠrtigen Fall bemerken, da§ MŠnner und Frauen einen verschiedenen Heiland bedŸrfen. FrŠulein von Klettenberg verhielt sich zu dem ihrigen wie zu einem Geliebten, dem man sich unbedingt hingibt, alle Freude und Hoffnung auf seine Person legt, und ihm ohne Zweifel und Bedenken das Schicksal des Lebens anvertraut; Lavater hingegen behandelte den seinigen als einen Freund, dem man neidlos und liebevoll nacheifert, seine Verdienste anerkennt, sie hochpreist, und eben deswegen ihm Šhnlich, ja gleich zu werden bemŸht ist. Welch ein Unterschied zwischen beiderlei Richtung! wodurch im allgemeinen die geistigen BedŸrfnisse der zwei Geschlechter ausgesprochen werden. Daraus mag es auch zu erklŠren sein, da§ zŠrtere MŠnner sich an die Mutter Gottes gewendet, ihr, als einem Ausbund weiblicher Schšnheit und Tugend, wie Sannazar getan, Leben und Talente gewidmet, und allenfalls nebenher mit dem gšttlichen Knaben gespielt haben.

Wie meine beiden Freunde zu einander standen, wie sie gegen einander gesinnt waren, erfuhr ich nicht allein aus GesprŠchen, denen ich beiwohnte, sondern auch aus Eršffnungen, welche mir beide ingeheim taten. Ich konnte weder dem einen noch dem andern všllig zustimmen: denn


mein Christus hatte auch seine eigne Gestalt nach meinem Sinne angenommen. Weil sie mir aber den meinigen gar nicht wollten gelten lassen, so quŠlte ich sie mit allerlei Paradoxien und Extremen, und wenn sie ungeduldig werden wollten, entfernte ich mich mit einem Scherze.

Der Streit zwischen Wissen und Glauben war noch nicht an der Tagesordnung, allein die beiden Worte und die Begriffe, die man damit verknŸpft, kamen wohl auch gelegentlich vor, und die wahren WeltverŠchter behaupteten, eins sei so unzuverlŠssig als das andere. Daher beliebte es mir, mich zugunsten beider zu erklŠren, ohne jedoch den Beifall meiner Freunde gewinnen zu kšnnen. Beim Glauben, sagte ich, komme alles darauf an, da§ man glaube; was man glaube, sei všllig gleichgŸltig. Der Glaube sei ein gro§es GefŸhl von Sicherheit fŸr die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit entspringe aus dem Zutrauen auf ein Ÿbergro§es, ŸbermŠchtiges und unerforschliches Wesen. Auf die UnerschŸtterlichkeit dieses Zutrauens komme alles an; wie wir uns aber dieses Wesen denken, dies hŠnge von unsern Ÿbrigen FŠhigkeiten, ja von den UmstŠnden ab, und sei ganz gleichgŸltig. Der Glaube sei ein heiliges GefŠ§, in welches ein jeder sein GefŸhl, seinen Verstand, seine Einbildungskraft, so gut als er vermšge, zu opfern bereit stehe. Mit dem Wissen sei es gerade das Gegenteil; es komme gar nicht darauf an, da§ man wisse, sondern was man wisse, wie gut und wie viel man wisse. Daher kšnne man Ÿber das Wissen streiten, weil es sich berichtigen, sich erweitern und verengern lasse. Das Wissen fange vom einzelnen an, sei endlos und gestaltlos, und kšnne niemals, hšchstens nur trŠumerisch, zusammengefa§t werden, und bleibe also dem Glauben geradezu entgegengesetzt.

Dergleichen Halbwahrheiten und die daraus entspringenden Irrsale mšgen, poetisch dargestellt, aufregend und unterhaltend sein, im Leben aber stšren und verwirren sie das GesprŠch. Ich lie§ daher Lavatern gern mit allen denjenigen allein, die sich an ihm und mit ihm erbauen wollten, und


fand mich fŸr diese Entbehrung genugsam entschŠdigt durch die Reise, die wir zusammen nach Ems antraten. Ein schšnes Sommerwetter begleitete uns, Lavater war heiter und allerliebst. Denn bei einer religlšsen und sittlichen, keineswegs Šngstlichen Richtung seines Geistes blieb er nicht unempfindlich, wenn durch LebensvorfŠlle die GemŸter munter und lustig aufgeregt wurden. Er war teilnehmend, geistreich, witzig, und mochte das gleiche gern an andern, nur da§ es innerhalb der Grenzen bliebe, die seine zarten Gesinnungen ihm vorschrieben. Wagte man sich allenfalls darŸber hinaus, so pflegte er einem auf die Achsel zu klopfen, und den Verwegenen durch ein treuherziges "Bisch guet!" zur Sitte aufzufordern. Diese Reise gereichte mir zu mancherlei Belehrung und Belebung, die mir aber mehr in der Kenntnis seines Charakters als in der Reglung und Bildung des meinigen zuteil ward. In Ems sah ich ihn gleich wieder von Gesellschaft aller Art umringt, und kehrte nach Frankfurt zurŸck, weil meine kleinen GeschŠfte gerade auf der Bahn waren, so da§ ich sie kaum verlassen durfte.

Aber ich sollte sobald nicht wieder zur Ruhe kommen: denn Basedow traf ein, berŸhrte und ergriff mich von einer andern Seite. Einen entschiedneren Kontrast konnte man nicht sehen als diese beiden MŠnner. Schon der Anblick Basedows deutete auf das Gegenteil. Wenn Lavaters GesichtszŸge sich dem Beschauenden frei hergaben, so waren die Basedowischen zusammengepackt und wie nach innen gezogen. Lavaters Auge klar und fromm, unter sehr breiten Augenlidern, Basedows aber tief im Kopfe, klein, schwarz, scharf, unter struppigen Augenbrauen hervorblinkend, dahingegen Lavaters Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen eingefa§t erschien. Basedows heftige rauhe Stimme, seine schnellen und scharfen €u§erungen, ein gewisses hšhnisches Lachen, ein schnelles Herumwerfen des GesprŠchs, und was ihn sonst noch bezeichnen mochte, alles war den Eigenschaften und dem Betragen entgegengesetzt, durch die uns Lavater verwšhnt hatte. Auch Basedow ward


in Frankfurt sehr gesucht, und seine gro§en Geistesgaben bewundert; allein er war nicht der Mann, weder die GemŸter zu erbauen, noch zu lenken. Ihm war einzig darum zu tun, jenes gro§e Feld, das er sich bezeichnet hatte, besser anzubauen, damit die Menschheit kŸnftig bequemer und naturgemŠ§er darin ihre Wohnung nehmen sollte; und auf diesen Zweck eilte er nur allzu gerade los.

Mit seinen Planen konnte ich mich nicht befreunden, ja mir nicht einmal seine Absichten deutlich machen. Da§ er allen Unterricht lebendig und naturgemŠ§ verlangte, konnte mir wohl gefallen; da§ die alten Sprachen an der Gegenwart geŸbt werden sollten, schien mir lobenswŸrdig, und gern erkannte ich an, was in seinem Vorhaben zu Befšrderung der TŠtigkeit und einer frischeren Weltanschauung lag: allein mir mi§fiel, da§ die Zeichnungen seines "Elementarwerks" noch mehr als die GegenstŠnde selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur das Mšgliche beisammensteht und sie deshalb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Teilen etwas Geregeltes hat. Jenes "Elementarwerk" hingegen zersplittert sie ganz und gar, indem das, was in der Weltanschauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben einander steht; weswegen es auch jener sinnlich-methodischen VorzŸge ermangelt, die wir Šhnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen mŸssen.

Viel wunderbarer jedoch, und schwerer zu begreifen als seine Lehre war Basedows Betragen. Er hatte bei dieser Reise die Absicht, das Publikum durch seine Persšnlichkeit fŸr sein philanthropisches Unternehmen zu gewinnen, und zwar nicht etwa die GemŸter, sondern geradezu die Beutel aufzuschlie§en. Er wu§te von seinem Vorhaben gro§ und Ÿberzeugend zu sprechen, und jedermann gab ihm gern zu, was er behauptete. Aber auf die unbegreiflichste Weise verletzte er die GemŸter der Menschen, denen er eine Beisteuer abgewinnen wollte, ja er beleidigte sie ohne Not, indem er seine Meinungen und Grillen Ÿber religišse GegenstŠnde


nicht zurŸckhalten konnte. Auch hierin erschien Basodow als das GegenstŸck von Lavatern. Wenn dieser die Bibel buchstŠblich und mit ihrem ganzen Inhalte, ja Wort vor Wort, bis auf den heutigen Tag fŸr geltend annahm und fŸr anwendbar hielt, so fŸhlte jener den unruhigsten Kitzel, alles zu verneuen, und sowohl die Glaubenslehren als die Šu§erlichen kirchlichen Handlungen nach eignen einmal gefa§ten Grillen umzumodeln. Am unbarmherzigsten jedoch, und am unvorsichtigsten verfuhr er mit denjenigen Vorstellungen, die sich nicht unmittelbar aus der Bibel, sondern von ihrer Auslegung herschreiben, mit jenen AusdrŸcken, philosophischen Kunstworten, oder sinnlichen Gleichnissen, womit die KirchenvŠter und Konzilien sich das Unaussprechliche zu verdeutlichen, oder die Ketzer zu bestreiten gesucht haben. Auf eine harte und unverantwortliche Weise erklŠrte er sich vor jedermann als den abgesagtesten Feind der Dreieinigkeit, und konnte gar nicht fertig werden, gegen dies allgemein zugestandene Geheimnis zu argumentieren. Auch ich hatte im PrivatgesprŠch sehr viel zu leiden, und mu§te mir die Hypostasis und Ousia, sowie das Prosopon immer wieder vorfŸhren lassen. Dagegen griff ich zu den Waffen der Paradoxie, ŸberflŸgelte seine Meinungen und wagte das Verwegne mit Verwegnerem zu bekŠmpfen. Dies gab meinem Geiste wieder neue Anregung, und weil Basedow viel belesener war, auch die Fechterstreiche des Disputierens gewandter als ich Naturalist zu fŸhren wu§te, so hatte ich mich immer mehr anzustrengen, je wichtigere Punkte unter uns abgehandelt wurden.

Eine so herrliche Gelegenheit, mich, wo nicht aufzuklŠren, doch gewi§ zu Ÿben, konnte ich nicht kurz vorŸbergehen lassen. Ich vermochte Vater und Freunde, die notwendigsten GeschŠfte zu Ÿbernehmen, und fuhr nun, Basedow begleitend, abermals von Frankfurt ab. Welchen Unterschied empfand ich aber, wenn ich der Anmut gedachte, die von Lavatern ausging! Reinlich wie er war, verschaffte er sich auch eine reinliche Umgebung. Man ward jungfrŠu-


lich an seiner Seite, um ihn nicht mit etwas Widrigem zu berŸhren. Basedow hingegen, viel zu sehr in sich gedrŠngt, konnte nicht auf sein €u§eres merken. Schon da§ er ununterbrochen schlechten Tabak rauchte, fiel Šu§erst lŠstig, um so mehr, als er einen unreinlich bereiteten, schnell Feuer fangenden, aber hŠ§lich dunstenden Schwamm, nach ausgerauchter Pfeife, sogleich wieder aufschlug, und jedesmal mit den ersten ZŸgen die Luft unertrŠglich verpestete. Ich nannte dieses PrŠparat Basedowschen Stinkschwamm, und wollte ihn unter diesem Titel in der Naturgeschichte eingefŸhrt wissen; woran er gro§en Spa§ hatte, mir die widerliche Bereitung, recht zum Ekel, umstŠndlich auseinandersetzte, und mit gro§er Schadenfreude sich an meinem Abscheu behagte. Denn dieses war eine von den tiefgewurzelten Ÿblen Eigenheiten des so trefflich begabten Mannes, da§ er gern zu necken und die Unbefangensten tŸckisch anzustechen beliebte. Ruhen konnte er niemand sehn; durch grinsenden Spott mit heiserer Stimme reizte er auf, durch eine Ÿberraschende Frage setzte er in Verlegenheit, und lachte bitter, wenn er seinen Zweck erreicht hatte, war es aber wohl zufrieden, wenn man, schnell gefa§t, ihm etwas dagegen abgab.

Um wieviel grš§er war nun meine Sehnsucht nach Lavatern. Auch er schien sich zu freuen, als er mich wiedersah, vertraute mir manches bisher Erfahrne, besonders was sich auf den verschiedenen Charakter der MitgŠste bezog, unter denen er sich schon viele Freunde und AnhŠnger zu verschaffen gewu§t. Nun fand ich selbst manchen alten Bekannten, und an denen, die ich in Jahren nicht gesehn, fing ich an die Bemerkung zu machen, die uns in der Jugend lange verborgen bleibt, da§ die MŠnner altern und die Frauen sich verŠndern. Die Gesellschaft nahm tŠglich zu. Es ward unmŠ§ig getanzt, und, weil man sich in den beiden gro§en BadehŠusern ziemlich nahe berŸhrte, bei guter und genauer Bekanntschaft mancherlei Scherz getrieben. Einst verkleidete ich mich in einen Dorfgeistlichen, und ein namhafter


Freund in dessen Gattin; wir fielen der vornehmen Gesellschaft durch allzu gro§e Hšflichkeit ziemlich zur Last, wodurch denn jedermann in guten Humor versetzt wurde. An Abend-, Mitternacht- und MorgenstŠndchen fehlte es auch nicht, und wir JŸngeren genossen des Schlafs sehr wenig.

Im Gegensatze zu diesen Zerstreuungen brachte ich immer einen Teil der Nacht mit Basedow zu. Dieser legte sich nie zu Bette, sondern diktierte unaufhšrlich. Manchmal warf er sich aufs Lager und schlummerte, indessen sein Tiro, die Feder in der Hand, ganz ruhig sitzen blieb, und sogleich bereit war fortzuschreiben, wenn der Halberwachte seinen Gedanken wieder freien Lauf gab. Dies alles geschah in einem dichtverschlossenen, von Tabaks- und Schwammdampf erfŸllten Zimmer. So oft ich nun einen Tanz aussetzte, sprang ich zu Basedow hinauf, der gleich Ÿber jedes Problem zu sprechen und zu disputieren geneigt war, und, wenn ich nach Verlauf einiger Zeit wieder zum Tanze hineilte, noch eh ich die TŸre hinter mir anzog, den Faden seiner Abhandlung so ruhig diktierend aufnahm, als wenn weiter nichts gewesen wŠre.

Wir machten dann zusammen auch manche Fahrt in die Nachbarschaft, besuchten die Schlšsser, besonders adliger Frauen, welche durchaus mehr als die MŠnner geneigt waren, etwas Geistiges und Geistliches aufzunehmen. Zu Nassau, bei Frau von Stein, einer hšchst ehrwŸrdigen Dame, die der allgemeinsten Achtung geno§, fanden wir gro§e Gesellschaft. Frau von La Roche war gleichfalls gegenwŠrtig, an jungen Frauenzimmern und Kindern fehlte es auch nicht. Hier sollte nun Lavater in physiognomische Versuchung gefŸhrt werden, welche meist darin bestand, da§ man ihn verleiten wollte, ZufŠlligkeiten der Bildung fŸr Grundform zu halten; er war aber beaugt genug, um sich nicht tŠuschen zu lassen. Ich sollte nach wie vor die Wahrhaftigkeit der Leiden Werthers und den Wohnort Lottens bezeugen, welchem Ansinnen ich mich nicht auf die artigste Weise entzog, dagegen die Kinder um mich versammelte, um ihnen recht


seltsame MŠrchen zu erzŠhlen, welche aus lauter bekannten GegenstŠnden zusammengesonnen waren; wobei ich den gro§en Vorteil hatte, da§ kein Glied meines Hšrerkreises mich etwa zudringlich gefragt hŠtte, was denn wohl daran fŸr Wahrheit oder Dichtung zu halten sein mšchte.

Basedow brachte das einzige vor, das not sei, nŠmlich eine bessere Erziehung der Jugend; weshalb er die Vornehmen und BegŸterten zu ansehnlichen BeitrŠgen aufforderte. Kaum aber hatte er, durch GrŸnde sowohl als durch leidenschaftliche Beredsamkeit, die GemŸter, wo nicht sich zugewendet, doch zum guten Willen vorbereitet, als ihn der bšse antitrinitarische Geist ergriff, und er, ohne das mindeste GefŸhl wo er sich befinde, in die wunderlichsten Reden ausbrach, in seinem Sinne hšchst religišs, nach †berzeugung der Gesellschaft hšchst lŠsterlich. Lavater, durch sanften Ernst, ich, durch abteilende Scherze, die Frauen, durch zerstreuende SpaziergŠnge, suchten Mittel gegen dieses Unheil; die Verstimmung jedoch konnte nicht geheilt werden. Eine christliche Unterhaltung, die man sich von Lavaters Gegenwart versprochen, eine pŠdagogische, wie man sie von Basedow erwartete, eine sentimentale, zu der ich mich bereit finden sollte, alles war auf einmal gestšrt und aufgehoben. Auf dem Heimwege machte Lavater ihm VorwŸrfe, ich aber bestrafte ihn auf eine lustige Weise. Es war hei§e Zeit, und der Tabaksdampf mochte Basedows Gaumen noch mehr getrocknet haben; sehnlichst verlangte er nach einem Glase Bier, und als er an der Landstra§e von weitem ein Wirtshaus erblickte, befahl er hšchst gierig dem Kutscher, dort stille zu halten. Ich aber, im Augenblicke, da§ derselbe anfahren wollte, rufe ihm mit Gewalt gebieterisch zu, er solle weiter fahren! Basedow, Ÿberrascht, konnte kaum mit heiserer Stimme das Gegenteil hervorbringen. Ich trieb den Kutscher nur heftiger an, der mir gehorchte. Basedow verwŸnschte mich, und hŠtte gern mit FŠusten zugeschlagen; ich aber erwiderte ihm mit der grš§ten Gelassenheit: "Vater, seid ruhig! Ihr habt mir gro§en Dank zu sagen.


GlŸcklicherweise saht Ihr das Bierzeichen nicht! Es ist aus zwei verschrŠnkten Triangeln zusammengesetzt. Nun werdet Ihr Ÿber einen Triangel gewšhnlich schon toll; wŠren Euch die beiden zu Gesicht gekommen, man hŠtte Euch mŸssen an Ketten legen." Dieser Spa§ brachte ihn zu einem unmŠ§igen GelŠchter, zwischendurch schalt und verwŸnschte er mich, und Lavater Ÿbte seine Geduld an dem alten und jungen Toren.

Als nun in der HŠlfte des Juli Lavater sich zur Abreise bereitete, fand Basedow seinen Vorteil, sich anzuschlie§en, und ich hatte mich in diese bedeutende Gesellschaft schon so eingewohnt, da§ ich es nicht Ÿber mich gewinnen konnte, sie zu verlassen. Eine sehr angenehme, Herz und Sinn erfreuende Fahrt hatten wir die Lahn hinab. Beim Anblick einer merkwŸrdigen Burgruine schrieb ich jenes Lied: "Hoch auf dem alten Turme steht " in Lipsens Stammbuch und, als es wohl aufgenommen wurde, um, nach meiner bšsen Art, den Eindruck wieder zu verderben, allerlei Knittelreime und Possen auf die nŠchsten BlŠtter. Ich freute mich, den herrlichen Rhein wiederzusehn, und ergetzte mich an der †berraschung derer, die dieses Schauspiel noch nicht genossen hatten. Nun landeten wir in Koblenz; wohin wir traten, war der Zudrang sehr gro§, und jeder von uns dreien erregte nach seiner Art Anteil und Neugierde. Basedow und ich schienen zu wetteifern, wer am unartigsten sein kšnnte; Lavater benahm sich vernŸnftig und klug, nur da§ er seine Herzensmeinungen nicht verbergen konnte, und dadurch, mit dem reinsten Willen, allen Menschen vom Mittelschlag hšchst auffallend erschien.

Das Andenken an einen wunderlichen Wirtstisch in Koblenz habe ich in Knittelversen aufbewahrt, die nun auch, mit ihrer Sippschaft, in meiner neuen Ausgabe stehn mšgen. Ich sa§ zwischen Lavater und Basedow; der erste belehrte einen Landgeistlichen Ÿber die Geheimnisse der Offenbarung Johannis, und der andere bemŸhte sich vergebens, einem hartnŠckigen Tanzmeister zu beweisen, da§ die Taufe


ein veralteter und fŸr unsere Zeiten gar nicht berechneter Gebrauch sei. Und wie wir nun fŸrder nach Kšln zogen, schrieb ich in irgend ein Album:

            Und, wie nach Emmaus, weiter ging's

            Mit Sturm- und Feuerschritten:

            Prophete rechts, Prophete links,

            Das Weltkind in der Mitten.

GlŸcklicherweise hatte dieses Weltkind auch eine Seite, die nach dem Himmlischen deutete, welche nun auf eine ganz eigne Weise berŸhrt werden sollte. Schon in Ems hatte ich mich gefreut, als ich vernahm, da§ wir in Kšln die GebrŸder Jacobi treffen sollten, welche mit andern vorzŸglichen und aufmerksamen MŠnnern sich jenen beiden merkwŸrdigen Reisenden entgegen bewegten. Ich an meinem Teile hoffte von ihnen Vergebung wegen kleiner Unarten zu erhalten, die aus unserer gro§en, durch Herders scharfen Humor veranla§ten Unart entsprungen waren. Jene Briefe und Gedichte, worin Gleim und Georg Jacobi sich šffentlich an einander erfreuten, hatten uns zu mancherlei Scherzen Gelegenheit gegeben, und wir bedachten nicht, da§ ebenso viel SelbstgefŠlligkeit dazu gehšre, andern, die sich behaglich fŸhlen wehe zu tun, als sich selbst oder seinen Freunden ŸberflŸssiges Gute zu erzeigen. Es war dadurch eine gewisse Mi§helligkeit zwischen dem Ober- und Unterrhein entstanden, aber von so geringer Bedeutung, da§ sie leicht vermittelt werden konnte, und hierzu waren die Frauen vorzŸglich geeignet. Schon Sophie La Roche gab uns den besten Begriff von diesen edlen BrŸdern; Demoiselle Fahlmer, von DŸsseldorf nach Frankfurt gezogen, und jenem Kreise innig verwandt, gab durch die gro§e Zartheit ihres GemŸts, durch die ungemeine Bildung des Geistes ein Zeugnis von dem Wert der Gesellschaft, in der sie heransgewachsen. Sie beschŠmte uns nach und nach durch ihre Geduld mit unserer grellen oberdeutschen Manier, sie lehrte uns Schonung, indem sie uns fŸhlen lie§, da§ wir derselben


auch wohl bedŸrften. Die Treuherzigkeit der jŸngern Jacobischen Schwester, die gro§e Heiterkeit der Gattin von Fritz Jacobi leiteten unsern Geist und Sinn immer mehr und mehr nach jenen Gegenden. Die Letztgedachte war geeignet, mich všllig einzunehmen: ohne eine Spur von SentimentalitŠt richtig fŸhlend, sich munter ausdrŸckend, eine herrliche NiederlŠnderin, die, ohne Ausdruck von Sinnlichkeit, durch ihr tŸchtiges Wesen an die Rubensischen Frauen erinnerte. Genannte Damen hatten, bei lŠngerem und kŸrzerem Aufenthalt in Frankfurt, mit meiner Schwester die engste Verbindung geknŸpft, und das ernste, starre, gewisserma§en lieblose Wesen Corneliens aufgeschlossen und erheitert, und so war uns denn ein DŸsseldorf, ein Pempelfort dem Geist und Herzen nach in Frankfurt zuteil geworden.

Unser erstes Begegnen in Kšln konnte daher sogleich offen und zutraulich sein: denn jener Frauen gute Meinung von uns hatte gleichfalls nach Hause gewirkt; man behandelte mich nicht, wie bisher auf der Reise, blo§ als den Dunstschweif jener beiden gro§en Wandelsterne, sondern man wendete sich auch besonders an mich, um mir manches Gute zu erteilen, und schien geneigt, auch von mir zu empfangen. Ich war meiner bisherigen Torheiten und Frechheiten mŸde, hinter denen ich doch eigentlich nur den Unmut verbarg, da§ fŸr mein Herz, fŸr mein GemŸt auf dieser Reise so wenig gesorgt werde; es brach daher mein Inneres mit Gewalt hervor, und dies mag die Ursache sein, warum ich mich der einzelnen VorgŠnge wenig erinnere. Das, was man gedacht, die Bilder, die man gesehn, lassen sich in dem Verstand und in der Einbildungskraft wieder hervorrufen; aber das Herz ist nicht so gefŠllig, es wiederholt uns nicht die schšnen GefŸhle, und am wenigsten sind wir vermšgend, uns enthusiastische Momente wieder zu vergegenwŠrtigen; man wird unvorbereitet davon Ÿberfallen und ŸberlŠ§t sich ihnen unbewu§t. Andere, die uns in solchen Augenblicken beobachten, haben deshalb davon eine klarere und reinere Ansicht als wir selbst.


Religišse GesprŠche hatte ich bisher sachte abgelehnt, und verstŠndige Anfragen selten mit Bescheidenheit erwidert, weil sie mir gegen das, was ich suchte, nur allzu beschrŠnkt schienen. Wenn man mir seine GefŸhle, seine Meinungen Ÿber meine eignen Produktionen aufdringen wollte, besonders aber wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsverstandes peinigte und mir sehr entschieden vortrug, was ich hŠtte tun und lassen sollen, dann zerri§ der Geduldsfaden, und das GesprŠch zerbrach oder zerbršckelte sich, so da§ niemand mit einer sonderlich gŸnstigen Meinung von mir scheiden konnte. Viel natŸrlicher wŠre mir gewesen, mich freundlich und zart zu erweisen; aber mein GemŸt wollte nicht geschulmeistert, sondern durch freies Wohlwollen aufgeschlossen, und durch wahre Teilnahme zur Hingebung angeregt sein. Ein GefŸhl aber, das bei mir gewaltig Ÿberhand nahm, und sich nicht wundersam genug Šu§ern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas GespenstermŠ§iges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner grš§ern und kleinern Arbeiten ausgedrŸckt, und wirkt im Gedicht immer wohltŠtig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrŸckte, jedermann seltsam, unerklŠrlich, vielleicht unerfreulich scheinen mu§te.

Kšln war der Ort, wo das Altertum eine solche unzuberechnende Wirkung auf mich ausŸben konnte. Die Ruine des Doms (denn ein nichtfertiges Werk ist einem zerstšrten gleich) erregte die von Stra§burg her gewohnten GefŸhle. Kunstbetrachtungen konnte ich nicht anstellen, mir war zu viel und zu wenig gegeben, und niemand fand sich, der mir aus dem Labyrinth des Geleisteten und Beabsichtigten, der Tat und des Vorsatzes, des Erbauten und Angedeuteten hŠtte heraushelfen kšnnen, wie es jetzt wohl durch unsere flei§igen beharrlichen Freunde geschieht. In Gesellschaft bewunderte ich zwar diese merkwŸrdigen Hallen und Pfeiler, aber einsam versenkte ich mich in dieses, mitten in seiner


Erschaffung, fern von der Vollendung, schon erstarrte WeltgebŠude immer mi§mutig. Hier war abermals ein ungeheuerer Gedanke nicht zur AusfŸhrung gekommen! Scheint es doch, als wŠre die Architektur nur da, um uns zu Ÿberzeugen, da§ durch mehrere Menschen, in einer Folge von Zeit, nichts zu leisten ist, und da§ in KŸnsten und Taten nur dasjenige zustande kommt, was, wie Minerva, erwachsen und gerŸstet aus des Erfinders Haupt hervorspringt.

In diesen mehr drŸckenden als herzerhebenden Augenblicken ahndete ich nicht, da§ mich das zarteste und schšnste GefŸhl so ganz nah erwartete. Man fŸhrte mich in Jabachs Wohnung, wo mir das, was ich sonst nur innerlich zu bilden pflegte, wirklich und sinnlich entgegentrat. Diese Familie mochte lŠngst ausgestorben sein, aber in dem Untergescho§, das an einen Garten stie§, fanden wir nichts verŠndert. Ein durch braunrote Ziegelrauten regelmŠ§ig verziertes Estrich, hohe geschnitzte Sessel mit ausgenŠhten Sitzen und RŸcken, TischblŠtter, kŸnstlich eingelegt, auf schweren FŸ§en, metallene HŠngeleuchter, ein ungeheures Kamin und dem angemessenes FeuergerŠte, alles mit jenen frŸheren Tagen Ÿbereinstimmend und in dem ganzen Raume nichts neu, nichts heutig als wir selber. Was nun aber die hiedurch wundersam aufgeregten Empfindungen Ÿberschwenglich vermehrte und vollendete, war ein gro§es FamiliengemŠlde Ÿber dem Kamin. Der ehmalige reiche Inhaber dieser Wohnung sa§ mit seiner Frau, von Kindern umgeben, abgebildet: alle gegenwŠrtig, frisch und lebendig wie von gestern, ja von heute, und doch waren sie schon alle vorŸbergegangen. Auch diese frischen rundbŠckigen Kinder hatten gealtert, und ohne diese kunstreiche Abbildung wŠre kein GedŠchtnis von ihnen Ÿbrig geblieben. Wie ich, ŸberwŠltigt von diesen EindrŸcken, mich verhielt und benahm, wŸ§te ich nicht zu sagen. Der tiefste Grund meiner menschlichen Anlagen und dichterischen FŠhigkeiten ward durch die unendliche Herzensbewegung aufgedeckt, und alles Gute und Liebevolle, was in meinem GemŸte lag, mochte


sich aufschlie§en und hervorbrechen: denn von dem Augenblick an ward ich, ohne weitere Untersuchung und Verhandlung, der Neigung, des Vertrauens jener vorzŸglichen MŠnner fŸr mein Leben teilhaft.

In Gefolg von diesem Seelen- und Geistesverein, wo alles, was in einem jeden lebte, zur Sprache kam, erbot ich mich, meine neusten und liebsten Balladen zu rezitieren. "Der Kšnig von Thule" und "Es war ein Buhle frech genung" taten gute Wirkung, und ich trug sie um so gemŸtlicher vor, als meine Gedichte mir noch ans Herz geknŸpft waren, und nur selten Ÿber die Lippen kamen. Denn mich hinderten leicht gewisse gegenwŠrtige Personen, denen mein Ÿberzartes GefŸhl vielleicht unrecht tun mochte; ich ward manchmal mitten im Rezitieren irre und konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie oft bin ich nicht deshalb des Eigensinns und eines wunderlichen grillenhaften Wesens angeklagt worden!

Ob mich nun gleich die dichterische Darstellungsweise am meisten beschŠftigte, und meinem Naturell eigentlich zusagte, so war mir doch auch das Nachdenken Ÿber GegenstŠnde aller Art nicht fremd, und Jacobis originelle, seiner Natur gemŠ§e Richtung gegen das Unerforschliche hšchst willkommen und gemŸtlich. Hier tat sich kein Widerstreit hervor, nicht ein christlicher wie mit Lavater, nicht ein didaktischer wie mit Basedow. Die Gedanken, die mir Jacobi mitteilte, entsprangen unmittelbar aus seinem GefŸhl, und wie eigen war ich durchdrungen, als er mir, mit unbedingtem Vertrauen, die tiefsten Seelenforderungen nicht verhehlte. Aus einer so wundersamen Vereinigung von BedŸrfnis, Leidenschaft und Ideen konnten auch fŸr mich nur Vorahndungen entspringen dessen, was mir vielleicht kŸnftig deutlicher werden sollte. GlŸcklicherweise hatte ich mich auch schon von dieser Seite, wo nicht gebildet, doch bearbeitet und in mich das Dasein und die Denkweise eines au§erordentlichen Mannes aufgenommen, zwar nur unvollstŠndig und wie auf den Raub, aber ich empfand davon doch schon bedeutende Wirkungen. Dieser Geist, der so ent-


schieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so gro§en Einflu§ haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nŠmlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehn hatte, geriet ich endlich an die "Ethik " dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wŸ§te ich keine Rechenschaft zu geben, genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine gro§e und freie Aussicht Ÿber die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose UneigennŸtzigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: "Wer Gott recht liebt, mu§ nicht verlangen, da§ Gott ihn wieder liebe," mit allen den VordersŠtzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfŸllte mein ganzes Nachdenken. UneigennŸtzig zu sein in allem, am uneigennŸtzigsten in Liebe und Freundschaft, war meine hšchste Lust, meine Maxime, meine AusŸbung, so da§ jenes freche spŠtere Wort: "Wenn ich dich liebe, was geht's dich an?" mir recht aus dem Herzen gesprochen ist. †brigens mšge auch hier nicht verkannt werden, da§ eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen GegenstŠnden nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen SchŸler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande.

Noch war aber alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gŠrend und siedend. Fritz Jacobi, der erste, den ich in dieses Chaos hineinblicken lie§, er, dessen Natur gleichfalls im Tiefsten arbeitete, nahm mein Vertrauen herz-


lich auf, erwiderte dasselbe und suchte mich in seinen Sinn einzuleiten. Auch er empfand ein unaussprechliches geistiges BedŸrfnis, auch er wollte es nicht durch fremde HŸlfe beschwichtigt, sondern aus sich selbst herausgebildet und aufgeklŠrt haben. Was er mir von dem Zustande seines GemŸtes mitteilte, konnte ich nicht fassen, um so weniger, als ich mir keinen Begriff von meinem eignen machen konnte. Doch er, der in philosophischem Denken, selbst in Betrachtung des Spinoza, mir weit vorgeschritten war, suchte mein dunkles Bestreben zu leiten und aufzuklŠren. Eine solche reine Geistesverwandtschaft war mir neu, und erregte ein leidenschaftliches Verlangen fernerer Mitteilung. Nachts, als wir uns schon getrennt und in die Schlafzimmer zurŸckgezogen hatten, suchte ich ihn nochmals auf. Der Mondschein zitterte Ÿber dem breiten Rheine, und wir, am Fenster stehend, schwelgten in der FŸlle des Hin- und Widergebens, das in jener herrlichen Zeit der Entfaltung so reichlich aufquillt.

Doch wŸ§te ich von jenem Unaussprechlichen gegenwŠrtig keine Rechenschaft zu liefern; deutlicher ist mir eine Fahrt nach dem Jagdschlosse Bensberg, das, auf der rechten Seite des Rheins gelegen, der herrlichsten Aussicht geno§. Was mich daselbst Ÿber die Ma§en entzŸckte, waren die Wandverzierungen durch Weenix. Wohlgeordnet lagen alle Tiere, welche die Jagd nur liefern kann, rings umher wie auf dem Sockel einer gro§en SŠulenhalle; Ÿber sie hinaus sah man in eine weite Landschaft. Jene entlebten Geschšpfe zu beleben, hatte der au§erordentliche Mann sein ganzes Talent erschšpft, und in Darstellung des mannigfaltigsten tierischen †berkleides, der Borsten, der Haare, der Federn, des Geweihes, der Klauen, sich der Natur gleichgestellt, in Absicht auf Wirkung sie Ÿbertroffen. Hatte man die Kunstwerke im ganzen genugsam bewundert, so ward man genštigt, Ÿber die Handgriffe nachzudenken, wodurch solche Bilder so geistreich als mechanisch hervorgebracht werden konnten. Man begriff nicht, wie sie durch MenschenhŠnde entstanden seien und durch was fŸr Instrumente. Der Pinsel war nicht hin-


reichend; man mu§te ganz eigne Vorrichtungen annehmen, durch welche ein so Mannigfaltiges mšglich geworden. Man nŠherte, man entfernte sich mit gleichem Erstaunen: die Ursache war so bewundernswert als die Wirkung.

Die weitere Fahrt rheinabwŠrts ging froh und glŸcklich vonstatten. Die Ausbreitung des Flusses ladet auch das GemŸt ein, sich auszubreiten und nach der Ferne zu sehen. Wir gelangten nach DŸsseldorf und von da nach Pempelfort, dem angenehmsten und heitersten Aufenthalt, wo ein gerŠumiges WohngebŠude, an weite wohlunterhaltene GŠrten sto§end, einen sinnigen und sittigen Kreis versammelte. Die Familienglieder waren zahlreich und an Fremden fehlte es nie, die sich in diesen reichlichen und angenehmen VerhŠltnissen gar wohl gefielen.

In der DŸsseldorfer Galerie konnte meine Vorliebe fŸr die niederlŠndische Schule reichliche Nahrung finden. Der tŸchtigen, derben, von NaturfŸlle glŠnzenden Bilder fanden sich ganze SŠle, und wenn auch nicht eben meine Einsicht vermehrt wurde, meine Kenntnis ward doch bereichert und meine Liebhaberei bestŠrkt.

Die schšne Ruhe, Behaglichkeit und Beharrlichkeit, welche den Hauptcharakter dieses Familienvereins bezeichneten, belebten sich gar bald vor den Augen des Gastes, indem er wohl bemerken konnte, da§ ein weiter Wirkungskreis von hier ausging und anderwŠrts eingriff. Die TŠtigkeit und Wohlhabenheit benachbarter StŠdte und Ortschaften trug nicht wenig bei, das GefŸhl einer inneren Zufriedenheit zu erhšhen. Wir besuchten Elberfeld und erfreuten uns an der RŸhrigkeit so mancher wohlbestellten Fabriken. Hier fanden wir unsern Jung, genannt Stilling, wieder, der uns schon in Koblenz entgegengekommen war, und der den Glauben an Gott und die Treue gegen die Menschen immer zu seinem kšstlichen Geleit hatte. Hier sahen wir ihn in seinem Kreise und freuten uns des Zutrauens, das ihm seine MitbŸrger schenkten, die, mit irdischem Erwerb beschŠftigt, die himmlischen GŸter nicht au§er acht lie§en. Die betrieb-


same Gegend gab einen beruhigenden Anblick, weil das NŸtzliche hier aus Ordnung und Reinlichkeit hervortrat. Wir verlebten in diesen Betrachtungen glŸckliche Tage.

Kehrte ich dann wieder zu meinem Freunde Jacobi zurŸck, so geno§ ich des entzŸckenden GefŸhls einer Verbindung durch das innerste GemŸt. Wir waren beide von der lebendigsten Hoffnung gemeinsamer Wirkung belebt, dringend forderte ich ihn auf, alles, was in ihm sich rege und bewege, in irgend einer Form krŠftig darzustellen. Es war das Mittel, wodurch ich mich aus so viel Verwirrungen herausgerissen hatte, ich hoffte, es solle auch ihm zusagen. Er sŠumte nicht, es mit Mut zu ergreifen, und wie viel Gutes, Schšnes, Herzerfreuendes hat er nicht geleistet! Und so schieden wir endlich in der seligen Empfindung ewiger Vereinigung, ganz ohne VorgefŸhl, da§ unser Streben eine entgegengesetzte Richtung nehmen werde, wie es sich im Laufe des Lebens nur allzu sehr offenbarte.

Was mir ferner auf dem RŸckwege rheinaufwŠrts begegnet, ist mir ganz aus der Erinnerung verschwunden, teils, weil der zweite Anblick der GegenstŠnde in Gedanken mit dem ersten zu verflie§en pflegt, teils auch, weil ich, in mich gekehrt, das Viele, was ich erfahren hatte, zurecht zu legen, das, was BeschŠftigung gab, indem es mich zum Hervorbringen aufforderte, gedenke ich gegenwŠrtig zu reden.

Bei meiner Ÿberfreien Gesinnung, bei meinem všllig zweck- und planlosen Leben und Handeln konnte mir nicht verborgen bleiben, da§ Lavater und Basedow geistige, ja geistliche Mittel zu irdischen Zwecken gebrauchten. Mir, der ich mein Talent und meine Tage absichtslos vergeudete, mu§te schnell auffallen, da§ beide MŠnner, jeder auf seine Art, indem sie zu lehren, zu unterrichten und zu Ÿberzeugen bemŸht waren, doch auch gewisse Absichten im Hinterhalte verbargen, an deren Befšrderung ihnen sehr gelegen war. Lavater ging zart und klug, Basedow heftig, frevelhaft,


sogar plump zu Werke; auch waren beide von ihren Liebhabereien, Unternehmungen und von der Vortrefflichkeit ihres Treibens so Ÿberzeugt, da§ man sie fŸr redliche MŠnner halten, sie lieben und verehren mu§te. Lavatern besonders konnte man zum Ruhme nachsagen, da§ er wirklich hšhere Zwecke hatte und, wenn er weltklug handelte, wohl glauben durfte, der Zweck heilige die Mittel. Indem ich nun beide beobachtete, ja ihnen frei heraus meine Meinung gestand, und die ihrige dagegen vernahm, so wurde der Gedanke rege, da§ freilich der vorzŸgliche Mensch das Gšttliche, was in ihm ist, auch au§er sich verbreiten mšchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf sie zu wirken, mu§ er sich ihr gleichstellen; hierdurch aber vergibt er jenen hohen VorzŸgen gar sehr, und am Ende begibt er sich ihrer gŠnzlich. Das Himmlische, Ewige wird in den Kšrper irdischer Absichten eingesenkt und zu vergŠnglichen Schicksalen mit fortgerissen. Nun betrachtete ich den Lebensgang beider MŠnner aus diesem Gesichtspunkt, und sie schienen mir ebenso ehrwŸrdig als bedauernswert: denn ich glaubte vorauszusehn, da§ beide sich genštigt finden kšnnten, das Obere dem Unteren aufzuopfern. Weil ich nun aber alle Betrachtungen dieser Art bis aufs €u§erste verfolgte, und, Ÿber meine enge Erfahrung hinaus nach Šhnlichen FŠllen in der Geschichte mich umsah; so entwickelte sich bei mir der Vorsatz, an dem Leben Mahomets, den ich nie als einen BetrŸger hatte ansehn kšnnen, jene von mir in der Wirklichkeit so lebhaft angeschauten Wege, die, anstatt zum Heil, vielmehr zum Verderben fŸhren, dramatisch darzustellen. Ich hatte kurz vorher das Leben des orientalischen Propheten mit gro§em Interesse gelesen und studiert, und war daher, als der Gedanke mir aufging, ziemlich vorbereitet. Das Ganze nŠherte sich mehr der regelmŠ§igen Form, zu der ich mich schon wieder hinneigte, ob ich mich gleich der dem Theater einmal errungenen Freiheit, mit Zeit und Ort nach Belieben schalten zu dŸrfen, mŠ§ig bediente. Das StŸck fing mit einer Hymne an, welche Mahomet allein


unter dem heiteren Nachthimmel anstimmt. Erst verehrt er die unendlichen Gestirne als ebenso viele Gštter; dann steigt der freundliche Stern Gad (unser Jupiter) hervor, und nun wird diesem, als dem Kšnig der Gestirne, ausschlie§liche Verehrung gewidmet. Nicht lange, so bewegt sich der Mond herauf und gewinnt Aug und Herz des Anbetenden, der sodann, durch die hervortretende Sonne herrlich erquickt und gestŠrkt, zu neuem Preise aufgerufen wird. Aber dieser Wechsel, wie erfreulich er auch sein mag, ist dennoch beunruhigend, das GemŸt empfindet, da§ es sich nochmals Ÿberbieten mu§; es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen, Unbegrenzten, dem alle diese begrenzten herrlichen Wesen ihr Dasein zu verdanken haben. Diese Hymne hatte ich mit viel Liebe gedichtet; sie ist verloren gegangen, wŸrde sich aber zum Zweck einer Kantate wohl wieder herstellen lassen, und sich dem Musiker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks empfehlen. Man mŸ§te sich aber, wie es auch damals schon die Absicht war, den AnfŸhrer einer Karawane mit seiner Familie und dem ganzen Stamme denken, und so wŸrde fŸr die Abwechselung der Stimmen und die Macht der Chšre wohl gesorgt sein.

Nachdem sich also Mahomet selbst bekehrt, teilt er diese GefŸhle und Gesinnungen den Seinigen mit; seine Frau und Ali fallen ihm unbedingt zu. Im zweiten Akt versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben in dem Stamme weiter auszubreiten. Hier zeigt sich Beistimmung und Widersetzlichkeit, nach Verschiedenheit der Charakter. Der Zwist beginnt, der Streit wird gewaltsam, und Mahomet mu§ entfliehen. Im dritten Akt bezwingt er seine Gegner, macht seine Religion zur šffentlichen, reinigt die Kaaba von den Gštzenbildern; weil aber doch nicht alles durch Kraft zu tun ist, so mu§ er auch zur List seine Zuflucht nehmen. Das Irdische wŠchst und breitet sich aus, das Gšttliche tritt zurŸck und wird getrŸbt. Im vierten Akte verfolgt Mahomet seine Eroberungen, die Lehre wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkbaren Mittel mŸssen benutzt werden;


es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren Mann er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn. Im fŸnften fŸhlt er sich vergiftet. Seine gro§e Fassung, die Wiederkehr zu sich selbst, zum hšheren Sinne machen ihn der Bewunderung wŸrdig. Er reinigt seine Lehre, befestigt sein Reich und stirbt.

So war der Entwurf einer Arbeit, die mich lange im Geist beschŠftigte: denn gewšhnlich mu§te ich erst etwas im Sinne beisammen haben, eh ich zur AusfŸhrung schritt. Alles, was das Genie durch Charakter und Geist Ÿber die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und wie es dabei gewinnt und verliert. Mehrere einzuschaltende GesŠnge wurden vorlŠufig gedichtet, von denen ist allein noch Ÿbrig, was, Ÿberschrieben "Mahomets Gesang", unter meinen Gedichten steht. Im StŸcke sollte Ali, zu Ehren seines Meisters, auf dem hšchsten Punkte des Gelingens diesen Gesang vortragen, kurz vor der Umwendung, die durch das Gift geschieht. Ich erinnere mich auch noch der Intentionen einzelner Stellen, doch wŸrde mich die Entwickelung derselben hier zu weit fŸhren.


 

FŸnfzehntes Buch

 

Von so vielfachen Zerstreuungen, die doch meist zu ernsten, ja religišsen Betrachtungen Anla§ gaben, kehrte ich immer wieder zu meiner edlen Freundin von Klettenberg zurŸck, deren Gegenwart meine stŸrmischen, nach allen Seiten hinstrebenden Neigungen und Leidenschaften, wenigstens fŸr einen Augenblick, beschwichtigte, und der ich von solchen VorsŠtzen, nach meiner Schwester, am liebsten Rechenschaft gab. Ich hŠtte wohl bemerken kšnnen, da§ von Zeit zu Zeit ihre Gesundheit abnahm, allein ich verhehlte mir's, und durfte dies um so eher, als ihre Heiterkeit mit der Krankheit zunahm. Sie pflegte nett und reinlich am Fenster in ihrem Sessel zu sitzen, vernahm die ErzŠhlungen meiner AusflŸge mit Wohlwollen, sowie dasjenige, was ich ihr vorlas. Manchmal zeichnete ich ihr auch etwas hin, um die Gegenden leichter zu beschreiben, die ich gesehn hatte. Eines Abends, als ich mir eben mancherlei Bilder wieder hervorgerufen, kam, bei untergehender Sonne, sie und ihre Umgebung mir wie verklŠrt vor, und ich konnte mich nicht enthalten, so gut es meine UnfŠhigkeit zulie§, ihre Person und die GegenstŠnde des Zimmers in ein Bild zu bringen, das unter den HŠnden eines kunstfertigen Malers, wie Kersting, hšchst anmutig geworden wŠre. Ich sendete es an eine auswŠrtige Freundin und legte als Kommentar und Supplement ein Lied hinzu.

Sieh in diesem Zauberspiegel

Einen Traum, wie lieb und gut,

Unter ihres Gottes FlŸgel

Unsre Freundin leidend ruht.


Schaue, wie sie sich hinŸber

Aus des Lebens Woge stritt;

Sieh dein Bild ihr gegenŸber

Und den Gott, der fŸr euch litt.

 

FŸhle, was ich in dem Weben

Dieser Himmelsluft gefŸhlt,

Als mit ungeduld'gem Streben

Ich die Zeichnung hingewŸhlt.

Wenn ich mich in diesen Strophen, wie auch sonst wohl manchmal geschah, als einen AuswŠrtigen, Fremden, sogar als einen Heiden gab, war ihr dieses nicht zuwider, vielmehr versicherte sie mir, da§ ich ihr so lieber sei als frŸher, da ich mich der christlichen Terminologie bedient, deren Anwendung mir nie recht habe glŸcken wollen; ja es war schon hergebracht, wenn ich ihr Missionsberichte vorlas, welche zu hšren ihr immer sehr angenehm war, da§ ich mich der Všlker gegen die Missionarien annehmen, und ihren frŸheren Zustand dem neuern vorziehen durfte. Sie blieb immer freundlich und sanft, und schien meiner und meines Heils wegen nicht in der mindesten Sorge zu sein.

Da§ ich mich aber nach und nach immer mehr von jenem Bekenntnis entfernte, kam daher, weil ich dasselbe mit allzu gro§em Ernst, mit leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht hatte. Seit meiner AnnŠherung an die BrŸdergemeine hatte meine Neigung zu dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte, immer zugenommen. Jede positive Religion hat ihren grš§ten Reiz, wenn sie im Werden begriffen ist; deswegen ist es so angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu denken, wo sich alles noch frisch und unmittelbar geistig darstellt, und die BrŸdergemeine hatte hierin etwas Magisches, da§ sie jenen ersten Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen schien. Sie knŸpfte ihren Ursprung an die frŸhsten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden, sie hatte sich nur in unbemerkten Ranken durch die rohe Welt hindurchgewunden; nun schlug ein


einzelnes Auge, unter dem Schutz eines frommen vorzŸglichen Mannes, Wurzel, um sich abermals aus unmerklichen, zufŠllig scheinenden AnfŠngen weit Ÿber die Welt auszubreiten. Der wichtigste Punkt hierbei war der, da§ man die religišse und bŸrgerliche Verfassung unzertrennlich in eins zusammenschlang, da§ der Lehrer zugleich als Gebieter, der Vater zugleich als Richter dastand; ja, was noch mehr war, das gšttliche Oberhaupt, dem man in geistlichen Dingen einen unbedingten Glauben geschenkt hatte, ward auch zu Lenkung weltlicher Angelegenheiten angerufen, und seine Antwort, sowohl was die Verwaltung im ganzen, als auch was jeden einzelnen bestimmen sollte, durch den Ausspruch des Loses mit Ergebenheit vernommen. Die schšne Ruhe, wie sie wenigstens das €u§ere bezeugte, war hšchst einladend, indem von der andern Seite, durch den Missionsberuf, alle Tatkraft, die in dem Menschen liegt, in Anspruch genommen wurde. Die trefflichen MŠnner, die ich auf dem Synodus zu Marienborn, wohin mich Legationsrat Moritz, GeschŠftstrŠger der Grafen von Isenburg, mitnahm, kennen lernte, hatten meine ganze Verehrung gewonnen, und es wŠre nur auf sie angekommen, mich zu dem Ihrigen zu machen. Ich beschŠftigte mich mit ihrer Geschichte, mit ihrer Lehre, der Herkunft und Ausbildung derselben, und fand mich in dem Fall, davon Rechenschaft zu geben, und mich mit Teilnehmenden darŸber zu unterhalten. Ich mu§te jedoch bemerken, da§ die BrŸder so wenig als FrŠulein von Klettenberg mich fŸr einen Christen wollten gelten lassen, welches mich anfangs beunruhigte, nachher aber meine Neigung einigerma§en erkŠltete. Lange konnte ich jedoch den eigentlichen Unterscheidungsgrund nicht auffinden, ob er gleich ziemlich am Tage lag, bis er mir mehr zufŠllig als durch Forschung entgegendrang. Was mich nŠmlich von der BrŸdergemeine so wie von andern werten Christenseelen absonderte, war dasselbige, worŸber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten war. Ein Teil behauptete, da§ die menschliche Natur durch den SŸndenfall der-


gestalt verdorben sei, da§ auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch auf seine eignen KrŠfte durchaus Verzicht zu tun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die erblichen MŠngel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen gewissen Keim zugestehn, welcher, durch gšttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baume geistiger GlŸckseligkeit emporwachsen kšnne. Von dieser letztern †berzeugung war ich aufs innigste durchdrungen, ohne es selbst zu wissen, obwohl ich mich mit Mund und Feder zu dem Gegenteile bekannt hatte; aber ich dŠmmerte so hin, das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie ausgesprochen. Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz unvermutet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, hšchst unschuldige Meinung in einem geistlichen GesprŠch ganz unbewunden eršffnete, und deshalb eine gro§e Strafpredigt erdulden mu§te. Dies sei eben, behauptete man mir entgegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum UnglŸck der neueren Zeit wolle diese verderbliche Lehre wieder um sich greifen. Ich war hierŸber erstaunt, ja erschrocken. Ich ging in die Kirchengeschichte zurŸck, betrachtete die Lehre und die Schicksale des Pelagius nŠher, und sah nun deutlich, wie diese beiden unvereinbaren Meinungen durch Jahrhunderte hin und her gewogt, und von den Menschen, je nachdem sie mehr tŠtiger oder leidender Natur gewesen, aufgenommen und bekannt worden.

Mich hatte der Lauf der vergangenen Jahre unablŠssig zu †bung eigner Kraft aufgefordert, in mir arbeitete eine rastlose TŠtigkeit, mit dem besten Willen, zu moralischer Ausbildung. Die Au§enwelt forderte, da§ diese TŠtigkeit geregelt und zum Nutzen anderer gebraucht werden sollte, und ich hatte diese gro§e Forderung in mir selbst zu verarbeiten. Nach allen Seiten hin war ich an die Natur gewiesen, sie war mir in ihrer Herrlichkeit erschienen; ich hatte so viel wackere und brave Menschen kennen gelernt, die sich's


in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen, sauer werden lie§en; ihnen, ja mir selbst zu entsagen, schien mir unmšglich; die Kluft, die mich von jener Lehre trennte, ward mir deutlich, ich mu§te also auch aus dieser Gesellschaft scheiden, und da mir meine Neigung zu den Heiligen Schriften sowie zu dem Stifter und den frŸheren Bekennern nicht geraubt werden konnte, so bildete ich mir ein Christentum zu meinem Privatgebrauch, und suchte dieses durch flei§iges Studium der Geschichte, und durch genaue Bemerkung derjenigen, die sich zu meinem Sinne hingeneigt hatten, zu begrŸnden und aufzubauen.

Weil nun aber alles, was ich mit Liebe in mich aufnahm, sich sogleich zu einer dichterischen Form anlegte, so ergriff ich den wunderlichen Einfall, die Geschichte des ewigen Juden, die sich schon frŸh durch die VolksbŸcher bei mir eingedrŸckt hatte, episch zu behandeln, um an diesem Leitfaden die hervorstehenden Punkte der Religions- und Kirchengeschichte nach Befinden darzustellen. Wie ich mir aber die Fabel gebildet, und welchen Sinn ich ihr untergelegt, gedenke ich nunmehr zu erzŠhlen.

In Jerusalem befand sich ein Schuster, dem die Legende den Namen Ahasverus gibt. Zu diesem hatte mir mein Dresdner Schuster die GrundzŸge geliefert. Ich hatte ihn mit eines Handwerksgenossen, mit Hans Sachsens, Geist und Humor bestens ausgestattet, und ihn durch eine Neigung zu Christo veredelt. Weil er nun, bei offener Werkstatt, sich gern mit den Vorbeigehenden unterhielt, sie neckte und, auf sokratische Weise, jeden nach seiner Art anregte; so verweilten die Nachbarn und andre vom Volk gern bei ihm, auch PharisŠer und SadduzŠer sprachen zu, und begleitet von seinen JŸngern, mochte der Heiland selbst wohl auch manchmal bei ihm verweilen. Der Schuster, dessen Sinn blo§ auf die Welt gerichtet war, fa§te doch zu unserem Herrn eine besondere Neigung, die sich hauptsŠchlich dadurch Šu§erte, da§ er den hohen Mann, dessen Sinn er nicht fa§te, zu seiner eignen Denk- und Handelsweise bekehren


wollte. Er lag daher Christo sehr instŠndig an, doch aus der Beschaulichkeit hervorzutreten, nicht mit solchen MŸ§iggŠngern im Lande herumzuziehn, nicht das Volk von der Arbeit hinweg an sich in die Einšde zu locken: ein versammeltes Volk sei immer ein aufgeregtes, und es werde nichts Gutes daraus entstehn.

Dagegen suchte ihn der Herr von seinen hšheren Ansichten und Zwecken sinnbildlich zu belehren, die aber bei dem derben Manne nicht fruchten wollten. Daher, als Christus immer bedeutender, ja eine šffentliche Person ward, lie§ sich der wohlwollende Handwerker immer schŠrfer und heftiger vernehmen, stellte vor, da§ hieraus notwendig Unruhen und AufstŠnde erfolgen, und Christus selbst genštigt sein wŸrde, sich als Parteihaupt zu erklŠren, welches doch unmšglich seine Absicht sei. Da nun der Verlauf der Sache wie wir wissen erfolgt, Christus gefangen und verurteilt ist, so wird Ahasverus noch heftiger aufgeregt, als Judas, der scheinbar den Herrn verraten, verzweifelnd in die Werkstatt tritt, und jammernd seine mi§lungene Tat erzŠhlt. Er sei nŠmlich, so gut als die klŸgsten der Ÿbrigen AnhŠnger, fest Ÿberzeugt gewesen, da§ Christus sich als Regent und Volkshaupt erklŠren werde, und habe das bisher unŸberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur Tat nštigen wollen, und deswegen die Priesterschaft zu TŠtlichkeiten aufgereizt, welche auch diese bisher nicht gewagt. Von der JŸnger Seite sei man auch nicht unbewaffnet gewesen, und wahrscheinlicherweise wŠre alles gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie in den traurigsten ZustŠnden zurŸckgelassen hŠtte. Ahasverus, durch diese ErzŠhlungen keineswegs zur Milde gestimmt, verbittert vielmehr noch den Zustand des armen Exapostels, so da§ diesem nichts Ÿbrig bleibt, als in der Eile sich aufzuhŠngen. Als nun Jesus vor der Werkstatt des Schusters vorbei zum Tode gefŸhrt wird, ereignet sich gerade dort die bekannte Szene, da§ der Leidende unter der Last des Kreuzes erliegt, und Simon von Cyrene dasselbe weiter zu tragen gezwungen


wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverstŠndiger Menschen Art, die, wenn sie jemand durch eigne Schuld unglŸcklich sehn, kein Mitleid fŸhlen, ja vielmehr, durch unzeitige Gerechtigkeit gedrungen, das †bel durch VorwŸrfe vermehren; er tritt heraus und wiederholt alle frŸheren Warnungen, die er in heftige Beschuldigungen verwandelt, wozu ihn seine Neigung fŸr den Leidenden zu berechtigen scheint. Dieser antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche, und da sie es wegnimmt, und in die Hšhe hŠlt, erblickt Ahasverus darauf das Antlitz des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart Leidenden, sondern eines herrlich VerklŠrten und himmlisches Leben Ausstrahlenden. Geblendet von dieser Erscheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte: "Du wandelst auf Erden, bis du mich in dieser Gestalt wieder erblickst." Der Betroffene kommt erst einige Zeit nachher zu sich selbst zurŸck, findet, da alles sich zum Gerichtsplatz gedrŠngt hat, die Stra§en Jerusalems šde, Unruhe und Sehnsucht treiben ihn fort, und er beginnt seine Wanderung.

Von dieser und von dem Ereignis, wodurch das Gedicht zwar geendigt, aber nicht abgeschlossen wird, vielleicht ein andermal. Der Anfang, zerstreute Stellen, und der Schlu§ waren geschrieben; aber mir fehlte die Sammlung, mir fehlte die Zeit, die nštigen Studien zu machen, da§ ich ihm hŠtte den Gehalt, den ich wŸnschte, geben kšnnen, und es blieben die wenigen BlŠtter um desto eher liegen, als sich eine Epoche in mir entwickelte, die sich schon, als ich den "Werther" schrieb, und nachher dessen Wirkungen sah, notwendig anspinnen mu§te.

Das gemeine Menschenschicksal, an welchem wir alle zu tragen haben, mu§ denjenigen am schwersten aufliegen, deren GeisteskrŠfte sich frŸher und breiter entwickeln. Wir mšgen unter dem Schutz von Eltern und Verwandten emporkommen, wir mšgen uns an Geschwister und Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Per-


sonen beglŸckt werden; so ist doch immer das Final, da§ der Mensch auf sich zurŸckgewiesen wird, und es scheint, es habe sogar die Gottheit sich so zu dem Menschen gestellt, da§ sie dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigstens nicht grade im dringenden Augenblick, erwidern kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, da§ in den hŸlfsbedŸrftigsten Momenten uns zugerufen wird: "Arzt, hilf dir selber!" und wie oft hatte ich nicht schmerzlich ausseufzen mŸssen: "Ich trete die Kelter allein." Indem ich mich also nach BestŠtigung der SelbstŠndigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein produktives Talent. Es verlie§ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich wachend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar šfters nachts in regelmŠ§ige TrŠume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze, oder der Teil eines schon Vorhandenen. Gewšhnlich schrieb ich alles zur frŸhsten Tageszeit; aber auch abends, ja tief in die Nacht, wenn Wein und Geselligkeit die Lebensgeister erhšhten, konnte man von mir fordern, was man wollte; es kam nur auf eine Gelegenheit an, die einigen Charakter hatte, so war ich bereit und fertig. Wie ich nun Ÿber diese Naturgabe nachdachte und fand, da§ sie mir ganz eigen angehšre und durch nichts Fremdes weder begŸnstigt noch gehindert werden kšnne, so mochte ich gern hierauf mein ganzes Dasein in Gedanken grŸnden. Diese Vorstellung verwandelte sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgesondert von den Gšttern, von seiner WerkstŠtte aus eine Welt bevšlkerte. Ich fŸhlte recht gut, da§ sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere. Meine Sachen, die so viel Beifall gefunden hatten, waren Kinder der Einsamkeit, und seitdem ich zu der Welt in einem breitern VerhŠltnis stand, fehlte es nicht an Kraft und Lust der Erfindung, aber die AusfŸhrung stockte, weil ich weder in Prosa noch in Versen eigentlich einen Stil hatte, und bei einer jeden neuen Arbeit, je nachdem der Gegenstand war, immer von


vorne tasten und versuchen mu§te. Indem ich nun hierbei die HŸlfe der Menschen abzulehnen, ja auszuschlie§en hatte, so sonderte ich mich, nach Prometheischer Weise, auch von den Gšttern ab, um so natŸrlicher, als bei meinem Charakter und meiner Denkweise eine Gesinnung jederzeit die Ÿbrigen verschlang und abstie§.

Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig. Das alte Titanengewand schnitt ich mir nach meinem Wuchse zu, und fing, ohne weiter nachgedacht zu haben, ein StŸck zu schreiben an, worin das Mi§verhŠltnis dargestellt ist, in welches Prometheus zu dem Zeus und den neuen Gšttern gerŠt, indem er auf eigne Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet. Und wirklich hatten die jetzt regierenden Gštter sich zu beschweren všllig Ursache, weil man sie als unrechtmŠ§ig zwischen die Titanen und Menschen eingeschobene Wesen betrachten konnte. Zu dieser seltsamen Komposition gehšrt als Monolog jenes Gedicht, das in der deutschen Literatur bedeutend geworden, weil, dadurch veranla§t, Lessing Ÿber wichtige Punkte des Denkens und Empfindens sich gegen Jacobi erklŠrte. Es diente zum ZŸndkraut einer Explosion, welche die geheimsten VerhŠltnisse wŸrdiger MŠnner aufdeckte und zur Sprache brachte: VerhŠltnisse, die, ihnen selbst unbewu§t, in einer sonst hšchst aufgeklŠrten Gesellschaft schlummerten. Der Ri§ war so gewaltsam, da§ wir darŸber, bei eintretenden ZufŠlligkeiten, einen unserer wŸrdigsten MŠnner, Mendelssohn, verloren.

Ob man nun wohl, wie auch geschehn, bei diesem Gegenstande philosophische, ja religišse Betrachtungen anstellen kann, so gehšrt er doch ganz eigentlich der Poesie. Die Titanen sind die Folie des Polytheismus, so wie man als Folie des Monotheismus den Teufel betrachten kann; doch ist dieser so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine poetische Figur. Der Satan Miltons, brav genug gezeichnet, bleibt immer in dem Nachteil der SubalternitŠt, indem er die herrliche Schšpfung eines oberen Wesens zu zerstšren


sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz hšherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag. Auch ist es ein schšner, der Poesie zusagender Gedanke, die Menschen nicht durch den obersten Weltherrscher, sondern durch eine Mittelfigur hervorbringen zu lassen, die aber doch, als Abkšmmling der Šltesten Dynastie, hierzu wŸrdig und wichtig genug ist; wie denn Ÿberhaupt die griechische Mythologie einen unerschšpflichen Reichtum gšttlicher und menschlicher Symbole darbietet.

Der titanisch-gigantische, himmelstŸrmende Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich ihr gleichsetzen mšchte. Doch auch die KŸhneren jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion, Sisyphus, waren meine Heiligen. In die Gesellschaft der Gštter aufgenommen, mochten sie sich nicht untergeordnet genug betragen, als ŸbermŸtige GŠste ihres wirtlichen Gšnners Zorn verdient und sich eine traurige Verbannung zugezogen haben. Ich bemitleidete sie, ihr Zustand war von den Alten schon als wahrhaft tragisch anerkannt, und wenn ich sie als Glieder einer ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner "Iphigenie" zeigte, so bin ich ihnen wohl einen Teil der Wirkung schuldig, welche dieses StŸck hervorzubringen das GlŸck hatte.

Zu jener Zeit aber ging bei mir das Dichten und Bilden unaufhaltsam miteinander. Ich zeichnete die PortrŠte meiner Freunde im Profil auf grau Papier mit wei§er und schwarzer Kreide. Wenn ich diktierte oder mir vorlesen lie§, entwarf ich die Stellungen der Schreibenden und Lesenden, mit ihrer Umgebung; die €hnlichkeit war nicht zu verkennen, und die BlŠtter wurden gut aufgenommen. Diesen Vorteil haben Dilettanten immer, weil sie ihre Arbeit umsonst geben. Das UnzulŠngliche dieses Abbildens jedoch fŸhlend, griff ich wieder zu Sprache und Rhythmus, die mir besser zu Gebote standen. Wie munter, froh und rasch ich dabei zu Werke ging, davon zeugen manche Gedichte, welche, die Kunst-


natur und die Naturkunst enthusiastisch verkŸndend, im Augenblicke des Entstehens sowohl mir als meinen Freunden immer neuen Mut befšrderten.

Als ich nun einst in dieser Epoche und so beschŠftigt, bei gesperrtem Lichte, in meinem Zimmer sa§, dem wenigstens der Schein einer KŸnstlerwerkstatt hierdurch verliehen war, Ÿberdies auch die WŠnde, mit halbfertigen Arbeiten besteckt und behangen, das Vorurteil einer gro§en TŠtigkeit gaben; so trat ein wohlgebildeter schlanker Mann bei mir ein, den ich zuerst in der HalbdŠmmerung fŸr Fritz Jacobi hielt, bald aber meinen Irrtum erkennend als einen Fremden begrŸ§te. An seinem freien anstŠndigen Betragen war eine gewisse militŠrische Haltung nicht zu verkennen. Er nannte mir seinen Namen von Knebel, und aus einer kurzen Eršffnung vernahm ich, da§ er, im preu§ischen Dienste, bei einem lŠngern Aufenthalt in Berlin und Potsdam, mit den dortigen Literatoren und der deutschen Literatur Ÿberhaupt ein gutes und tŠtiges VerhŠltnis angeknŸpft habe. An Ramlern hatte er sich vorzŸglich gehalten und dessen Art, Gedichte zu rezitieren, angenommen. Auch war er genau mit allem bekannt, was Gštz geschrieben, der unter den Deutschen damals noch keinen Namen hatte. Durch seine Veranstaltung war die "MŠdcheninsel" dieses Dichters in Potsdam abgedruckt worden und sogar dem Kšnig in die HŠnde gekommen, welcher sich gŸnstig darŸber geŠu§ert haben soll.

Kaum hatten wir diese allgemein deutschen literarischen GegenstŠnde durchgesprochen, als ich zu meinem VergnŸgen erfuhr, da§ er gegenwŠrtig in Weimar angestellt und zwar dem Prinzen Konstantin zum Begleiter bestimmt sei. Von den dortigen VerhŠltnissen hatte ich schon manches GŸnstige vernommen: denn es kamen viele Fremde von daher zu uns, die Zeugen gewesen waren, wie die Herzogin Amalia zu Erziehung ihrer Prinzen die vorzŸglichsten MŠnner berufen; wie die Akademie Jena durch ihre bedeutenden Lehrer zu diesem schšnen Zweck gleichfalls das Ihrige beigetragen; wie die KŸnste nicht nur von gedachter FŸrstin


geschŸtzt, sondern selbst von ihr grŸndlich und eifrig getrieben wŸrden. Auch vernahm man, da§ Wieland in vorzŸglicher Gunst stehe; wie denn auch der "Deutsche Merkur", der die Arbeiten so mancher auwŠrtigen Gelehrten versammelte, nicht wenig zu dem Rufe der Stadt beitrug, wo er herausgegeben wurde. Eins der besten deutschen Theater war dort eingerichtet, und berŸhmt durch Schauspieler sowohl als Autoren, die dafŸr arbeiteten. Diese schšnen Anstalten und Anlagen schienen jedoch durch den schrecklichen Schlo§brand, der im Mai desselben Jahres sich ereignet hatte, gestšrt und mit einer langen Stockung bedroht; allein das Zutrauen auf den Erbprinzen war so gro§, da§ jedermann sich Ÿberzeugt hielt, dieser Schade werde nicht allein bald ersetzt, sondern auch dessen ungeachtet jede andere Hoffnung reichlich erfŸllt werden. Wie ich mich nun, gleichsam als ein alter Bekannter, nach diesen Personen und GegenstŠnden erkundigte und den Wunsch Šu§erte, mit den dortigen VerhŠltnissen nŠher bekannt zu sein; so versetzte der Ankšmmling gar freundlich: es sei nichts leichter als dieses, denn soeben lange der Erbprinz mit seinem Herrn Bruder, dem Prinzen Konstantin, in Frankfurt an, welche mich zu sprechen und zu kennen wŸnschten. Ich zeigte sogleich die grš§te Bereitwilligkeit ihnen aufzuwarten, und der neue Freund versetzte, da§ ich damit nicht sŠumen solle, weil der Aufenthalt nicht lange dauern werde. Um mich hiezu anzuschicken, fŸhrte ich ihn zu meinen Eltern, die, Ÿber seine Ankunft und Botschaft hšchst verwundert, mit ihm sich ganz vergnŸglich unterhielten. Ich eilte nunmehr mit demselben zu den jungen FŸrsten, die mich sehr frei und freundlich empfingen, so wie auch der FŸhrer des Erbprinzen, Graf Gšrtz, mich nicht ungern zu sehen schien. Ob es nun gleich an literarischer Unterhaltung nicht fehlte, so machte doch ein Zufall die beste Einleitung, da§ sie gar bald bedeutend und fruchtbar werden konnte.

Es lagen nŠmlich Mšsers "Patriotische Phantasien", und zwar der erste Teil, frisch geheftet und unaufgeschnitten, auf


dem Tische. Da ich sie nun sehr gut, die Gesellschaft sie aber wenig kannte, so hatte ich den Vorteil, davon eine ausfŸhrliche Relation liefern zu kšnnen; und hier fand sich der schicklichste Anla§ zu einem GesprŠch mit einem jungen FŸrsten, der den besten Willen und den festen Vorsatz hatte, an seiner Stelle entschieden Gutes zu wirken. Mšsers Darstellung, so dem Inhalt als dem Sinne nach, mu§ einem jeden Deutschen hšchst interessant sein. Wenn man sonst dem Deutschen Reiche Zersplitterung, Anarchie und Ohnmacht vorwarf, so erschien aus dem Mšserischen Standpunkte gerade die Menge kleiner Staaten als hšchst erwŸnscht zu Ausbreitung der Kultur im einzelnen, nach den BedŸrfnissen, welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedensten Provinzen hervorgehe; und wenn Mšser, von der Stadt, vom Stift OsnabrŸck ausgehend und Ÿber den westfŠlischen Kreis sich verbreitend, nunmehr dessen VerhŠltnis zu dem ganzen Reiche zu schildern wu§te, und bei Beurteilung der Lage, das Vergangene mit dem GegenwŠrtigen zusammenknŸpfend, dieses aus jenem ableitete und dadurch, ob eine VerŠnderung lobens- oder tadelnswŸrdig sei, gar deutlich auseinander setzte: so durfte nur jeder Staatsverweser, an seinem Ort, auf gleiche Weise verfahren, um die Verfassung seines Umkreises und deren VerknŸpfung mit Nachbarn und mit dem Ganzen aufs beste kennen zu lernen, und sowohl Gegenwart als Zukunft zu beurteilen.

Bei dieser Gelegenheit kam manches aufs Tapet, was den Unterschied der ober- und niedersŠchsischen Staaten betraf, und wie sowohl die Naturprodukte als die Sitten, Gesetze und Gewohnheiten sich von den frŸhesten Zeiten her anders gebildet und, nach der Regierungsform und der Religion, bald auf die eine bald auf die andere Weise gelenkt hatten. Man versuchte, die Unterschiede von beiden etwas genauer herauszusetzen, und es zeigte sich gerade daran, wie vorteilhaft es sei, ein gutes Muster vor sich zu haben, welches, wenn man nicht dessen Einzelnheiten, sondern die Methode betrachtet, nach welcher es angelegt ist, auf die verschieden-


sten FŠlle angewendet und eben dadurch dem Urteil hšchst ersprie§lich werden kann.

Bei Tafel wurden diese GesprŠche fortgesetzt, und sie erregten fŸr mich ein besseres Vorurteil, als ich vielleicht verdiente. Denn anstatt da§ ich diejenigen Arbeiten, die ich selbst zu liefern vermochte, zum Gegenstand des GesprŠchs gemacht, fŸr das Schauspiel, fŸr den Roman eine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert hŠtte, so schien ich vielmehr in Mšsern solche Schriftsteller vorzuziehen, deren Talent aus dem tŠtigen Leben ausging und in dasselbe unmittelbar nŸtzlich sogleich wieder zurŸckkehrte, wŠhrend eigentlich poetische Arbeiten, die Ÿber dem Sittlichen und Sinnlichen schweben, erst durch einen Umschweif und gleichsam nur zufŠllig nŸtzen kšnnen. Bei diesen GesprŠchen ging es nun wie bei den MŠrchen der "Tausendundeinen Nacht": es schob sich eine bedeutende Materie in und Ÿber die andere, manches Thema klang nur an, ohne da§ man es hŠtte verfolgen kšnnen; und so ward, weil der Aufenthalt der jungen Herrschaften in Frankfurt nur kurz sein konnte, mir das Versprechen abgenommen, da§ ich nach Mainz folgen und dort einige Tage zubringen sollte, welches ich denn herzlich gern ablegte und mit dieser vergnŸgten Nachricht nach Hause eilte, um solche meinen Eltern mitzuteilen.

Meinem Vater wollte es jedoch keineswegs gefallen: denn nach seinen reichsbŸrgerlichen Gesinnungen hatte er sich jederzeit von den Gro§en entfernt gehalten, und obgleich mit den GeschŠftstrŠgern der umliegenden FŸrsten und Herren in Verbindung, stand er doch keineswegs in persšnlichen VerhŠltnissen zu ihnen; ja es gehšrten die Hšfe unter die GegenstŠnde, worŸber er zu scherzen pflegte, auch wohl gern sah, wenn man ihm etwas entgegensetzte, nur mu§te man sich dabei, nach seinem BedŸnken, geistreich und witzig verhalten. Hatten wir ihm das Procul a Jove procul a fulmine gelten lassen, doch aber bemerkt, da§ beim Blitze nicht sowohl vom Woher als vom Wohin die Rede sei; so brachte er das alte SprŸchlein, mit gro§en Herren sei Kirsch


essen nicht gut, auf die Bahn. Wir erwiderten, es sei noch schlimmer, mit genŠschigen Leuten aus einem Korbe speisen. Das wollte er nicht leugnen, hatte aber schnell einen anderen Spruchreim zur Hand, der uns in Verlegenheit setzen sollte. Denn da SprŸchworte und Denkreime vom Volke ausgehn, welches, weil es gehorchen mu§, doch wenigstens gern reden mag, die Oberen dagegen durch die Tat sich zu entschŠdigen wissen; da ferner die Poesie des sechzehnten Jahrhunderts fast durchaus krŠftig didaktisch ist: so kann es in unserer Sprache an Ernst und Scherz nicht fehlen, den man von unten nach oben hinauf ausgeŸbt hat. Und so Ÿbten wir JŸngeren uns nun auch von oben herunter, indem wir, uns was Gro§es einbildend, auch die Partei der Gro§en zu nehmen beliebten; von welchen Reden und Gegenreden ich einiges einschalte:

                        A.

Lang bei Hofe, lang bei Hšll!

 

                        B.

Dort wŠrmt sich mancher gute Gesell!

 

                        A.

So wie ich bin, bin ich mein eigen;

Mir soll niemand eine Gunst erzeigen.

 

                        B.

Was willst du dich der Gunst denn schŠmen?

Willst du sie geben, mu§t du sie nehmen.

 

                        A.

Willst du die Not des Hofes schauen:

Da wo dich's juckt, darfst du nicht krauen!

 

                        B.

Wenn der Redner zum Volke spricht,

Da wo er kraut, da juckt's ihn nicht.


                        A.

Hat einer Knechtschaft sich erkoren,

Ist gleich die HŠlfte des Lebens verloren;

Ergeb' sich was da will, so denk' er,

Die andere HŠlft' geht auch zum Henker.

 

                        B.

Wer sich in FŸrsten wei§ zu schicken,

Dem wird's heut oder morgen glŸcken;

Wer sich in den Pšbel zu schicken sucht,

Der hat sein ganzes Jahr verflucht.

 

                        A.

Wenn dir der Weizen bei Hofe blŸht,

So denke nur, da§ nichts geschieht;

Und wenn du denkst, du hŠttest's in der Scheuer,

Da eben ist es nicht geheuer.

 

                        B.

Und blŸht der Weizen, so reift er auch,

Das ist immer so ein alter Brauch;

Und schlŠgt der Hagel die Ernte nieder,

's andre Jahr trŠgt der Boden wieder.

 

                        A.

Wer ganz will sein eigen sein,

Schlie§e sich ins HŠuschen ein,

Geselle sich zu Frau und Kindern,

Genie§e leichten Rebenmost

Und Ÿberdies frugale Kost,

Und nichts wird ihn am Leben hindern.

 

                        B.

Du willst dem Herrscher dich entziehn?

So sag, wohin willst du denn fliehn?

O nimm es nur nicht so genau!

Denn es beherrscht dich deine Frau,

Und die beherrscht ihr dummer Bube,

So bist du Knecht in deiner Stube.


Soeben, da ich aus alten DenkblŠttchen die vorstehenden Reime zusammensuche, fallen mir mehr solche lustige †bungen in die HŠnde, wo wir alte deutsche Kernworte amplifiziert und ihnen sodann andere SprŸchlein, welche sich in der Erfahrung ebenso gut bewahrheiten, entgegengesetzt hatten. Eine Auswahl derselben mag dereinst als Epilog der Puppenspiele zu einem heiteren Denken Anla§ geben.

Durch alle solche Erwiderungen lie§ sich jedoch mein Vater von seinen Gesinnungen nicht abwendig machen. Er pflegte gewšhnlich sein stŠrkstes Argument bis zum Schlusse der Unterhaltung aufzusparen, da er denn Voltaires Abenteuer mit Friedrich dem Zweiten umstŠndlich ausmalte: wie die Ÿbergro§e Gunst, die FamiliaritŠt, die wechselseitigen Verbindlichkeiten auf einmal aufgehoben und verschwanden, und wir das Schauspiel erlebt, da§ jener au§erordentliche Dichter und Schriftsteller, durch Frankfurter Stadtsoldaten, auf Requisition des Residenten Freitag und nach Befehl des Burgemeisters von Fichard, arretiert und eine ziemliche Zeit im Gasthof "Zur Rose" auf der Zeil gefŠnglich angehalten worden. Hierauf hŠtte sich zwar manches einwenden lassen, unter andern, da§ Voltaire selbst nicht ohne Schuld gewesen; aber wir gaben uns aus kindlicher Achtung jedesmal gefangen.

Da nun auch bei dieser Gelegenheit auf solche und Šhnliche Dinge angespielt wurde, so wu§te ich kaum, wie ich mich benehmen sollte: denn er warnte mich unbewunden und behauptete, die Einladung sei nur, um mich in eine Falle zu locken, und wegen jenes gegen den begŸnstigten Wieland verŸbten Mutwillens Rache an mir zu nehmen. Wie sehr ich nun auch vom Gegenteil Ÿberzeugt war, indem ich nur allzu deutlich sah, da§ eine vorgefa§te Meinung, durch hypochondrische Traumbilder aufgeregt, den wŸrdigen Mann beŠngstigte; so wollte ich gleichwohl nicht gerade wider seine †berzeugung handeln, und konnte doch auch keinen Vorwand finden, unter dem ich, ohne undankbar und unartig zu erscheinen, mein Versprechen wieder zurŸck-


nehmen durfte. Leider war unsere Freundin von Klettenberg bettlŠgrig, auf die wir in Šhnlichen FŠllen uns zu berufen pflegten. An ihr und meiner Mutter hatte ich zwei vortreffliche Begleiterinnen; ich nannte sie nur immer Rat und Tat: denn wenn jene einen heitern ja seligen Blick Ÿber die irdischen Dinge warf, so entwirrte sich vor ihr gar leicht, was uns andere Erdenkinder verwirrte, und sie wu§te den rechten Weg gewšhnlich anzudeuten, eben weil sie ins Labyrinth von oben herabsah und nicht selbst darin befangen war; hatte man sich aber entschieden, so konnte man sich auf die Bereitwilligkeit und auf die Tatkraft meiner Mutter verlassen. Wie jener das Schauen, so kam dieser der Glaube zu HŸlfe, und weil sie in allen FŠllen ihre Heiterkeit behielt, fehlte es ihr auch niemals an HŸlfsmitteln, das Vorgesetzte oder GewŸnschte zu bewerkstelligen. GegenwŠrtig wurde sie nun an die kranke Freundin abgesendet, um deren Gutachten einzuholen, und, da dieses fŸr meine Seite gŸnstig ausfiel, sodann ersucht, die Einwilligung des Vaters zu erlangen, der denn auch, obgleich unglŠubig und ungern, nachgab.

Ich gelangte also in sehr kalter Jahreszeit zur bestimmten Stunde nach Mainz, und wurde von den jungen Herrschaften und ihren Begleitern, der Einladung gemŠ§, gar freundlich aufgenommen. Der in Frankfurt gefŸhrten GesprŠche erinnerte man sich, die begonnenen wurden fortgesetzt, und als von der neuesten deutschen Literatur und von ihren KŸhnheiten die Rede war, fŸgte es sich ganz natŸrlich, da§ auch jenes famose StŸck, "Gštter, Helden und Wieland", zur Sprache kam; wobei ich gleich anfangs mit VergnŸgen bemerkte, da§ man die Sache heiter und lustig betrachtete. Wie es aber mit dieser Posse, welche so gro§es Aufsehn erregt, eigentlich zugegangen, war ich zu erzŠhlen veranla§t, und so konnte ich nicht umhin, vor allen Dingen einzugestehn, da§ wir, als wahrhaft oberrheinische Gesellen, sowohl der Neigung als Abneigung keine Grenzen kannten. Die Verehrung Shakespeares ging bei uns bis zur Anbetung. Wieland hatte hingegen, bei der entschiedenen Eigenheit


sich und seinen Lesern das Interesse zu verderben und den Enthusiasmus zu verkŸmmern, in den Noten zu seiner †bersetzung gar manches an dem gro§en Autor getadelt, und zwar auf eine Weise, die uns Šu§erst verdro§ und in unsern Augen das Verdienst dieser Arbeit schmŠlerte. Wir sahen Wielanden, den wir als Dichter so hoch verehrten, der uns als †bersetzer so gro§en Vorteil gebracht, nunmehr als Kritiker launisch, einseitig und ungerecht. Hiezu kam noch, da§ er sich auch gegen unsere Abgštter, die Griechen, erklŠrte und dadurch unsern bšsen Willen gegen ihn noch schŠrfte. Es ist genugsam bekannt, da§ die griechischen Gštter und Helden nicht auf moralischen, sondern auf verklŠrten physischen Eigenschaften ruhen, weshalb sie auch dem KŸnstler so herrliche Gestalten anbieten. Nun hatte Wieland in der "Alceste" Helden und Halbgštter nach moderner Art gebildet; wogegen denn auch nichts wŠre zu sagen gewesen, weil ja einem jeden freisteht, die poetischen Traditionen nach seinen Zwecken und seiner Denkweise umzuformen. Allein in den Briefen, die er Ÿber gedachte Oper in den "Merkur" einrŸckte, schien er uns diese Behandlungsart allzu parteiisch hervorzuheben und sich an den trefflichen Alten und ihrem hšhern Stil unverantwortlich zu versŸndigen, indem er die derbe gesunde Natur, die jenen Produktionen zum Grunde liegt, keinesweges anerkennen wollte. Diese Beschwerden hatten wir kaum in unserer kleinen SozietŠt leidenschaftlich durchgesprochen, als die gewšhnliche Wut, alles zu dramatisieren, mich eines Sonntags nachmittags anwandelte, und ich, bei einer Flasche guten Burgunders, das ganze StŸck, wie es jetzt daliegt, in einer Sitzung niederschrieb. Es war nicht so bald meinen gegenwŠrtigen Mitgenossen vorgelesen und von ihnen mit gro§em Jubel aufgenommen worden, als ich die Handschrift an Lenz nach Stra§burg schickte, welcher gleichfalls davon entzŸckt schien und behauptete, es mŸsse auf der Stelle gedruckt werden. Nach einigem Hin- und Widerschreiben gestand ich es zu, und er gab es in Stra§burg eilig unter die Presse. Erst


lange nachher erfuhr ich, da§ dieses einer von Lenzens ersten Schritten gewesen, wodurch er mir zu schaden und mich beim Publikum in Ÿblen Ruf zu setzen die Absicht hatte; wovon ich aber zu jener Zeit nichts spŸrte noch ahndete.

Und so hatte ich meinen neuen Gšnnern mit aller NaivetŠt diesen arglosen Ursprung des StŸcks, so gut wie ich ihn selbst wu§te, vorerzŠhlt und, um sie všllig zu Ÿberzeugen, da§ hiebei keine Persšnlichkeit noch eine andere Absicht obwalte, auch die lustige und verwegene Art mitgeteilt, wie wir uns untereinander zu necken und zu verspotten pflegten. Hierauf sah ich die GemŸter všllig erheitert, und man bewunderte uns beinah, da§ wir eine so gro§e Furcht hatten, es mšge irgend jemand auf seinen Lorbeern einschlafen. Man verglich eine solche Gesellschaft jenen Flibustiers, welche sich in jedem Augenblick der Ruhe zu verweichlichen fŸrchteten, weshalb der AnfŸhrer, wenn es keine Feinde und nichts zu rauben gab, unter den Gelagtisch eine Pistole losscho§, damit es auch im Frieden nicht an Wunden und Schmerzen fehlen mšge. Nach manchen Hin- und Widerreden Ÿber diesen Gegenstand ward ich endlich veranla§t, Wielanden einen freundlichen Brief zu schreiben, wozu ich die Gelegenheit sehr gern ergriff, da er sich schon im "Merkur" Ÿber diesen Jugendstreich sehr liberal erklŠrt und, wie er es in literarischen Fehden meist getan, geistreich abschlie§end benommen hatte.

Die wenigen Tage des Mainzer Aufenthalts verstrichen sehr angenehm: denn wenn die neuen Gšnner durch Visiten und GastmŠhler au§er dem Hause gehalten wurden, blieb ich bei den Ihrigen, portrŠtierte manchen und fuhr auch wohl Schlittschuh, wozu die eingefrornen Festungsgraben die beste Gelegenheit verschafften. Voll von dem Guten, was mir dort begegnet war, kehrte ich nach Hause zurŸck und stand im Begriff, beim Eintreten mir durch umstŠndliche ErzŠhlung das Herz zu erleichtern; aber ich sah nur verstšrte Gesichter, und es blieb mir nicht lange verborgen, da§ unsere Freundin Klettenberg von uns geschieden sei. Ich war


hierŸber sehr betroffen, weil ich ihrer gerade in meiner gegenwŠrtigen Lage mehr als jemals bedurfte. Man erzŠhlte mir zu meiner Beruhigung, da§ ein frommer Tod sich an ein seliges Leben angeschlossen und ihre glŠubige Heiterkeit sich bis ans Ende ungetrŸbt erhalten habe. Noch ein anderes Hindernis stellte sich einer freien Mitteilung entgegen: mein Vater, anstatt sich Ÿber den guten Ausgang dieses kleinen Abenteuers zu freuen, verharrte auf seinem Sinne und behauptete, dieses alles sei von jener Seite nur Verstellung, und man gedenke vielleicht in der Folge etwas Schlimmeres gegen mich auszufŸhren. Ich war daher mit meiner ErzŠhlung zu den jŸngern Freunden hingedrŠngt, denen ich denn freilich die Sache nicht umstŠndlich genug Ÿberliefern konnte. Aber auch hier entsprang aus Neigung und gutem Willen eine mir hšchst unangenehme Folge: denn kurz darauf erschien eine Flugschrift, "Prometheus und seine Rezensenten", gleichfalls in dramatischer Form. Man hatte darin den neckischen Einfall ausgefŸhrt, anstatt der Personennamen kleine Holzschnittfiguren zwischen den Dialog zu setzen, und durch allerlei satirische Bilder diejenigen Kritiker zu bezeichnen, die sich Ÿber meine Arbeiten und was ihnen verwandt war, šffentlich hatten vernehmen lassen. Hier stie§ der Altonaer Postreiter ohne Kopf ins Horn, hier brummte ein BŠr, dort schnatterte eine Gans; der Merkur war auch nicht vergessen, und manches wilde und zahme Geschšpf suchte den Bildner in seiner Werkstatt irre zu machen, welcher aber, ohne sonderlich Notiz zu nehmen, seine Arbeit eifrig fortsetzte und dabei nicht verschwieg, wie er es Ÿberhaupt zu halten denke. Dieser unerwartet hervorbrechende Scherz fiel mir sehr auf, weil er dem Stil und Ton nach von jemand aus unserer Gesellschaft sein mu§te, ja man hŠtte das Werklein fŸr meine eigene Arbeit halten sollen. Am unangenehmsten aber war mir, da§ Prometheus einiges verlauten lie§, was sich auf den Mainzer Aufenthalt und die dortigen €u§erungen bezog, und was eigentlich niemand als ich wissen sollte. Mir aber bewies es,


da§ der Verfasser von denjenigen sei, die meinen engsten Kreis bildeten und mich jene Ereignisse und UmstŠnde weitlŠuftig hatten erzŠhlen hšren. Wir sahen einer den andern an, und jeder hatte die Ÿbrigen im Verdacht; der unbekannte Verfasser wu§te sich gut zu verstellen. Ich schalt sehr heftig auf ihn, weil es mir Šu§erst verdrie§lich war, nach einer so gŸnstigen Aufnahme und so bedeutender Unterhaltung, nach meinem an Wieland geschriebenen zutraulichen Briefe hier wieder AnlŠsse zu neuem Mi§trauen und frische Unannehmlichkeiten zu sehen. Die Ungewi§heit hierŸber dauerte jedoch nicht lange: denn als ich in meiner Stube auf und ab gehend mir das BŸchlein laut vorlas, hšrte ich an den EinfŠllen und Wendungen ganz deutlich die Stimme Wagners, und er war es auch. Wie ich nŠmlich zur Mutter hinunter sprang, ihr meine Entdeckung mitzuteilen, gestand sie mir, da§ sie es schon wisse. Der Autor, beŠngstigt Ÿber den schlimmen Erfolg bei einer, wie ihm deuchte, so guten und lšblichen Absicht, hatte sich ihr entdeckt und um FŸrsprache gebeten, damit meine ausgesto§ene Drohung, ich wŸrde mit dem Verfasser, wegen mi§brauchten Vertrauens, keinen Umgang mehr haben, an ihm nicht erfŸllt werden mšchte. Hier kam ihm nun sehr zustatten, da§ ich es selbst entdeckt hatte und durch das Behagen, wovon ein jedes eigene Gewahrwerden begleitet wird, zur Versšhnung gestimmt war. Der Fehler war verziehen, der zu einem solchen Beweis meiner SpŸrkraft Gelegenheit gegeben hatte. Indessen war das Publikum so leicht nicht zu Ÿberzeugen, da§ Wagner der Verfasser sei, und da§ ich keine Hand mit im Spiel gehabt habe. Man traute ihm die Vielseitigkeit nicht zu, weil man nicht bedachte, da§ er alles, was in einer geistreichen Gesellschaft seit geraumer Zeit bescherzt und verhandelt worden, aufzufassen, zu merken und in einer bekannten Manier wohl darzustellen vermochte, ohne deshalb ein ausgezeichnetes Talent zu besitzen. Und so hatte ich nicht allein meine eigenen Torheiten, sondern auch den Leichtsinn, die †bereilung meiner Freunde diesmal und in der Folge sehr oft zu bŸ§en.


Erinnert durch mehrere zusammentreffende UmstŠnde, will ich noch einiger bedeutenden MŠnner gedenken, die, zu verschiedener Zeit vorŸberreisend, teils in unserem Haus gewohnt, teils freundliche Bewirtung angenommen haben. Klopstock steht hier billig abermals obenan. Ich hatte schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt, als er mir anzeigte, da§ er nach Karlsruhe zu gehen und daselbst zu wohnen eingeladen sei; er werde zur bestimmten Zeit in Friedberg eintreffen, und wŸnsche, da§ ich ihn daselbst abhole. Ich verfehlte nicht, zur rechten Stunde mich einzufinden; allein er war auf seinem Wege zufŠllig aufgehalten worden, und nachdem ich einige Tage vergebens gewartet, kehrte ich nach Hause zurŸck, wo er denn erst nach einiger Zeit eintraf, sein Au§enbleiben entschuldigte und meine Bereitwilligkeit, ihm entgegen zu kommen, sehr wohl aufnahm. Er war klein von Person, aber gut gebaut, sein Betragen ernst und abgemessen, ohne steif zu sein, seine Unterhaltung bestimmt und angenehm. Im ganzen hatte seine Gegenwart etwas von der eines Diplomaten. Ein solcher Mann unterwindet sich der schweren Aufgabe, zugleich seine eigene WŸrde und die WŸrde eines Hšheren, dem er Rechenschaft schuldig ist, durchzufŸhren, seinen eigenen Vorteil neben dem viel wichtigern eines FŸrsten, ja ganzer Staaten zu befšrdern, und sich in dieser bedenklichen Lage vor allen Dingen den Menschen gefŠllig zu machen. Und so schien sich auch Klopstock als Mann von Wert und als Stellvertreter hšherer Wesen, der Religion, der Sittlichkeit und Freiheit, zu betragen. Eine andere Eigenheit der Weltleute hatte er auch angenommen, nŠmlich nicht leicht von GegenstŠnden zu reden, Ÿber die man gerade ein GesprŠch erwartet und wŸnscht. Von poetischen und literarischen Dingen hšrte man ihn selten sprechen. Da er aber an mir und meinen Freunden leidenschaftliche Schlittschuhfahrer fand, so unterhielt er sich mit uns weitlŠuftig Ÿber diese edle Kunst, die er grŸndlich durchgedacht und, was dabei zu suchen und zu meiden sei, sich wohl Ÿberlegt hatte. Ehe wir jedoch seiner


geneigten Belehrung teilhaft werden konnten, mu§ten wir uns gefallen lassen, Ÿber den Ausdruck selbst, den wir verfehlten, zurecht gewiesen zu werden. Wir sprachen nŠmlich auf gut oberdeutsch von Schlittschuhen, welches er durchaus nicht wollte gelten lassen: denn das Wort komme keinesweges von Schlitten, als wenn man auf kleinen Kufen dahinfŸhre, sondern von Schreiten, indem man, den Homerischen Gšttern gleich, auf diesen geflŸgelten Sohlen Ÿber das zum Boden gewordene Meer hinschritte. Nun kam es an das Werkzeug selbst; er wollte von den hohen hohlgeschliffenen Schrittschuhen nichts wissen, sondern empfahl die niedrigen, breiten, flachgeschliffenen frieslŠndischen StŠhle, als welche zum Schnellaufen die dienlichsten seien. Von KunststŸcken, die man bei dieser †bung zu machen pflegt, war er kein Freund. Ich schaffte mir nach seinem Gebot so ein Paar flache Schuhe mit langen SchnŠbeln, und habe solche, obschon mit einiger Unbequemlichkeit, viele Jahre gefŸhrt. Auch vom Kunstreiten, und sogar vom Bereiten der Pferde wu§te er Rechenschaft zu geben und tat es gern; und so lehnte er, wie es schien vorsŠtzlich, das GesprŠch Ÿber sein eigen Metier gewšhnlich ab, um Ÿber fremde KŸnste, die er als Liebhaberei trieb, desto unbefangener zu sprechen. Von diesen und andern EigentŸmlichkeiten des au§erordentlichen Mannes wŸrde ich noch manches erwŠhnen kšnnen, wenn nicht Personen, die lŠnger mit ihm gelebt, uns bereits genugsam hievon unterrichtet hŠtten; aber einer Betrachtung kann ich mich nicht erwehren, da§ nŠmlich Menschen, denen die Natur au§erordentliche VorzŸge gegeben, sie aber in einen engen oder wenigstens nicht verhŠltnismŠ§igen Wirkungskreis gesetzt, gewšhnlich auf Sonderbarkeiten verfallen, und, weil sie von ihren Gaben keinen direkten Gebrauch zu machen wissen, sie auf au§erordentlichen und wunderlichen Wegen geltend zu machen versuchen.

Zimmermann war gleichfalls eine Zeitlang unser Gast. Dieser, gro§ und stark gebaut, von Natur heftig und gerade vor sich hin, hatte doch sein €u§eres und sein Betragen všl-


lig in der Gewalt, so da§ er im Umgang als ein gewandter weltmŠnnischer Arzt erschien, und seinem innerlich ungebŠndigten Charakter nur in Schriften und im vertrautesten Umgang einen ungeregelten Lauf lie§. Seine Unterhaltung war mannigfaltig und hšchst unterrichtend; und konnte man ihm nachsehen, da§ er sich, seine Persšnlichkeit, seine Verdienste, sehr lebhaft vorempfand, so war kein Umgang wŸnschenswerter zu finden. Da mich nun Ÿberhaupt das, was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte, und ich mir dagegen auch wieder eitel zu sein erlaubte, das hei§t, dasjenige unbedenklich hervorkehrte, was mir an mir selbst Freude machte; so kam ich mit ihm gar wohl Ÿberein, wir lie§en uns wechselsweise gelten und schalten, und weil er sich durchaus offen und mitteilend erwies, so lernte ich in kurzer Zeit sehr viel von ihm.

Beurteil' ich nun aber einen solchen Mann dankbar, wohlwollend und grŸndlich, so darf ich nicht einmal sagen, da§ er eitel gewesen. Wir Deutschen mi§brauchen das Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fŸhrt es den Begriff von Leerheit mit sich, und man bezeichnet damit billigerweise nur einen, der die Freude an seinem Nichts, die Zufriedenheit mit einer hohlen Existenz nicht verbergen kann. Bei Zimmermann war gerade das Gegenteil, er hatte gro§e Verdienste und kein inneres Behagen; wer sich aber an seinen Naturgaben nicht im stillen erfreuen kann, wer sich bei AusŸbung derselben nicht selbst seinen Lohn dahinnimmt, sondern erst darauf wartet und hofft, da§ andere das Geleistete anerkennen und es gehšrig wŸrdigen sollen, der endet sich in einer Ÿbeln Lage; weil es nur allzu bekannt ist, da§ die Menschen den Beifall sehr spŠrlich austeilen, da§ sie das Lob verkŸmmern, ja, wenn es nur einigerma§en tunlich ist, in Tadel verwandeln. Wer, ohne hierauf vorbereitet zu sein, šffentlich auftritt, der kann nichts als Verdru§ erwarten: denn wenn er das, was von ihm ausgeht, auch nicht ŸberschŠtzt, so schŠtzt er es doch unbedingt, und jede Aufnahme, die wir in der Welt erfahren, wird bedingt sein; und so-


dann gehšrt ja fŸr Lob und Beifall auch eine EmpfŠnglichkeit, wie fŸr jedes VergnŸgen. Man wende dieses auf Zimmermann an, und man wird auch hier gestehen mŸssen: was einer nicht schon mitbringt, kann er nicht erhalten.

Will man diese Entschuldigung nicht gelten lassen, so werden wir diesen merkwŸrdigen Mann wegen eines andern Fehlers noch weniger rechtfertigen kšnnen, weil das GlŸck anderer dadurch gestšrt, ja vernichtet worden. Es war das Betragen gegen seine Kinder. Eine Tochter, die mit ihm reiste, war, als er sich in der Nachbarschaft umsah, bei uns geblieben. Sie konnte etwa sechzehn Jahr alt sein. Schlank und wohlgewachsen, trat sie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmŠ§iges Gesicht wŠre angenehm gewesen, wenn sich ein Zug von Teilnahme darin aufgetan hŠtte; aber sie sah immer so ruhig aus wie ein Bild, sie Šu§erte sich selten, in der Gegenwart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie einige Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieser teilnehmenden Frau in sich aufgenommen, als sie sich ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu FŸ§en warf und unter tausend TrŠnen bat, sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlichsten Ausdruck erklŠrte sie: als Magd, als Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause bleiben, nur um nicht zu ihrem Vater zurŸckzukehren, von dessen HŠrte und Tyrannei man sich keinen Begriff machen kšnne. Ihr Bruder sei Ÿber diese Behandlung wahnsinnig geworden; sie habe es mit Not so lange getragen, weil sie geglaubt, es sei in jeder Familie nicht anders, oder nicht viel besser; da sie aber nun eine so liebevolle, heitere, zwanglose Behandlung erfahren, so werde ihr Zustand zu einer wahren Hšlle. Meine Mutter war sehr bewegt, als sie mir diesen leidenschaftlichen Ergu§ hinterbrachte, ja sie ging in ihrem Mitleiden so weit, da§ sie nicht undeutlich zu verstehen gab, sie wŸrde es wohl zufrieden sein, das Kind im Hause zu behalten, wenn ich mich entschlie§en kšnnte, sie zu heiraten. "Wenn es eine Waise wŠre," versetzt' ich, "so lie§e sich darŸber denken und unterhandeln, aber Gott bewahre mich vor einem Schwieger-


vater, der ein solcher Vater ist!" Meine Mutter gab sich noch viel MŸhe mit dem guten Kinde, aber es ward dadurch nur immer unglŸcklicher. Man fand zuletzt noch einen Ausweg, sie in eine Pension zu tun. Sie hat Ÿbrigens ihr Leben nicht hoch gebracht.

Dieser tadelnswŸrdigen Eigenheit eines so verdienstvollen Mannes wŸrde ich kaum erwŠhnen, wenn dieselbe nicht schon šffentlich wŠre zur Sprache gekommen, und zwar als man nach seinem Tode der unseligen Hypochondrie gedachte, womit er sich und andere in seinen letzten Stunden gequŠlt. Denn auch jene HŠrte gegen seine Kinder war Hypochondrie, ein partieller Wahnsinn, ein fortdauerndes moralisches Morden, das er, nachdem er seine Kinder aufgeopfert hatte, zuletzt gegen sich selbst kehrte. Wir wollen aber bedenken, da§ dieser so rŸstig scheinende Mann in seinen besten Jahren leidend war, da§ ein Leibesschaden unheilbar den geschickten Arzt quŠlte, ihn, der so manchem Kranken geholfen hatte und half. Ja, dieser brave Mann fŸhrte, bei Šu§erem Ansehen, Ruhm, Ehre, Rang und Vermšgen, das traurigste Leben, und wer sich davon, aus vorhandenen Druckschriften, noch weiter unterrichten will, der wird ihn nicht verdammen, sondern bedauern.

Erwartet man nun aber, da§ ich von der Wirkung dieses bedeutenden Mannes auf mich nŠhere Rechenschaft gebe, so mu§ ich im allgemeinen jener Zeit abermals gedenken. Die Epoche, in der wir lebten, kann man die fordernde nennen: denn man machte, an sich und andere, Forderungen auf das, was noch kein Mensch geleistet hatte. Es war nŠmlich vorzŸglichen, denkenden und fŸhlenden Geistern ein Licht aufgegangen, da§ die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegrŸndetes Handeln das Beste sei, was der Mensch sich wŸnschen kšnne, und nicht einmal schwer zu erlangen. Erfahrung war also abermals das allgemeine Losungswort, und jedermann tat die Augen auf, so gut er konnte; eigentlich aber waren es die €rzte, die am meisten Ursache hatten, darauf zu dringen und Gelegenheit


sich darnach umzutun. Hier leuchtete ihnen nun aus alter Zeit ein Gestirn entgegen, welches als Beispiel alles WŸnschenswerten gelten konnte. Die Schriften, die uns unter dem Namen Hippokrates zugekommen waren, gaben das Muster, wie der Mensch die Welt anschauen und das Gesehene, ohne sich selbst hinein zu mischen, Ÿberliefern sollte. Allein niemand bedachte, da§ wir nicht sehen kšnnen wie die Griechen, und da§ wir niemals wie sie dichten, bilden und heilen werden. Zugegeben aber auch, da§ man von ihnen lernen kšnne, so war unterdessen unendlich viel und nicht immer so rein erfahren worden, und gar oft hatten sich die Erfahrungen nach den Meinungen gebildet. Dieses aber sollte man auch wissen, unterscheiden und sichten; abermals eine ungeheure Forderung; dann sollte man auch, persšnlich umherblickend und handelnd, die gefundene Natur selbst kennen lernen, eben als wenn sie zum erstenmal beachtet und behandelt wŸrde; hiebei sollte denn nur das Echte und Rechte geschehen. Allein weil sich die Gelahrtheit Ÿberhaupt nicht wohl ohne Polyhistorie und Pedanterie, die Praxis aber wohl schwerlich ohne Empirie und Scharlatanerie denken lŠ§t; so entstand ein gewaltiger Konflikt, indem man den Mi§brauch vom Gebrauch sondern und der Kern die Oberhand Ÿber die Schale gewinnen sollte. Wie man nun auch hier zur AusŸbung schritt, so sah man, am kŸrzesten sei zuletzt aus der Sache zu kommen, wenn man das Genie zu HŸlfe riefe, das durch seine magische Gabe den Streit schlichten und die Forderungen leisten wŸrde. Der Verstand mischte sich indessen auch in die Sache, alles sollte auf klare Begriffe gebracht und in logischer Form dargelegt werden, damit jedes Vorurteil beseitigt und aller Aberglaube zerstšrt werde. Weil nun wirklich einige au§erordentliche Menschen, wie Boerhaave und Haller, das Unglaubliche geleistet, so schien man sich berechtigt, von ihren SchŸlern und Nachkšmmlingen noch mehr zu fordern. Man behauptete, die Bahn sei gebrochen, da doch in allen irdischen Dingen selten von Bahn die Rede sein kann: denn wie das Wasser, das durch


ein Schiff verdrŠngt wird, gleich hinter ihm wieder zusammenstŸrzt, so schlie§t sich auch der Irrtum, wenn vorzŸgliche Geister ihn beiseitegedrŠngt und sich Platz gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemŠ§ zusammen.

Aber hievon wollte sich der brave Zimmermann ein fŸr allemal keinen Begriff machen; er wollte nicht eingestehen, da§ das Absurde eigentlich die Welt erfŸlle. Bis zur Wut ungeduldig, schlug er auf alles los, was er fŸr unrecht erkannte und hielt. Ob er sich mit dem KrankenwŠrter oder mit Paracelsus, mit einem Harnpropheten oder Chymisten balgte, war ihm gleich; er hieb ein wie das andre Mal zu, und wenn er sich au§er Atem gearbeitet hatte, war er hšchlich erstaunt, da§ die sŠmtlichen Kšpfe dieser Hydra, die er mit FŸ§en zu treten geglaubt, ihm schon wieder ganz frisch von unzŠhligen HŠlsen die ZŠhne wiesen.

Wer seine Schriften, besonders sein tŸchtiges Werk "†ber die Erfahrung" liest, wird bestimmter einsehen, was zwischen diesem trefflichen Manne und mir verhandelt worden; welches auf mich um so krŠftiger wirken mu§te, da er zwanzig Jahr Šlter war denn ich. Als berŸhmter Arzt war er vorzŸglich in den hšhern StŠnden beschŠftigt, und hier kam die Verderbnis der Zeit, durch Verweichlichung und †bergenu§, jeden Augenblick zur Sprache; und so drŠngten auch seine Šrztlichen Reden, wie die der Philosophen und meiner dichterischen Freunde, mich wieder auf die Natur zurŸck. Seine leidenschaftliche Verbesserungswut konnte ich vollends nicht mit ihm teilen. Ich zog mich vielmehr, nachdem wir uns getrennt, gar bald wieder in mein eigentŸmliches Fach zurŸck und suchte die von der Natur mir verliehenen Gaben mit mŠ§iger Anstrengung anzuwenden, und in heiterem Widerstreit gegen das, was ich mi§billigte, mir einigen Raum zu verschaffen, unbesorgt, wie weit meine Wirkungen reichen und wohin sie mich fŸhren kšnnten.

Von Salis, der in Marschlins die gro§e Pensionsanstalt errichtete, ging ebenfalls bei uns vorŸber, ein ernster verstŠn-


diger Mann, der Ÿber die genialisch tolle Lebensweise unserer kleinen Gesellschaft gar wunderliche Anmerkungen im stillen wird gemacht haben. Ein gleiches mag Sulzern, der uns auf seiner Reise nach dem sŸdlichen Frankreich berŸhrte, begegnet sein; wenigstens scheint eine Stelle seiner Reisebeschreibung, worin er mein gedenkt, dahin zu deuten.

Diese so angenehmen als fšrderlichen Besuche waren aber auch mit solchen durchwebt, die man lieber abgelehnt hŠtte. Wahrhaft DŸrftige und unverschŠmte Abenteurer wendeten sich an den zutraulichen JŸngling, ihre dringenden Forderungen durch wirkliche wie durch vorgebliche Verwandtschaften oder Schicksale unterstŸtzend. Sie borgten mir Geld ab, und setzten mich in den Fall, wieder borgen zu mŸssen, so da§ ich mit begŸterten und wohlwollenden Freunden darŸber in das unangenehmste VerhŠltnis geriet. WŸnschte ich nun solche Zudringlinge allen Raben zur Beute, so fŸhlte sich mein Vater gleichfalls in der Lage des Zauberlehrlings, der wohl sein Haus gerne rein gewaschen sŠhe, sich aber entsetzt, wenn die Flut Ÿber Schwellen und Stufen unaufhaltsam einhergestŸrzt kommt. Denn es ward durch das allzu viele Gute der mŠ§ige Lebensplan, den sich mein Vater fŸr mich ausgedacht hatte, Schritt fŸr Schritt verrŸckt, verschoben und von einem Tag zum andern wider Erwarten umgestaltet. Der Aufenthalt zu Regensburg und Wien war so gut als aufgegeben, aber doch sollte auf dem Wege nach Italien eine Durchreise stattfinden, damit man wenigstens eine allgemeine †bersicht gewŠnne. Dagegen aber waren andere Freunde, die einen so gro§en Umweg, ins tŠtige Leben zu gelangen, nicht billigen konnten, der Meinung, man solle den Augenblick, wo manche Gunst sich auftat, benutzen und an eine bleibende Einrichtung in der Vaterstadt denken. Denn ob ich gleich erst durch den Gro§vater, sodann aber durch den Oheim von dem Rate ausgeschlossen war; so gab es doch noch manche bŸrgerliche Stellen, an die man Anspruch machen, sich einstweilen festsetzen und die Zukunft erwarten konnte. Manche Agentschaften gaben zu


tun genug, und ehrenvoll waren die Residentenstellen. Ich lie§ mir davon vorreden und glaubte wohl auch, da§ ich mich dazu schicke, ohne mich geprŸft zu haben, ob eine solche Lebens- und GeschŠftsweise, welche fordert, da§ man am liebsten in der Zerstreuung zweckmŠ§ig tŠtig sei, fŸr mich passen mšchte; und nun gesellte sich zu diesen VorschlŠgen und VorsŠtzen noch eine zarte Neigung, welche zu bestimmter HŠuslichkeit aufzufordern und jenen Entschlu§ zu beschleunigen schien.

Die frŸher erwŠhnte Gesellschaft nŠmlich von jungen MŠnnern und Frauenzimmern, welche meiner Schwester, wo nicht den Ursprung, doch die Konsistenz verdankte, war nach ihrer Verheiratung und Abreise noch immer bestanden, weil man sich einmal aneinander gewšhnt hatte, und einen Abend in der Woche nicht besser als in diesem freundschaftlichen Zirkel zuzubringen wu§te. Auch jener wunderliche Redner, den wir schon aus dem sechsten Buche kennen, war nach mancherlei Schicksalen gescheiter und verkehrter zu uns zurŸckgewandert, und spielte abermals den Gesetzgeber des kleinen Staats. Er hatte sich in Gefolg von jenen frŸhern Scherzen etwas €hnliches ausgedacht: es sollte nŠmlich alle Tage gelost werden, nicht um, wie vormals, liebende Paare, sondern wahrhafte Ehegatten zu bestimmen. Wie man sich gegen Geliebte betrage, das sei uns bekannt genug; aber wie sich Gatte und Gattin in Gesellschaft zu nehmen hŠtten, das sei uns unbewu§t und mŸsse nun, bei zunehmenden Jahren, vor allen Dingen gelernt werden. Er gab die Regeln an im allgemeinen, welche bekanntlich darin bestehen, da§ man tun mŸsse, als wenn man einander nicht angehšre; man dŸrfe nicht neben einander sitzen, nicht viel mit einander sprechen, viel weniger sich Liebkosungen erlauben: dabei aber habe man nicht allein alles zu vermeiden, was wechselseitig Verdacht und Unannehmlichkeit erregen kšnnte, ja man wŸrde im Gegenteil das grš§te verdienen, wenn man seine Gattin auf eine ungezwungene Weise zu verbinden wisse.


Das Los wurde hierauf zur Entscheidung herbeigeholt, Ÿber einige barocke Paarungen, die es beliebt, gelacht und gescherzt, und die allgemeine Ehestandskomšdie mit gutem Humor begonnen und jedesmal am achten Tage wiederum erneuert.

Hier traf es sich nun wunderbar genug, da§ mir das Los gleich von Anfang eben dasselbe Frauenzimmer zweimal bestimmte, ein sehr gutes Wesen gerade von der Art, die man sich als Frau gern denken mag. Ihre Gestalt war schšn und regelmŠ§ig, ihr Gesicht angenehm, und in ihrem Betragen waltete eine Ruhe, die von der Gesundheit ihres Kšrpers und ihres Geistes zeugte. Sie war sich zu allen Tagen und Stunden všllig gleich. Ihre hŠusliche TŠtigkeit wurde hšchlich gerŸhmt. Ohne da§ sie gesprŠchig gewesen wŠre, konnte man an ihren €u§erungen einen geraden Verstand und eine natŸrliche Bildung erkennen. Nun war es leicht, einer solchen Person mit Freundlichkeit und Achtung zu begegnen; schon vorher war ich gewohnt, es aus allgemeinen GefŸhlen zu tun, jetzt wirkte bei mir ein herkšmmliches Wohlwollen als gesellige Pflicht. Wie uns nun aber das Los zum dritten Male zusammenbrachte, so erklŠrte der neckische Gesetzgeber feierlichst: der Himmel habe gesprochen, und wir kšnnten nunmehr nicht geschieden werden. Wir lie§en es uns beiderseits gefallen, und fŸgten uns wechselsweise so hŸbsch in die offenbaren Ehestandspflichten, da§ wir wirklich fŸr ein Muster gelten konnten. Da nun, nach der allgemeinen Verfassung, die sŠmtlichen fŸr den Abend vereinten Paare sich auf die wenigen Stunden mit Du anreden mu§ten; so waren wir dieser traulichen Anrede durch eine Reihe von Wochen so gewohnt, da§ auch in der Zwischenzeit, wenn wir uns begegneten, das Du gemŸtlich hervorsprang. Die Gewohnheit ist aber ein wunderliches Ding: wir beide fanden nach und nach nichts natŸrlicher als dieses VerhŠltnis; sie ward mir immer werter, und ihre Art, mit mir zu sein, zeugte von einem schšnen ruhigen Vertrauen, so da§ wir uns wohl gelegentlich, wenn ein Priester zugegen ge-


wesen wŠre, ohne vieles Bedenken auf der Stelle hŠtten zusammengeben lassen.

Weil nun bei jeder unserer geselligen ZusammenkŸnfte etwas Neues vorgelesen werden mu§te, so brachte ich eines Abends, als ganz frische Neuigkeit, das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit. Es erwarb sich sehr vielen Beifall; die Bemerkungen, zu denen es auffordert, blieben nicht aus, und nachdem man viel darŸber hin und wider gesprochen hatte, sagte mein lieber Partner: "Wenn ich deine Gebieterin und nicht deine Frau wŠre, so wŸrde ich dich ersuchen, dieses Memoire in ein Schauspiel zu verwandeln, es scheint mir ganz dazu geeignet zu sein." - "Damit du siehst, meine Liebe," antwortete ich, "da§ Gebieterin und Frau auch in einer Person vereinigt sein kšnnen; so verspreche ich, heute Ÿber acht Tage den Gegenstand dieses Heftes als TheaterstŸck vorzulesen, wie es jetzt mit diesen BlŠttern geschehen." Man verwunderte sich Ÿber ein so kŸhnes Versprechen, und ich sŠumte nicht, es zu erfŸllen. Denn was man in solchen FŠllen Erfindung nennt, war bei mir augenblicklich; und gleich, als ich meine Titulargattin nach Hause fŸhrte, war ich still; sie fragte, was mir sei? - "Ich sinne," versetzte ich, "schon das StŸck aus und bin mitten drin; ich wŸnsche dir zu zeigen, da§ ich dir gerne etwas zu Liebe tue." Sie drŸckte mir die Hand, und als ich sie dagegen eifrig kŸ§te, sagte sie: "Du mu§t nicht aus der Rolle fallen! ZŠrtlich zu sein, meinen die Leute, schicke sich nicht fŸr Ehegatten." - "La§ sie meinen," versetzte ich, "wir wollen es auf unsere Weise halten."

Ehe ich, freilich durch einen gro§en Umweg, nach Hause kam, war das StŸck schon ziemlich herangedacht; damit dies aber nicht gar zu gro§sprecherisch scheine, so will ich gestehen, da§ schon beim ersten und zweiten Lesen der Gegenstand mir dramatisch, ja theatralisch vorgekommen, aber ohne eine solche Anregung wŠre das StŸck, wie so viele andere, auch blo§ unter den mšglichen Geburten geblieben. Wie ich dabei verfahren, ist bekannt genug. Der Bšsewich-


ter mŸde, die aus Rache, Ha§ oder kleinlichen Absichten sich einer edlen Natur entgegensetzen und sie zugrunde richten, wollt' ich in Carlos den reinen Weltverstand mit wahrer Freundschaft gegen Leidenschaft, Neigung und Šu§ere BedrŠngnis wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tragšdie zu motivieren. Berechtigt durch unsern Altvater Shakespeare, nahm ich nicht einen Augenblick Anstand, die Hauptszene und die eigentlich theatralische Darstellung wšrtlich zu Ÿbersetzen. Um zuletzt abzuschlie§en, entlehnt' ich den Schlu§ einer englischen Ballade, und so war ich immer noch eher fertig, als der Freitag herankam. Die gute Wirkung, die ich beim Vorlesen erreichte, wird man mir leicht zugestehen. Meine gebietende Gattin erfreute sich nicht wenig daran, und es war, als wenn unser VerhŠltnis, wie durch eine geistige Nachkommenschaft, durch diese Produktion sich enger zusammenzšge und befestigte.

Mephistopheles Merck aber tat mir zum erstenmal hier einen gro§en Schaden. Denn als ich ihm das StŸck mitteilte, erwiderte er: "Solch einen Quark mu§t du mir kŸnftig nicht mehr schreiben; das kšnnen die andern auch." Und doch hatt' er hierin unrecht. Mu§ ja doch nicht alles Ÿber alle Begriffe hinausgehen, die man nun einmal gefa§t hat; es ist auch gut, wenn manches sich an den gewšhnlichen Sinn anschlie§t. HŠtte ich damals ein Dutzend StŸcke der Art geschrieben, welches mir bei einiger Aufmunterung ein leichtes gewesen wŠre; so hŠtten sich vielleicht drei oder vier davon auf dem Theater erhalten. Jede Direktion, die ihr Repertorium zu schŠtzen wei§, kann sagen, was das fŸr ein Vorteil wŠre.

Durch solche und andre geistreiche Scherze ward unser wunderliches Mariagespiel, wo nicht zum Stadt -, doch zum FamilienmŠrchen, das den MŸttern unserer Schšnen gar nicht unangenehm in die Ohren klang. Auch meiner Mutter war ein solcher Zufall nicht zuwider: Sie begŸnstigte schon frŸher das Frauenzimmer, mit dem ich in ein so seltsames VerhŠltnis gekommen war, und mochte ihr zutrauen, da§ sie


eine ebenso gute Schwiegertochter als Gattin werden kšnnte. Jenes unbestimmte Rumoren, in welchem ich mich schon seit geraumer Zeit herumtrieb, wollte ihr nicht behagen, und wirklich hatte sie auch die grš§te Beschwerde davon. Sie war es, welche die zustršmenden GŠste reichlich bewirten mu§te, ohne sich fŸr die literarische Einquartierung anders als durch die Ehre, die man ihrem Sohne antat, ihn zu beschmausen, entschŠdigt zu sehen. Ferner war es ihr klar, da§ so viele junge Leute, sŠmtlich ohne Vermšgen, nicht allein zum Wissen und Dichten, sondern auch zum lustigen Leben versammelt, sich unter einander und zuletzt am sichersten mir, dessen leichtsinnige Freigebigkeit und VerbŸrgungslust sie kannte, zur Last und zum Schaden gereichen wŸrden.

Sie hielt daher die schon lŠngst bezweckte italienische Reise, die der Vater wieder in Anregung brachte, fŸr das sicherste Mittel, alle diese VerhŠltnisse auf einmal durchzuschneiden. Damit aber ja nicht wieder in der weiten Welt sich neues GefŠhrliche anschlie§en mšge, so dachte sie vorher die schon eingeleitete Verbindung zu befestigen, damit eine RŸckkehr ins Vaterland wŸnschenswerter und eine endliche Bestimmung entschieden werde. Ob ich ihr diesen Plan nur unterlege, oder ob sie ihn deutlich, vielleicht mit der seligen Freundin, entworfen, mšchte ich nicht entscheiden: genug, ihre Handlungen schienen auf einen bedachten Vorsatz gegrŸndet. Denn ich hatte manchmal zu vernehmen, unser Familienkreis sei nach Verheiratung Corneliens doch gar zu eng; man wollte finden, da§ mir eine Schwester, der Mutter eine GehŸlfin, dem Vater ein Lehrling abgehe; und bei diesen Reden blieb es nicht. Es ergab sich wie von ungefŠhr, da§ meine Eltern jenem Frauenzimmer auf einem Spaziergang begegneten, sie in den Garten einluden und sich mit ihr lŠngere Zeit unterhielten. HierŸber ward nun beim Abendtische gescherzt, und mit einem gewissen Behagen bemerkt, da§ sie dem Vater wohlgefallen, indem sie die Haupteigenschaften, die er als ein Kenner von einem Frauenzimmer fordere, sŠmtlich besitze.


Hierauf ward im ersten Stock eins und das andere veranstaltet, eben als wenn man GŠste zu erwarten habe, das LeinwandgerŠte gemustert, und auch an einigen bisher vernachlŠssigten Hausrat gedacht. Da Ÿberraschte ich nun einst meine Mutter, als sie in einer Bodenkammer die alten Wiegen betrachtete, worunter eine Ÿbergro§e von Nu§baum, mit Elfenbein und Ebenholz eingelegt, die mich ehmals geschwenkt hatte, besonders hervorstach. Sie schien nicht ganz zufrieden, als ich ihr bemerkte, da§ solche Schaukelkasten nunmehr všllig aus der Mode seien, und da§ man die Kinder mit freien Gliedern in einem artigen Kšrbchen, an einem Bande Ÿber die Schulter, wie andre kurze Ware, zur Schau trage.

Genug, dergleichen Vorboten zu erneuernder HŠuslichkeit zeigten sich šfter, und da ich mich dabei ganz leidend verhielt; so verbreitete sich, durch den Gedanken an einen Zustand, der fŸrs Leben dauern sollte, ein solcher Friede Ÿber unser Haus und dessen Bewohner, dergleichen es lange nicht genossen hatte.


VIERTER TEIL

Nemo contra deum nisi deus ipse

Niemand kann gegen Gott sein, der nicht selbst ein Gott ist

Vorwort

 

Bei Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte, wie die ist, die wir zu unternehmen gewagt haben, kommen wir, um gewisse Ereignisse fa§lich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehn und so das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig Ÿberschauend beurteilen und sich davon manches zueignen mag.

Mit dieser Betrachtung eršffnen wir den gegenwŠrtigen Band, damit sie zu Rechtfertigung unseres Verfahrens beitrage, und fŸgen die Bitte hinzu, unsre Leser mšchten bedenken, da§ sich diese hier fortgesetzte ErzŠhlung nicht gerade ans Ende des vorigen Buches anschlie§t, sondern da§ sie die HauptfŠden sŠmtlich nach und nach wieder aufzunehmen und sowohl Personen als Gesinnungen und Handlungen in einer redlich grŸndlichen Folge vorzufŸhren beabsichtigt.


 

Sechzehntes Buch

 

Wie man zu sagen pflegt: da§ kein UnglŸck allein komme, so lŠ§t sich auch wohl bemerken, da§ es mit dem GlŸck Šhnlicher Weise beschaffen sei; ja auch mit andern UmstŠnden, die sich auf eine harmonische Weise um uns versammeln; - es sei nun, da§ ein Schicksal dergleichen auf uns lege, oder da§ der Mensch die Kraft habe, das, was zusammengehšrt, an sich heranzuziehen.

Wenigstens machte ich diesmal die Erfahrung, da§ alles Ÿbereinstimmte, um einen Šu§eren und inneren Frieden hervorzubringen. Jener ward mir zuteil, indem ich den Ausgang dessen gelassen abwartete, was man fŸr mich im Sinne hegte und vornahm; zu diesem aber sollte ich durch erneute Studien gelangen.

Ich hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unsrer Bibliothek fand ich ein BŸchlein, dessen Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kŠmpfte, und, um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenŸber gesetzt hatte, mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, da§ er nŠmlich das Zeichen der Verwerfung und Verworrenheit im Angesicht trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen: denn der Kupferstich war erbŠrmlich schlecht und eine vollkommne Fratze; wobei mir denn jene Gegner einfallen mu§ten, die irgend jemand, dem sie mi§wollen, zuvšrderst entstellen und dann als ein Ungeheuer bekŠmpfen.

Dieses BŸchlein jedoch machte keinen Eindruck auf mich, weil ich Ÿberhaupt Kontroversen nicht liebte; indem ich immer lieber von dem Menschen erfahren mochte, wie er dachte, als von einem andern hšren, wie er hŠtte denken sollen.


Doch fŸhrte mich die Neugierde auf den Artikel "Spinoza" in Bayles Wšrterbuch, einem Werke, das wegen Gelehrsamkeit und Scharfsinn ebenso schŠtzbar und nŸtzlich, als wegen KlŠtscherei und Salbaderei lŠcherlich und schŠdlich ist.

Der Artikel "Spinoza" erregte in mir Mi§behagen und Mi§trauen. Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist, und seine Meinungen als hšchst verwerflich angegeben; sodann aber zugestanden, da§ er ein ruhig nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein guter StaatsbŸrger, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen; und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: an ihren FrŸchten sollt ihr sie erkennen! - Denn wie will doch ein Menschen und Gott gefŠlliges Leben aus verderblichen GrundsŠtzen entspringen?

Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit Ÿber mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwŸrdigen Mannes durchblŠttert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne da§ ich mich des Einzelnen hŠtte erinnern kšnnen; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser LektŸre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.

Da Ÿber diesen Gegenstand so viel und auch in der neuern Zeit gestritten worden, so wŸnschte ich nicht mi§verstanden zu werden und will hier einiges Ÿber jene so gefŸrchtete, ja verabscheute Vorstellungsart einzurŸcken nicht unterlassen.

Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufŠllige Ereignis, alles ruft uns zu, da§ wir entsagen sollen. So manches, was uns innerlich eigenst angehšrt, sollen wir nicht nach au§en hervorbilden, was wir von au§en zu ErgŠnzung unsres Wesens bedŸrfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd als lŠstig ist. Man beraubt uns des mŸhsam Erworbenen, des


freundlich Gestatteten, und ehe wir hierŸber recht ins klare sind, finden wir uns genštigt, unsere Persšnlichkeit erst stŸckweis und dann všllig aufzugeben. Dabei ist es aber hergebracht, da§ man denjenigen nicht achtet, der sich deshalb ungebŠrdig stellt, vielmehr soll man, je bittrer der Kelch ist, eine desto sŸ§ere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer nicht durch irgend eine Grimasse beleidigt werde.

Diese schwere Aufgabe jedoch zu lšsen, hat die Natur den Menschen mit reichlicher Kraft, TŠtigkeit und ZŠhigkeit ausgestattet. Besonders aber kommt ihm der Leichtsinn zu HŸlfe, der ihm unzerstšrlich verliehen ist. Hiedurch wird er fŠhig, dem Einzelnen in jedem Augenblick zu entsagen, wenn er nur in dem andern nach etwas Neuem greifen darf; und so stellen wir uns unbewu§t unser ganzes Leben immer wieder her. Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der andern; BeschŠftigungen, Neigungen, Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, um zuletzt auszurufen, da§ alles eitel sei. Niemand entsetzt sich vor diesem falschen, ja gotteslŠsterlichen Spruch, ja man glaubt etwas Weises und Unwiderlegliches gesagt zu haben. Nur wenige Menschen gibt es, die diese unertrŠgliche Empfindung vorausahnden, und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein fŸr allemal im ganzen resignieren.

Diese Ÿberzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwŸstlich sind, ja durch die Betrachtung des VergŠnglichen nicht aufgehoben, sondern viel mehr bestŠtigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas †bermenschliches liegt, so werden solche Personen gewšhnlich fŸr Unmenschen gehalten, fŸr Gott- und Weltlose; ja man wei§ nicht, was man ihnen alles fŸr Hšrner und Klauen andichten soll.

Mein Zutrauen auf Spinoza ruhte auf der friedlichen Wirkung, die er in mir hervorbrachte, und es vermehrte sich nur, als man meine werten Mystiker des Spinozismus anklagte; als ich erfuhr, da§ Leibniz selbst diesem Vorwurf nicht entgehen kšnnen, ja da§ Boerhaave, wegen gleicher


Gesinnungen verdŠchtig, von der Theologie zur Medizin Ÿbergehen mŸssen.

Denke man aber nicht, da§ ich seine Schriften hŠtte unterschreiben und mich dazu buchstŠblich bekennen mšgen. Denn da§ niemand den andern versteht, da§ keiner bei denselben Worten dasselbe was der andere denkt, da§ ein GesprŠch, eine LektŸre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehn, und man wird dem Verfasser von "Werther" und "Faust" wohl zutrauen, da§ er, von solchen Mi§verstŠndnissen tief durchdrungen, nicht selbst den DŸnkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der, als SchŸler von Descartes, durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen BemŸhungen zu sein scheint.

Was ich mir aber aus ihm zugeeignet, wŸrde sich deutlich genug darstellen, wenn der Besuch, den der ewige Jude bei Spinoza abgelegt, und den ich als ein wertes Ingrediens zu jenem Gedichte mir ausgedacht hatte, niedergeschrieben Ÿbrig geblieben wŠre. Ich gefiel mir aber in dem Gedanken so wohl, und beschŠftigte mich im stillen so gern damit, da§ ich nicht dazu gelangte, etwas aufzuschreiben; dadurch erweiterte sich aber der Einfall, der als vorŸbergehender Scherz nicht ohne Verdienst gewesen wŠre, dergestalt, da§ er seine Anmut verlor und ich ihn als lŠstig aus dem Sinne schlug. Insofern mir aber die Hauptpunkte jenes VerhŠltnisses zu Spinoza unverge§lich geblieben sind, indem sie eine gro§e Wirkung auf die Folge meines Lebens ausŸbten, will ich so kurz und bŸndig als mšglich eršffnen und darstellen.

Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt gšttlichen Gesetzen, da§ die Gottheit selbst daran nichts Šndern kšnnte. Alle Menschen sind hierin, unbewu§t, vollkommen einig. Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf WillkŸr deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt.


Wenn sich in Tieren etwas VernunftŠhnliches hervortut, so kšnnen wir uns von unserer Verwunderung nicht erholen: denn ob sie uns gleich so nahe stehen, so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns getrennt und in das Reich der Notwendigkeit verwiesen. Man kann es daher jenen Denkern nicht Ÿbelnehmen, welche die unendlich kunstreiche aber doch genau beschrŠnkte Technik jener Geschšpfe fŸr ganz maschinenmŠ§ig erklŠrten.

Wenden wir uns zu den Pflanzen, so wird unsre Behauptung noch auffallender bestŠtigt. Man gebe sich Rechenschaft von der Empfindung, die uns ergreift, wenn die berŸhrte Mimosa ihre gefiederten BlŠtter paarweise zusammen faltet, und endlich das Stielchen wie an einem Gewerbe niederklappt. Noch hšher steigt jene Empfindung, der ich keinen Namen geben will, bei Betrachtung des Hedysarum gyrans, das seine BlŠttchen, ohne sichtlich Šu§ere Veranlassung, auf und nieder senkt und mit sich selbst, wie mit unsern Begriffen, zu spielen scheint. Denke man sich einen Pisang, dem diese Gabe zugeteilt wŠre, so da§ er die ungeheuren BlŠtterschirme fŸr sich selbst wechselsweise niedersenkte und aufhšbe, jedermann, der es zum erstenmal sŠhe, wŸrde vor Entsetzen zurŸcktreten. So eingewurzelt ist bei uns der Begriff unsrer eignen VorzŸge, da§ wir ein fŸr allemal der Au§enwelt keinen Teil daran gšnnen mšgen, ja da§ wir dieselben, wenn es nur anginge, sogar unsresgleichen gerne verkŸmmerten.

Ein Šhnliches Entsetzen ŸberfŠllt uns dagegen, wenn wir den Menschen unvernŸnftig gegen allgemein anerkannte sittliche Gesetze, unverstŠndig gegen seinen eignen und fremden Vorteil handeln sehen. Um das Grauen loszuwerden, das wir dabei empfinden, verwandeln wir es sogleich in Tadel, in Abscheu und wir suchen uns von einem solchen Menschen entweder wirklich oder in Gedanken zu befreien.

Diesen Gegensatz, welchen Spinoza so krŠftig heraushebt, wendete ich aber auf mein eignes Wesen sehr wunderlich an, und das Vorhergesagte soll eigentlich nur dazu dienen, um das, was folgt, begreiflich zu machen.


Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die Šu§ere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die AusŸbung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkŸrlich, ja wider Willen hervor.

Durch Feld und Wald zu schweifen,

Mein Liedchen weg zu pfeifen,

So ging's den ganzen Tag.

Auch beim nŠchtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner VorgŠnger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen, und mich zu gewšhnen, im Finstern, durchs GefŸhl, das, was unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu kšnnen, da§ ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rŸcken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rŸhren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die ZŸge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, da§ das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte. FŸr solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ohngefŠhr gegen dieselben verhielt, wie die Henne gegen die KŸchlein, die sie ausgebrŸtet um sich her piepsen sieht. Meine frŸhere Lust, diese Dinge nur durch Vorlesungen mitzuteilen, erneute sich wieder, sie aber gegen Geld umzutauschen schien mir abscheulich.

Hiebei will ich eines Falles gedenken, der zwar spŠter eintrat. Als nŠmlich meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst zu veranstalten,


so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit gro§er Frechheit wu§te sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem Publikum erzeigten Dienstes gegen mich zu rŸhmen und erbot sich, mir dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden. Bei dieser Gelegenheit mu§te mir einfallen, da§ die Berliner Juden, wenn sie sich verheurateten, eine gewisse Partie Porzellan nehmen mu§ten, damit die kšnigliche Fabrik einen sichern Absatz hŠtte. Die Verachtung, welche daraus gegen den unverschŠmten Nachdrucker entstand, lie§ mich den Verdru§ Ÿbertragen, den ich bei diesem Raub empfinden mu§te. Ich antwortete ihm nicht, und indessen er sich an meinem Eigentum gar wohl behaben mochte, rŠchte ich mich im Stillen mit folgenden Versen:

Holde Zeugen sŸ§ vertrŠumter Jahre,

Falbe Blumen, abgeweihte Haare,

Schleier, leicht geknickt, verblichne BŠnder,

Abgeklungener Liebe TrauerpfŠnder,

Schon gewidmet meines Herdes Flammen,

Rafft der freche Sosias zusammen,

Eben als wenn Dichterwerk und Ehre

Ihm durch Erbschaft zugefallen wŠre;

Und mir Lebendem soll sein Betragen

Wohl am Tee und Kaffeetisch behagen?

Weg das Porzellan, das Zuckerbrot!

FŸr die Himburgs bin ich tot.

Da jedoch eben die Natur, die dergleichen grš§ere und kleinere Werke unaufgefordert in mir hervorbrachte, manchmal in gro§en Pausen ruhte und ich in einer gro§en Zeitstrecke selbst mit Willen nichts hervorzubringen imstande war, und daher šfters Langeweile empfand; so trat mir bei jenem strengen Gegensatz der Gedanke entgegen, ob ich nicht von der andern Seite das, was menschlich, vernŸnftig und verstŠndig an mir sei, zu meinem und anderer Nutzen


und Vorteil gebrauchen und die Zwischenzeit, wie ich es ja auch schon getan und wie ich immer stŠrker aufgefordert wurde, den WeltgeschŠften widmen und dergestalt nichts von meinen KrŠften ungebraucht lassen sollte? Ich fand dieses, was aus jenen allgemeinen Begriffen hervorzugehen schien, mit meinem Wesen, mit meiner Lage so Ÿbereinstimmend, da§ ich den Entschlu§ fa§te, auf diese Weise zu handeln und mein bisheriges Schwanken und Zaudern dadurch zu bestimmen. Sehr angenehm war mir zu denken, da§ ich fŸr wirkliche Dienste von den Menschen auch reellen Lohn fordern; jene liebliche Naturgabe dagegen als ein Heiliges uneigennŸtzig auszuspenden fortfahren dŸrfte. Durch diese Betrachtung rettete ich mich von der Bitterkeit, die sich in mir hŠtte erzeugen kšnnen, wenn ich bemerken mu§te, da§ gerade das so sehr gesuchte und bewunderte Talent in Deutschland als au§er dem Gesetz und vogelfrei behandelt werde. Denn nicht allein in Berlin hielt man den Nachdruck fŸr etwas ZulŠssiges, ja Lustiges, sondern der ehrwŸrdige, wegen seiner Regententugenden gepriesene Markgraf von Baden, der zu so vielen Hoffnungen berechtigende Kaiser Joseph begŸnstigten, jener seinen Macklot, dieser seinen Edlen von Trattner, und es war ausgesprochen da§ die Rechte, sowie das Eigentum des Genies dem Handwerker und Fabrikanten unbedingt preisgegeben seien.

Als wir uns einst hierŸber bei einem besuchenden Badenser beklagten, erzŠhlte er uns folgende Geschichte. Die Frau MarkgrŠfin, als eine tŠtige Dame, habe auch eine Papierfabrik angelegt, die Ware sei aber so schlecht geworden, da§ man sie nirgends habe unterbringen kšnnen. Darauf habe BuchhŠndler Macklot den Vorschlag getan, die deutschen Dichter und Prosaisten auf dieses Papier abzudrucken, um dadurch seinen Wert in etwas zu erhšhen. Mit beiden HŠnden habe man dieses angenommen.

Wir erklŠrten zwar diese bšse Nachrede fŸr ein MŠrchen, ergštzten uns aber doch daran. Der Name Macklot ward zu gleicher Zeit fŸr einen Schimpfnamen erklŠrt und bei schlech-


ten Begebenheiten wiederholt gebraucht. Und so fand sich eine leichtsinnige Jugend, welche gar manchmal borgen mu§te, indes die NiedertrŠchtigkeit sich an ihren Talenten bereicherte, durch ein paar gute EinfŠlle hinreichend entschŠdigt.

 

GlŸckliche Kinder und JŸnglinge wandeln in einer Art von Trunkenheit vor sich hin, die sich dadurch besonders bemerklich macht, da§ die Guten, Unschuldigen das VerhŠltnis der jedesmaligen Umgebung kaum zu bemerken noch weniger anzuerkennen wissen. Sie sehen die Welt als einen Stoff an, den sie bilden, als einen Vorrat, dessen sie sich bemŠchtigen sollen. Alles gehšrt ihnen an, ihrem Willen scheint alles durchdringlich; gar oft verlieren sie sich deshalb in einem wilden wŸsten Wesen. Bei den Bessern jedoch entfaltet sich diese Richtung zu einem sittlichen Enthusiasmus, der sich nach Gelegenheit zu irgend einem wirklichen oder scheinbaren Guten aus eignem Triebe hinbewegt, sich aber auch šfters leiten, fŸhren und verfŸhren lŠ§t.

Der JŸngling, von dem wir uns unterhalten, war in einem solchen Falle, und wenn er den Menschen auch seltsam vorkam, so erschien er doch gar manchem willkommen. Gleich bei dem ersten Zusammentreten fand man einen unbedingten Freisinn, eine heitere Offenherzigkeit im GesprŠch, und ein gelegentliches Handeln ohne Bedenken. Von letzterem einige Geschichtchen.

In der sehr eng in einander gebauten Judengasse war ein heftiger Brand entstanden. Mein allgemeines Wohlwollen, die daraus entspringende Lust zu tŠtiger HŸlfe trieb mich, gut angekleidet wie ich ging und stand, dahin. Man hatte von der Allerheiligengasse her durchgebrochen, an diesen Zugang verfŸgt ich mich; ich fand daselbst eine gro§e Anzahl Menschen mit Wassertragen beschŠftigt, mit vollen Eimern sich hin drŠngend, mit leeren herwŠrts. Ich sah gar bald, da§, wenn man eine Gasse bildete, wo man die Eimer herauf- und herabreichte, die HŸlfe die doppelte sein wŸrde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen, rief andere an


mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen und die RŸckkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand Beifall, mein Zureden und persšnliche Teilnahme ward begŸnstigt und die Gasse, vom Eintritt bis zum brennenden Ziele, war bald vollendet und geschlossen. Kaum aber hatte die Heiterkeit womit dieses geschehen eine frohe, man kann sagen eine lustige Stimmung in dieser lebendigen, zweckmŠ§ig wirkenden Maschine aufgeregt, als der Mutwille sich schon hervortat und der Schadenfreude Raum gab. Armselige FlŸchtende, ihre jammervolle Habe auf dem RŸcken schleppend, mu§ten, einmal in die bequeme Gasse geraten, unausweichlich hindurch und blieben nicht unangefochten. Mutwillige KnabenjŸnglinge spritzten sie an und fŸgten Verachtung und Unart noch dem Elend hinzu. Gleich aber, durch mŠ§iges Zureden und rednerische Strafworte, mit RŸcksicht wahrscheinlich auf meine reinlichen Kleider, die ich vernachlŠssigte, ward der Frevel eingestellt.

Neugierige meiner Freunde waren herangetreten, den Unfall zu beschauen, und schienen verwundert, ihren Gesellen in Schuhen und seidenen StrŸmpfen - denn anders ging man damals nicht - in diesem feuchten GeschŠfte zu sehen. Wenige konnt' ich heranziehen, andere lachten und schŸttelten die Kšpfe. Wir hielten lange stand, denn bei manchen Abtretenden verstanden sich auch manche dazu, sich anzuschlie§en; viele Schaulustige folgten aufeinander, und so ward mein unschuldiges Wagnis vielen bekannt, und die wunderliche Lizenz mu§te zur Stadtgeschichte des Tags werden.

Ein solcher Leichtsinn im Handeln nach irgend einer gutmŸtigen heitern Grille, hervortretend aus einem glŸcklichen SelbstgefŸhl, was von den Menschen leicht als Eitelkeit getadelt wird, machte unsern Freund auch noch durch andere Wunderlichkeiten bemerklich.

Ein sehr harter Winter hatte den Main všllig mit Eis bedeckt und in einen festen Boden verwandelt. Der lebhafteste, notwendige und lustig gesellige Verkehr regte sich auf dem Eise. Grenzenlose Schrittschuhbahnen, glattgefrorne weite


Stellen wimmelten von bewegter Versammlung. Ich fehlte nicht vom frŸhen Morgen an und war also, wie spŠterhin meine Mutter, dem Schauspiel zuzusehen, angefahren kam, als leichtgekleidet wirklich durchgefroren. Sie sa§ im Wagen in ihrem roten Sammetpelze, der, auf der Brust mit starken goldnen SchnŸren und Quasten zusammengehalten, ganz stattlich aussah. "Geben Sie mir, liebe Mutter, Ihren Pelz!" rief ich aus dem Stegreife, ohne mich weiter besonnen zu haben, "mich friert grimmig." Auch sie bedachte nichts weiter; im Augenblick hatte ich den Pelz an, der, Purpurfarb bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrŠmt und mit Gold geschmŸckt, zu der braunen PelzmŸtze, die ich trug, gar nicht Ÿbel kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab, auch war das GedrŠnge so gro§, da§ man die seltene Erscheinung nicht einmal sonderlich bemerkte, obschon einigerma§en: denn man rechnete mir sie spŠter unter meinen Anomalien im Ernst und Scherze wohl einmal wieder vor.

 

Nach solchen Erinnerungen eines glŸcklichen unbedachten Handelns schreiten wir an dem eigentlichen Faden unsrer ErzŠhlung fort. Ein geistreicher Franzos hat schon gesagt: wenn irgend ein guter Kopf die Aufmerksamkeit des Publikums durch ein verdienstliches Werk auf sich gezogen hat, so tut man das mšglichste, um zu verhindern, da§ er jemals dergleichen wieder hervorbringt.

Es ist so wahr: irgend etwas Gutes, Geistreiches wird in stiller abgesonderter Jugend hervorgebracht, der Beifall wird erworben, aber die UnabhŠngigkeit verloren, man zerrt das konzentrierte Talent in die Zerstreuung, weil man denkt, man kšnne von seiner Persšnlichkeit etwas abzupfen und sich zueignen.

In diesem Sinne erhielt ich manche Einladungen, oder nicht so wohl Einladungen. Ein Freund, ein Bekannter schlug mir vor, gar oft mehr als dringend, mich da oder dort einzufŸhren.


Der quasi Fremde, angekŸndigt als BŠr, wegen oftmaligen unfreundlichen Abweisens, dann wieder als Hurone Voltaires, Cumberlands Westindier, als Naturkind bei so vielen Talenten, erregte die Neugierde, und so beschŠftigte man sich in verschiedenen HŠusern mit schicklichen Negotiationen, ihn zu sehen.

Unter andern ersuchte mich ein Freund eines Abends, mit ihm ein kleines Konzert zu besuchen, welches in einem angesehnen reformierten Handelshause gegeben wurde. Es war schon spŠt, doch weil ich alles aus dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewšhnlich anstŠndig angezogen. Wir treten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche gerŠumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich, ein FlŸgel stand in der Mitte, an den sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand am unteren Ende des FlŸgels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu kšnnen; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen, die Bewegungen, wozu das Spiel sie nštigte, waren ungezwungen und leicht.

Nach geendigter Sonate trat sie ans Ende des Pianos gegen mir Ÿber, wir begrŸ§ten uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schlu§ trat ich etwas nŠher und sagte einiges Verbindliche: wie sehr es mich freue, da§ die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent bekannt gemacht habe. Sie wu§te gar artig meine Worte zu erwidern, behielt ihre Stellung und ich die meinige. Ich konnte bemerken, da§ sie mich aufmerksam betrachtete und da§ ich ganz eigentlich zur Schau stand, welches ich mir gar wohl konnte gefallen lassen, da man mir auch etwas gar Anmutiges zu schauen gab. Indessen blickten wir einander an, und ich will nicht leugnen, da§ ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte. Das Hin- und Herwogen der Gesellschaft und ihrer Leistungen verhinderte jedoch jede andere Art von AnnŠherung diesen Abend. Doch mu§ ich eine angenehme Empfindung gestehen, als


die Mutter beim Abschied zu erkennen gab, sie hofften mich bald wieder zu sehen, und die Tochter mit einiger Freundlichkeit einzustimmen schien. Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen, meinen Besuch zu wiederholen, da sich denn ein heiteres verstŠndiges GesprŠch bildete, welches kein leidenschaftliches VerhŠltnis zu weissagen schien.

Indessen brachte die einmal eingeleitete Gastfreiheit unsres Hauses den guten Eltern und mir selbst manche Unbequemlichkeit; in meiner Richtung, die immer darauf hinging, das Hšhere gewahr zu werden, es zu erkennen, es zu fšrdern und wo mšglich solches nachbildend zu gestalten, war ich dadurch in nichts weiter gebracht. Die Menschen, insofern sie gut waren, waren fromm, und, insofern sie tŠtig waren, unklug und oft ungeschickt. Jenes konnte mir nichts helfen, und dieses verwirrte mich; einen merkwŸrdigen Fall habe ich sorgfŠltig niedergeschrieben.

Im Anfang des Jahres 1775 meldete Jung, nachher Stilling genannt, vom Niederrhein, da§ er nach Frankfurt komme, berufen, eine bedeutende Augenkur daselbst vorzunehmen; er war mir und meinen Eltern willkommen, und wir boten ihm das Quartier an.

Herr von Lersner, ein wŸrdiger Mann in Jahren, durch Erziehung und FŸhrung fŸrstlicher Kinder, verstŠndiges Betragen bei Hof und auf Reisen Ÿberall geschŠtzt, erduldete schon lange das UnglŸck einer všlligen Blindheit, doch konnte seine Sehnsucht nach HŸlfe nicht ganz erlšschen. Nun hatte Jung seit einigen Jahren mit gutem Mut und frommer Dreistigkeit viele Staroperationen am Niederrhein vollbracht und sich dadurch einen ausgebreiteten Ruf erworben; Redlichkeit seiner Seele, ZuverlŠssigkeit des Charakters und reine Gottesfurcht bewirkten ihm ein allgemeines Zutrauen, dieses verbreitete sich stromaufwŠrts auf dem Wege vielfacher Handelsverbindungen. Herr von Lersner und die Seinigen, beraten von einem einsichtigen Arzte, entschlossen sich, den glŸcklichen Augenarzt kommen zu lassen, wenn schon ein Frankfurter Kaufmann, an dem die Kur mi§glŸckt


war, ernstlich abriet; aber was bewies auch ein einzelner Fall gegen so viele gelungene! Doch Jung kam, nunmehr angelockt durch eine bedeutende Belohnung, deren er gewšhnlich bisher entbehrt hatte; er kam, seinen Ruf zu vermehren, getrost und freudig, und wir wŸnschten uns GlŸck zu einem so wackern und heitern Tischgenossen.

Nach mehreren Šrztlichen Vorbereitungen ward nun endlich der Star auf beiden Augen gestochen; wir waren hšchst gespannt, es hie§, der Patient habe nach der Operation sogleich gesehen, bis der Verband das Tageslicht wieder abgehalten. Allein es lie§ sich bemerken, da§ Jung nicht heiter war und da§ ihm etwas auf dem Herzen lag; wie er mir denn auch auf weiteres Nachforschen bekannte, da§ er wegen Ausgang der Kur in Sorgen sei. Gewšhnlich, und ich hatte selbst in Stra§burg mehrmals zugesehen, schien nichts leichter in der Welt zu sein, wie es denn auch Stillingen hundertmal gelungen war. Nach vollbrachtem schmerzlosen Schnitt durch die unempfindliche Hornhaut sprang bei dem gelindesten Druck die trŸbe Linse von selbst heraus, der Patient erblickte sogleich die GegenstŠnde und mu§te sich nur mit verbundenen Augen gedulden, bis eine vollbrachte Kur ihm erlaubte, sich des kšstlichen Organs nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. Wie mancher Arme, dem Jung dieses GlŸck verschafft, hatte dem WohltŠter Gottessegen und Belohnung von oben herabgewŸnscht, welche nun durch diesen reichen Mann abgetragen werden sollte.

Jung bekannte, da§ es diesmal so leicht und glŸcklich nicht hergegangen: die Linse sei nicht herausgesprungen, er habe sie holen und zwar, weil sie angewachsen, ablšsen mŸssen; dies sei nun nicht ohne einige Gewalt geschehen. Nun machte er sich VorwŸrfe, da§ er auch das andere Auge operiert habe. Allein man hatte sich so fest vorgesetzt, beide zugleich vorzunehmen, an eine solche ZufŠlligkeit hatte man nicht gedacht und, da sie eingetreten, sich nicht sogleich erholt und besonnen. Genug, die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mu§te auch mit Unstatten abgelšst und herausgeholt werden.


Wie Ÿbel ein so gutmŸtiger, wohlgesinnter, gottesfŸrchtiger Mann in einem solchen Falle dran sei, lŠ§t keine Beschreibung noch Entwicklung zu; etwas Allgemeines Ÿber eine solche Sinnesart steht vielleicht hier am rechten Platze.

Auf eigene moralische Bildung loszuarbeiten, ist das Einfachste und Tulichste, was der Mensch vornehmen kann; der Trieb dazu ist ihm angeboren; er wird durch Menschenverstand und Liebe dazu im bŸrgerlichen Leben geleitet, ja gedrŠngt.

Stilling lebte in einem sittlich religiosen LiebesgefŸhl; ohne Mitteilung, ohne guten Gegenwillen konnte er nicht existieren, er forderte wechselseitige Neigung; wo man ihn nicht kannte, war er still, wo man den Bekannten nicht liebte, war er traurig; deswegen befand er sich am besten mit solchen wohlgesinnten Menschen, die in einem beschrŠnkten ruhigen Berufskreise mit einiger Bequemlichkeit sich zu vollenden beschŠftigt sind.

Diesen gelingt nun wohl, die Eitelkeit abzutun, dem Bestreben nach Šu§erer Ehre zu entsagen, Behutsamkeit im Sprechen sich anzueignen, gegen Genossen und Nachbarn ein freundliches gleiches Betragen auszuŸben.

Oft liegt hier eine dunkle Geistesform zum Grunde, durch IndividualitŠt modifiziert; solche Personen, zufŠllig angeregt, legen gro§e Wichtigkeit auf ihre empirische Laufbahn, man hŠlt alles fŸr ŸbernatŸrliche Bestimmung, mit der †berzeugung, da§ Gott unmittelbar einwirke.

Dabei ist im Menschen eine gewisse Neigung, in seinem Zustand zu verharren, zugleich aber auch sich sto§en und fŸhren zu lassen, und eine gewisse Unentschlossenheit, selbst zu handeln; diese vermehrt sich, bei Mi§lingen der verstŠndigsten Plane, sowie durch zufŠlliges Gelingen gŸnstig zusammentreffender unvorhergesehener UmstŠnde.

Wie nun durch eine solche Lebensweise ein aufmerksames mŠnnliches Betragen verkŸmmert wird, so ist die Art in einen solchen Zustand zu geraten gleichfalls bedenklich und der Betrachtung wert.


Wovon sich dergleichen Sinnesverwandte am liebsten unterhalten, sind die sogenannten Erweckungen, SinnesverŠnderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten Aperus nennen: das Gewahrwerden einer gro§en Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder †berlieferung. Hier ist es das Gewahrwerden der moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird.

Ein solches Aperu gibt dem Entdecker die grš§te Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet; es bedarf keiner Zeitfolge zur †berzeugung: es entspringt ganz und vollendet im Augenblick, daher das gutmŸtige altfranzšsische Reimwort:

En peu d'heure

Dieu labeure.

€u§ere Anstš§e bewirken oft das gewaltsame Losbrechen solcher SinnesŠnderung, man glaubt Zeichen und Wunder zu schauen.

Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glŸcklich auf seinen Lebensgang eingewirkt, und es war ganz seiner Natur gemŠ§, alles, was fŸr ihn geschah, in einem dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebensgange weder erfreulich noch fšrderlich. Zwar Ÿberlie§ ich gern einem jeden, wie er sich das RŠtsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte, aber die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernŸnftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren gšttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anma§lich, und die Vorstellungsart, da§ alles, was aus unserm Leichtsinn und DŸnkel, Ÿbereilt oder vernachlŠssigt, schlimme, schwer zu Ÿbertragende Folgen hat, gleichfalls fŸr eine gštt-


liche PŠdagogik zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten Freund nur anhšren, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch lie§ ich ihn, wie so viele andere, gern gewŠhren und schŸtzte ihn spŠter wie frŸher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute. Daher ich ihm auch den Einfall eines schalkischen Mannes nicht zu Ohren kommen lie§, der einmal ganz ernsthaft ausrief: "Nein! fŸrwahr, wenn ich mit Gott so gut stŸnde wie Jung, so wŸrde ich das hšchste Wesen nicht um Geld bitten, sondern um Weisheit und guten Rat, damit ich nicht so viel dumme Streiche machte, die Geld kosten und elende Schuldenjahre nach sich ziehen."

Denn freilich war zu solchem Scherz und Frevel jetzt nicht die Zeit. Zwischen Furcht und Hoffnung gingen mehrere Tage hin; jene wuchs, diese schwand und verlor sich gŠnzlich; die Augen des braven geduldigen Mannes entzŸndeten sich, und es blieb kein Zweifel, da§ die Kur mi§lungen sei.

Der Zustand in den unser Freund dadurch geriet, lŠ§t keine Schilderung zu; er wehrte sich gegen die innerste tiefste Verzweiflung von der schlimmsten Art. Denn was war nicht in diesem Falle verloren! zuvšrderst der grš§te Dank des zum Lichte wieder Genesenen, das Herrlichste, dessen sich der Arzt nur erfreuen kann, das Zutrauen so vieler andern HŸlfsbedŸrftigen, der Kredit, indem die gestšrte AusŸbung dieser Kunst eine Familie im hŸlflosen Zustande zurŸcklie§. Genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch, da denn der treue Mann die Rolle der scheltenden Freunde selbst Ÿbernahm. Er wollte diesen Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen; es schien ihm, als habe er die ihm zufŠllig Ÿberkommenen Augenmittel frevelhaft als gšttlichen Beruf zu diesem GeschŠft betrachtet; er warf sich vor, dieses hšchst wichtige Fach nicht durch und durch studiert, sondern seine Kuren nur so obenhin auf gut GlŸck behandelt zu haben; ihm kam augenblicklich vor die Seele, was Mi§wollende ihm nachgeredet; er ge-


riet in Zweifel, ob dies auch nicht Wahrheit sei, und dergleichen schmerzte um so tiefer, als er sich den fŸr fromme Menschen so gefŠhrlichen Leichtsinn, leider auch wohl DŸnkel und Eitelkeit, in seinem Lebensgange mu§te zuschulden kommen lassen. In solchen Augenblicken verlor er sich selbst, und wie wir uns auch verstŠndigen mochten, wir gelangten doch nur zuletzt auf das vernŸnftig-notwendige Resultat: da§ Gottes RatschlŸsse unerforschlich seien.

In meinem vorstrebend heitern Sinne wŠre ich noch mehr verletzt gewesen, hŠtte ich nicht, nach herkšmmlicher Weise, diese SeelenzustŠnde ernster freundlicher Betrachtung unterworfen und sie mir nach meiner Weise zurecht gelegt; nur betrŸbte es mich, meine gute Mutter fŸr ihre Sorgfalt und hŠusliche BemŸhung so Ÿbel belohnt zu sehen; sie empfand es jedoch nicht bei ihrem unablŠssig tŠtigen Gleichmut. Der Vater dauerte mich am meisten. Um meinetwillen hatte er einen streng geschlossenen Haushalt mit Anstand erweitert und geno§ besonders bei Tisch, wo die Gegenwart von Fremden auch einheimische Freunde und immer wieder sonstige Durchreisende heranzog, sehr gern eines muntern, ja paradoxen GesprŠches, da ich ihm denn, durch allerlei dialektisches Klopffechten, gro§es Behagen und ein freundliches LŠcheln bereitete: denn ich hatte die gottlose Art, alles zu bestreiten, aber nur insofern hartnŠckig, da§ derjenige, der recht behielt, auf alle FŠlle lŠcherlich wurde. Hieran war nun in den letzten Wochen gar nicht zu denken, denn die glŸcklichsten heitersten Ereignisse, veranla§t durch wohlgelungene Nebenkuren des durch die Hauptkur so unglŸcklichen Freundes, konnten nicht greifen, viel weniger der traurigen Stimmung eine andere Wendung geben.

Denn so machte uns im einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem Isenburgischen zu lachen, der, in dem hšchsten Elend nach Frankfurt gefŸhrt, kaum ein Obdach, kaum eine kŸmmerliche Nahrung und Wartung finden konnte, dem aber die zŠhe orientalische Natur so gut nachhalf, da§ er, vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde, sich


mit EntzŸcken geheilt sah. Als man ihn fragte: ob die Operation geschmerzt habe? so sagte er nach der hyperbolischen Weise: "Wenn ich eine Million Augen hŠtte, so wollte ich sie jedesmal fŸr ein halb KopfstŸck, sŠmtlich, nach und nach operieren lassen." Bei seinem Abwandern betrug er sich in der Fahrgasse ebenso exzentrisch, er dankte Gott auf gut alttestamentlich, pries den Herren und den Wundermann, seinen Gesandten. So schritt er, in dieser langen gewerbreichen Stra§e, langsam der BrŸcke zu. VerkŠufer und KŠufer traten aus den LŠden heraus, Ÿberrascht durch einen so seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Teilnahme, dergestalt da§ er, ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur Wegezehrung beglŸckt wurde.

Eines solchen heitern Vorfalls durfte man in unserm Kreise aber kaum erwŠhnen; denn, wenn der €rmste, in seiner sandigen Heimat Ÿber Main, in hŠuslichem Elend hšchst glŸcklich gedacht werden konnte, so vermi§te dagegen ein Wohlhabender, WŸrdiger diesseits das unschŠtzbare, zunŠchst gehoffte Behagen.

KrŠnkend war daher fŸr unsern guten Jung der Empfang der tausend Gulden, die, auf jeden Fall bedungen, von gro§mŸtigen Menschen edel bezahlt wurden. Diese Barschaft sollte bei seiner RŸckkehr einen Teil der Schulden auslšschen, die auf traurigen, ja unseligen ZustŠnden lasteten.

Und so schied er trostlos von uns, denn er sah zurŸckkehrend den Empfang einer sorglichen Frau, das verŠnderte Begegnen von wohldenkenden Schwiegereltern, die sich, als BŸrgen fŸr so manche Schulden des allzu zuversichtlichen Mannes, in der Wahl eines LebensgefŠhrten fŸr ihre Tochter vergriffen zu haben glauben konnten. Hohn und Spott der ohnehin im GlŸcke schon Mi§wollenden konnte er in diesem und jenem Hause, aus diesem und jenem Fenster schon voraussehen; eine durch seine Abwesenheit schon verkŸmmerte, durch diesen Unfall in ihren Wurzeln bedrohte Praxis mu§te ihn Šu§erst Šngstigen.


So entlie§en wir ihn, von unserer Seite jedoch nicht ganz ohne Hoffnung; denn seine tŸchtige Natur, gestŸtzt auf den Glauben an ŸbernatŸrliche HŸlfe, mu§te seinen Freunden eine stillbescheidene Zuversicht einflš§en.


 

Siebzehntes Buch

 

Wenn ich die Geschichte meines VerhŠltnisses zu Lili wieder aufnehme, so hab' ich mich zu erinnern, da§ ich die angenehmsten Stunden teils in Gegenwart ihrer Mutter, teils allein mit ihr zubrachte. Man traute mir aus meinen Schriften Kenntnis des menschlichen Herzens, wie man es damals nannte, zu, und in diesem Sinne waren unsre GesprŠche sittlich interessant auf jede Weise.

Wie wollte man sich aber von dem Innern unterhalten, ohne sich gegenseitig aufzuschlie§en? Es wŠhrte daher nicht lange, da§ sie mir in ruhiger Stunde die Geschichte ihrer Jugend erzŠhlte. Sie war im Genu§ aller geselligen Vorteile und WeltvergnŸgungen aufgewachsen. Sie schilderte mir ihre BrŸder, ihre Verwandten, sowie die nŠchsten ZustŠnde; nur ihre Mutter blieb in einem ehrwŸrdigen Dunkel.

Auch kleiner SchwŠchen wurde gedacht, und so konnte sie nicht leugnen, da§ sie eine gewisse Gabe anzuziehen an sich habe bemerken mŸssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft fahren zu lassen verbunden sei. Hiedurch gelangten wir im Hin- und Widerreden auf den bedenklichen Punkt, da§ sie diese Gabe auch an mir geŸbt habe, jedoch bestraft worden sei, indem sie auch von mir angezogen worden.

Diese GestŠndnisse gingen aus einer so reinen kindhaften Natur hervor, da§ sie mich dadurch aufs allerstrengste sich zu eigen machte.

Ein wechselseitiges BedŸrfnis, eine Gewohnheit sich zu sehen, trat nun ein; wie hŠtt' ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein entbehren mŸssen, wenn ich mich nicht hŠtte entschlie§en kšnnen, sie in ihren Zirkeln zu sehen! Hieraus erwuchs mir mannigfaltige Pein.


Mein VerhŠltnis zu ihr war von Person zu Person, zu einer schšnen, liebenswŸrdigen, gebildeten Tochter; es glich meinen frŸheren VerhŠltnissen, und war noch hšherer Art. An die €u§erlichkeiten jedoch, an das Mischen und Wiedermischen eines geselligen Zustandes hatte ich nicht gedacht. Ein unbezwingliches Verlangen war eingetreten; ich konnte nicht ohne sie, sie nicht ohne mich sein; aber in den Umgebungen und bei den Einwirkungen einzelner Glieder ihres Kreises, was ergaben sich da oft fŸr Mi§tage und Fehlstunden!

Die Geschichte von Lustpartien, die zur Unlust ausliefen; ein retardierender Bruder, mit dem ich nachfahren sollte, welcher seine GeschŠfte erst mit der grš§ten Gelassenheit, ich wei§ nicht ob mit Schadenfreude, langsamst vollendete und dadurch die ganze wohldurchdachte Verabredung verdarb, auch sonstiges Antreffen und Verfehlen, Ungeduld und Entbehrung, alle diese Peinen, die in irgend einem Roman, umstŠndlicher mitgeteilt, gewi§ teilnehmende Leser finden wŸrden, mu§ ich hier beseitigen. Um aber doch diese betrachtende Darstellung einer lebendigen Anschauung, einem jugendlichen MitgefŸhl anzunŠhern, mšgen einige Lieder, zwar bekannt, aber vielleicht besonders hier eindrŸcklich, eingeschaltet stehen.

Herz, mein Herz, was soll das geben?

Was bedrŠnget dich so sehr?

Welch ein fremdes neues Leben!

Ich erkenne dich nicht mehr.

Weg ist alles, was du liebtest,

Weg warum du dich betrŸbtest,

Weg dein Flei§ und deine Ruh -

Ach wie kamst du nur dazu?

 

Fesselt dich die JugendblŸte,

Diese liebliche Gestalt,

Dieser Blick voll Treu und GŸte

Mit unendlicher Gewalt?


Will ich rasch mich ihr entziehen,

Mich ermannen, ihr entfliehen,

FŸhret mich im Augenblick

Ach mein Weg zu ihr zurŸck.

 

Und an diesem ZauberfŠdchen,

Das sich nicht zerrei§en lŠ§t,

HŠlt das liebe lose MŠdchen

Mich so wider Willen fest;

Mu§ in ihrem Zauberkreise

Leben nun auf ihre Weise.

Die VerŠndrung ach wie gro§!

Liebe! Liebe! la§ mich los!

 

Warum ziehst du mich unwiderstehlich

Ach in jene Pracht?

War ich guter Junge nicht so selig

In der šden Nacht!

 

Heimlich in mein Zimmerchen verschlossen

Lag im Mondenschein,

Ganz von seinem Schauerlicht umflossen,

Und ich dŠmmert' ein.

 

TrŠumte da von vollen goldnen Stunden

Ungemischter Lust,

Hatte schon dein liebes Bild empfunden

Tief in meiner Brust.

 

Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern

An dem Spieltisch hŠltst?

Oft so unertrŠglichen Gesichtern

GegenŸber stellst?

 

Reizender ist mir des FrŸhlings BlŸte

Nun nicht auf der Flur;

Wo du, Engel, bist, ist Lieb und GŸte,

Wo du bist, Natur.


Hat man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen, lieber noch mit GefŸhl vorgesungen, so wird ein Hauch jener FŸlle glŸcklicher Stunden gewi§ vorŸber wehen.

Doch wollen wir aus jener grš§eren, glŠnzenden Gesellschaft nicht eilig abscheiden, ohne vorher noch einige Bemerkungen hinzuzufŸgen; besonders den Schlu§ des zweiten Gedichtes zu erlŠutern.

Diejenige, die ich nur im einfachen, selten gewechselten Hauskleide zu sehen gewohnt war, trat mir im eleganten Modeputz nun glŠnzend entgegen, und doch war es ganz dieselbe. Ihre Anmut, ihre Freundlichkeit blieb sich gleich, nur mšcht' ich sagen, ihre Anziehungsgabe tat sich mehr hervor; es sei nun, weil sie hier gegen viele Menschen stand, da§ sie sich lebhafter zu Šu§ern, sich von mehreren Seiten, je nachdem ihr dieser oder jener entgegen kam, zu vermannigfaltigen Ursache fand; genug, ich konnte mir nicht leugnen, da§ diese Fremden mir zwar einerseits unbequem fielen, da§ ich aber doch um vieles der Freude nicht entbehrt hŠtte, ihre geselligen Tugenden kennen zu lernen und einzusehen, sie sei auch weiteren und allgemeineren ZustŠnden gewachsen.

War es doch derselbige nun durch Putz verhŸllte Busen, der sein Innres mir gešffnet hatte und in den ich so klar wie in den meinigen hineinsah; waren es doch dieselben Lippen, die mir so frŸh den Zustand schilderten, in dem sie herangewachsen, in dem sie ihre Jahre verbracht hatte. Jeder wechselseitige Blick, jedes begleitende LŠcheln sprach ein verborgnes edles VerstŠndnis aus, und ich staunte selbst hier in der Menge Ÿber die geheime unschuldige Verabredung, die sich auf das menschlichste, auf das natŸrlichste gefunden hatte.

Doch sollte bei eintretendem FrŸhling eine anstŠndige lŠndliche Freiheit dergleichen VerhŠltnisse enger knŸpfen. Offenbach am Main zeigte schon damals bedeutende AnfŠnge einer Stadt, die sich in der Folge zu bilden versprach. Schšne, fŸr die damalige Zeit prŠchtige GebŠude hatten sich schon hervorgetan; Onkel Bernard, wie ich ihn gleich mit seinem Familientitel nennen will, bewohnte das grš§te; weit-


lŠufige FabrikgebŠude schlossen sich an; d'Orville, ein jŸngerer lebhafter Mann von liebenswŸrdigen Eigenheiten, wohnte gegenŸber. Ansto§ende GŠrten, Terrassen, bis an den Main reichend, Ÿberall freien Ausgang nach der holden Umgegend erlaubend, setzten den Eintretenden und Verweilenden in ein stattliches Behagen. Der Liebende konnte fŸr seine GefŸhle keinen erwŸnschtern Raum finden.

Ich wohnte bei Johann AndrŽ, und indem ich diesen Mann, der sich nachher genugsam bekannt gemacht, hier zu nennen habe, mu§ ich mir eine kleine Abschweifung erlauben, um von dem damaligen Opernwesen einigen Begriff zu geben.

In Frankfurt dirigierte zu der Zeit Marchand das Theater und suchte durch seine eigne Person das mšgliche zu leisten. Es war ein schšner, gro§- und wohlgestalteter Mann in den besten Jahren; das Behagliche, zu leisten. Es war ein schšner, gro§- und wohlgestalteter Mann in den besten Jahren; das Behagliche, Weichliche erschien bei ihm vorwaltend; seine Gegenwart auf dem Theater war daher angenehm genug. Er mochte so viel Stimme haben, als man damals zu AusfŸhrung musikalischer Werke wohl allenfalls bedurfte, deshalb er denn die kleineren und grš§ern franzšsischen Opern herŸber zu bequemen bemŸht war.

Der Vater in der GrŽtryschen Oper: "Die Schšne bei dem Ungeheuer", gelang ihm besonders wohl, wo er sich in der hinter dem Flor veranstalteten Vision gar ausdrŸcklich zu gebŠrden wu§te. Diese in ihrer Art wohlgelungene Oper nŠherte sich jedoch dem edlen Stil, und war geeignet, die zartesten GefŸhle zu erregen. Dagegen hatte sich ein realistischer DŠmon des Operntheaters bemŠchtigt; Zustands - und Handwerksopern taten sich hervor. "Die JŠger", "Der Fa§binder", und ich wei§ nicht was alles, waren vorausgegangen, AndrŽ wŠhlte sich den "Tšpfer". Er hatte sich das Gedicht selbst geschrieben, und in den Text, der ihm angehšrte, sein ganzes musikalisches Talent verwendet.

Ich war bei ihm einquartiert, und will von diesem allzeit fertigen Dichter und Komponisten nur so viel sagen, als hier gefordert wird.


Er war ein Mann von angeborenem lebhaften Talente, eigentlich als Techniker und Fabrikant in Offenbach ansŠssig; er schwebte zwischen dem Kapellmeister und Dilettanten; in Hoffnung, jenes Verdienst zu erreichen, bemŸhte er sich ernstlich, in der Musik grŸndlichen Fu§ zu fassen. Als letzterer war er geneigt, seine Kompositionen ins Unendliche zu wiederholen.

Unter den Personen, welche damals den Kreis zu fŸllen und zu beleben sich hšchst tŠtig erwiesen, ist der Pfarrer Ewald zu nennen, der, geistreich heiter in Gesellschaft, die Studien seiner Pflichten, seines Standes im stillen fŸr sich durchzufŸhren wu§te, wie er denn auch in der Folge innerhalb des theologischen Feldes sich ehrenvoll bekannt gemacht; er mu§ in dem damaligen Kreise als unentbehrlich, auffassend und erwidernd, mitgedacht werden.

Lilis Pianospiel fesselte unsern guten AndrŽ vollkommen an unsre Gesellschaft; als unterrichtend, meisternd, ausfŸhrend, waren wenige Stunden des Tags und der Nacht, wo er nicht in das Familienwesen, in die gesellige Tagesreihe mit eingriff.

BŸrgers "Lenore", damals ganz frisch bekannt und mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen, war von ihm komponiert; er trug sie gern und wiederholt vor.

Auch ich, der viel und lebhaft rezitierend vortrug, war sie zu deklamieren bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei. War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hšren wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten.

Dieses alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur VerlŠngerung des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann AndrŽ war durch wechselsweise VerfŸhrung der beiden gar leicht in ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis Nachmitternacht seine Musik wiederholend zu verlŠngern. Die beiden Lieben den versicherten sich dadurch einer werten unentbehrlichen Gegenwart.

Trat man am Morgen in aller FrŸhe aus dem Hause, so fand man sich in der freiesten Luft, aber nicht eigentlich auf


dem Lande. Ansehnliche GebŠude, die zu jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hŠtten, GŠrten, parterreartig Ÿbersehbar, mit flachen Blumenund sonstigen Prunkbeeten, freie †bersicht Ÿber den Flu§ bis ans jenseitige Ufer, oft schon frŸh eine tŠtige Schiffahrt von Flš§en und gelenkten Marktschiffen und KŠhnen, eine sanft hingleitende lebendige Welt, mit liebevollen zarten Empfindungen im Einklang. Selbst das einsame VorŸberwogen und SchilfgeflŸster eines leise bewegten Stromes ward hšchst erquicklich und verfehlte nicht, einen entschieden-beruhigenden Zauber Ÿber den Herantretenden zu verbreiten. Ein heiterer Himmel der schšnsten Jahrszeit Ÿberwšlbte das Ganze, und wie angenehm mu§te sich eine traute Gesellschaft, von solchen Szenen umgeben, morgendlich wiederfinden.

Sollte jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose, zu leichtfertig erscheinen, so mšge er bedenken, da§ zwischen dasjenige, was hier, des Vortrags halben, wie im Zusammenhange geschildert ist, sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und TŠtigkeiten, sogar unertrŠgliche Langeweile widerwŠrtig einstellten.

MŠnner und Frauen waren in ihrem Pflichtkreise eifrig beschŠftigt. Auch ich versŠumte nicht, in Betracht der Gegenwart und Zukunft, das mir Obliegende zu besorgen, und fand noch Zeit genug, dasjenige zu vollbringen, wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrŠngten.

Die frŸhesten Morgenstunden war ich der Dichtkunst schuldig, der wachsende Tag gehšrte den weltlichen GeschŠften, die auf eine ganz eigene Art behandelt wurden. Mein Vater, ein grŸndlicher, ja eleganter Jurist, fŸhrte seine GeschŠfte selbst, die ihm sowohl die Verwaltung seines Vermšgens als die Verbindung mit wertgeschŠtzten Freunden auferlegte, und ob ihm gleich sein Charakter als kaiserlicher Rat zu praktizieren nicht erlaubte, so war er doch manchen Vertrauten als Rechtsfreund zur Hand, indem die ausgefertigten Schriften von einem ordinierten Advokaten unterzeichnet wurden, dem denn jede solche Signatur ein Billiges einbrachte.


Diese seine TŠtigkeit war nur lebhafter geworden durch mein Herantreten, und ich konnte gar wohl bemerken, da§ er mein Talent hšher schŠtzte als meine Praxis und deswegen alles tat, um mir Zeit genug zu meinen poetischen Studien und Arbeiten zu lassen. GrŸndlich und tŸchtig, aber von langsamer Konzeption und AusfŸhrung, studierte er die Akten als geheimer Referendar, und wenn wir zusammentraten, legte er mir die Sache vor, und die Ausfertigung ward von mir mit solcher Leichtigkeit vollbracht, da§ es ihm zur hšchsten Vaterfreude gedieh, und er auch wohl einmal auszusprechen nicht unterlie§: wenn ich ihm fremd wŠre, er wŸrde mich beneiden.

Diese Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern, hatte sich ein Schreiber zu uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgefŸhrt, leicht einen Roman fšrdern und schmŸcken kšnnte. Nach wohlgenutzten Schuljahren, worin er des Lateins všllig mŠchtig geworden, auch sonstige gute Kenntnisse erlangt hatte, unterbrach ein allzu leichtfertiges akademisches Leben den Ÿbrigen Gang seiner Tage; er schleppte sich eine Weile mit siechem Kšrper in DŸrftigkeit hin, und kam erst spŠter in bessere UmstŠnde durch HŸlfe einer sehr schšnen Handschrift und Rechnungsfertigkeit. Von einigen Advokaten unterhalten, ward er nach und nach mit den Fšrmlichkeiten des Rechtsganges genau bekannt, und erwarb sich alle, denen er diente, durch Rechtlichkeit und PŸnktlichkeit zu Gšnnern. Auch unserm Hause hatte er sich verpflichtet und war in allen Rechts- und Rechnungssachen bei der Hand.

Dieser hielt nun von seiner Seite unser sich immer mehr ausdehnendes GeschŠft, das sich sowohl auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei AuftrŠge, Bestellungen und Speditionen bezog, zusammen. Auf dem Rathause wu§te er alle Wege und Schliche, in den beiden burgemeisterlichen Audienzen war er auf seine Weise gelitten, und da er manchen neuen Ratsherrn, worunter einige gar bald zu Schšffen herangestiegen waren, von seinem ersten Eintritt ins Amt her in seinem noch un-


sichern Benehmen gar wohl kannte, so hatte er sich ein gewisses Vertrauen erworben, das man gar wohl eine Art von Einflu§ nennen konnte. Das alles wu§te er zum Nutzen seiner Gšnner zu verwenden, und da ihn seine Gesundheit nštigte, seine TŠtigkeit mit Ma§ zu Ÿben, so fand man ihn immer bereit, jeden Auftrag, jede Bestellung sorgfŠltig auszurichten.

Seine Gegenwart war nicht unangenehm, von Kšrper schlank und regelmŠ§iger Gesichtsbildung; sein Betragen nicht zudringlich, aber doch mit einem Ausdruck von Sicherheit seiner †berzeugung, was zu tun sei, auch wohl heiter und gewandt bei wegzurŠumenden Hindernissen. Er mochte stark in den Vierzigern sein, und es reut mich noch (ich darf das Obengesagte wiederholen), da§ ich ihn nicht als Triebrad in den Mechanismus irgend einer Novelle mit eingefŸgt habe.

In Hoffnung, meine ernsten Leser durch das Vorgetragene einigerma§en befriedigt zu haben, darf ich mich wohl wieder zu denen glŠnzenden Tagespunkten hinwenden, wo Freundschaft und Liebe sich in ihrem schšnsten Lichte zeigten.

Da§ Geburtstage sorgfŠltig, froh und mit mancher Abwechselung gefeiert wurden, liegt in der Natur solcher Verbindungen; dem Geburtstage des Pfarrers Ewald zu Gunsten ward das Lied gedichtet:

In allen guten Stunden,

Erhšht von Lieb und Wein,

Soll dieses Lied verbunden

Von uns gesungen sein!

Uns hŠlt der Gott zusammen,

Der uns hierher gebracht,

Erneuert unsre Flammen,

Er hat sie angefacht.

Da dies Lied sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und nicht leicht eine muntere Gesellschaft beim Gastmahl sich versammelt, ohne da§ es freudig wieder aufgefrischt werde, so empfehlen wir es auch unsern Nachkommen und wŸnschen allen, die es aussprechen und singen, gleiche Lust


und Behagen von innen heraus, wie wir damals ohne irgend einer weitern Welt zu gedenken, uns im beschrŠnkten Kreise zu einer Welt ausgedehnt empfanden.

Nun aber wird man erwarten, da§ Lilis Geburtstag, welcher den 23. Juni 1775 sich zum siebenzehnten Mal wiederholte, besonders sollte gefeiert werden. Sie hatte versprochen, am Mittag nach Offenbach zu kommen, und ich mu§ gestehen, da§ die Freunde mit glŸcklicher †bereinkunft von diesem Feste alle herkšmmlichen Verzierungsphrasen ablehnt und sich nur allein mit Herzlichkeiten, die ihrer wŸrdig wŠren, zu Empfang und Unterhaltung vorbereitet hatten.

Mit solchen angenehmen Pflichten beschŠftigt, sah ich die Sonne untergehen, die einen folgenden heitern Tag verkŸndigte und unserm Fest ihre frohe glŠnzende Gegenwart versprach, als Lilis Bruder George, der sich nicht verstellen konnte, ziemlich ungebŠrdig ins Zimmer trat, und ohne Schonung zu erkennen gab, da§ unser morgendes Fest gestšrt sei; er wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, da§ es ihr všllig unmšglich sei, morgen mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu kšnnen. Nun fŸhle und wisse sie recht gut, wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen mŸsse, bitte mich aber so herzlich dringend als sie kšnne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir Ÿberlasse hinaus zu melden, gemildert ja versšhnt werde; sie wolle mir's zum allerbesten danken.

Ich schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefa§t und wie durch himmlische Eingebung gefunden, was zu tun war. "Eile," rief ich, "George! sag ihr, sie solle sich ganz beruhigen, mšglich machen, da§ sie gegen Abend komme, ich versprŠche: gerade dieses Unheil solle zum Fest werden." Der Knabe war neugierig und wŸnschte zu wissen wie? dies wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle KŸnste und Gewalt zu HŸlfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuŸben sich anma§t.


Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer SelbstgefŠlligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien GefŸhl, da§ hier Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glŠnzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schšner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben:

"Sie kommt nicht! ein jammervolles FamilienstŸck, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatŸrlichste wird aufgefŸhrt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf'n Abend."

Da von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich oft darnach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren kšnnen; ich mu§ daher es wieder aufs neue zusammendichten, welches im allgemeinen nicht schwer fŠllt.

Der Schauplatz ist d'Orvilles Haus und Garten in Offenbach; die Handlung eršffnet sich durch die Domestiken, wobei jedes genau seine Rolle spielt und die Anstalten zum Fest vollkommen deutlich werden. Die Kinder mischen sich drein, nach dem Leben gebildet, dann der Herr, die Frau mit eigentŸmlichen TŠtigkeiten und Einwirkungen; dann kommt, indem alles sich in einer gewissen hastigen GeschŠftigkeit durcheinander treibt, der unermŸdliche Nachbar Komponist Hans AndrŽ; er setzt sich an den FlŸgel und ruft alles zusammen, sein eben fertig gewordenes Festlied anzuhšren und durchzuprobieren. Das ganze Haus zieht er heran, aber alles macht sich wieder fort, dringenden GeschŠften nachzugehen, eins wird vom andern abgerufen, eins bedarf des andern, und die Dazwischenkunft des GŠrtners macht aufmerksam auf die Garten- und Wasserszenen; KrŠnze, Bandrollen mit Inschriften zierlichster Art, nichts ist vergessen.

Als man sich nun eben um die erfreulichsten GegenstŠnde versammelt, tritt ein Bote herein, der, als eine Art von lustigem Hin- und WidertrŠger, berechtigt war, auch eine Charakterrolle mitzuspielen, und der durch manches allzugute Trinkgeld wohl ungefŠhr merken konnte, was fŸr VerhŠlt-


nisse obwalteten; er tut sich auf sein Paket etwas zugute, hofft ein Glas Wein und Semmelbrot, und Ÿbergibt nun, nach einigem schalkhaftem Weigern, die Depesche. Dem Hausherrn sinken die Arme, die Papiere fallen zu Boden, er ruft: "La§t mich zum Tisch! la§t mich zur Kommode, damit ich nur streichen kann."

Das geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach- und GebŠrdensymbolik. Es entsteht eine Art Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten hšchst glŸcklich macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrie§lich wird.

Es gehšrte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten eine, die hier durch Wort und GebŠrde als Streichen ausgedrŸckt ist, und welche stattfand, wenn etwas Anstš§iges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei Tische sa§, oder in der NŠhe von einer FlŠche sich befand.

Es hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verŠndern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich Ÿber das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich wei§ nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfa§, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehšrig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wu§te was das hei§en sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, da§ sie eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelšscht.

Hier war nun also ein Symbol gefunden, fŸr das Ablehnen eines WiderwŠrtigen, was doch manchmal in tŸchtiger, braver, schŠtzenswerter, wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der GegenstŠnde hatte sie selbst in der Folge sich nur mŠ§ig und mit Geschmack erlaubt.


Wenn der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen FlŠchen herunter zu streichen droht, so hŠlt ihn alles ab, man sucht ihn zu beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft.

"Was ist begegnet!" ruft man aus "Ist sie krank? Ist jemand gestorben?" "Lest! lest!" ruft d'Orville, "dort liegt's auf der Erde." Die Depesche wird aufgehoben, man liest, man ruft: "Sie kommt nicht!"

Der gro§e Schreck hatte auf einen grš§ern vorbereitet; - aber sie war doch wohl! - war ihr nichts begegnet! - Niemand von der Familie hatte Schaden genommen, Hoffnung blieb auf den Abend.

AndrŽ, der indessen immerfort musiziert hatte, kam doch endlich auch herbei gelaufen, tršstete und suchte sich zu tršsten. Pfarrer Ewald und seine Gattin traten gleichfalls charakteristisch ein, mit Verdru§ und Verstand, mit unwilligem Entbehren und gemŠ§igtem Zurechtlegen. Alles ging aber noch bunt durcheinander, bis der musterhaft ruhige Onkel Bernard endlich herankommt, ein gutes FrŸhstŸck, ein lšblich Mittagsfest erwartend, und der einzige ist, der die Sache aus dem rechten Gesichtspunkte ansieht, beschwichtigende, vernŸnftige Reden Šu§ert und alles ins gleiche bringt, všllig wie in der griechischen Tragšdie ein Gott die Verworrenheiten der grš§ten Helden mit wenigen Worten aufzulšsen wei§.

Dies alles ward wŠhrend eines Teiles der Nacht mit laufender Feder niedergeschrieben und einem Boten Ÿbergeben, der am nŠchsten Morgen Punkt zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet war.

Den hellsten Morgen erblickend, wacht' ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung, genau mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen.

Ich ward empfangen mit dem wunderliebsten Charivari von Entgegnungen; das gestšrte Fest verlautete kaum, sie


schalten und schimpften, da§ ich sie so gut getroffen hŠtte; die Dienerschaft war zufrieden, mit der Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein; nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnŠckig: so hŠtten sie nicht gesprochen und es sei Ÿberhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stŸnde. Ich beschwichtigte sie mit einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb. Ein fršhliches Mittagsmahl, eine MŠ§igung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, da§ ihr Au§enbleiben so viel Heiterkeit erlaube. Man erzŠhlte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach ihrer lieben und sŸ§en Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte.

Es bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, da§ ihr Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufŠllig, sondern durch Hin- und Herreden Ÿber unser VerhŠltnis verursacht war. Indessen hatte dies weder auf unsre Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten Einflu§.

Ein vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahrszeit nicht fehlen. Oft kam ich nur spŠt des Abends zur Gesellschaft, und fand sie dem Scheine nach teilnehmend, und da ich nur oft auf wenige Stunden erschien, so mocht' ich ihr gern in irgend etwas nŸtzlich sein, indem ich ihr Grš§eres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen Auftrag zu Ÿbernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste, was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritterromane dergleichen zwar auf eine dunkle aber krŠftige Weise zu Ÿberliefern verstehen. Da§ sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphieren †berwinder und †berwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze.

Dies mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto krŠftiger. Johann AndrŽ hatte immer Musik-


vorrat; auch ich brachte fremdes und eignes Neue; poetische und musikalische BlŸten regneten herab. Es war eine durchaus glŠnzende Zeit; eine gewisse Exaltation waltete in der Gesellschaft, man traf niemals auf nŸchterne Momente. Ganz ohne Frage teilte sich dies den Ÿbrigen aus unserm VerhŠltnisse mit. Denn wo Neigung und Leidenschaft in ihrer eignen kŸhnen Natur hervortreten, geben sie verschŸchterten GemŸtern Mut, die nunmehr nicht begreifen, warum sie ihre gleichen Rechte verheimlichen sollten. Daher gewahrte man mehr oder weniger versteckte VerhŠltnisse, die sich nun mehr ohne Scheu durchschlangen. Andere, die sich nicht gut bekennen lie§en, schlichen doch behaglich unter der Decke mit durch.

Konnt' ich denn auch wegen vermannigfaltigter GeschŠfte die Tage dort drau§en bei ihr nicht zubringen, so gaben die heiteren NŠchte Gelegenheit zu verlŠngertem Zusammensein im Freien. Liebende Seelen werden nachstehendes Ereignis mit Wohlgefallen aufnehmen.

Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: "Ich schlafe, aber mein Herz wacht"; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht Ÿberscheinen, und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage.

Wir waren beim klarsten Sternhimmel bis spŠt in der freien Gegend umher spaziert, und nachdem ich sie und die Gesellschaft von TŸre zu TŸre nach Hause begleitet und von ihr zuletzt Abschied genommen hatte, fŸhlte ich mir so wenig Schlaf, da§ ich eine frische Spazierwanderung anzutreten nicht sŠumte. Ich ging die Landstra§e nach Frankfurt zu, mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu Ÿberlassen; ich setzte mich auf eine Bank, in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehšren.

Bemerkenswert schien mir ein schwer zu erklŠrender Ton, ganz nahe bei mir; es war kein Rascheln, kein Rauschen, und bei nŠherer Aufmerksamkeit entdeckte ich, da§ es unter der


Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es mochten Igel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen GeschŠft vornimmt.

Ich war darauf weiter nach der Stadt zu gegangen und an den Ršderberg gelangt, wo ich die Stufen, welche nach den WeingŠrten hinauffŸhren, an ihrem kalkwei§en Scheine erkennen konnte. Ich stieg hinauf, setzte mich nieder und schlief ein.

Als ich wieder aufwachte, hatte die DŠmmerung sich schon verbreitet, ich sah mich gegen dem hohen Wall Ÿber, welcher in frŸheren Zeiten als Schutzwehr wider die hŸben stehenden Berge aufgerichtet war. Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses an; es war frisch, mir willkommen.

Da verharrt' ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das GegenŸber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder sehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurŸck, das sie, die noch Schlafende, umgab.

Je mehr aber, um des wachsenden GeschŠftskreises willen, den ich aus Liebe zu ihr zu erweitern und zu beherrschen trachtete, meine Besuche in Offenbach sparsamer werden und dadurch eine gewisse peinliche Verlegenheit hervorbringen mu§ten, so lie§ sich gar wohl bemerken, da§ man eigentlich um der Zukunft willen das GegenwŠrtige hintansetze und verliere.

Wie nun meine Aussichten sich nach und nach verbesserten, hielt ich sie fŸr bedeutender, als sie wirklich waren, und dachte um so mehr auf eine baldige Entscheidung, als ein so šffentliches VerhŠltnis nicht lŠnger ohne Mi§behagen fortzufŸhren war. Und wie es in solchen FŠllen zu gehen pflegt, sprachen wir es nicht ausdrŸcklich gegen einander aus; aber das GefŸhl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle †berzeugung, eine Trennung sei unmšglich, das ineinander gleichmŠ§ig gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor, da§ ich, der ich mir fest vorgenommen hatte, kein schleppendes VerhŠltnis wieder anzuknŸpfen, und mich doch in dieses, ohne Sicherheit eines


gŸnstigen Erfolges, wieder verwickelt fand, wirklich von einem Stumpfsinn befangen war, von dem ich mich zu retten mich immer mehr in gleichgŸltige weltliche GeschŠfte verwickelte, aus denen ich doch auch nur wieder Vorteil und Zufriedenheit an der Hand der Geliebten zu gewinnen hoffen durfte.

In diesem wunderlichen Zustande, dergleichen doch auch mancher peinlich empfunden haben mag, kam uns eine Hausfreundin zu HŸlfe, welche die sŠmtlichen BezŸge der Personen und ZustŠnde sehr wohl durchsah. Man nannte sie Demoiselle Delph, sie stand mit ihrer Šltern Schwester einem kleinen Handelshaus in Heidelberg vor und war der grš§ern Frankfurter Wechselhandlung bei verschiedenen VorfŠllen vielen Dank schuldig geworden. Sie kannte und liebte Lili von Jugend auf; es war eine eigne Person, ernsten mŠnnlichen Ansehns und gleichen derben, hastigen Schrittes vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fŸgen Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne. Man konnte sie nicht intrigant nennen, sie konnte den VerhŠltnissen lange zusehen und ihre Absichten stille mit sich forttragen; dann aber hatte sie die Gabe, die Gelegenheit zu ersehen, und wenn sie die Gesinnungen der Personen zwischen Zweifel und Entschlu§ schwanken sah, wenn alles auf Entschiedenheit ankam, so wu§te sie eine solche Kraft der CharaktertŸchtigkeit einzusetzen, da§ es ihr nicht leicht mi§lang, ihr Vorhaben auszufŸhren. Eigentlich hatte sie keine egoistischen Zwecke; etwas getan, etwas vollbracht, besonders eine Heirat gestiftet zu haben, war ihr schon Belohnung. Unsern Zustand hatte sie lŠngst durchblickt, bei wiederholtem Hiersein durchforscht, so da§ sie sich endlich Ÿberzeugte, diese Neigung sei zu begŸnstigen, diese VorsŠtze, redlich aber nicht genugsam verfolgt und angegriffen, mŸ§ten unterstŸtzt und dieser kleine Roman fšrdersamst abgeschlossen werden.

Seit vielen Jahren hatte sie das Vertrauen von Lilis Mutter; in meinem Hause durch mich eingefŸhrt, hatte sie sich den Eltern angenehm zu machen gewu§t; denn gerade die-


ses barsche Wesen ist in einer Reichsstadt nicht widerwŠrtig und, mit Verstand im Hintergrunde, sogar willkommen. Sie kannte sehr wohl unsre WŸnsche, unsre Hoffnungen, ihre Lust zu wirken sah darin einen Auftrag; kurz, sie unterhandelte mit den Eltern. Wie sie es begonnen, wie sie die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegen stellen mochten, beseitigt, - genug, sie tritt eines Abends zu uns und bringt die Einwilligung. "Gebt euch die HŠnde!" rief sie, mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili Ÿber und reichte meine Hand dar, sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam, hinein, nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft in die Arme.

Es war ein seltsamer Beschlu§ des hohen Ÿber uns Waltenden, da§ ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem BrŠutigam zu Mute sei.

Ich darf wohl sagen, da§ es fŸr einen gesitteten Mann die angenehmste aller Erinnerungen sei; es ist erfreulich, sich jene GefŸhle zu wiederholen, die sich schwer aussprechen und kaum erklŠren lassen. Der vorhergehende Zustand ist durchaus verŠndert; die schroffsten GegensŠtze sind gehoben, der hartnŠckigste Zwiespalt geschlichtet; die vordringliche Natur, die ewig warnende Vernunft, die tyrannisierenden Triebe, das verstŠndige Gesetz, welche sonst in immerwŠhrendem Zwist uns bestritten, alle diese treten nunmehr in freundlicher Einigkeit heran, und bei allgemein gefeiertem frommem Feste wird das Verbotene gefordert und das Verpšnte zur unerlŠ§lichen Pflicht erhoben.

Mit sittlichem Beifall aber wird man vernehmen, da§ von dem Augenblick an eine gewisse SinnesverŠnderung in mir vorging; war sie mir bisher schšn, anmutig, anziehend vorgekommen, so erschien sie mir nun als wŸrdig und bedeutend. Sie war eine doppelte Person, ihre Anmut und LiebenswŸrdigkeit gehšrten mein, das fŸhlt' ich wie sonst, aber der Wert ihres Charakters, die Sicherheit in sich selbst, ihre ZuverlŠssigkeit in allem, das blieb ihr eigen. Ich


schaute es, ich durchblickte es und freute mich dessen als eines Kapitals, von dem ich zeitlebens die Zinsen mitzugenie§en hŠtte.

Es ist schon lŠngst mit Grund und Bedeutung ausgesprochen: auf dem Gipfel der ZustŠnde hŠlt man sich nicht lange. Die ganz eigentlich durch Demoiselle Delph eroberte Zustimmung beiderseitiger Eltern ward nunmehr als obwaltend anerkannt, stillschweigend und ohne weitere Fšrmlichkeit. Denn sobald etwas Ideelles, wie man ein solches Verlšbnis wirklich nennen kann, in die Wirklichkeit eintritt, so entsteht, wenn man všllig abgeschlossen zu haben glaubt, eine Krise. Die Au§enwelt ist durchaus unbarmherzig, und sie hat recht, denn sie mu§ sich ein fŸr allemal selbst behaupten; die Zuversicht der Leidenschaft ist gro§, aber wir sehen sie doch gar oft an dem ihr entgegenstehenden Wirklichen scheitern. Junge Gatten, die, besonders in der spŠteren Zeit, mit nicht genŸgsamen GŸtern versehen, in diese ZustŠnde sich einlassen, mšgen ja sich keine Honigmonde versprechen; unmittelbar droht ihnen eine Welt mit unvertrŠglichen Forderungen, welche, nicht befriedigt, ein junges Ehepaar absurd erscheinen lassen.

Die UnzulŠnglichkeit der Mittel, die ich zur Erreichung meines Zweckes mit Ernst ergriffen hatte, konnte ich frŸher nicht gewahr werden, weil sie bis auf einen gewissen Punkt zugereicht hŠtten; nun der Zweck nŠher heranrŸckte, wollte es hŸben und drŸben nicht vollkommen passen.

Der Trugschlu§, den die Leidenschaft so bequem findet, trat nun in seiner všlligen Inkongruenz nach und nach hervor. Mit einiger NŸchternheit mu§te mein Haus, meine hŠusliche Lage in ihrem ganz Besondern betrachtet werden. Das Bewu§tsein, das Ganze sei auf eine Schwiegertochter eingerichtet, lag freilich zu Grunde; aber auf ein Frauenzimmer welcher Art war dabei gerechnet?

Wir haben die MŠ§ige, Liebe, VerstŠndige, Schšne, TŸchtige, sich immer Gleiche, Neigungsvolle und Leidenschaftlose zu Ende des dritten Bandes kennen lernen; sie war der


passende Schlu§stein zu einem schon aufgemauerten zugerundeten Gewšlbe, aber hier hatte man bei ruhiger unbefangener Betrachtung sich nicht leugnen kšnnen, da§, um diese neue Geworbene in solche Funktion gleichfalls einzusetzen, man ein neues Gewšlbe hŠtte zurichten mŸssen.

Indessen war mir dies noch nicht deutlich geworden und ihr ebensowenig. Betrachtete ich nun aber mich in meinem Hause, und gedacht' ich sie hereinzufŸhren, so schien sie mir nicht zu passen, wie ich ja schon in ihren Zirkeln zu erscheinen, um gegen die Tags- und Modemenschen nicht abzustechen, meine Kleidung von Zeit zu Zeit verŠndern, ja wieder verŠndern mu§te. Das konnte aber doch mit einer hŠuslichen Einrichtung nicht geschehen, wo in einem neugebauten stattlichen BŸrgerhause ein nunmehr veralteter Prunk gleichsam rŸckwŠrts die Einrichtung geleitet hatte.

So hatte sich auch, selbst nach dieser gewonnenen Einwilligung, kein VerhŠltnis der Eltern untereinander bilden und einleiten kšnnen; kein Familienzusammenhang, andere ReligionsgebrŠuche, andere Sitten! und wollte die LiebenswŸrdige einigerma§en ihre Lebensweise fortsetzen, so fand sie in dem anstŠndig gerŠumigen Hause keine Gelegenheit, keinen Raum.

Hatte ich bisher von allem diesen abgesehen, so waren mir zur Beruhigung und StŠrkung von au§en her schšne Ansichten eršffnet, zu irgend einer gedeihlichen Anstellung zu gelangen. Ein rŸhriger Geist fa§t Ÿberall Fu§; FŠhigkeiten, Talente erregen Vertrauen; jedermann denkt, es komme ja nur auf eine verŠnderte Richtung an. Zudringliche Jugend findet Gunst, dem Genie traut man alles zu, da es doch nur ein Gewisses vermag.

Das deutsche geistig-literarische Terrain war damals ganz eigentlich als ein Neubruch anzusehen, es fanden sich unter den GeschŠftsleuten kluge Menschen, die fŸr den neu aufzuwŸhlenden Boden tŸchtige Anbauer und kluge HaushŠlter wŸnschten. Selbst die angesehne wohlgegrŸndete Freimaurerloge, mit deren vornehmsten Gliedern ich eben durch mein VerhŠltnis zu Lili bekannt geworden war, wu§te auf


schickliche Weise meine AnnŠherung einzuleiten; ich aber, aus einem UnabhŠngigkeitsgefŸhl, welches mir spŠter als VerrŸcktheit erschien, lehnte jede nŠhere VerknŸpfung ab, nicht gewahrend, da§ diese MŠnner, wenn schon in hšherem Sinne verbunden, mir doch bei meinen den ihrigen so nah verwandten Zwecken hŠtten fšrderlich sein mŸssen.

Ich gehe zu dem Besondersten zurŸck.

In solchen StŠdten wie Frankfurt gibt es kollektive Stellen, Residentschaften, Agentschaften, die sich durch TŠtigkeit grenzenlos erweitern lassen. Dergleichen bot sich auch mir dar, beim ersten Anblick vorteilhaft und ehrenhaft zugleich. Man setzte voraus, da§ ich fŸr sie passe, es wŠre auch gegangen unter der Bedingung jener geschilderten Kanzleidreiheit. Man verschweigt sich die Zweifel, man teilt sich das GŸnstige mit; man Ÿberwindet jedes Schwanken durch gewaltsame TŠtigkeit; es kommt dadurch etwas Unwahres in den Zustand, ohne da§ die Leidenschaft deshalb gemildert werde.

 

In Friedenszeiten ist fŸr die Menge wohl kein erfreulicheres Lesen als die šffentlichen BlŠtter, welche uns von den neusten Weltereignissen eilige Nachricht geben; der ruhige wohlbehaltene BŸrger Ÿbt daran auf eine unschuldige Weise den Parteigeist, den wir in unsrer BeschrŠnktheit weder los werden kšnnen noch sollen. Jeder behagliche Mensch erschafft sich alsdann wie bei einer Wette, ein willkŸrliches Interesse, unwesentlichen Gewinn und Verlust, und nimmt, wie im Theater, einen sehr lebhaften, jedoch nur imaginŠren Teil an fremdem GlŸck und UnglŸck. Diese Teilnahme erscheint oft willkŸrlich, jedoch beruht sie auf sittlichen GrŸnden. Denn bald geben wir lšblichen Absichten einen verdienten Beifall, bald aber, von glŠnzendem Erfolg hingerissen, wenden wir uns zu demjenigen, dessen VorsŠtze wir wŸrden getadelt haben. Zu allen diesen verschaffte uns jene Zeit reichlichen Stoff.

Friedrich der Zweite, auf seiner Kraft ruhend, schien noch immer das Schicksal Europens und der Welt abzuwiegen; Ka-


tharina, eine gro§e Frau, die sich selbst des Throns wŸrdig gehalten, gab tŸchtigen hochbegŸnstigten MŠnnern einen gro§en Spielraum, der Herrscherin Macht immer weiter auszubreiten, und da dies Ÿber die TŸrken geschah, denen wir die Verachtung, mit welcher sie auf uns herniederblicken, reichlich zu vergelten gewohnt sind, so schien es, als wenn keine Menschen aufgeopfert wŸrden, indem diese Unchristen zu Tausenden fielen. Die brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursachte ein allgemeines Freudenfest Ÿber die gebildete Welt, und jedermann nahm teil an dem siegerischen †bermut, als man, um ein wahrhaftes Bild jener gro§en Begebenheit Ÿbrig zu behalten, zum Behuf eines kŸnstlerischen Studiums, auf der Reede von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft sprengte. Nicht lange darauf ergreift ein junger nordischer Kšnig, gleichfalls aus eigner Gewalt, die ZŸgel des Regiments. Die Aristokraten, die er unterdrŸckt, werden nicht bedauert, denn die Aristokratie Ÿberhaupt hatte keine Gunst bei dem Publikum, weil sie ihrer Natur nach im stillen wirkt und um desto sicherer ist, je weniger sie von sich reden macht, und in diesem Falle dachte man von dem jungen Kšnig um desto besser, weil er, um dem obersten Stande das Gleichgewicht zu halten, die unteren begŸnstigen und an sich knŸpfen mu§te.

Noch lebhafter aber war die Welt interessiert, als ein ganzes Volk sich zu befreien Miene machte. Schon frŸher hatte man demselben Schauspiel im kleinen gern zugesehn; Korsika war lange der Punkt gewesen, auf den sich aller Augen richteten; Paoli, als er, sein patriotisches Vorhaben nicht weiter durchzusetzen imstande, durch Deutschland nach England ging, zog aller Herzen an sich; es war ein schšner, schlanker, blonder Mann voll Anmut und Freundlichkeit; ich sah ihn in dem Bethmannischen Hause, wo er kurze Zeit verweilte und den Neugierigen, die sich zu ihm drŠngten, mit heiterer GefŠlligkeit begegnete. Nun aber sollten sich in dem entfernteren Weltteil Šhnliche Auftritte wiederholen; man wŸnschte den Amerikanern alles GlŸck und die Namen


Franklin und Washington fingen an, am politischen und kriegerischen Himmel zu glŠnzen und zu funkeln. Manches zu Erleichterung der Menschheit war geschehen, und als nun gar ein neuer wohlwollender Kšnig von Frankreich die besten Absichten zeigte, sich selbst zu Beseitigung so mancher Mi§brŠuche und zu den edelsten Zwecken zu beschrŠnken, eine regelmŠ§ig auslangende Staatswirtschaft einzufŸhren, sich aller willkŸrlichen Gewalt zu begeben, und durch Ordnung wie durch Recht allein zu herrschen; so verbreitete sich die heiterste Hoffnung Ÿber die ganze Welt, und die zutrauliche Jugend glaubte sich und ihrem ganzen Zeitgeschlechte eine schšne, ja herrliche Zukunft versprechen zu dŸrfen.

An allen diesen Ereignissen nahm ich jedoch nur insofern teil, als sie die grš§ere Gesellschaft interessierten, ich selbst und mein engerer Kreis befa§ten uns nicht mit Zeitungen und Neuigkeiten; uns war darum zu tun, den Menschen kennen zu lernen, die Menschen Ÿberhaupt lie§en wir gern gewŠhren.

Der beruhigte Zustand des deutschen Vaterlandes, in welchem sich auch meine Vaterstadt schon Ÿber hundert Jahre eingefŸgt sah, hatte sich trotz manchen Kriegen und ErschŸtterungen in seiner Gestalt vollkommen erhalten. Einem gewissen Behagen gŸnstig war, da§ von dem Hšchsten bis zu dem Tiefsten, von dem Kaiser bis zu dem Juden herunter die mannigfaltigste Abstufung alle Persšnlichkeiten, anstatt sie zu trennen, zu verbinden schien. Wenn dem Kaiser sich Kšnige subordinierten, so gab diesen ihr Wahlrecht und die dabei erworbenen und behaupteten Gerechtsame ein entschiedenes Gleichgewicht. Nun aber war der hohe Adel in die erste kšnigliche Reihe verschrŠnkt, so da§ er, seiner bedeutenden Vorrechte gedenkend, sich ebenbŸrtig mit dem Hšchsten achten konnte, ja im gewissen Sinne noch hšher, indem ja die geistlichen KurfŸrsten allen andern vorangingen und als Sprš§linge der Hierarchie einen unangefochtenen ehrwŸrdigen Raum behaupteten.

Gedenke man nun der au§erordentlichen Vorteile, welche diese altgegrŸndeten Familien zugleich und au§erdem in


Stiftern, Ritterorden, Ministerien, Vereinigungen und VerbrŸderungen genossen haben, so wird man leicht denken kšnnen, da§ diese gro§e Masse von bedeutenden Menschen, welche sich zugleich als subordiniert und als koordiniert fŸhlten, in hšchster Zufriedenheit und geregelter WelttŠtigkeit ihre Tage zubrachten, und ein gleiches Behagen ihren Nachkommen ohne besondere MŸhe vorbereiteten und Ÿberlie§en. Auch fehlte es dieser Klasse nicht an geistiger Kultur; denn schon seit hundert Jahren hatte sich erst die hohe MilitŠr- und GeschŠftsbildung bedeutend hervorgetan und sich des ganzen vornehmen sowie des diplomatischen Kreises bemŠchtigt, zugleich aber auch durch Literatur und Philosophie die Geister zu gewinnen und auf einen hohen der Gegenwart nicht allzu gŸnstigen Standpunkt zu versetzen gewu§t.

In Deutschland war es noch kaum jemand eingefallen, jene ungeheure privilegierte Masse zu beneiden oder ihr die glŸcklichen WeltvorzŸge zu mi§gšnnen. Der Mittelstand hatte sich ungestšrt dem Handel und den Wissenschaften gewidmet und hatte freilich dadurch, sowie durch die nahverwandte Technik, sich zu einem bedeutenden Gegengewicht erhoben; ganz oder halb freie StŠdte begŸnstigten diese TŠtigkeit, so wie die Menschen darin ein gewisses ruhiges Behagen empfanden. Wer seinen Reichtum vermehrt, seine geistige TŠtigkeit besonders im juristischen und Staatsfache gesteigert sah, der konnte sich Ÿberall eines bedeutenden Einflusses erfreuen. Setzte man doch bei den hšchsten Reichsgerichten, und auch wohl sonst, der adligen Bank eine Gelehrtenbank gegenŸber; die freiere †bersicht der einen mochte sich mit der tieferen Einsicht der andern gerne befreunden, und man hatte im Leben durchaus keine Spur von RivalitŠt; der Adel war sicher in seinen unerreichbaren durch die Zeit geheiligten Vorrechten, und der BŸrger hielt es unter seiner WŸrde, durch eine seinem Namen vorgesetzte Partikel nach dem Schein derselben zu streben. Der Handelsmann, der Techniker hatte genug zu tun, um mit den schneller vorschreitenden Nationen einigerma§en zu wetteifern.


Wenn man die gewšhnlichen Schwankungen des Tages nicht beachten will, so durfte man wohl sagen, es war im ganzen eine Zeit eines reinen Bestrebens, wie sie frŸher nicht erschienen, noch auch in der Folge wegen Šu§erer und innerer Steigerungen sich lange erhalten konnte.

In dieser Zeit war meine Stellung gegen die oberen StŠnde sehr gŸnstig. Wenn auch im "Werther" die Unannehmlichkeiten an der Grenze zweier bestimmter VerhŠltnisse mit Ungeduld ausgesprochen sind, so lie§ man das in Betracht der Ÿbrigen Leidenschaftlichkeiten des Buches gelten, indem jedermann wohl fŸhlte, da§ es hier auf keine unmittelbare Wirkung abgesehen sei.

Durch "Gštz von Berlichingen" aber war ich gegen die obern StŠnde sehr gut gestellt; was auch an Schicklichkeiten bisheriger Literatur mochte verletzt sein, so war doch auf eine kenntnisreiche und tŸchtige Weise das altdeutsche VerhŠltnis, den unverletzbaren Kaiser an der Spitze, mit manchen andern Stufen und ein Ritter dargestellt, der im allgemein gesetzlosen Zustande als einzelner Privatmann, wo nicht gesetzlich, doch rechtlich zu handeln dachte und dadurch in sehr schlimme Lagen gerŠt. Dieser Komplex aber war nicht aus der Luft gegriffen, sondern durchaus heiter lebendig und deshalb auch wohl hie und da ein wenig modern, aber doch immer in dem Sinne vorgefŸhrt, wie der wackere tŸchtige Mann sich selbst, und also wohl zu leidlichen Gunsten, in eigner ErzŠhlung dargestellt hatte.

Die Familie blŸhte noch, ihr VerhŠltnis zu der frŠnkischen Ritterschaft war in ihrer IntegritŠt geblieben, wenngleich diese Beziehungen, wie manches andere jener Zeit, bleicher und unwirksamer mochten geworden sein.

Nun erhielt auf einmal das Fl٤lein Jagst, die Burg Jagsthausen eine poetische Bedeutung; sie wurden besucht, sowie das Rathaus zu Heilbronn.

Man wu§te, da§ ich noch andere Punkte jener Zeitgeschichte mir in den Sinn genommen hatte, und manche Familie, die sich aus jener Zeit noch tŸchtig herschrieb, hatte


die Aussicht, ihren €ltervater gleichsam ans Tageslicht hervorgezogen zu sehen.

Es entsteht ein eigenes allgemeines Behagen, wenn man einer Nation ihre Geschichte auf eine geistreiche Weise wieder zur Erinnerung bringt; sie erfreut sich der Tugenden ihrer Vorfahren und belŠchelt die MŠngel derselben, welche sie lŠngst Ÿberwunden zu haben glaubt. Teilnahme und Beifall kann daher einer solchen Darstellung nicht fehlen, und ich hatte mich in diesem Sinne einer vielfachen Wirkung zu erfreuen.

MerkwŸrdig mšchte es jedoch sein, da§ unter den zahlreichen AnnŠherungen und in der Zahl der jungen Leute, die sich an mich anschlossen, kein Edelmann war; aber dagegen waren manche, die, schon in die Drei§ig gelangt, mich aufsuchten, besuchten und in deren Wollen und Bestreben eine freudige Hoffnung sich durchzog, sich in vaterlŠndischem und allgemein menschlicherem Sinne ernstlich auszubilden.

Zu dieser Zeit war denn Ÿberhaupt die Richtung nach der Epoche zwischen dem fŸnfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eršffnet und lebendig. Die Werke Ulrichs von Hutten kamen mir in die HŠnde, und es schien wundersam genug, da§ in unsern neuern Tagen sich das €hnliche, was dort hervorgetreten, hier gleichfalls wieder zu manifestieren schien.

Folgender Brief Ulrichs von Hutten an Billibald Pirkheimer dŸrfte hier eine schickliche Stelle finden.

"Was uns das GlŸck gegeben, nimmt es meist wieder weg und das nicht allein, auch alles andere, was sich an den Menschen von au§en anschlie§t, sehen wir dem Zufall unterworfen. Nun aber streb' ich nach Ehren, die ich ohne Mi§gunst zu erlangen wŸnschte, ja welcher Weise es auch sei; denn es besitzt mich ein heftiger Durst nach dem Ruhm, da§ ich so viel als mšglich geadelt zu sein wŸnschte. Es wŸrde schlecht mit mir stehen, teurer Billibald, wenn ich mich, schon jetzt fŸr einen Edelmann hielte, ob ich gleich in diesem Rang, dieser Familie, von solchen Eltern geboren worden, wenn


ich mich nicht durch eigenes Bestreben geadelt hŠtte. Ein so gro§es Werk hab ich im Sinne! ich denke hšher! nicht etwa da§ mich in einen vornehmeren, glŠnzendern Stand versetzt sehen mšchte, sondern anderwŠrts mšcht ich eine Quelle suchen, aus der ich einen besondern Adel schšpfte und nicht unter die wahnhaften Edelleute gezŠhlt wŸrde, zufrieden mit dem, was ich von meinen Voreltern empfangen, sondern da§ ich zu jenen GŸtern noch etwas selbst hinzugefŸgt hŠtte, was von mir auf meine Nachkommen hinŸberginge.

Daher ich denn mit meinen Studien und BemŸhungen mich dahin wende und bestrebe, entgegengesetzt in Meinung denenjenigen, die alles dasjenige, was ist, fŸr genug achten; denn mir ist nichts dergleichen genug, wie ich dir denn meinen Ehrgeiz dieser Art bekannt habe. Und so gesteh ich denn, da§ ich diejenigen nicht beneide, die, von den untersten StŠnden ausgegangen, Ÿber meine ZustŠnde hinausgeschritten sind; und hier bin ich mit den MŠnnern meines Standes keineswegs Ÿbereindenkend, welche diejenigen, die, eines niedrigen Ursprungs, sich durch TŸchtigkeit hervorgetan haben, zu schimpfen pflegen. Denn mit vollkommenem Rechte werden diejenigen uns vorgezogen, welche den Stoff des Ruhms, den wir selbst vernachlŠssigt, fŸr sich ergriffen und in Besitz genommen; sie mšgen Sšhne von Walkern oder Gerbern sein, haben sie doch mit mehr Schwierigkeit, als wir gefunden hŠtten, dergleichen zu erlangen gewu§t. Nicht allein ein Tor ist der Ungelehrte zu nennen, welcher denjenigen beneidet, der durch Kenntnisse sich hervorgetan, sondern unter die Elenden, ja unter die Elendesten zu zŠhlen; und an diesem Fehler kranket unser Adel ganz besonders, da§ er solche Zieraten quer ansehe. Denn was, bei Gott! hei§t es, den beneiden, der das besitzt, was wir vernachlŠssigten? warum haben wir uns der Gesetze nicht beflei§igt? die schšne Gelahrtheit, die besten KŸnste warum nicht selbst gelernt? Da sind uns nun Schuster, Walker und Wagner vorgelaufen. Warum haben wir die Stellung verlassen, warum die freisten Studien den Dienstleuten und, schŠnd-


lich fŸr uns! ihrem Schmutz Ÿberlassen? Ganz rechtmŠ§ig hat das Erbteil des Adels, das wir verschmŠhten, ein jeder Gewandter, Flei§iger in Besitz nehmen und durch TŠtigkeit benutzen kšnnen. Wir Elenden! die dasjenige vernachlŠssigen, was einen jeden Untersten sich Ÿber uns zu erheben genŸgt; hšren wir doch auf zu beneiden und suchen dasjenige auch zu erlangen, was, zu unsrer schimpflichen BeschŠmung, andere sich anma§en.

Jedes Verlangen nach Ruhm ist ehrbar, aller Kampf um das TŸchtige lobenswŸrdig; mag doch jedem Stand seine eigene Ehre bleiben, ihm eine eigene Zierde gewŠhrt sein! Jene Ahnenbilder will ich nicht verachten, so wenig als die wohl ausgestatteten StammbŠume, aber was auch deren Wert sei, ist nicht unser eigen, wenn wir es nicht durch Verdienste erst eigen machen, auch kann es nicht bestehen, wenn der Adel nicht Sitten, die ihm geziemen, annimmt. Vergebens wird ein fetter und beleibter jener HausvŠter die Standbilder seiner Vorfahren dir aufzeigen, indes er selbst untŠtig eher einem Klotz Šhnlich, als da§ er jenen, die ihm mit TŸchtigkeit voranleuchteten, zu vergleichen wŠre.

So viel hab ich dir von meinem Ehrgeiz und meiner Beschaffenheit so weitlŠufig als aufrichtig vertrauen wollen."

Wenn auch nicht in solchem Flusse des Zusammenhangs, so hatte ich doch von meinen vornehmeren Freunden und Bekannten dergleichen tŸchtige und krŠftige Gesinnungen zu vernehmen, von welchen der Erfolg sich in einer redlichen TŠtigkeit erwies. Es war zum Credo geworden, man mŸsse sich einen persšnlichen Adel erwerben, und zeigte sich in jenen schšnen Tagen irgend eine RivalitŠt, so war es von oben herunter.

Wir andern dagegen hatten, was wir wollten: freien und gebilligten Gebrauch unsrer von der Natur verliehenen Talente, wie er wohl allenfalls mit unsern bŸrgerlichen VerhŠltnissen bestehen konnte.

Denn meine Vaterstadt hatte darin eine ganz eigene nicht genugsam beachtete Lage. Wenn die nordischen freien


ReichsstŠdte auf einen ausgebreiteten Handel, und die sŸdlichern, bei zurŸcktretenden HandelsverhŠltnissen, auf Kunst und Technik gegrŸndet standen, so war in Frankfurt am Main ein gewisser Komplex zu bemerken, welcher aus Handel, Kapitalvermšgen, Haus- und Grundbesitz, aus Wissen- und Sammlerlust zusammengeflochten schien.

Die lutherische Konfession fŸhrte das Regiment, die alte Gan-Erbschaft, vom Hause Limpurg den Namen fŸhrend, das Haus Frauenstein, mit seinen AnfŠngen nur ein Klub, bei den ErschŸtterungen, durch die untern StŠnde herbeigefŸhrt, dem VerstŠndigen getreu, der Jurist, der sonstige Wohlhabende und Wohldenkende, niemand war von der Magistratur ausgeschlossen; selbst diejenigen Handwerker, welche zu bedenklicher Zeit an der Ordnung gehalten, waren ratsfŠhig, wenn auch nur stationŠr auf ihrem Platze. Die andern verfassungsmŠ§igen Gegengewichte, formelle Einrichtungen und was sich alles an eine solche Verfassung anschlie§t, gaben vielen Menschen einen Spielraum zur TŠtigkeit, indem Handel und Technik bei einer glŸcklich šrtlichen Lage, sich auszubreiten, in keinem Sinne gehindert waren.

Der hšhere Adel wirkte fŸr sich unbeneidet und fast unbemerkt; ein zweiter sich annŠhernder Stand mu§te schon strebsamer sein, und auf alten vermšgenden Familienfundamenten beruhend, suchte er sich durch rechtliche und Staatsgelehrsamkeit bemerklich zu machen.

Die sogenannten Reformierten bildeten, wie auch an andern Orten die RefugiŽs, eine ausgezeichnete Klasse, und selbst wenn sie zu ihrem Gottesdienst in Bockenheim sonntags in schšnen Equipagen hinausfuhren, war es immer eine Art von Triumph Ÿber die BŸrgerabteilung, welche berechtigt war, bei gutem wie bei schlechtem Wetter in die Kirche zu Fu§e zu gehen.

Die Katholiken bemerkte man kaum; aber auch sie waren die Vorteile gewahr geworden, welche die beiden andern Konfessionen sich zugeeignet hatten.


 

Achtzehntes Buch

 

Zu literarischen Angelegenheiten zurŸckkehrend, mu§ ich einen Umstand hervorheben, der auf die deutsche Poesie der damaligen Epoche gro§en Einflu§ hatte, und besonders zu beachten ist, weil eben diese Einwirkung in den ganzen Verlauf unsrer Dichtkunst bis zum heutigen Tag gedauert hat und auch in der Zukunft sich nicht verlieren kann.

Die Deutschen waren von den Šlteren Zeiten her an den Reim gewšhnt, er brachte den Vorteil, da§ man auf eine sehr naive Weise verfahren und fast nur die Silben zŠhlen durfte. Achtete man bei fortschreitender Bildung mehr oder weniger instinktmŠ§ig auch auf Sinn und Bedeutung der Silben, so verdiente man Lob, welches sich manche Dichter anzueignen wu§ten. Der Reim zeigte den Abschlu§ des poetischen Satzes, bei kŸrzeren Zeilen waren sogar die kleineren Einschnitte merklich, und ein natŸrlich wohlgebildetes Ohr sorgte fŸr Abwechselung und Anmut. Nun aber nahm man auf einmal den Reim weg, ohne zu bedenken, da§ Ÿber den Silbenwert noch nicht entschieden, ja schwer zu entscheiden war. Klopstock ging voran; wie sehr er sich bemŸht und was er geleistet, ist bekannt. Jedermann fŸhlte die Unsicherheit der Sache, man wollte sich nicht gerne wagen, und aufgefordert durch jene Naturtendenz, griff man nach einer poetischen Prosa. Ge§ners hšchst liebliche Idyllen šffneten eine unendliche Bahn. Klopstock schrieb den Dialog von "Hermanns Schlacht" in Prosa, sowie den "Tod Adams". Durch die bŸrgerlichen Trauerspiele sowie durch die Dramen bemŠchtigte sich ein empfindungsvoller hšherer Stil des Theaters, und umgekehrt zog der fŸnffŸ§ige Iambus, der sich durch Einflu§ der EnglŠnder bei uns verbreitete, die Poesie zur Prosa herunter; allein die Forderungen an Rhythmus und Reim konnte man


im allgemeinen nicht aufgeben. Ramler, obgleich nach unsichern GrundsŠtzen, streng gegen seine eigenen Sachen, konnte nicht unterlassen, diese Strenge auch gegen fremde Werke geltend zu machen. Er verwandelte Prosa in Verse, verŠnderte und verbesserte die Arbeit anderer, wodurch er sich wenig Dank verdiente und die Sache noch mehr verwirrte. Am besten aber gelang es denen, die sich des herkšmmlichen Reims mit einer gewissen Beobachtung des Silbenwertes bedienten, und, durch natŸrlichen Geschmack geleitet, unausgesprochene und unentschiedene Gesetze beobachteten, wie z.B. Wieland, der, obgleich unnachahmlich, eine lange Zeit mŠ§igern Talenten zum Muster diente.

Unsicher aber blieb die AusŸbung auf jeden Fall, und es war keiner, auch der Besten, der nicht augenblicklich irre geworden wŠre. Daher entstand das UnglŸck, da§ die eigentliche geniale Epoche unsrer Poesie weniges hervorbrachte, was man in seiner Art korrekt nennen kšnnte; denn auch hier war die Zeit stršmend, fordernd und tŠtig, aber nicht betrachtend und sich selbst genugtuend.

Um jedoch einen Boden zu finden, worauf man poetisch fu§en, um ein Element zu entdecken, in dem man freisinnig atmen kšnnte, war man einige Jahrhunderte zurŸckgegangen, wo sich aus einem chaotischen Zustande ernste TŸchtigkeiten glŠnzend hervortaten, und so befreundete man sich auch mit der Dichtkunst jener Zeiten. Die MinnesŠnger lagen zu weit von uns ab; die Sprache hŠtte man erst studieren mŸssen, und das war nicht unsre Sache: wir wollten leben und nicht lernen.

Hans Sachs, der wirklich meisterliche Dichter, lag uns am nŠchsten; ein wahres Talent, freilich nicht wie jene Ritter und HofmŠnner, sondern ein schlichter BŸrger, wie wir uns auch zu sein rŸhmten. Ein didaktischer Realism sagte uns zu, und wir benutzten den leichten Rhythmus, den sich bequem anbietenden Reim bei manchen Gelegenheiten. Es schien diese Art so bequem zur Poesie des Tages, und deren bedurften wir jede Stunde.


Wenn nun bedeutende Werke, welche eine jahrelange, ja eine lebenslŠngliche Aufmerksamkeit und Arbeit erforderten, auf so verwegenem Grunde, bei leichtsinnigen AnlŠssen mehr oder weniger aufgebaut wurden; so kann man sich denken, wie freventlich mitunter andere vorŸbergehende Produktionen sich gestalteten, z.B. die poetischen Episteln, Parabeln und Invektiven aller Formen, womit wir fortfuhren uns innerlich zu bekriegen und nach au§en HŠndel zu suchen.

Au§er dem schon Abgedruckten ist nur weniges davon Ÿbrig; es mag erhalten bleiben; kurze Notizen mšgen Ursprung und Absicht denkenden MŠnnern etwas deutlicher enthŸllen. Tiefer Eindringende, denen diese Dinge kŸnftig zu Gesicht kommen, werden doch geneigt bemerken, da§ allen solchen ExzentrizitŠten ein redliches Bestreben zu Grunde lag. Aufrichtiges Wollen streitet mit Anma§ung, Natur gegen Herkšmmlichkeiten, Talent gegen Formen, Genie mit sich selbst, Kraft gegen Weichlichkeit, unentwickeltes TŸchtiges gegen entfaltete MittelmŠ§igkeit, so da§ man jenes ganze Betragen als ein Vorpostengefecht ansehen kann, das auf eine KriegserklŠrung folgt und eine gewaltsame Fehde verkŸndigt. Denn genau besehen, so ist der Kampf in diesen fŸnfzig Jahren noch nicht ausgekŠmpft, er setzt sich noch immer fort, nur in einer hšhern Region.

 

Ich hatte, nach Anleitung eines Šltern deutschen Puppen- und Budenspiels, ein tolles Fratzenwesen ersonnen, welches den Titel "Hanswursts Hochzeit" fŸhren sollte. Das Schema war folgendes: Hanswurst, ein reicher elternloser Bauerssohn, welcher soeben mŸndig geworden, will ein reiches MŠdchen, namens Ursel Blandine, heiraten. Sein Vormund, Kilian Brustfleck, und ihre Mutter Ursel etc. sind es hšchlich zufrieden. Ihr vieljŠhriger Plan, ihre hšchsten WŸnsche werden dadurch endlich erreicht und erfŸllt. Hier findet sich nicht das mindeste Hindernis, und das Ganze beruht eigentlich nur darauf, da§ das Verlangen der jungen Leute, sich


zu besitzen, durch die Anstalten der Hochzeit und dabei vorwaltenden unerlŠ§lichen UmstŠndlichkeiten hingehalten wird. Als Prologus tritt der Hochzeitbitter auf, hŠlt seine herkšmmliche banale Rede und endiget mit den Reimen:

Bei dem Wirt zur goldnen Laus

Da wird sein der Hochzeitschmaus.

Um dem Vorwurf der verletzten Einheit des Orts zu entgehen, war im Hintergrunde des Theaters gedachtes Wirtshaus mit seinen Insignien glŠnzend zu sehen, aber so, als wenn es, auf einem Zapfen umgedreht, nach allen vier Seiten kšnnte vorgestellt werden, wobei sich jedoch die vordern Kulissen des Theaters schicklich zu verŠndern hatten.

Im ersten Akt stand die Vorderseite nach der Stra§e zu, mit den goldnen nach dem Sonnenmikroskop gearbeiteten Insignien; im zweiten Akt die Seite nach dem Hausgarten, die dritte nach einem WŠldchen, die vierte nach einem nahe liegenden See, wodurch denn geweissagt war, da§, in folgenden Zeiten, es dem Dekorateur geringe MŸhe machen werde, einen Wellenschlag Ÿber das ganze Theater bis an das Souffleurloch zu fŸhren.

Durch alles dieses aber ist das eigentliche Interesse des StŸcks noch nicht ausgesprochen; denn der grŸndliche Scherz ward bis zur Tollheit gesteigert, da§ das sŠmtliche Personal des Schauspiels aus lauter deutsch herkšmmlichen Schimpf- und Ekelnamen bestand, wodurch der Charakter der einzelnen sogleich ausgesprochen und das VerhŠltnis zu einander gegeben war.

Da wir hoffen dŸrfen, da§ GegenwŠrtiges in guter Gesellschaft, auch wohl im anstŠndigen Familienkreise vorgelesen werde, so dŸrfen wir nicht einmal, wie doch auf jedem Theateranschlag Sitte ist, unsre Personen hier der Reihe nach nennen, noch auch die Stellen, wo sie sich am klarsten und eminentesten beweisen, hier am Ort auffŸhren, obgleich auf dem einfachsten Wege heitere, neckische, unverfŠngliche Beziehungen und geistreiche Scherze sich hervortun mŸ§-


ten. Zum Versuch legen wir ein Blatt bei, unsern Herausgebern die ZulŠssigkeit zu beurteilen anheim stellend.

Vetter Schuft hatte das Recht, durch sein VerhŠltnis zur Familie, zu dem Fest geladen zu werden; niemand hatte dabei etwas zu erinnern; denn wenn er auch gleich durchaus im Leben untauglich war, so war er doch da, und weil er da war, konnte man ihn schicklich nicht verleugnen; auch durfte man an so einem Festtage sich nicht erinnern, da§ man zuweilen unzufrieden mit ihm gewesen wŠre.

Mit Herrn Schurke war es schon eine bedenklichere Sache; er hatte der Familie wohl genutzt, wenn es ihm gerade auch nutzte; dagegen ihr auch wieder geschadet, vielleicht zu seinem eignen Vorteil, vielleicht auch weil er es eben gelegen fand. Die mehr oder minder Klugen stimmten fŸr seine ZulŠssigkeit, die wenigen, die ihn wollten ausgeschlossen haben, wurden Ÿberstimmt.

Nun aber war noch eine dritte Person, Ÿber die sich schwerer entscheiden lie§; in der Gesellschaft ein ordentlicher Mensch nicht weniger als andere, nachgiebig, gefŠllig und zu mancherlei zu gebrauchen; er hatte den einzigen Fehler, da§ er seinen Namen nicht hšren konnte und, sobald er ihn vernahm, in eine Heldenwut, wie der Norde sie Berserkerwut benennt, augenblicklich geriet, alles rechts und links totzuschlagen drohte und in solchem Raptus teils beschŠdigte, teils beschŠdigt ward: wie denn auch der zweite Akt des StŸcks durch ihn ein sehr verworrenes Ende nahm.

Hier konnte nun der Anla§ unmšglich versŠumt werden, den rŠuberischen Macklot zu zŸchtigen. Er geht nŠmlich hausieren mit seiner Macklotur, und wie er die Anstalten zur Hochzeit gewahr wird, kann er dem Trieb nicht widerstehen, auch hier zu schmarotzen und auf anderer Leute Kosten seine ausgehungerten GedŠrme zu erquicken. Er meldet sich, Kilian Brustfleck untersucht seine AnsprŸche, mu§ ihn aber abweisen, denn alle GŠste, hei§t es, seien anerkannte šffentliche Charaktere, woran der Supplikant doch keinen Anspruch machen kšnne. Macklot versucht sein mšglichstes


um zu beweisen, da§ er ebenso berŸhmt sei als jene. Da aber Kilian Brustfleck, als strenger Zeremonienmeister, sich nicht will bewegen lassen, nimmt sich jener Nichtgenannte, der von seiner Berserkerwut am Schlusse des zweiten Akts sich wieder erholt hat, des ihm so nahe verwandten Nachdruckers so nachdrŸcklich an, da§ dieser unter die Ÿbrigen GŠste schlie§lich aufgenommen wird.

 

Um diese Zeit meldeten sich die Grafen Stolberg an, die, auf einer Schweizerreise begriffen, bei uns einsprechen wollten. Ich war durch das frŸhste Auftauchen meines Talents im Gšttinger Musenalmanach mit ihnen und sŠmtlichen jungen MŠnnern, deren Wesen und Wirken bekannt genug ist, in ein gar freundliches VerhŠltnis geraten. Zu der damaligen Zeit hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe gemacht. Eigentlich war es eine lebhafte Jugend, die sich gegen einander aufknšpfte und ein talentvolles aber ungebildetes Innere hervorkehrte. Einen solchen Bezug gegen einander, der freilich wie Vertrauen aussah, hielt man fŸr Liebe, fŸr wahrhafte Neigung; ich betrog mich darin so gut wie die andern, und habe davon viele Jahre auf mehr als eine Weise gelitten. Es ist noch ein Brief von BŸrgern aus jener Zeit vorhanden, woraus zu ersehen ist, da§ von sittlich €sthetischem unter diesen Gesellen keineswegs die Rede war. Jeder fŸhlte sich aufgeregt und glaubte garwohl hiernach handeln und dichten zu dŸrfen.

Die GebrŸder kamen an, Graf Haugwitz mit ihnen; von mir wurden sie mit offener Brust empfangen, mit gemŸtlicher Schicklichkeit. Sie wohnten im Gasthofe, waren zu Tische jedoch meistens bei uns. Das erste heitere Zusammensein zeigte sich hšchst erfreulich, allein gar bald traten exzentrische €u§erungen hervor.

Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes VerhŠltnis; sie wu§te in ihrer tŸchtigen graden Art sich gleich ins Mittelalter zurŸckzusetzen, um als Aja bei irgend einer lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein.


Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend mit ein, als sie schon in Gštz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erblicken glaubte.

Doch hiebei sollte es nicht lange bleiben, denn man hatte nur einige Male zusammen getafelt, als schon nach ein und der andern genossenen Flasche Wein der poetische Tyrannenha§ zum Vorschein kam, und man nach dem Blute solcher WŸtriche lechzend sich erwies. Mein Vater schŸttelte lŠchelnd den Kopf; meine Mutter hatte in ihrem Leben kaum von Tyrannen gehšrt, doch erinnerte sie sich in Gottfrieds "Chronik" dergleichen Unmenschen in Kupfer abgebildet gesehen zu haben: den Kšnig Kambyses, der in Gegenwart des Vaters das Herz des Sšhnchens mit dem Pfeil getroffen zu haben triumphiert, wie ihr solches noch im GedŠchtnis geblieben war. Diese und Šhnliche aber immer heftiger werdende €u§erungen ins Heitere zu wenden, verfŸgte sie sich in ihren Keller, wo ihr von den Šltesten Weinen wohl unterhaltene gro§e FŠsser verwahrt lagen. Nicht geringere befanden sich daselbst als die JahrgŠnge 1706, 19, 26, 48, von ihr selbst gewartet und gepflegt, selten und nur bei feierlich bedeutenden Gelegenheiten angesprochen.

Indem sie nun in geschliffener Flasche den hochfarbigen Wein hinsetzte, rief sie aus: "Hier ist das wahre Tyrannenblut! Daran ergštzt euch, aber alle Mordgedanken la§t mir aus dem Hause!"

"Ja wohl Tyrannenblut!" rief ich aus; "keinen grš§eren Tyrannen gibt es, als den, dessen Herzblut man euch vorsetzt. Labt euch daran, aber mŠ§ig! denn ihr mŸ§t befŸrchten, da§ er euch durch Wohlgeschmack und Geist unterjoche. Der Weinstock ist der Universaltyrann, der ausgerottet werden sollte; zum Patron sollten wir deshalb den heiligen Lykurgus, den Thrazier, wŠhlen und verehren; er griff das fromme Werk krŠftig an, aber vom betšrenden DŠmon Bacchus verblendet und verderbt, verdient er in der Zahl der MŠrtyrer obenan zu stehen.


Dieser Weinstock ist der allerschlimmste Tyrann, zugleich Heuchler, Schmeichler und Gewaltsamer. Die ersten ZŸge seines Blutes munden euch, aber ein Tropfen lockt den andern unaufhaltsam nach; sie folgen sich wie eine Perlenschnur, die man zu zerrei§en fŸrchtet."

Wenn ich hier, wie die besten Historiker getan, eine fingierte Rede statt jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht geraten kšnnte, so darf ich den Wunsch aussprechen, es mšchte gleich ein Geschwindschreiber diese Peroration aufgefa§t und uns Ÿberliefert haben. Man wŸrde die Motive genau dieselbigen und den Flu§ der Rede vielleicht anmutiger und einladender finden. †berhaupt fehlt dieser gegenwŠrtigen Darstellung im ganzen die weitlŠuftige Redseligkeit und FŸlle einer Jugend, die sich fŸhlt und nicht wei§, wo sie mit Kraft und Vermšgen hinaus soll.

In einer Stadt wie Frankfurt befindet man sich in einer wunderlichen Lage; immer sich kreuzende Fremde deuten nach allen Weltgegenden hin und erwecken Reiselust. FrŸher war ich schon bei manchem Anla§ mobil geworden, und gerade jetzt, im Augenblicke, wo es drauf ankam, einen Versuch zu machen, ob ich Lili entbehren kšnne, wo eine gewisse peinliche Unruhe mich zu allem bestimmten GeschŠft unfŠhig machte, war mir die Aufforderung der Stolberge, sie nach der Schweiz zu begleiten, willkommen. BegŸnstigt durch das Zureden meines Vaters, welcher eine Reise in jener Richtung sehr gerne sah, und mir empfahl, einen †bergang nach Italien, wie es sich fŸgen und schicken wollte, nicht zu versŠumen, entschlo§ ich mich daher schnell, und es war bald gepackt. Mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied, trennt' ich mich von Lili; sie war mir so ins Herz gewachsen, da§ ich mich gar nicht von ihr zu entfernen glaubte.

In wenigen Stunden sah ich mich mit meinen lustigen GefŠhrten in Darmstadt. Bei Hofe daselbst sollte man sich noch ganz schicklich betragen, hier hatte Graf Haugwitz eigentlich die FŸhrung und Leitung. Er war der JŸngste von uns, wohlgestaltet, von zartem edlem Ansehn, weichen freund-


lichen ZŸgen, sich immer gleich, teilnehmend, aber mit solchem Ma§e, da§ er gegen die andern als impassibel abstach. Er mu§te deshalb von ihnen allerlei Spottreden und Benamsungen erdulden. Dies mochte gelten, solange sie glaubten, als Naturkinder sich zeigen zu kšnnen; wo es aber denn doch auf Schicklichkeit ankam, und man, nicht ungern, genštigt war, wieder einmal als Graf aufzutreten, da wu§te er alles einzuleiten und zu schlichten, da§ wir, wenn nicht mit dem besten, doch mit leidlichem Rufe davon kamen.

Ich brachte unterdessen meine Zeit bei Merck zu, welcher meine vorgenommene Reise mephistophelisch querblickend ansah und meine GefŠhrten, die ihn auch besucht hatten, mit schonungsloser VerstŠndigkeit zu schildern wu§te. Er kannte mich nach seiner Art durchaus; die unŸberwindliche naive GutmŸtigkeit meines Wesens war ihm schmerzlich, das ewige Geltenlassen, das Leben und Lebenlassen war ihm ein Greuel. "Da§ du mit diesen Burschen ziehst," rief er aus, "ist ein dummer Streich"; und er schilderte sie sodann treffend, aber nicht ganz richtig. Durchaus fehlte ein Wohlwollen, daher ich glauben konnte ihn zu Ÿbersehen, obschon ich ihn nicht sowohl Ÿbersah, als nur die Seiten zu schŠtzen wu§te, die au§er seinem Gesichtskreise lagen.

"Du wirst nicht lange bei ihnen bleiben!" das war das Resultat seiner Unterhaltungen. Dabei erinnere ich mich eines merkwŸrdigen Wortes, das er mir spŠter wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im Leben bedeutend fand. "Dein Bestreben," sagte er, "deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug. Fa§t man die ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hŠlt man sie fest und wendet sie an; so erlangt man viel Aufschlu§ Ÿber tausend andere Dinge."

UnglŸcklicherweise, eh' sich die Gesellschaft von Darmstadt loslšste, gab es noch Anla§, Mercks Meinung unumstš§lich zu bekrŠftigen.


Unter die damaligen VerrŸcktheiten, die aus dem Begriff entstanden: man mŸsse sich in einen Naturzustand zu versetzen suchen, gehšrte denn auch das Baden im freien Wasser, unter offnem Himmel; und unsre Freunde konnten auch hier, nach allenfalls Ÿberstandener Schicklichkeit, auch dieses Unschickliche nicht unterlassen. Darmstadt, ohne flie§endes GewŠsser in einer sandigen FlŠche gelegen, mag doch einen Teich in der NŠhe haben, von dem ich nur bei dieser Gelegenheit gehšrt. Die hei§ genaturten und sich immer mehr erhitzenden Freunde suchten Labsal in diesem Weiher; nackte JŸnglinge bei hellem Sonnenschein zu sehen, mochte wohl in dieser Gegend als etwas Besonderes erscheinen, es gab Skandal auf alle FŠlle. Merck schŠrfte seine Konklusionen, und ich leugne nicht, ich beeilte unsre Abreise.

Schon auf dem Wege nach Mannheim zeigte sich, ohngeachtet aller guten und edlen gemeinsamen GefŸhle, doch schon eine gewisse Differenz in Gesinnung und Betragen. Leopold Stolberg Šu§erte mit Leidenschaft: wie er genštigt worden, ein herzliches LiebesverhŠltnis mit einer schšnen EnglŠnderin aufzugeben, und deswegen eine so weite Reise unternommen habe. Wenn man ihm nun dagegen teilnehmend entdeckte, da§ man solchen Empfindungen auch nicht fremd sei, so brach bei ihm das grenzenlose GefŸhl der Jugend heraus: seiner Leidenschaft, seinen Schmerzen, sowie der Schšnheit und LiebenswŸrdigkeit seiner Geliebten dŸrfe sich in der Welt nichts gleichstellen. Wollte man solche Behauptung, wie es sich unter guten Gesellen wohl ziemt, durch mŠ§ige Rede ins Gleichgewicht bringen, so schien sich die Sache nur zu verschlimmern, und Graf Haugwitz wie auch ich mu§ten zuletzt geneigt werden, dieses Thema fallen zu lassen. Angelangt in Mannheim, bezogen wir schšne Zimmer eines anstŠndigen Gasthofes, und beim Dessert des ersten Mittagessens, wo der Wein nicht war geschont worden, forderte uns Leopold auf, seiner Schšnen Gesundheit zu trinken, welches denn unter ziemlichem Getšse geschah. Nach geleerten GlŠsern rief er aus: "Nun aber ist aus solchen


geheiligten Bechern kein Trunk mehr erlaubt, eine zweite Gesundheit wŠre Entweihung, deshalb vernichten wir diese GefŠ§e!" und warf sogleich sein Stengelglas hinter sich wider die Wand. Wir andern folgten, und ich bildete mir denn doch ein, als wenn mich Merck am Kragen zupfte.

Allein die Jugend nimmt das aus der Kindheit mit herŸber, da§ sie guten Gesellen nichts nachtrŠgt, da§ eine unbefangene Wohlgewogenheit zwar unangenehm berŸhrt werden kann, aber nicht zu verletzen ist.

Nachdem die nunmehr als englisch angesprochenen GlŠser unsre Zeche verstŠrkt hatten, eilten wir nach Karlsruhe getrost und heiter, um uns zutraulich und sorglos in einen neuen Kreis zu begeben. Wir fanden Klopstock daselbst, welcher seine alte sittliche Herrschaft Ÿber die ihn so hoch verehrenden SchŸler gar anstŠndig ausŸbte, dem ich denn auch mich gern unterwarf, so da§ ich, mit den andern nach Hof gebeten, mich fŸr einen Neuling ganz leidlich mag betragen haben. Auch ward man gewisserma§en aufgefordert, natŸrlich und doch bedeutend zu sein.

Der regierende Herr Markgraf, als einer der fŸrstlichen Senioren, besonders aber wegen seiner vortrefflichen Regierungszwecke unter den deutschen Regenten hoch verehrt, unterhielt sich gern von staatswirtlichen Angelegenheiten. Die Frau MarkgrŠfin, in KŸnsten und mancherlei guten Kenntnissen tŠtig und bewandert, wollte auch mit anmutigen Reden eine gewisse Teilnahme beweisen; wogegen wir uns zwar dankbar verhielten, konnten aber doch zu Hause ihre schlechte Papierfabrikation und BegŸnstigung des Nachdruckers Macklot nicht ungeneckt lassen.

Am bedeutendsten war fŸr mich, da§ der junge Herzog von Sachsen-Weimar mit seiner edlen Braut, der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt, hier zusammenkamen, um ein fšrmliches EhebŸndnis einzugehen; wie denn auch deshalb PrŠsident von Moser bereits hier angelangt war, um so bedeutende VerhŠltnisse ins klare zu setzen und mit dem Oberhofmeister Grafen Goertz všllig abzuschlie§en. Meine


GesprŠche mit beiden hohen Personen waren die gemŸtlichsten, und sie schlossen sich, bei der Abschiedsaudienz, wiederholt mit der Versicherung: es wŸrde ihnen beiderseits angenehm sein, mich bald in Weimar zu sehn.

Einige besondere GesprŠche mit Klopstock erregten gegen ihn, bei der Freundlichkeit, die er mir erwies, Offenheit und Vertrauen; ich teilte ihm die neusten Szenen des "Faust" mit, die er wohl aufzunehmen schien, sie auch, wie ich nachher vernahm, gegen andere Personen mit entschiedenem Beifall, der sonst nicht leicht in seiner Art war, beehrt und die Vollendung des StŸcks gewŸnscht hatte.

Jenes ungebildete, damals mitunter genial genannte Betragen ward in Karlsruhe, auf einem anstŠndigen, gleichsam heiligen Boden, einigerma§en beschwichtigt; ich trennte mich von meinen Gesellen, indem ich einen Seitenweg einzuschlagen hatte, um nach Emmendingen zu gehen, wo mein Schwager Oberamtmann war. Ich achtete diesen Schritt, meine Schwester zu sehen, fŸr eine wahrhafte PrŸfung. Ich wu§te, sie lebte nicht glŸcklich, ohne da§ man es ihr, ihrem Gatten oder den ZustŠnden hŠtte schuld geben kšnnen. Sie war ein eignes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist; wir wollen suchen, das Mitteilbare hier zusammenzufassen.

Ein schšner Kšrperbau begŸnstigte sie, nicht so die GesichtszŸge, welche, obgleich GŸte, Verstand, Teilnahme deutlich genug ausdrŸckend, doch einer gewissen RegelmŠ§igkeit und Anmut ermangelten.

Dazu kam noch, da§ eine hohe stark gewšlbte Stirne, durch die leidige Mode die Haare aus dem Gesicht zu streichen und zu zwŠngen, einen gewissen unangenehmen Eindruck machte, wenn sie gleich fŸr die sittlichen und geistigen Eigenschaften das beste Zeugnis gab. Ich kann mir denken, da§, wenn sie, wie es die neuere Zeit eingefŸhrt hat, den oberen Teil ihres Gesichtes mit Locken umwšlken, ihre SchlŠfe und Wangen mit gleichen Ringeln hŠtte bekleiden kšnnen, sie vor dem Spiegel sich angenehmer wŸrde gefunden haben, ohne Besorgnis, andern zu mi§fallen wie sich selbst. Rechne


man hiezu noch das Unheil, da§ ihre Haut selten rein war, ein †bel, das sich, durch ein dŠmonisches Mi§geschick, schon von Jugend auf gewšhnlich an Festtagen einzufinden pflegte, an Tagen von Konzerten, BŠllen und sonstigen Einladungen.

Diese ZustŠnde hatte sie nach und nach durchgekŠmpft, indes ihre Ÿbrigen herrlichen Eigenschaften sich immer mehr und mehr ausbildeten.

Ein fester nicht leicht bezwinglicher Charakter, eine teilnehmende, Teilnahme bedŸrfende Seele, vorzŸgliche Geistesbildung, schšne Kenntnisse, sowie Talente, einige Sprachen, eine gewandte Feder, so da§, wŠre sie von au§en begŸnstigt worden, sie unter den gesuchtesten Frauen ihrer Zeit wŸrde gegolten haben.

Zu allem diesem ist noch ein Wundersames zu offenbaren: in ihrem Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir heraufgewachsen und wŸnschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und zuzubringen. Wir waren, nach meiner RŸckkunft von der Akademie, unzertrennlich geblieben, im innersten Vertrauen hatten wir Gedanken, Empfindungen und Grillen, die EindrŸcke alles ZufŠlligen in Gemeinschaft. Als ich nach Wetzlar ging, schien ihr die Einsamkeit unertrŠglich; mein Freund Schlosser, der Guten weder unbekannt noch zuwider, trat in meine Stelle. Leider verwandelte sich bei ihm die BrŸderlichkeit in eine entschiedene und, bei seinem strengen gewissenhaften Wesen, vielleicht erste Leidenschaft. Hier fand sich, wie man zu sagen pflegt, eine sehr gŸtliche, erwŸnschte Partie, welche sie, nachdem sie verschiedene bedeutende AntrŠge, aber von unbedeutenden MŠnnern, von solchen, die sie verabscheute, standhaft ausgeschlagen hatte, endlich anzunehmen sich, ich darf wohl sagen, bereden lie§.

Aufrichtig habe ich zu gestehen, da§ ich mir, wenn ich manchmal Ÿber ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als €btissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besa§ alles was ein


solcher hšherer Zustand verlangt, ihr fehlte, was die Welt unerlŠ§lich fordert. †ber weibliche Seelen Ÿbte sie durchaus eine unwiderstehliche Gewalt; junge GemŸter zog sie liebevoll an und beherrschte sie durch den Geist innerer VorzŸge. Wie sie nun die allgemeine Duldung des Guten, Menschlichen, mit allen seinen Wunderlichkeiten, wenn es nur nicht ins Verkehrte ging, mit mir gemein hatte, so brauchte nichts EigentŸmliches, wodurch irgend ein bedeutendes Naturel ausgezeichnet war, sich vor ihr zu verbergen, oder sich vor ihr zu genieren; weswegen unsere Geselligkeiten, wie wir schon frŸher gesehn, immer mannigfaltig, frei, artig, wenn auch gleich manchmal ans KŸhne heran, sich bewegen mochten. Die Gewohnheit, mit jungen Frauenzimmern anstŠndig und verbindlich umzugehn, ohne da§ sogleich eine entscheidende BeschrŠnkung und Aneignung erfolgt wŠre, hatte ich nur ihr zu danken. Nun aber wird der einsichtige Leser, welcher fŠhig ist, zwischen diese Zeilen hineinzulesen, was nicht geschrieben steht, aber angedeutet ist, sich eine Ahnung der ernsten GefŸhle gewinnen, mit welchen ich damals Emmendingen betrat.

Allein beim Abschiede nach kurzem Aufenthalt lag es mir noch schwerer auf dem Herzen, da§ meine Schwester mir auf das ernsteste eine Trennung von Lili empfohlen, ja befohlen hatte. Sie selbst hatte an einem langwierigen Brautstande viel gelitten; Schlosser, nach seiner Redlichkeit, verlobte sich nicht eher mit ihr, als bis er seiner Anstellung im Gro§herzogtum Baden gewi§, ja, wenn man es so nehmen wollte, schon angestellt war. Die eigentliche Bestimmung aber verzšgerte sich auf eine undenkliche Weise. Soll ich meine Vermutung hierŸber eršffnen, so war der wackere Schlosser, wie tŸchtig er zum GeschŠft sein mochte, doch wegen seiner schroffen Rechtlichkeit dem FŸrsten als unmittelbar berŸhrender Diener, noch weniger den Ministern als naher Mitarbeiter wŸnschenswert. Seine gehoffte und dringend gewŸnschte Anstellung in Karlsruhe kam nicht zustande. Mir aber klŠrte sich diese Zšgerung auf, als


die Stelle eines Oberamtmanns in Emmendingen ledig ward, und man ihn alsobald dahin versetzte. Es war ein stattliches eintrŠgliches Amt nunmehr ihm Ÿbertragen, dem er sich všllig gewachsen zeigte. Seinem Sinn, seiner Handlungsweise deuchte es ganz gemŠ§, hier allein zu stehen, nach †berzeugung zu handeln und Ÿber alles, man mochte ihn loben oder tadeln, Rechenschaft zu geben.

Dagegen lie§ sich nichts einwenden; meine Schwester mu§te ihm folgen, freilich nicht in eine Residenz, wie sie gehofft hatte, sondern an einen Ort, der ihr eine Einsamkeit, eine Einšde scheinen mu§te; in eine Wohnung, zwar gerŠumig, amtsherrlich, stattlich, aber aller Geselligkeit entbehrend. Einige junge Frauenzimmer, mit denen sie frŸher Freundschaft gepflogen, folgten ihr nach, und da die Familie Gerock mit Tšchtern gesegnet war, wechselten diese ab, so da§ sie wenigstens, bei so vieler Entbehrung, eines lŠngstvertrauten Umgangs geno§.

Diese ZustŠnde, diese Erfahrungen waren es, wodurch sie sich berechtigt glaubte, mir aufs ernsteste eine Trennung von Lili zu befehlen. Es schien ihr hart, ein solches Frauenzimmer, von dem sie sich die hšchsten Begriffe gemacht hatte, aus einer, wo nicht glŠnzenden, doch lebhaft bewegten Existenz herauszuzerren, in unser zwar lšbliches, aber doch nicht zu bedeutenden Gesellschaften eingerichtetes Haus, zwischen einen wohlwollenden, ungesprŠchigen, aber gern didaktischen Vater, und eine in ihrer Art hšchst hŠuslich-tŠtige Mutter, welche doch, nach vollbrachtem GeschŠft, bei einer bequemen Handarbeit nicht gestšrt sein wollte, in einem gemŸtlichen GesprŠch mit jungen herangezogenen und auserwŠhlten Persšnlichkeiten.

Dagegen setzte sie mir Lilis VerhŠltnisse lebhaft ins klare, denn ich hatte ihr teils schon in Briefen, teils aber in leidenschaftlich geschwŠtziger Vertraulichkeit alles haarklein vorgetragen.

Leider war ihre Schilderung nur eine umstŠndliche wohlgesinnte AusfŸhrung dessen, was ein OhrenblŠser von Freund,


dem man nach und nach nichts Gutes zutraute, mit wenigen charakteristischen ZŸgen einzuflŸstern bemŸht gewesen.

Versprechen konnt' ich ihr nichts, ob ich ihr gleich gestehen mu§te, sie habe mich Ÿberzeugt; ich ging mit dem rŠtselhaften GefŸhl im Herzen, woran die Leidenschaft sich fortnŠhrt; denn Amor das Kind hŠlt sich noch hartnŠckig fest am Kleide der Hoffnung, eben als sie schon starken Schrittes sich zu entfernen den Anlauf nimmt.

Das einzige, was ich mir zwischen da und ZŸrch noch deutlich erinnere, ist der Rheinfall bei Schaffhausen. Hier wird durch einen mŠchtigen Stromsturz merklich die erste Stufe bezeichnet, die ein Bergland andeutet, in das wir zu treten gewillet sind; wo wir denn nach und nach, Stufe fŸr Stufe, immer in wachsendem VerhŠltnis, die Hšhen mŸhsam erreichen sollen.

Der Anblick des ZŸricher Sees, von dem Tore des Schwertes genossen, ist mir auch noch gegenwŠrtig; ich sage von dem Tore des Gasthauses, denn ich trat nicht hinein, sondern ich eilte zu Lavatern. Der Empfang war heiter und herzlich, und man mu§ gestehen, anmutig ohnegleichen; zutraulich, schonend, segnend, erhebend, anders konnte man sich seine Gegenwart nicht denken. Seine Gattin, mit etwas sonderbaren, aber friedlichen zartfrommen ZŸgen, stimmte všllig, wie alles andere um ihn her, in seine Sinnes und Lebensweise.

Unsre nŠchste und fast ununterbrochene Unterhaltung war seine "Physiognomik". Der erste Teil dieses seltsamen Werkes war, wenn ich nicht irre, schon všllig abgedruckt, oder wenigstens seiner VollstŠndigkeit nahe. Man darf es wohl als genial-empirisch, als methodischkollektiv ansprechen; ich hatte dazu das sonderbarste VerhŠltnis. Lavater wollte die ganze Welt zu Mitarbeitern und Teilnehmern; schon hatte er auf seiner Rheinreise so viel bedeutende Menschen portrŠtieren lassen, um durch ihre Persšnlichkeit sie in das Interesse eines Werks zu ziehen, in welchem sie selbst auftreten sollten. Ebenso verfuhr er mit KŸnstlern; er rief einen jeden auf, ihm fŸr seine Zwecke Zeichnungen zu sen-


den. Sie kamen an und taugten nicht entschieden zu ihrer Bestimmung. Ebenso lie§ er rechts und links in Kupfer stechen, und auch dieses gelang selten charakteristisch. Eine gro§e Arbeit war von seiner Seite geleistet, mit Geld und Anstrengung aller Art ein bedeutendes Werk vorgearbeitet, der Physiognomik alle Ehre geboten; und wie nun daraus ein Band werden sollte, die Physiognomik, durch Lehre gegrŸndet, durch Beispiele belegt, sich der WŸrde einer Wissenschaft nŠhern sollte, so sagte keine Tafel, was sie zu sagen hatte; alle Platten mu§ten getadelt, bedingt, nicht einmal gelobt, nur zugegeben, manche gar durch die ErklŠrungen weggelšscht werden. Es war fŸr mich, der, eh er fortschritt, immer Fu§ zu fassen suchte, eine der penibelsten Aufgaben, die meiner TŠtigkeit auferlegt werden konnte. Man urteile selbst. Das Manuskript mit den zum Text eingeschobenen PlattenabdrŸcken ging an mich nach Frankfurt. Ich hatte das Recht, alles zu tilgen was mir mi§fiel, zu Šndern und einzuschalten was mir beliebte, wovon ich freilich sehr mŠ§ig Gebrauch machte. Ein einzigmal hatte er eine gewisse leidenschaftliche Kontrovers gegen einen ungerechten Tadler eingeschoben, die ich weglie§ und ein heiteres Naturgedicht dafŸr einlegte, weswegen er mich schalt, jedoch spŠter, als er abgekŸhlt war, mein Verfahren billigte.

Wer die vier BŠnde "Physiognomik" durchblŠttert und, was ihn nicht reuen wird, durchliest, mag bedenken, welches Interesse unser Zusammensein gehabt habe, indem die meisten der darin vorkommenden BlŠtter schon gezeichnet und ein Teil gestochen waren, vorgelegt und beurteilt wurden und man die geistreichen Mittel Ÿberlegte, womit selbst das Untaugliche in diesem Falle lehrreich und also tauglich gemacht werden kšnnte.

Geh' ich das Lavaterische Werk nochmals durch, so macht es mir eine komisch heitere Empfindung; es ist mir, als sŠhe ich die Schatten mir ehemals sehr bekannter Menschen vor mir, Ÿber die ich mich schon einmal geŠrgert und Ÿber die ich mich jetzt nicht erfreuen sollte.


Die Mšglichkeit aber so vieles unschicklich Gebildete einigerma§en zusammenzuhalten, lag in dem schšnen und entschiedenen Talente des Zeichners und Kupferstechers Lips; er war in der Tat zur freien prosaischen Darstellung des Wirklichen geboren, worauf es denn doch eigentlich hier ankam. Er arbeitete unter dem wunderlich fordernden Physiognomisten, und mu§te deshalb genau aufpassen, um sich den Forderungen seines Meisters anzunŠhern; der talentreiche Bauernknabe fŸhlte die ganze Verpflichtung, die er einem geistlichen Herrn aus der so hoch privilegierten Stadt schuldig war, und besorgte sein GeschŠft aufs beste.

In getrennter Wohnung von meinen Gesellen lebend, ward ich tŠglich, ohne da§ wir im geringsten Arges daran gehabt hŠtten, denselben immer fremder; unsre Landpartien pa§ten nicht mehr zusammen, obgleich in der Stadt noch einiges Verkehr Ÿbrig geblieben war. Sie hatten sich mit allem jugendlich grŠflichen †bermut auch bei Lavatern gemeldet, welchem gewandten Physiognomisten sie freilich etwas anders vorkamen als der Ÿbrigen Welt; er Šu§erte sich gegen mich darŸber, und ich erinnere mich ganz deutlich, da§ er, von Leopold Stolberg sprechend, ausrief: "Ich wei§ nicht, was ihr alle wollt; es ist ein edler, trefflicher, talentvoller JŸngling, aber sie haben mir ihn als einen Heroen, als einen Herkules beschrieben, und ich habe in meinem Leben keinen weicheren, zarteren und, wenn es darauf ankommt, bestimmbareren jungen Mann gesehen. Ich bin noch weit von sicherer physiognomischer Einsicht entfernt, aber wie es mit euch und der Menge aussieht, ist doch gar zu betrŸbt."

Seit der Reise Lavaters an den Niederrhein hatte sich das Interesse an ihm und seinen physiognomischen Studien sehr lebhaft gesteigert; vielfache Gegenbesuche drŠngten sich zu ihm, so da§ er sich einigerma§en in Verlegenheit fŸhlte, als der Erste geistlicher und geistreicher MŠnner angesehen und als einer betrachtet zu werden, der die Fremden allein nach sich hinzšge; daher er denn, um allem Neid und Mi§gunst auszuweichen, alle diejenigen, die ihn besuchten, zu erinnern


und anzutreiben wu§te, auch die Ÿbrigen bedeutenden MŠnner freundlich und ehrerbietig anzugehen.

Der alte Bodmer ward hiebei vorzŸglich beachtet, und wir mu§ten uns auf den Weg machen, ihn zu besuchen und jugendlich zu verehren. Er wohnte in einer Hšhe Ÿber der am rechten Ufer, wo der See seine Wasser als Limmat zusammendrŠngt, gelegenen grš§ern oder alten Stadt; diese durchkreuzten wir, und erstiegen zuletzt, auf immer steileren Pfaden, die Hšhe hinter den WŠllen, wo sich zwischen den Festungswerken und der alten Stadtmauer gar anmutig eine Vorstadt, teils in aneinander geschlossenen, teils einzelnen HŠusern, halb lŠndlich gebildet hatte. Hier nun stand Bodmers Haus, der Aufenthalt seines ganzen Lebens, in der freisten, heitersten Umgebung, die wir, bei der Schšnheit und Klarheit des Tages, schon vor dem Eintritt hšchst vergnŸglich zu Ÿberschauen hatten.

Wir wurden eine Stiege hoch in ein ringsgetŠfeltes Zimmer gefŸhrt, wo uns ein munterer Greis von mittlerer Statur entgegen kam. Er empfing uns mit einem Gru§e, mit dem er die besuchenden JŸngeren anzusprechen pflegte: wir wŸrden es ihm als eine Artigkeit anrechnen, da§ er mit seinem Abscheiden aus dieser Zeitlichkeit so lange gezšgert habe, um uns noch freundlich aufzunehmen, uns kennen zu lernen, sich an unsern Talenten zu erfreuen und GlŸck auf unsern fernern Lebensgang zu wŸnschen.

Wir dagegen priesen ihn glŸcklich, da§ er als Dichter, der patriarchalischen Welt angehšrig und doch in der NŠhe der hšchst gebildeten Stadt, eine wahrhaft idyllische Wohnung zeitlebens besessen und in hoher freier Luft sich einer solchen Fernsicht mit stetem Wohlbehagen der Augen so lange Jahre erfreut habe.

Es schien ihm nicht unangenehm, da§ wir eine †bersicht aus seinem Fenster zu nehmen uns ausbaten, welche denn wirklich bei heiterem Sonnenschein in der besten Jahrszeit ganz unvergleichlich erschien. Man Ÿbersah vieles von dem, was sich von der gro§en Stadt nach der Tiefe senkte, die


kleinere Stadt Ÿber der Limmat, sowie die Fruchtbarkeit des Sihlfeldes gegen Abend. RŸckwŠrts links einen Teil des ZŸrchsees mit seiner glŠnzend bewegten FlŠche und seiner unendlichen Mannigfaltigkeit von abwechselnden Berg- und Talufern, Erhšhungen, dem Auge unfa§lichen Mannigfaltigkeiten; worauf man denn, geblendet von allem diesem, in der Ferne die blaue Reihe der hšheren GebirgsrŸcken, deren Gipfel zu benamsen man sich getraute, mit grš§ter Sehnsucht zu schauen hatte.

Die EntzŸckung junger MŠnner Ÿber das Au§erordentliche, was ihm so viele Jahre her tŠglich geworden war, schien ihm zu behagen; er ward, wenn man so sagen darf, ironisch teilnehmend, und wir schieden als die besten Freunde, wenn schon in unsern Geistern die Sehnsucht nach jenen blauen Gebirgshšhen die †berhand gewonnen hatte.

Indem ich nun im Begriff stehe mich von unserem wŸrdigen Patriarchen zu beurlauben, so merk' ich erst, da§ ich von seiner Gestalt und Gesichtsbildung, von seinen Bewegungen und seiner Art sich zu benehmen noch nichts ausgesprochen.

†berhaupt zwar finde ich nicht ganz schicklich, da§ Reisende einen bedeutenden Mann, den sie besuchen, gleichsam signalisieren, als wenn sie Stoff zu einem Steckbriefe geben wollten. Niemand bedenkt, da§ es eigentlich nur ein Augenblick ist, wo er, vorgetreten, neugierig beobachtet und doch nur auf seine eigne Weise; und so kann der Besuchte bald wirklich, bald scheinbar als stolz oder demŸtig, als schweigsam oder gesprŠchig, als heiter oder verdrie§lich erscheinen. In diesem besondern Falle aber mšcht' ich mich damit entschuldigen, da§ Bodmers ehrwŸrdige Person, in Worten geschildert, keinen gleich gŸnstigen Eindruck machen dŸrfte. GlŸcklicherweise existiert das Bild nach Graff von Bause, welches vollkommen den Mann darstellt, wie er auch uns erschienen, und zwar mit seinem Blick der Beschauung und Betrachtung. Ein besonderes, zwar nicht unerwartetes, aber hšchst erwŸnschtes VergnŸgen empfing mich in ZŸrch, als ich meinen jungen Freund Passavant daselbst antraf. Sohn eines an-


gesehenen reformierten Hauses meiner Vaterstadt, lebte er in der Schweiz, an der Quelle derjenigen Lehre, die er dereinst als Prediger verkŸndigen sollte. Nicht von gro§er aber gewandter Gestalt, versprach sein Gesicht und sein ganzes Wesen eine anmutige rasche Entschlossenheit; schwarzes Haar und Bart, lebhafte Augen, im ganzen eine teilnehmende mŠ§ige GeschŠftigkeit.

Kaum hatten wir, uns umarmend, die ersten GrŸ§e gewechselt, als er mir gleich den Vorschlag tat, die kleinen Kantone zu besuchen, die er schon mit gro§em EntzŸcken durchwandert habe und mit deren Anblick er mich nun ergštzen und entzŸcken wolle.

Indes ich mit Lavatern die nŠchsten und wichtigsten GegenstŠnde durchgesprochen und wir unsre gemeinschaftlichen Angelegenheiten beinah erschšpft hatten, waren meine muntern Reisegesellen schon auf mancherlei Wegen ausgezogen, und hatten nach ihrer Weise sich in der Gegend umgetan. Passavant, mich mit herzlicher Freundschaft umfangend, glaubte dadurch ein Recht zu dem ausschlie§enden Besitz meines Umganges erworben zu haben und wu§te daher, in Abwesenheit jener, mich um so eher in die Gebirge zu locken, als ich selbst entschieden geneigt war, in grš§ter Ruhe und auf meine eigne Weise, diese lŠngst ersehnte Wanderung zu vollbringen. Wir schifften uns ein, und fuhren an einem glŠnzenden Morgen den herrlichen See hinauf.

Mšge ein eingeschaltetes Gedicht von jenen glŸcklichen Momenten einige Ahnung herŸberbringen:

Und frische Nahrung, neues Blut

Saug' ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hŠlt!

Die Welle wieget unsern Kahn

Im Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan,

Begegnen unserm Lauf.


Aug mein Aug, was sinkst du nieder?

Goldne TrŠume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum! so Gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist.

 

Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne;

Weiche Nebel trinken

Rings die tŸrmende Ferne,

Morgenwind umflŸgelt

Die beschattete Bucht

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.

Wir landeten in Richterswyl, wo wir an Doktor Hotz durch Lavater empfohlen waren. Er besa§ als Arzt, als hšchst verstŠndiger, wohlwollender Mann ein ehrwŸrdiges Ansehn an seinem Orte und in der ganzen Gegend, und wir glauben sein Andenken nicht besser zu ehren, als wenn wir auf eine Stelle in Lavaters "Physiognomik" hinweisen, die ihn bezeichnet.

Aufs beste bewirtet, aufs anmutigste und nŸtzlichste auch Ÿber die nŠchsten Stationen unsrer Wanderung unterhalten, erstiegen wir die dahinter liegenden Berge. Als wir in das Tal von Schindellegi wieder hinabsteigen sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzŸckende Aussicht Ÿber den ZŸrcher See in uns aufzunehmen.

Wie mir zu Mute gewesen, deuten folgende Zeilen an, wie sie damals geschrieben noch in einem Gedenkheftchen aufbewahrt sind:

Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,

Welche Wonne gŠb' mir dieser Blick!

Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,

WŠr', was wŠr' mein GlŸck?

Ausdrucksvoller find ich hier diese kleine Interjektion, als wie sie in der Sammlung meiner Gedichte abgedruckt ist.


Die rauhen Wege, die von da nach Maria Einsiedeln fŸhrten, konnten unserm guten Mut nichts anhaben. Eine Anzahl von Wallfahrern, die, schon unten am See von uns bemerkt, mit Gebet und Gesang regelmŠ§ig fortschritten, hatten uns eingeholt; wir lie§en sie begrŸ§end vorbei und sie belebten, indem sie uns zur Einstimmung in ihre frommen Zwecke beriefen, diese šden Hšhen anmutig charakteristisch. Wir sahen lebendig den schlŠngelnden Pfad bezeichnet, den auch wir zu wandern hatten, und schienen freudiger zu folgen; wie denn die GebrŠuche der ršmischen Kirche dem Protestanten durchaus bedeutend und imposant sind, indem er nur das Erste, Innere, wodurch sie hervorgerufen, das Menschliche, wodurch sie sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, und also auf den Kern dringend, anerkennt, ohne sich gerade in dem Augenblick mit der Schale, der FruchthŸlle, ja dem Baume selbst, seinen Zweigen, BlŠttern, seiner Rinde und seinen Wurzeln zu befassen.

Nun sahen wir in einem šden baumlosen Tale die prŠchtige Kirche hervorsteigen; das Kloster, von weitem ansehnlichen Umfang, in der Mitte von reinlicher Ansiedelung, um so eine gro§e und mannigfaltige Anzahl von GŠsten einigerma§en schicklich aufzunehmen.

Das Kirchlein in der Kirche, die ehmalige Einsiedlerwohnung des Heiligen, mit Marmor inkrustiert und so viel als mšglich zu einer anstŠndigen Kapelle verwandelt, war etwas Neues, von mir noch nie Gesehenes, dieses kleine GefŠ§, umbaut und Ÿberbaut von Pfeilern und Gewšlben. Es mu§te ernste Betrachtungen erregen, da§ ein einzelner Funke von Sittlichkeit und Gottesfurcht hier ein immer brennendes leuchtendes FlŠmmchen angezŸndet, zu welchem glŠubige Scharen mit gro§er Beschwerlichkeit heranpilgern sollten, um an dieser heiligen Flamme auch ihr Kerzlein anzuzŸnden. Wie dem auch sei, so deutet es auf ein grenzenloses BedŸrfnis der Menschheit nach gleichem Licht, gleicher WŠrme, wie es jener erste im tiefsten GefŸhl und sicherster †berzeugung gehegt und genossen. Man fŸhrte uns in


die Schatzkammer, welche, reich und imposant genug, vor allem lebensgro§e, wohl gar kolossale BŸsten von Heiligen und Ordensstiftern dem staunenden Auge darbot.

Doch ganz andere Aufmerksamkeit erregte der Anblick eines darauf eršffneten Schrankes; er enthielt altertŸmliche Kostbarkeiten, hierher gewidmet und verehrt. Verschiedene Kronen von merkwŸrdiger Goldschmiedsarbeit hielten meinen Blick fest, unter denen wieder eine ausschlie§lich betrachtet wurde. Eine Zackenkrone im Kunstsinne der Vorzeit, wie man wohl Šhnliche auf den HŠuptern altertŸmlicher Kšniginnen gesehen, aber von so geschmackvoller Zeichnung, von solcher AusfŸhrung einer unermŸdeten Arbeit, selbst die eingefŸgten farbigen Steine mit solcher Wahl und Geschicklichkeit verteilt und gegeneinander gestellt - genug, ein Werk der Art, da§ man es bei dem ersten Anblick fŸr vollkommen erklŠrte, ohne diesen Eindruck kunstmŠ§ig entwickeln zu kšnnen.

Auch ist in solchen FŠllen, wo die Kunst nicht erkannt, sondern gefŸhlt wird, Geist und GemŸt zur Anwendung geneigt, man mšchte das Kleinod besitzen, um damit Freude zu machen. Ich erbat mir die Erlaubnis, das Kršnchen hervorzunehmen; und als ich solches in der Hand anstŠndig haltend in die Hšhe hob, dacht' ich mir nicht anders, als ich mŸ§te es Lili auf die hellglŠnzenden Locken aufdrŸcken, sie vor den Spiegel fŸhren und ihre Freude Ÿber sich selbst und das GlŸck, das sie verbreitet, gewahr werden. Ich habe mir nachher oft gedacht, diese Szene, durch einen talentvollen Maler verwirklicht, mŸ§te einen hšchst sinn- und gemŸtvollen Anblick geben. Da wŠre es wohl der MŸhe wert, der junge Kšnig zu sein, der sich auf diese Weise eine Braut und ein neues Reich erwŸrbe.

Um uns die BesitztŸmer des Klosters vollstŠndig sehen zu lassen, fŸhrte man uns in ein Kunst-, KuriositŠten- und Naturalienkabinett. Ich hatte damals von dem Wert solcher Dinge wenig Begriff; noch hatte mich die zwar hšchst lšbliche, aber doch den Eindruck der schšnen ErdoberflŠche


vor dem Anschauen des Geistes zerstŸckelnde Geognosie nicht angelockt, noch weniger eine phantastische Geologie mich in ihre Irrsale verschlungen; jedoch nštigte mich der herumfŸhrende Geistliche, einem fossilen, von Kennern, wie er sagte, hšchst geschŠtzten, in einem blauen Schieferton wohl erhaltenen kleinen wilden Schweinskopf einige Aufmerksamkeit zu schenken, der auch, schwarz wie er war, fŸr alle Folgezeit in der Einbildungskraft geblieben ist. Man hatte ihn in der Gegend von Rapperswyl gefunden, in einer Gegend, die, morastig von Urzeiten her, gar wohl dergleichen Mumien fŸr die Nachwelt aufnehmen und bewahren konnte.

Ganz anders aber zog mich, unter Rahmen und Glas, ein Kupferstich von Martin Schšn an, das Abscheiden der Maria vorstellend. Freilich kann nur ein vollkommenes Exemplar uns einen Begriff von der Kunst eines solchen Meisters geben, aber alsdann werden wir auch, wie von dem Vollkommenen in jeder Art, dergestalt ergriffen, da§ wir die Begierde, das gleiche zu besitzen, den Anblick immer wiederholen zu kšnnen, - es mag noch so viel Zeit dazwischen verflie§en - nicht wieder loswerden. Warum sollt' ich nicht vorgreifen und hier gestehen, da§ ich spŠter nicht eher nachlie§, als bis ich ebenfalls zu einem trefflichen Abdruck dieses Blattes gelangt war.

Am 16. Juni 1775, denn hier find' ich zuerst das Datum verzeichnet, traten wir einen beschwerlichen Weg an; wilde, steinige Hšhen mu§ten Ÿberstiegen werden und zwar in vollkommener Einsamkeit und …de. Abends 3/4 auf achte standen wir den Schwyzer Hocken gegenŸber, zweien Berggipfeln, die nebeneinander mŠchtig in die Luft ragen. Wir finden auf unsern Wegen zum erstenmal Schnee, und an jenen zackigen Felsgipfeln hing er noch vom Winter her. Ernsthaft und fŸrchterlich fŸllte ein uralter Fichtenwald die unabsehlichen Schluchten, in die wir hinab sollten. Nach kurzer Rast, frisch und mit mutwilliger Behendigkeit sprangen wir den von Klippe zu Klippe, von Platte zu Platte in


die Tiefe sich stŸrzenden Fu§pfad, und gelangten um zehn Uhr nach Schwyz. Wir waren zugleich mŸde und munter geworden, hinfŠllig und aufgeregt, wir lšschten gŠhling unsern heftigen Durst und fŸhlten uns noch mehr begeistert. Man denke sich den jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den "Werther" schrieb, einen jŸngeren Freund, der sich schon an dem Manuskript jenes wunderbaren Werks entzŸndet hatte, beide ohne Wissen und Wollen gewisserma§en in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorŸbergegangener Leidenschaften, nachhŠngend den gegenwŠrtigen, folgelose Plane bildend, im GefŸhl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie durchschwelgend, - dann nŠhert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wŸ§te, stŸnde nicht im Tagebuche: "Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht."

Den 17. morgens sahen wir die Schwyzer Hocken vor unsern Fenstern. An diesen ungeheuern unregelmŠ§igen Naturpyramiden stiegen Wolken nach Wolken hinauf. Um 1 Uhr nachmittags von Schwyz weg, gegen den Rigi zu, um 2 Uhr auf dem Lauerzer See herrlicher Sonnenschein. Vor lauter Wonne sah man gar nichts; zwei tŸchtige MŠdchen fŸhrten das Schiff; das war anmutig, wir lie§en es geschehen. Auf der Insel langten wir an, wo sie sagen: hier habe der ehemalige Zwingherr gehaust; wie ihm auch sei, jetzt zwischen die Ruinen hat sich die HŸtte des Waldbruders eingeschoben.

Wir bestiegen den Rigi, um halb achte standen wir bei der Mutter Gottes im Schnee; sodann an der Kapelle, am Kloster vorbei, im Wirtshaus "Zum Ochsen".

Den 18. sonntags frŸh die Kapelle vom "Ochsen" aus gezeichnet. Um 12 Uhr nach dem Kalten Bad oder zum Drei-Schwestern-Brunnen. Ein Viertel nach zwei hatten wir die Hšhe erstiegen; wir fanden uns in Wolken, diesmal uns doppelt unangenehm, als die Aussicht hindernd und als niedergehender Nebel netzend. Aber als sie hie und da auseinander rissen und uns, von wallenden Rahmen umgeben, eine


klare, herrliche, sonnenbeschienene Welt als vortretende und wechselnde Bilder sehen lie§en, bedauerten wir nicht mehr diese ZufŠlligkeiten; denn es war ein niegesehner, nie wieder zu schauender Anblick, und wir verharrten lange in dieser gewisserma§en unbequemen Lage, um durch die Ritzen und KlŸfte der immer bewegten Wolkenballen einen kleinen Zipfel besonnter Erde, einen schmalen Uferzug und ein Endchen See zu gewinnen.

Um acht Uhr abends waren wir wieder vor der WirtshaustŸre zurŸck und stellten uns an gebackenen Fischen und Eiern und genugsamem Wein wieder her.

Wie es denn nun dŠmmerte und allmŠhlich nachtete, beschŠftigten ahnungsvoll zusammenstimmende Tšne unser Ohr; das Glockengebimmel der Kapelle, das PlŠtschern des Brunnens, das SŠuseln wechselnder LŸftchen, in der Ferne Waldhšrner; - es waren wohltŠtige, beruhigende, einlullende Momente.

Am 19. frŸh halb sieben erst aufwŠrts, dann hinab an den WaldstŠtter See, nach Vitznau, von da zu Wasser nach Gersau. Mittags im Wirtshaus am See. Gegen 2 Uhr dem GrŸtli gegenŸber, wo die drei Tellen schwuren, darauf an der Platte, wo der Held aussprang und wo ihm zu Ehren die Legende seines Daseins und seiner Taten durch Malerei verewigt ist. Um 3 Uhr in FlŸelen, wo er eingeschifft ward; um 4 Uhr in Altdorf, wo er den Apfel abscho§.

An diesem poetischen Faden schlingt man sich billig durch das Labyrinth dieser FelsenwŠnde, die steil bis in das Wasser hinabreichend uns nichts zu sagen haben. Sie, die UnerschŸtterlichen, stehen so ruhig da, wie die Kulissen eines Theaters; GlŸck oder UnglŸck, Lust oder Trauer ist blo§ den Personen zugedacht, die heute auf dem Zettel stehen.

Dergleichen Betrachtungen jedoch waren gŠnzlich au§er dem Gesichtskreis jener JŸnglinge, das Kurzvergangene hatten sie aus dem Sinne geschlagen, und die Zukunft lag so wunderbar unerforschlich vor ihnen, wie das Gebirg, in das sie hineinstrebten.


Am 20. brachen wir nach Amsteg auf, wo man uns gebackene Fische gar schmackhaft bereitete. Hier nun, an diesem schon genugsam wilden Angebirge, wo die Reu§ aus schrofferen FelsklŸften hervordrang und das frische Schneewasser Ÿber die reinlichen KiesbŠnke hinspielte, enthielt ich mich nicht, die gewŸnschte Gelegenheit zu nutzen und mich in den rauschenden Wellen zu erquicken.

Um drei Uhr brachen wir von da auf; eine Reihe Saumrosse zog vor uns her, wir schritten mit ihr Ÿber eine breite Schneemasse und erfuhren erst nachher, da§ sie unten hohl sei. Hier hatte sich der Winterschnee in eine Bergschlucht eingelegt, um die man sonst herumziehen mu§te, und diente nunmehr zu einem graden verkŸrzten Wege. Die unten durchstršmenden Wasser hatten sie nach und nach ausgehšhlt, durch die milde Sommerluft war das Gewšlb immer mehr abgeschmolzen, so da§ sie nunmehr als ein breiter BrŸckenbogen das HŸben und DrŸben natŸrlich zusammenhielt. Wir Ÿberzeugten uns von diesem wundersamen Naturereignis, indem wir uns etwas oberhalb hinunter in die breitere Schlucht wagten.

Wie wir uns nun immer weiter erhuben, blieben FichtenwŠlder im Abgrund, durch welche die schŠumende Reu§ Ÿber FelsenstŸrze sich von Zeit zu Zeit sehen lie§.

Um halb acht Uhr gelangten wir nach Wassen, wo wir, uns mit dem roten, schweren, sauren lombardischen Wein zu erquicken, erst mit Wasser nachhelfen und mit vielem Zucker das Ingrediens ersetzen mu§ten, was die Natur in der Traube auszukochen versagt hatte. Der Wirt zeigte schšne Kristalle vor; ich war aber damals so entfernt von solchen Naturstudien, da§ ich mich nicht einmal fŸr den geringen Preis mit diesen Bergerzeugnissen beschweren mochte.

Den 21sten halb sieben Uhr aufwŠrts; die Felsen wurden immer mŠchtiger und schrecklicher, der Weg bis zum Teufelsstein, bis zum Anblick der TeufelsbrŸcke immer mŸhseliger. Meinem GefŠhrten beliebte es hier auszuruhen; er munterte mich auf, die bedeutenden Ansichten zu zeichnen.


Die Umrisse mochten mir gelingen, aber es trat nichts hervor, nichts zurŸck; fŸr dergleichen GegenstŠnde hatte ich keine Sprache. Wir mŸhten uns weiter, das ungeheure Wilde schien sich immer zu steigern, Platten wurden zu Gebirgen, und Vertiefungen zu AbgrŸnden. So geleitete mich mein FŸhrer bis ans Urserner Loch, durch welches ich gewisserma§en verdrie§lich hindurch ging; was man bisher gesehen, war doch erhaben, diese Finsternis hob alles auf.

Aber freilich hatte sich der schelmische FŸhrer das freudige Erstaunen voraus vorgestellt, das mich beim Austritt Ÿberraschen mu§te. Der mŠ§ig schŠumende Flu§ schlŠngelte sich hier milde durch ein flaches, von Bergen zwar umschlossenes, aber doch genugsam weites, zur Bewohnung einladendes Tal; Ÿber dem reinlichen …rtchen Urseren und seiner Kirche, die uns auf ebenem Boden entgegen standen, erhob sich ein FichtenwŠldchen, heilig geachtet, weil es die am Fu§e Angesiedelten vor hšher herabrollenden Schneelawinen schŸtzte. Die grŸnenden Wiesen des Tales waren wieder am Flu§ her mit kurzen Weiden geschmŸckt; man erfreute sich hier einer lange vermi§ten Vegetation. Die Beruhigung war gro§, man fŸhlte auf flachen Pfaden die KrŠfte wieder belebt, und mein ReisegefŠhrte tat sich nicht wenig zugute auf die †berraschung, die er so schicklich eingeleitet hatte.

An der Matte [in Andermatt] fand sich der berŸhmte Urserner KŠse, und die exaltierten jungen Leute lie§en sich einen leidlichen Wein trefflich schmecken, um ihr Behagen noch mehr zu erhšhen und ihren Projekten einen phantastischern Schwung zu verleihen.

Den 22sten halb vier Uhr verlie§en wir unsere Herberge um aus dem glatten Urserner Tal ins steinichte Liviner Tal einzutreten. Auch hier ward sogleich alle Fruchtbarkeit vermi§t; nackte, wie bemooste Felsen mit Schnee bedeckt, ruckweiser Sturmwind, Wolken heran- und vorbeifŸhrend, GerŠusch der WasserfŠlle, das Klingeln der Saumrosse in der hšchsten …de, wo man weder die Herankommenden noch


die Scheidenden erblickte. Hier kostet es der Einbildungskraft nicht viel, sich Drachennester in den KlŸften zu denken. Aber doch erheitert und erhoben fŸhlte man sich durch einen der schšnsten, am meisten zum Bilde sich eignenden, in allen Abstufungen grandios mannigfaltigen Wasserfall, der gerade in dieser Jahrszeit vom geschmolzenen Schnee Ÿberreich begabt, von Wolken bald verhŸllt bald enthŸllt, uns geraume Zeit an die Stelle fesselte.

Endlich gelangten wir an kleine Nebelseen, wie ich sie nennen mšchte, weil sie von den atmosphŠrischen Streifen kaum zu unterscheiden waren. Nicht lange, so trat aus dem Dunste ein GebŠude entgegen, es war das Hospiz, und wir fŸhlten gro§e Zufriedenheit, uns zunŠchst unter seinem gastlichen Dache schirmen zu kšnnen.


 

Neunzehntes Buch

 

Durch das leichte KlŠffen eines uns entgegen kommenden HŸndchens angemeldet, wurden wir von einer Šltlichen aber rŸstigen Frauensperson an der TŸre freundlich empfangen; sie entschuldigte den Herrn Pater, welcher nach Mailand gegangen sei, jedoch diesen Abend wieder erwartet werde; alsdann aber sorgte sie, ohne viel Worte zu machen, fŸr Bequemlichkeit und BedŸrfnis. Eine warme gerŠumige Stube nahm uns auf; Brot, KŠse und trinkbarer Wein wurden aufgesetzt, auch ein hinreichendes Abendessen versprochen. Nun wurden die †berraschungen des Tags wieder aufgenommen, und der Freund tat sich hšchlich darauf zugute, da§ alles so wohl gelungen und ein Tag zurŸckgelegt sei, dessen EindrŸcke weder Poesie noch Prose wieder herzustellen imstande.

Bei spŠt einbrechender DŠmmerung trat endlich der ansehnliche Pater herein, begrŸ§te mit freundlich vertraulicher WŸrde seine GŠste und empfahl mit wenigen Worten der Kšchin alle mšgliche Aufmerksamkeit. Als wir unsre Bewunderung nicht zurŸckhielten, da§ er hier oben, in so všlliger WŸste, entfernt von aller Gesellschaft, sein Leben zubringen gewollt, versicherte er: an Gesellschaft fehle es ihm nie, wie wir denn ja auch gekommen wŠren, ihn mit unserm Besuche zu erfreuen. Gar stark sei der wechselseitige Warentransport zwischen Italien und Deutschland; dieser immerfortwŠhrende Speditionswechsel setze ihn mit den ersten HandelshŠusern in VerhŠltnis. Er steige oft nach Mailand hinab, komme seltener nach Luzern, von woher ihm aber aus den HŠusern, welche das PostgeschŠft dieser Hauptstra§e zu besorgen hŠtten, zum šftern junge Leute zugeschickt wŸrden, die hier oben auf dem Scheidepunkt mit


allen in diese Angelegenheiten eingreifenden UmstŠnden und Vorfallenheiten bekanntwerden sollten.

Unter solchen mannigfaltigen GesprŠchen ging der Abend hin, und wir schliefen eine ruhige Nacht in etwas kurzen, an der Wand befestigten, eher an Repositorien als Bettstellen erinnernden SchlafstŠtten.

FrŸh aufgestanden, befand ich mich bald zwar unter freiem Himmel, jedoch in engen, von hohen Gebirgskuppen umschlossenen RŠumen. Ich hatte mich an den Fu§pfad, der nach Italien hinunterging, niedergelassen und zeichnete, nach Art der Dilettanten, was nicht zu zeichnen war und was noch weniger ein Bild geben konnte: die nŠchsten Gebirgskuppen, deren Seiten der herabschmelzende Schnee mit wei§en Furchen und schwarzen RŸcken sehen lie§; indessen ist mir durch diese fruchtlose BemŸhung jenes Bild im GedŠchtnis unauslšschlich geblieben.

Mein GefŠhrte trat mutig zu mir und begann: "Was sagst du zu der ErzŠhlung unsres geistlichen Wirts von gestern abend? Hast du nicht, wie ich, Lust bekommen, dich von diesem Drachengipfel hinab in jene entzŸckenden Gegenden zu begeben? Die Wanderung durch diese Schluchten hinab mu§ herrlich sein und mŸhelos, und wann sich's dann bei Bellinzona šffnen mag, was wŸrde das fŸr eine Lust sein! Die Inseln des gro§en Sees sind mir durch die Worte des Paters wieder lebendig in die Seele getreten. Man hat seit Key§lers Reisen so viel davon gehšrt und gesehen, da§ ich der Versuchung nicht widerstehen kann.

Ist dir's nicht auch so?" fuhr er fort; "du sitzest gerade am rechten Fleck, schon einmal stand ich hier und hatte nicht den Mut hinabzuspringen. Geh voran ohne weiteres, in Airolo wartest du auf mich, ich komme mit dem Boten nach, wenn ich vom guten Pater Abschied genommen und alles berichtigt habe."

"So ganz aus dem Stegreife ein solches Unternehmen, will mir doch nicht gefallen," antwortete ich. - "Was soll da viel Bedenken!" rief jener, "Geld haben wir genug, nach


Mailand zu kommen, Kredit wird sich finden, mir sind von unsern Messen her dort mehr als ein Handelsfreund bekannt." Er ward noch dringender. "Geh!" sagte ich, "mach alles zum Abschied fertig, entschlie§en wollen wir uns alsdann."

Mir kommt vor, als wenn der Mensch, in solchen Augenblicken, keine Entschiedenheit in sich fŸhlte, vielmehr von frŸheren EindrŸcken regiert und bestimmt werde. Die Lombardie und Italien lag als ein ganz Fremdes vor mir; Deutschland als ein Bekanntes, Liebwertes, voller freundlichen einheimischen Aussichten, und, sei es nur gestanden: das, was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen zu treten ich mich nicht getraute. Ein goldnes Herzchen, das ich in schšnsten Stunden von ihr erhalten hatte, hing noch an demselben BŠndchen, an welchem sie es umknŸpfte, lieberwŠrmt an meinem Halse. Ich fa§te es an und kŸ§te es; mag ein dadurch veranla§tes Gedicht auch hier eingeschaltet sein:

Angedenken du verklungner Freude,

Das ich immer noch am Halse trage,

HŠltst du lŠnger als das Seelenband uns beide?

VerlŠngerst du der Liebe kurze Tage?

 

Flieh' ich, Lili, vor dir! Mu§ noch an deinem Bande

Durch fremde Lande,

Durch ferne TŠler und WŠlder wallen!

Ach, Lilis Herz konnte so bald nicht

Von meinem Herzen fallen.

 

Wie ein Vogel, der den Faden bricht

Und zum Walde kehrt,

Er schleppt, des GefŠngnisses Schmach,

Noch ein StŸckchen des Fadens nach,

Er ist der alte freigeborne Vogel nicht,

Er hat schon jemand angehšrt.


Schnell stand ich auf, damit ich von der schroffen Stelle wegkŠme und der mit dem refftragenden Boten heranstŸrmende Freund mich in den Abgrund nicht mit fortrisse. Auch ich begrŸ§te den frommen Pater und wendete mich, ohne ein Wort zu verlieren, dem Pfade zu, woher wir gekommen waren. Etwas zaudernd folgte mir der Freund, und ohngeachtet seiner Liebe und AnhŠnglichkeit an mich blieb er eine Zeitlang eine Strecke zurŸck, bis uns endlich jener herrliche Wasserfall wieder zusammenbrachte, zusammenhielt und das einmal Beschlossene endlich auch fŸr gut und heilsam gelten sollte.

Von dem Herabstieg sag ich nichts weiter, als da§ wir jene SchneebrŸcke, Ÿber die wir in schwerbeladener Gesellschaft vor wenig Tagen ruhig hinzogen, všllig zusammengestŸrzt fanden, und nun, da wir einen Umweg durch die eršffnete Bucht machen mu§ten, die kolossalen TrŸmmer einer natŸrlichen Baukunst anzustaunen und zu bewundern hatten.

Ganz konnte mein Freund die rŸckgŠngige Wanderung nach Italien nicht verschmerzen; er mochte sich solche frŸher ausgedacht und, mit liebevoller Arglist, mich an Ort und Stelle zu Ÿberraschen gehofft haben. Deshalb lie§ sich die RŸckkehr nicht so heiter vollfŸhren; ich aber war auf meinen stummen Pfaden um desto anhaltender beschŠftigt, das Ungeheure, das sich in unserem Geiste mit der Zeit zusammenzuziehen pflegt, wenigstens in seinen fa§lichen charakteristischen Einzelnheiten festzuhalten.

Nicht ohne manche neue wie erneuerte Empfindungen und Gedanken gelangten wir durch die bedeutenden Hšhen des VierwaldstŠtter Sees nach KŸ§nacht, wo wir landend und unsre Wanderung fortsetzend, die am Wege stehende Tellenkapelle zu begrŸ§en und jenen der ganzen Welt als heroisch-patriotisch rŸhmlich geltenden Meuchelmord zu gedenken hatten. Ebenso fuhren wir Ÿber den Zugersee, den wir schon vom Rigi herab aus der Ferne hatten kennen lernen. In Zug erinnere ich mich nur einiger im Gasthofzimmer nicht gar gro§er, aber in ihrer Art vorzŸglicher in


die FensterflŸgel eingefŸgter gemalter Scheiben. Dann ging unser Weg Ÿber den Albis in das Sihltal, wo wir einen jungen in der Einsamkeit sich gefallenden Hannoveraner, von Lindau, besuchten, um seinen Verdru§ zu beschwichtigen, den er frŸher in ZŸrch Ÿber eine von mir nicht aufs freundlichste und schicklichste abgelehnte Begleitung empfunden hatte. Die eifersŸchtige Freundschaft des trefflichen Passavant war eigentlich Ursache an dem Ablehnen einer zwar lieben, aber doch unbequemen Gegenwart.

Ehe wir aber von diesen herrlichen Hšhen wieder zum See und zur freundlich liegenden Stadt hinabsteigen, mu§ ich noch eine Bemerkung machen Ÿber meine Versuche, durch Zeichnen und Skizzieren der Gegend etwas abzugewinnen. Die Gewohnheit von Jugend auf, die Landschaft als Bild zu sehen, verfŸhrte mich zu dem Unternehmen, wenn ich in der Natur die Gegend als Bild erblickte, sie fixieren, mir ein sichres Andenken von solchen Augenblicken festhalten zu wollen. Sonst nur an beschrŠnkten GegenstŠnden mich einigerma§en Ÿbend, fŸhlt' ich in einer solchen Welt gar bald meine UnzulŠnglichkeit.

Drang und Eile zugleich nštigten mich zu einem wunderbaren HŸlfsmittel: kaum hatte ich einen interessanten Gegenstand gefa§t, und ihn mit wenigen Strichen im allgemeinsten auf dem Papier angedeutet, so fŸhrte ich das Detail, das ich mit dem Bleistift nicht erreichen noch durchfŸhren konnte, in Worten gleich darneben aus und gewann mir auf diese Weise eine solche innere Gegenwart von dergleichen Ansichten, da§ eine jede LokalitŠt, wie ich sie nachher in Gedicht oder ErzŠhlung nur etwa brauchen mochte, mir alsobald vorschwebte und zu Gebote stand.

Bei meiner RŸckkunft in ZŸrch fand ich die Stolberge nicht mehr; ihr Aufenthalt in dieser Stadt hatte sich auf eine wunderliche Weise verkŸrzt.

Gestehen wir Ÿberhaupt, da§ Reisende, die sich aus ihrer hŠuslichen BeschrŠnkung entfernen, gewisserma§en in eine nicht nur fremde, sondern všllig freie Natur einzutreten glau-


ben; welchen Wahn man damals um so eher hegen konnte, als man noch nicht durch polizeiliche Untersuchung der PŠsse, durch Zollabgaben und andere dergleichen Hindernisse jeden Augenblick erinnert wurde, es sei drau§en noch bedingter und schlimmer als zu Hause.

VergegenwŠrtige man sich zunŠchst jene unbedingte Richtung nach einer verwirklichten Naturfreiheit, so wird man den jungen GemŸtern verzeihen, welche die Schweiz gerade als das rechte Lokal ansahen, ihre frische JŸnglingsnatur zu idyllisieren. Hatten doch Ge§ners zarte Gedichte, sowie seine allerliebsten Radierungen hiezu am entschiedensten berechtigt.

In der Wirklichkeit nun scheint sich fŸr solche poetische €u§erungen das Baden in unbeengten GewŠssern am allerersten zu qualifizieren. Schon unterwegs wollten dergleichen NaturŸbungen nicht gut zu den modernen Sitten pa§lich erscheinen; man hatte sich ihrer auch einigerma§en enthalten. In der Schweiz aber, beim Anblick und FeuchtgefŸhl des rinnenden, laufenden, stŸrzenden, in der FlŠche sich sammelnden, nach und nach zum See sich ausbreitenden GewŠssers war der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich selbst will nicht leugnen, da§ ich mich im klaren See zu baden mit meinen Gesellen vereinte und, wie es schien, weit genug von allen menschlichen Blicken. Nackte Kšrper jedoch leuchten weit, und wer es auch mochte gesehen haben, nahm €rgernis daran.

Die guten harmlosen JŸnglinge, welche gar nichts Anstš§iges fanden, halb nackt wie ein poetischer SchŠfer, oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit sich zu sehen, wurden von Freunden erinnert, dergleichen zu unterlassen. Man machte ihnen begreiflich: sie weseten nicht in der uranfŠnglichen Natur, sondern in einem Lande, das fŸr gut und nŸtzlich erachtet habe, an Šlteren, aus der Mittelzeit sich herschreibenden Einrichtungen und Sitten fest zu halten. Sie waren nicht abgeneigt, dies einzusehen, besonders da vom Mittelalter die Rede war, welches ihnen als eine zweite Natur verehrlich schien. Sie verlie§en daher die allzu taghaften


Seeufer und fanden auf ihren SpaziergŠngen durch das Gebirg so klare, rauschende, erfrischende GewŠsser, da§ in der Mitte Juli es ihnen unmšglich schien, einer solchen Erquickung zu widerstehen. So waren sie auf ihren weitschweifenden SpaziergŠngen in das dŸstere Tal gelangt, wo hinter dem Albis die Sihl stršmend herabschie§t, um sich unterhalb ZŸrch in die Limmat zu ergie§en. Entfernt von aller Wohnung, ja von allem betretenen Fu§pfad, fanden sie es hier ganz unverfŠnglich, die Kleider abzuwerfen und sich kŸhnlich den schŠumenden Stromwellen entgegen zu setzen; dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der KŸhlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen, wodurch sie diese dŸster bewaldeten Felsen zur idyllischen Szene einzuweihen den Begriff hatten.

Allein, ob ihnen frŸhere Mi§wollende nachgeschlichen, oder ob sie sich durch diesen dichterischen Tumult in der Einsamkeit selbst Gegner aufgerufen, ist nicht zu bestimmen. Genug, sie mu§ten aus dem oberen stummen GebŸsch herab Steinwurf auf Steinwurf erfahren, ungewi§ ob von wenigen oder mehrern, ob zufŠllig oder absichtlich, und sie fanden daher fŸr das KlŸgste, das erquickende Element zu verlassen und ihre Kleider zu suchen.

Keiner war getroffen; †berraschung und Verdru§ war die geistige BeschŠdigung, die sie erlitten hatten, und sie wu§ten, als lebenslustige JŸnglinge, die Erinnerung daran leicht abzuschŸtteln.

Auf Lavatern jedoch erstreckten sich die unangenehmsten Folgen, da§ er junge Leute von dieser Frechheit bei sich freundlich aufgenommen, mit ihnen Spazierfahrten angestellt und sie sonst begŸnstigt, deren wildes, unbŠndiges, ja heidnisches Naturell einen solchen Skandal in einer gesitteten, wohlgeregelten Gegend anrichte.

Der geistliche Freund jedoch, wohl verstehend solche Vorkommenheiten zu beschwichtigen, wu§te dies auch beizulegen, und nach Abzug dieser meteorisch Reisenden war schon bei unsrer RŸckkehr alles ins gleiche gebracht.


In dem Fragment von Werthers Reisen, welches in dem XVI. Bande meiner Werke neuerlich wieder mit abgedruckt ist, habe ich diesen Gegensatz der schweizerischen lšblichen Ordnung und gesetzlichen BeschrŠnkung mit einem solchen, im jugendlichen Wahn geforderten Naturleben zu schildern gesucht. Weil man aber alles, was der Dichter unbewunden darstellt, gleich als entschiedene Meinung, als didaktischen Tadel aufzunehmen pflegt; so waren die Schweizer deshalb sehr unwillig, und ich unterlie§ die intentionierte Fortsetzung, welche das Herankommen Werthers bis zur Epoche, wo seine Leiden geschildert sind, einigerma§en darstellen und dadurch gewi§ den Menschenkennern willkommen sein sollte.

In ZŸrch angelangt, gehšrte ich Lavatern, dessen Gastfreundschaft ich wieder ansprach, die meiste Zeit ganz allein. Die "Physiognomik" lag mit allen ihren Gebilden und Unbilden dem trefflichen Manne mit immer sich vermehrenden Lasten auf den Schultern. Wir verhandelten alles den UmstŠnden nach grŸndlich genug, und ich versprach ihm dabei nach meiner RŸckkehr die bisherige Teilnahme.

Hiezu verleitete mich das jugendlich unbedingte Vertrauen auf eine schnelle Fassungskraft, mehr noch das GefŸhl der willigsten Bildsamkeit; denn eigentlich war die Art, womit Lavater die Physiognomien zergliederte, nicht in meinem Wesen. Der Eindruck, den der Mensch beim ersten Begegnen auf mich machte, bestimmte gewisserma§en mein VerhŠltnis zu ihm, obgleich das allgemeine Wohlwollen, das in mir wirkte, gesellt zu dem Leichtsinn der Jugend, eigentlich immer vorwaltete und mich die GegenstŠnde in einer gewissen dŠmmernden AtmosphŠre schauen lie§.

Lavaters Geist war durchaus imposant; in seiner NŠhe konnte man sich einer entscheidenden Einwirkung nicht erwehren, und so mu§t' ich mir denn gefallen lassen, Stirn und Nase, Augen und Mund einzeln zu betrachten, und ebenso ihre VerhŠltnisse und BezŸge zu erwŠgen. Jener Seher tat dies notgedrungen, um sich von dem, was er so klar anschaute, vollkommene Rechenschaft zu geben; mir kam es


immer als eine TŸcke, als ein Spionieren vor, wenn ich einen gegenwŠrtigen Menschen in seine Elemente zerlegen und seinen sittlichen Eigenschaften dadurch auf die wo Spur kommen wollte. Lieber hielt ich mich an sein GesprŠch, in welchem er nach Belieben sich selbst enthŸllte. Hiernach will ich denn nicht leugnen, da§ es in Lavaters NŠhe gewisserma§en bŠnglich war: denn indem er sich auf physiognomischem Wege unsrer Eigenschaften bemŠchtigte, so war er in der Unterredung Herr unsrer Gedanken, die er im Wechsel des GesprŠches mit einigem Scharfsinn gar leicht erraten konnte.

Wer eine Synthese recht prŠgnant in sich fŸhlt, der hat eigentlich das Recht zu analysieren, weil er am Šu§eren Einzelnen sein inneres Ganze prŸft und legitimiert. Wie Lavater sich hiebei benommen, sei nur ein Beispiel gegeben.

Sonntags, nach der Predigt, hatte er als Geistlicher die Verpflichtung, den kurzgestielten Sammetbeutel jedem Heraustretenden vorzuhalten und die milde Gabe segnend zu empfangen. Nun setzte er sich z.B. diesen Sonntag die Aufgabe, keine Person anzusehen, sondern nur auf die HŠnde zu achten und ihre Gestalt sich auszulegen. Aber nicht allein die Form der Finger, sondern auch die Miene derselben beim Niederlassen der Gabe entging nicht seiner Aufmerksamkeit, und er hatte mir viel davon zu eršffnen. Wie belehrend und aufregend mu§ten mir solche Unterhaltungen werden, mir, der ich doch auch auf dem Wege war, mich zum Menschenmaler zu qualifizieren?

Manche Epoche meines nachherigen Lebens ward ich veranla§t, Ÿber diesen Mann zu denken, welcher unter die VorzŸglichsten gehšrt, mit denen ich zu einem so vertrauten VerhŠltnis gelangte. Und so sind nachstehende €u§erungen Ÿber ihn zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Nach unsern auseinander strebenden Richtungen mu§ten wir uns allmŠhlich ganz und gar fremd werden, und doch wollt' ich mir den Begriff von seinem vorzŸglichen Wesen nicht verkŸmmern lassen. Ich vergegenwŠrtigte mir ihn mehrmals, und so entstanden diese BlŠtter, ganz unabhŠngig von einander,


in denen man Wiederholung, aber hoffentlich keinen Widerspruch finden wird.

 

Lavater war eigentlich ganz real gesinnt und kannte nichts Ideelles als unter der moralischen Form; wenn man diesen Begriff festhŠlt, wird man sich Ÿber einen seltenen und seltsamen Mann am ersten aufklŠren.

Seine "Aussichten in die Ewigkeit" sind eigentlich nur Fortsetzungen des gegenwŠrtigen Daseins, unter leichteren Bedingungen als die sind, welche wir hier zu erdulden haben. Seine Physiognomik ruht auf der †berzeugung, da§ die sinnliche Gegenwart mit der geistigen durchaus zusammenfalle, ein Zeugnis von ihr ablege, ja sie selbst vorstelle.

Mit den Kunstidealen konnte er sich nicht leicht befreunden, weil er, bei seinem scharfen Blick, solchen Wesen die Unmšglichkeit, lebendig organisiert zu sein, nur allzusehr ansah, und sie daher ins Fabelreich, ja in das Reich des Monstrosen verwies. Seine unaufhaltsame Neigung, das Ideelle verwirklichen zu wollen, brachte ihn in den Ruf eines SchwŠrmers, ob er sich gleich Ÿberzeugt fŸhlte, da§ niemand mehr auf das Wirkliche dringe als er; deswegen er denn auch den Mi§griff in seiner Denk- und Handelsweise niemals entdecken konnte.

Nicht leicht war jemand leidenschaftlicher bemŸht anerkannt zu werden als er, und vorzŸglich dadurch eignete er sich zum Lehrer; gingen aber seine BemŸhungen auch wohl auf Sinnes- und Sittenbesserung anderer, so war doch dies keineswegs das letzte, worauf er hinarbeitete.

Um die Verwirklichung der Person Christi war es ihm am meisten zu tun; daher jenes beinahe unsinnige Treiben, ein Christusbild nach dem andern fertigen, kopieren, nachbilden zu lassen, wovon ihm denn, wie natŸrlich, keines genug tat.

Seine Schriften sind schon jetzt schwer zu verstehen, denn nicht leicht kann jemand eindringen in das, was er eigentlich will. Niemand hat so viel aus der Zeit und in die Zeit geschrieben als er, seine Schriften sind wahre TagesblŠtter,


welche die eigentlichste ErlŠuterung aus der Zeitgeschichte fordern; sie sind in einer Koteriesprache geschrieben, die man kennen mu§, um gerecht gegen sie zu sein, sonst wird dem verstŠndigen Leser manches ganz toll und abgeschmackt erscheinen, wie denn auch dem Manne schon bei seinem Leben und nach demselben hierŸber genŸgsame VorwŸrfe gemacht wurden.

So hatten wir ihm z.B. mit unserm Dramatisieren den Kopf so warm gemacht, indem wir alles Vorkšmmliche nur unter dieser Form darstellten und keine andere wollten gelten lassen, da§ er, hiedurch aufgeregt, in seinem "Pontius Pilatus" mit Heftigkeit zu zeigen bemŸht ist: es gebe doch kein dramatischeres Werk als die Bibel; besonders aber die Leidensgeschichte Christi sei fŸr das Drama aller Dramen zu erklŠren.

In diesem Kapitel des BŸchleins, ja in dem ganzen Werke Ÿberhaupt, erscheint Lavater dem Pater Abraham von Santa Clara sehr Šhnlich; denn in diese Manier mu§ jeder Geistreiche verfallen, der auf den Augenblick wirken will. Er hat sich nach den gegenwŠrtigen Neigungen, Leidenschaften, nach Sprache und Terminologie zu erkundigen, um solche alsdann zu seinen Zwecken zu brauchen, und sich der Masse anzunŠhern, die er an sich heranziehen will.

 

Da er nun Christum buchstŠblich auffa§te, wie ihn die Schrift, wie ihn manche Ausleger geben, so diente ihm diese Vorstellung dergestalt zum Supplement seines eignen Wesens, da§ er den Gottmenschen seiner individuellen Menschheit so lange ideell einverleibte, bis er zuletzt mit demselben wirklich in eins zusammengeschmolzen, mit ihm vereinigt, ja eben derselbe zu sein wŠhnen durfte.

Durch diesen entschiedenen bibelbuchstŠblichen Glauben mu§te er auch eine všllige †berzeugung gewinnen, da§ man ebenso gut noch heutzutage als zu jener Zeit Wunder mŸsse ausŸben kšnnen, und da es ihm vollends schon frŸh gelungen war, in bedeutenden und dringenden Angelegenheiten,


durch brŸnstiges ja gewaltsames Gebet, im Augenblick eine gŸnstige Umwendung schwer bedrohender UnfŠlle zu erzwingen; so konnte ihn keine kalte Verstandseinwendung im mindesten irre machen. Durchdrungen ferner von dem gro§en Werte der durch Christum wieder hergestellten und einer glŸcklichen Ewigkeit gewidmeten Menschheit, aber zugleich auch bekannt mit den mannigfaltigen BedŸrfnissen des Geistes und Herzens, mit dem grenzenlosen Verlangen nach Wissen, selbst fŸhlend jene Lust, sich ins Unendliche auszudehnen, wozu uns der gestirnte Himmel sogar sinnlich einlŠdt, entwarf er seine "Aussichten in die Ewigkeit", welche indes dem grš§ten Teil der Zeitgenossen sehr wunderlich vorkommen mochten.

Alles dieses Streben jedoch, alle WŸnsche, alles Unternehmen ward von dem physiognomischen Genie Ÿberwogen, das ihm die Natur zugeteilt hatte. Denn wie der Probierstein, durch SchwŠrze und rauhglatte Eigenschaft seiner OberflŠche, den Unterschied der aufgestrichenen Metalle anzuzeigen am geschicktesten ist, so war auch er, durch den reinen Begriff der Menschheit, den er in sich trug, und durch die scharfzarte Bemerkungsgabe, die er erst aus Naturtrieb, nur obenhin, zufŠllig, dann mit †berlegung, vorsŠtzlich und geregelt ausŸbte, im hšchsten Grade geeignet, die Besonderheiten einzelner Menschen zu gewahren, zu kennen, zu unterscheiden, ja auszusprechen.

Jedes Talent, das sich auf eine entschiedene Naturanlage grŸndet, scheint uns etwas Magisches zu haben, weil wir weder es selbst, noch seine Wirkungen einem Begriffe unterordnen kšnnen. Und wirklich ging seine Einsicht in die einzelnen Menschen Ÿber alle Begriffe; man erstaunte, wenn man Ÿber diesen oder jenen vertraulich sprach, ja es war furchtbar, in der NŠhe des Mannes zu leben, dem jede Grenze deutlich erschien, in welche die Natur uns Individuen einzuschrŠnken beliebt hat.

Jedermann glaubt dasjenige mitteilbar, was er selbst besitzt, und so wollte Lavater nicht nur fŸr sich von dieser gro


§en Gabe Gebrauch machen, sondern sie sollte auch in andern aufgefunden, angeregt, sie sollte sogar auf die Menge Ÿbertragen werden. Zu welchen dunklen und boshaften Mi§deutungen, zu welchen albernen SpŠ§en und niedertrŠchtigen Verspottungen diese auffallende Lehre reichlichen Anla§ gegeben, ist wohl noch in einiger Menschen GedŠchtnis, und es geschah dieses nicht ganz ohne Schuld des vorzŸglichen Mannes selbst: denn ob zwar die Einheit seines inneren Wesens auf einer hohen Sittlichkeit ruhte, so konnte er doch, mit seinen mannigfaltigen Bestrebungen, nicht zur Šu§ern Einheit gelangen, weil in ihm sich weder Anlage zur philosophischen Sinnesweise, noch zum Kunsttalent finden wollte.

Er war weder Denker noch Dichter, ja nicht einmal Redner im eigentlichen Sinne. Keineswegs imstande, etwas methodisch anzufassen, griff er das einzelne einzeln sicher auf, und so stellte er es auch kŸhn nebeneinander. Sein gro§es physiognomisches Werk ist hiervon ein auffallendes Beispiel und Zeugnis. In ihm selbst mochte wohl der Begriff des sittlichen und sinnlichen Menschen ein Ganzes bilden, aber au§er sich wu§te er ihn nicht darzustellen, als nur wieder praktisch im einzelnen, so wie er das einzelne im Leben aufgefa§t hatte.

Eben jenes Werk zeigt uns zum Bedauern, wie ein so scharfsinniger Mann in der gemeinsten Erfahrung umhertappt, alle lebenden KŸnstler und Pfuscher anruft, fŸr charakterlose Zeichnungen und Kupfer ein unglaubliches Geld ausgibt, um hinterdrein im Buche zu sagen, da§ diese und jene Platte mehr oder weniger mi§lungen, unbedeutend und unnŸtz sei. Freilich schŠrft er dadurch sein Urteil und das Urteil anderer, allein es beweist auch, da§ ihn seine Neigung trieb, Erfahrungen mehr aufzuhŠufen als sich in ihnen Luft und Licht zu machen. Eben daher konnte er niemals auf Resultate losgehn, um die ich ihn šfters und dringend bat. Was er als solche in spŠterer Zeit Freunden vertraulich mitteilte, waren fŸr mich keine: denn sie bestanden aus einer Sammlung von gewissen Linien und ZŸgen, ja Warzen und Leber-


flecken, mit denen er bestimmte sittliche, šfters unsittliche Eigenschaften verbunden gesehn. Es waren darunter Bemerkungen zum Entsetzen; allein es machte keine Reihe, alles stand vielmehr zufŠllig durcheinander, nirgends war eine Anleitung zu sehn, oder eine RŸckweisung zu finden. Ebenso wenig schriftstellerische Methode oder KŸnstlersinn herrschte in seinen Ÿbrigen Schriften, welche vielmehr stets eine leidenschaftlich heftige Darstellung seines Denkens und Wollens enthielten, und das, was sie im ganzen nicht leisteten, durch die herzlichsten geistreichsten Einzelnheiten jederzeit ersetzten.

 

Nachfolgende Betrachtungen mšchten wohl, gleichfalls auf jene ZustŠnde bezŸglich, hier am rechten Orte eingeschaltet stehen.

Niemand gesteht gern andern einen Vorzug ein, solang er ihn nur einigerma§en leugnen kann; NaturvorzŸge aller Art sind am wenigsten zu leugnen, und doch gestand der gemeine Redegebrauch damaliger Zeit nur dem Dichter Genie zu. Nun aber schien auf einmal eine andere Welt aufzugehn, man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann und bald von allen Menschen, die sich theoretisch oder praktisch hervorzutun dachten. Zimmermann vorzŸglich hatte diese Forderungen zur Sprache gebracht. Lavater in seiner "Physiognomik" mu§te notwendig auf eine allgemeinere Verteilung der Geistesgaben aller Art hinweisen; das Wort Genie ward eine allgemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hšrte, so dachte man auch, das, was es bedeuten sollte, sei gewšhnlich vorhanden. Da nun aber jedermann Genie von anderen zu fordern berechtigt war, so glaubte er es auch endlich selbst besitzen zu mŸssen. Es war noch lange hin bis zu der Zeit, wo ausgesprochen werden konnte: da§ Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche, durch Handeln und Tun, Gesetz und Regel gibt. Damals manifestierte sich's nur, indem es die vorhandenen Gesetze Ÿberschritt, die eingefŸhrten Regeln umwarf und sich fŸr grenzenlos erklŠrte. Daher war es leicht, genialisch zu sein,


und nichts natŸrlicher, als da§ der Mi§brauch in Wort und Tat alle geregelte Menschen aufrief, sich einem solchen Unwesen zu widersetzen.

Wenn einer zu Fu§e, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt lief, so hie§ dies eine Geniereise, und, wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm, ein Geniestreich. JŸngere lebhafte, oft wahrhaft begabte Menschen verloren sich ins Grenzenlose; Šltere VerstŠndige, vielleicht aber Talent- und Geistlose, wu§ten dann mit hšchster Schadenfreude ein gar mannigfaltiges Mi§lingen vor den Augen des Publikums lŠcherlich darzustellen.

Und so fand ich mich fast mehr gehindert, mich zu entwickeln und zu Šu§ern, durch falsche Mit- und Einwirkung der Sinnesverwandten, als durch den Widerstand der Entgegengesinnten. Worte, Beiworte, Phrasen zu Ungunsten der hšchsten Geistesgaben verbreiteten sich unter der geistlos nachsprechenden Menge dergestalt, da§ man sie noch jetzt im gemeinen Leben hie und da von Ungebildeten vernimmt, ja da§ sie sogar in die WšrterbŸcher eindrangen, und das Wort Genie eine solche Mi§deutung erlitt, aus der man die Notwendigkeit ableiten wollte, es gŠnzlich aus der deutschen Sprache zu verbannen.

Und so hŠtten sich die Deutschen, bei denen Ÿberhaupt das Gemeine weit mehr Ÿberhand zu nehmen Gelegenheit findet als bei anderen Nationen, um die schšnste BlŸte der Sprache, um das nur scheinbar fremde, aber allen Všlkern gleich angehšrige Wort vielleicht gebracht, wenn nicht der durch eine tiefere Philosophie wieder neu gegrŸndete Sinn fŸrs Hšchste und Beste sich wieder glŸcklich hergestellt hŠtte.

 

In dem Vorhergehenden ist von dem JŸnglingsalter zweier MŠnner die Rede gewesen, deren Andenken aus der deutschen Literatur- und Sittengeschichte sich nimmer verlieren wird. In gemeldeter Epoche jedoch lernen wir sie gewisserma§en nur aus ihren Irrschritten kennen, zu denen sie durch eine falsche Tagsmaxime in Gesellschaft ihrer gleichjŠhrigen


Zeitgenossen verleitet worden. Nunmehr aber ist nichts billiger, als da§ wir ihre natŸrliche Gestalt, ihr eigentliches Wesen geschŠtzt und geehrt vorfŸhren, wie solches eben damals in unmittelbarer Gegenwart von dem durchdringenden Lavater geschehen, deshalb wir denn, weil die schweren und teuren BŠnde des gro§en physiognomischen Werkes nur wenigen unsrer Leser gleich zur Hand sein mšchten, die merkwŸrdigen Stellen, welche sich auf beide beziehen, aus dem zweiten Teile gedachten Werkes, und dessen drei§igstem Fragmente, Seite 244, hier einzurŸcken kein Bedenken tragen.

"Die JŸnglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, sind die ersten Menschen, die mir zur physiognomischen Beschreibung sa§en und standen, wie, wer sich malen lŠ§t, dem Maler sitzt.

Ich kannte sie sonst, die edeln - und ich machte den ersten Versuch, nach der Natur und mit aller sonstigen Kenntnis, ihren Charakter zu beobachten und zu beschreiben. -

Hier ist die Beschreibung des ganzen Menschen. -

Erstlich des JŸngeren.

Siehe den blŸhenden JŸngling von 25 Jahren! das leichtschwebende, schwimmende, elastische Geschšpfe! Es liegt nicht; es steht nicht; es stemmt sich nicht; es fliegt nicht; es schwebt oder schwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um fest zu stehen; zu schwer und zu weich, um zu fliegen.

Ein schwebendes also, das die Erde nicht berŸhrt! In seinem ganzen Umrisse keine všllig schlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine gespannte, keine fest gewšlbte, hart gebogene; - kein eckichter Einschnitt; kein felsiges VorgebŸrge der Stirn; keine HŠrte, keine Steifigkeit; keine zŸrnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein eiserner Mut - elastisch reizbarer wohl, aber kein eiserner; kein fester, forschender Tiefsinn; keine langsame †berlegung, oder kluge BedŠchtlichkeit; nirgends der Raisonneur mit der festgehaltenen Waagschale in der einen, dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die mindeste Steifheit im Blicke


und Urteile! und doch die všlligste Geradheit des Verstandes, oder vielmehr der unbefleckteste Wahrheitssinn! Immer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie der prŸfende Entwickler der so schnellerblickten, schnellerkannten, schnellgeliebten, schnellergriffenen Wahrheit .... Ewiger Schweber; Seher; Idealisierer; Verschšnerer. Gestalter aller seiner Ideen! Immer halbtrunkener Dichter, der sieht, was er sehen will; - nicht der trŸbsinnig schmachtende - nicht der hartzermalmende; - aber der hohe, edle, gewaltige! der mit gemŠ§igtem 'Sonnendurst' in den Regionen der Luft hin und her wallt, Ÿber sich strebt, und wieder - nicht zur Erde sinkt! zur Erde sich stŸrzt, in des 'Felsenstromes' Fluten sich taucht und sich wiegt 'im Donner der hallenden Felsen umher' - Sein Blick nicht Flammenblick des Adlers! Seine Stirn und Nase nicht Mut des Lšwen! seine Brust - nicht Festigkeit des Streit wiehernden Pferdes! Im ganzen aber viel von der schwebenden Gelenksamkeit des Elefanten ...

Die Aufgezogenheit seiner vorragenden Oberlippe gegen die unbeschnittene, uneckige, vorhŠngende Nase zeigt, bei dieser Beschlossenheit des Mundes, viel Geschmack und feine Empfindsamkeit; der untere Teil des Gesichtes viel Sinnlichkeit, TrŠgheit, Achtlosigkeit. Der ganze Umri§ des Halbgesichtes Offenheit, Redlichkeit, Menschlichkeit, aber zugleich leichte VerfŸhrbarkeit und einen hohen Grad von gutherziger Unbedachtsamkeit, die niemanden als ihm selber schadet. Die Mittellinie des Mundes ist in seiner Ruhe eines geraden, planlosen, weichgeschaffenen, guten; in seiner Bewegung eines zŠrtlichen, feinfŸhlenden, Šu§erst reizbaren, gŸtigen, edlen Menschen. Im Bogen der Augenlider und im Glanze der Augen sitzt nicht Homer, aber der tiefste, innigste, schnelleste Empfinder, Ergreifer Homers; nicht der epische, aber der Odendichter; Genie, das quillt, umschafft, veredelt, bildet, schwebt, alles in Heldengestalt zaubert, alles vergattlicht. - Die halbsichtbaren Augenlider, von einem solchen Bogen, sind immer mehr feinfŸhlender Dich-


ter, als nach Plan schaffender, als langsam arbeitender KŸnstler; mehr der verliebten, als der strengen. - Das ganze Angesicht des JŸnglings ist viel einnehmender und anziehender, als das um etwas zu lockere, zu gedehnte Halbgesicht; das Vordergesicht zeugt bei der geringsten Bewegung von empfindsamer, sorgfŠltiger, erfindender, ungelernter, innerer GŸte, und sanft zitternder, Unrecht verabscheuender, freiheitdŸrstender Lebendigkeit. Es kann nicht den geringsten Eindruck von den vielen verbergen, die es auf einmal, die es unaufhšrlich empfŠngt. - Jeder Gegenstand, der ein nahes VerhŠltnis zu ihm hat, treibt das GeblŸt in die Wangen und Nase; die jungfrŠulichste Schamhaftigkeit in dem Punkte der Ehre verbreitet sich mit der Schnelle des Blitzes Ÿber die zart bewegliche Haut. -

Die Gesichtsfarbe, sie ist nicht die blasse des alles erschaffenden und alles verzehrenden Genius; nicht die wildglŸhende des verachtenden Vertreters; nicht die milchwei§e des Blšden, nicht die gelbe des Harten und ZŠhen; nicht die brŠunliche des langsam flei§igen Arbeiters; aber die wei§rštlichte, violette, so sprechend und so untereinander wallend, so glŸcklich gemischt, wie die StŠrke und SchwŠche des ganzen Charakters. - Die Seele des Ganzen und eines jeden besonderen Zuges ist Freiheit, ist elastische Betriebsamkeit, die leicht fortstš§t und leicht zurŸckgesto§en wird. Gro§mut und aufrichtige Heiterkeit leuchten aus dem ganzen Vordergesichte und der Stellung des Kopfes. - Unverderblichkeit der Empfindung, Feinheit des Geschmacks, Reinheit des Geistes, GŸte und Adel der Seele, betriebsame Kraft, GefŸhl von Kraft und SchwŠche scheinen so alldurchdringend im ganzen Gesichte durch, da§ das sonst mutige SelbstgefŸhl sich dadurch in edle Bescheidenheit auflšst, und der natŸrliche Stolz und die JŸnglingseitelkeit sich ohne Zwang und Kunst in diesem herrlich spielenden All liebenswŸrdig verdŠmmert. - Das wei§liche Haar, die LŠnge und Unbehaglichkeit der Gestalt, die sanfte Leichtigkeit des Auftritts, das Hin- und Herschweben des Ganges, die FlŠche der Brust,


die wei§e faltenlose Stirn, und noch verschiedene andere AusdrŸcke verbreiten Ÿber den ganzen Menschen eine gewisse Weiblichkeit, wodurch die innere Schnellkraft gemŠ§igt, und dem Herzen jede vorsŠtzliche Beleidigung und NiedertrŠchtigkeit ewig unmšglich gemacht, zugleich aber auch offenbar wird, da§ der mutund feuervolle Poet, mit allem seinem unaffektierten Durste nach Freiheit und Befreiung, nicht bestimmt ist, fŸr sich allein ein fester, Plan durchsetzender, ausharrender GeschŠftsmann, oder in der blutigen Schlacht unsterblich zu werden. Und nun erst am Ende merk' ich, da§ ich von dem Auffallendsten noch nichts gesagt; nichts von der edlen, von aller Affektation reinen SimplizitŠt! Nichts von der Kindheit des Herzens! Nichts von dem gŠnzlichen NichtgefŸhle seines Šu§erlichen Adels! Nichts von der unaussprechlichen Bonhomie, mit welcher er Warnung und Tadel, sogar VorwŸrfe und Unrecht, annimmt und duldet. -

Doch, wer will ein Ende finden, von einem guten Menschen, in dem so viele reine Menschheit ist, alles zu sagen, was an ihm wahrgenommen oder empfunden wird!

Beschreibung des €lteren:

Was ich von dem jŸngern Bruder gesagt - wie viel davon kann auch von diesem gesagt werden! Das Vornehmste, das ich anmerken kann, ist dies: Diese Figur und dieser Charakter sind mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles lŠnger und flŠcher, hier alles kŸrzer, breiter, gewšlbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beschnittener. So die Stirn; so die Nase; so die Brust; zusammengedrŠngter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft und Lebendigkeit! Sonst dieselbe LiebenswŸrdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Offenheit; mehr Verschlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der Tat, eben dieselbe Ehrlichkeit. Derselbe unbezwingbare Abscheu gegen Unrecht und Bosheit; dieselbe Unversšhnlichkeit mit allem, was RŠnk' und TŸcke hei§t; dieselbe Unerbittlich-


keit gegen Tyrannei und Despotisme; dasselbe reine, unbestechliche GefŸhl fŸr alles Edle, Gute, Gro§e; dasselbe BedŸrfnis der Freundschaft und Freiheit, dieselbe Empfindsamkeit und edle Ruhmbegierde; dieselbe Allgemeinheit des Herzens fŸr alle gute, weise, einfŠltige, kraftvolle, berŸhmte oder unberŸhmte, gekannte oder mi§kannte Menschen; - und - dieselbe leichtsinnige Unbedachtsamkeit. Nein! nicht gerade dieselbe. Das Gesicht ist beschnittener, angezogener, fester; hat mehr innere, sich leicht entwickelnde Geschicklichkeit zu GeschŠften und praktischen Beratschlagungen; mehr durchsetzenden Mut, der sich besonders in den stark vordringenden, stumpf abgerundeten Knochen der Augen zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe DichtergefŸhl; nicht die schnelle Leichtigkeit der produktiven Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, innig. Nicht das luftige, in morgenrštlichem Himmel dahin schwebende, Gestalten bildende Lichtgenie. Mehr innere Kraft, vielleicht weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar - weniger prŠchtig und rund; obgleich seinem Pinsel weder FŠrbung noch Zauber fehlt. - Mehr Witz und rasende Laune; drollichter Satyr; Stirn, Nase, Blick - alles so herab, so vorhŠngend; recht entscheidend fŸr originellen, allbelebenden Witz, der nicht von au§enher einsammelt, sondern von innen herauswirft. †berhaupt ist alles an diesem Charakter vordringender, eckiger, angreifender, stŸrmender! - Nirgends Plattheit, nirgends Erschlaffung, ausgenommen im zusinkenden Auge, wo Wollust, wie in Stirn und Nase - hervorspringt. Sonst selbst in dieser Stirne, dieser GedrŠngtheit von allem - diesem Blick sogar - untrŸgbarer Ausdruck von ungelernter Grš§e; StŠrke, Drang der Menschheit; StŠndigkeit, Einfachheit, Bestimmtheit!" -

 

Nachdem ich sodann in Darmstadt Mercken seinen Triumph gšnnen mŸssen, da§ er die baldige Trennung von der fršhlichen Gesellschaft vorausgesagt hatte, fand ich mich wieder in Frankfurt, wohl empfangen von jedermann, auch


von meinem Vater, ob dieser gleich seine Mi§billigung, da§ ich nicht nach Airolo hinabgestiegen, ihm meine Ankunft in Mailand gemeldet habe, zwar nicht ausdrŸcklich aber stillschweigend merken lie§, besonders auch keine Teilnahme an jenen wilden Felsen, Nebelseen und Drachennestern im mindesten beweisen konnte. Nicht im Gegensatz, aber gelegentlich, lie§ er doch merken, was denn eigentlich an allem dem zu haben sei; wer Neapel nicht gesehn, habe nicht gelebt.

Ich vermied nicht und konnte nicht vermeiden, Lili zu sehen; es war ein schonender zarter Zustand zwischen uns beiden. Ich war unterrichtet, man habe sie in meiner Abwesenheit všllig Ÿberzeugt, sie mŸsse sich von mir trennen, und dieses sei um so notwendiger, ja tunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkŸrliche Abwesenheit mich genugsam selbst erklŠrt habe. Dieselben LokalitŠten jedoch in Stadt und auf dem Land, dieselben Personen, mit allem Bisherigen vertraut, lie§en denn doch kaum die beiden noch immer Liebenden, obgleich auf eine wundersame Weise auseinander Gezogenen, ohne BerŸhrung. Es war ein verwŸnschter Zustand, der sich in einem gewissen Sinne dem Hades, dem Zusammensein jener glŸcklich-unglŸcklichen Abgeschiedenen, verglich.

Es waren Augenblicke, wo die vergangenen Tage sich wieder herzustellen schienen, aber gleich, wie wetterleuchtende Gespenster, verschwanden.

Wohlwollende hatten mir vertraut, Lili habe geŠu§ert, indem alle die Hindernisse unsrer Verbindung ihr vorgetragen worden: sie unternehme wohl aus Neigung zu mir alle dermaligen ZustŠnde und VerhŠltnisse aufzugeben und mit nach Amerika zu gehen. Amerika war damals vielleicht noch mehr als jetzt das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrŠngt fanden.

Aber eben das, was meine Hoffnungen hŠtte beleben sollen, drŸckte sie nieder. Mein schšnes vŠterliches Haus, nur wenig hundert Schritte von dem ihrigen, war doch immer ein leidlicher zu gewinnender Zustand, als die Ÿber das Meer


entfernte ungewisse Umgebung; aber ich leugne nicht, in ihrer Gegenwart traten alle Hoffnungen, alle WŸnsche wieder hervor, und neue Unsicherheiten bewegten sich in mir.

Freilich sehr verbietend und bestimmt waren die Gebote meiner Schwester; sie hatte mir mit allem verstŠndigem GefŸhl, dessen sie fŠhig war, die Lage nicht nur ins klare gesetzt, sondern ihre wahrhaft schmerzlich mŠchtigen Briefe verfolgten immer mit krŠftigerer AusfŸhrung denselbigen Text. "Gut," sagte sie, "wenn ihr's nicht vermeiden kšnntet, so mŸ§tet ihr's ertragen; dergleichen mu§ man dulden, aber nicht wŠhlen." Einige Monate gingen hin in dieser unseligsten aller Lagen; alle Umgebungen hatten sich gegen diese Verbindung gestimmt; in ihr allein, glaubt' ich, wu§t' ich, lag eine Kraft, die das alles ŸberwŠltigt hŠtte.

Beide Liebende, sich ihres Zustandes bewu§t, vermieden, sich allein zu begegnen; aber herkšmmlicherweise konnte man nicht umgehen, sich in Gesellschaft zu finden. Da war mir denn die stŠrkste PrŸfung auferlegt, wie eine edel fŸhlende Seele einstimmen wird, wenn ich mich nŠher erklŠre.

Gestehen wir im allgemeinen, da§ bei einer neuen Bekanntschaft, einer neu sich anknŸpfenden Neigung Ÿber das Vorhergegangene der Liebende gern einen Schleier zieht; die Neigung kŸmmert sich um keine Antezedentien, und wie sie blitzschnell genialisch hervortritt, so mag sie weder von Vergangenheit noch Zukunft wissen. Zwar hatte sich meine nŠhere Vertraulichkeit zu Lili gerade dadurch eingeleitet, da§ sie mir von ihrer frŸhern Jugend erzŠhlte: wie sie von Kind auf durchaus manche Neigung und AnhŠnglichkeit, besonders auch in fremden ihr lebhaftes Haus Besuchenden, erregt und sich daran ergštzt habe, obgleich ohne weitere Folge und VerknŸpfung.

Wahrhaft Liebende betrachten alles, was sie bisher empfunden, nur als Vorbereitung zu ihrem gegenwŠrtigen GlŸck, nur als Base, worauf sich erst ihr LebensgebŠude erheben soll. Vergangene Neigungen erscheinen wie Nachtgespenster, die sich vor dem anbrechenden Tage wegschleichen.


Aber was ereignete sich! Die Messe kam, und so erschien der Schwarm jener Gespenster in ihrer Wirklichkeit; alle Handelsfreunde des bedeutenden Hauses kamen nach und nach heran, und es offenbarte sich schnell, da§ keiner einen gewissen Anteil an der liebenswŸrdigen Tochter všllig aufgeben wollte noch konnte. Die JŸngeren, ohne zudringlich zu sein, erschienen doch als Wohlbekannte, die Mittleren, mit einem gewissen verbindlichen Anstand, wie solche, die sich beliebt machen und allenfalls mit hšheren AnsprŸchen hervortreten mšchten. Es waren schšne MŠnner darunter, mit dem Behagen eines grŸndlichen Wohlstandes.

Nun aber die alten Herren waren ganz unertrŠglich mit ihren Onkelsmanieren, die ihre HŠnde nicht im Zaum hielten, und bei widerwŠrtigem TŠtscheln sogar einen Ku§ verlangten, welchem die Wange nicht versagt wurde; ihr war so natŸrlich, dem allen anstŠndig zu genŸgen. Allein auch die GesprŠche erregten manches bedenkliche Erinnern. Von jenen Lustfahrten wurde gesprochen zu Wasser und zu Lande, von mancherlei FŠhrlichkeiten mit heiterem Ausgang, von BŠllen und Abendpromenaden, von Verspottung lŠcherlicher Werber, und was nur eifersŸchtiger €rger in dem Herzen des trostlos Liebenden aufregen konnte, der gleichsam das Fazit so vieler Jahre auf eine Zeitlang an sich gerissen hatte. Aber unter diesem Zudrang, in dieser Bewegung, versŠumte sie den Freund nicht, und wenn sie sich zu ihm wendete, so wu§te sie mit wenigem das Zarteste zu Šu§ern, was der gegenseitigen Lage všllig geeignet schien.

Doch! Wenden wir uns von dieser noch in der Erinnerung beinahe unertrŠglichen Qual zur Poesie, wodurch einige geistreich herzliche Linderung in den Zustand eingeleitet wurde.

"Lilis Park" mag ohngefŠhr in diese Epoche gehšren; ich fŸge das Gedicht hier nicht ein, weil es jenen zarten empfindlichen Zustand nicht ausdrŸckt, sondern nur, mit genialer Heftigkeit, das WiderwŠrtige zu erhšhen und durch komisch Šrgerliche Bilder das Entsagen in Verzweiflung umzuwandeln trachtet.


Nachstehendes Lied drŸckt eher die Anmut jenes UnglŸcks aus, und sei deshalb hier eingeschaltet:

Ihr verblŸhet, sŸ§e Rosen,

Meine Liebe trug euch nicht;

BlŸhtet, ach, dem Hoffnungslosen,

Dem der Gram die Seele bricht!

 

Jener Tage denk' ich trauernd,

Als ich, Engel, an dir hing,

Auf das erste Knšspchen lauernd

FrŸh zu meinem Garten ging.

 

Alle BlŸten, alle FrŸchte

Noch zu deinen F٤en trug,

Und vor deinem Angesichte

Hoffnung in dem Herzen schlug.

 

Ihr verblŸhet, sŸ§e Rosen,

Meine Liebe trug euch nicht;

BlŸhtet, ach, dem Hoffnungslosen,

Dem der Gram die Seele bricht!

Die Oper "Erwin und Elmire" war aus Goldsmiths liebenswŸrdiger, im "Landprediger von Wakefield" eingefŸgter Romanze entstanden, die uns in den besten Zeiten vergnŸgt hatte, wo wir nicht ahneten, da§ uns etwas €hnliches bevorstehe.

Schon frŸher hab ich einige poetische Erzeugnisse jener Epoche eingeschaltet, und wŸnschte nur, es hŠtten sich alle zusammen erhalten. Eine fortwŠhrende Aufregung in glŸcklicher Liebeszeit, gesteigert durch eintretende Sorge, gab Anla§ zu Liedern, die durchaus nichts †berspanntes, sondern immer das GefŸhl des Augenblicks aussprachen. Von geselligen Festliedern bis zur kleinsten Geschenksgabe, alles war lebendig, mitgefŸhlt von einer gebildeten Gesellschaft; erst froh, dann schmerzlich, und zuletzt kein Gipfel des GlŸcks, kein Abgrund des Wehes, dem nicht ein Laut wŠre gewidmet gewesen.


Alle diese innern und Šu§ern Ereignisse, insofern sie meinen Vater hŠtten unangenehm berŸhren kšnnen, welcher jene erste ihm anmutig zusagende Schwiegertochter immer weniger hoffen konnte in sein Haus eingefŸhrt zu sehen, wu§te meine Mutter auf das klŸgste und tŠtigste abzuwenden. Diese Staatsdame aber, wie er sie im Vertrauen gegen seine Gattin zu nennen pflegte, wollte ihn keineswegs anmuten.

Indessen lie§ er dem Handel seinen Gang und setzte seine kleine Kanzlei recht emsig fort. Der junge Rechtsfreund, sowie der gewandte Schreiber gewannen unter seiner Firma immer mehr Ausdehnung des Bodens. Da nun, wie bekannt, der Abwesende nicht vermi§t wird, so gšnnten sie mir meine Pfade, und suchten sich immer mehr auf einem Boden festzusetzen, auf dem ich nicht gedeihen sollte.

GlŸcklicherweise trafen meine Richtungen mit des Vaters Gesinnungen und WŸnschen zusammen. Er hatte einen so gro§en Begriff von meinem dichterischen Talent, so viel eigene Freude an der Gunst, die meine ersten Arbeiten erworben hatten, da§ er mich oft unterhielt Ÿber Neues und fernerhin Vorzunehmendes. Hingegen von diesen geselligen Scherzen, leidenschaftlichen Dichtungen durft ich ihn nichts merken lassen.

Nachdem ich im "Gštz von Berlichingen" das Symbol einer bedeutenden Weltepoche nach meiner Art abgespiegelt hatte, sah ich mich nach einem Šhnlichen Wendepunkt der Staatengeschichte sorgfŠltig um. Der Aufstand der Niederlande gewann meine Aufmerksamkeit; in "Gštz" war es ein tŸchtiger Mann, der untergeht in dem Wahn: zu Zeiten der Anarchie sei der wohlwollende KrŠftige von einiger Bedeutung. Im "Egmont" waren es festgegrŸndete ZustŠnde, die sich vor strenger, gut berechneter Despotie nicht halten kšnnen. Meinen Vater hatte ich davon auf das lebhafteste unterhalten, was zu tun sei, was ich tun wolle, da§ ihm dies so unŸberwindliches Verlangen gab, dieses in meinem Kopf schon fertige StŸck auf dem Papiere, es gedruckt, es bewundert zu sehen.


Hatt ich in den frŸhern Zeiten, da ich noch hoffte, Lili mir zuzueignen, meine ganze TŠtigkeit auf Einsicht und AusŸbung bŸrgerlicher GeschŠfte gewendet, so traf es gerade jetzt, da§ ich die fŸrchterliche LŸcke, die mich von ihr trennte, durch Geistreiches und Seelenvolles auszufŸllen hatte. Ich fing also wirklich "Egmont" zu schreiben an, und zwar nicht wie den ersten "Gštz von Berlichingen" in Reih und Folge, sondern ich griff nach der ersten Einleitung gleich die Hauptszenen an, ohne mich um die allenfallsigen Verbindungen zu bekŸmmern. Damit gelangte ich weit, indem ich bei meiner lŠ§lichen Art zu arbeiten von meinem Vater, es ist nicht Ÿbertrieben, Tag und Nacht angespornt wurde, da er das so leicht Entstehende auch leicht vollendet zu sehen glaubte.


 

Zwanzigstes Buch

 

So fuhr ich denn am "Egmont" zu arbeiten fort, und wenn dadurch in meinen leidenschaftlichen Zustand einige Beschwichtigung eintrat, so half mir auch die Gegenwart eines wackern KŸnstlers Ÿber manche bšse Stunden hinweg, und ich verdankte hier, wie schon so oft, einem unsichern Streben nach praktischer Ausbildung einen heimlichen Frieden der Seele, in Tagen, wo er sonst nicht wŠre zu hoffen gewesen.

Georg Melchior Kraus, in Frankfurt geboren, in Paris gebildet, kam eben von einer kleinen Reise ins nšrdliche Deutschland zurŸck, er suchte mich auf, und ich fŸhlte sogleich Trieb und BedŸrfnis, mich ihm anzuschlie§en. Er war ein heiterer Lebemann, dessen leichtes erfreuliches Talent in Paris die rechte Schule gefunden hatte.

FŸr den Deutschen gab es zu jener Zeit daselbst ein angenehmes Unterkommen; Philipp Hackert lebte dort in gutem Ansehen und Wohlstand; das treue deutsche Verfahren, womit er Landschaften nach der Natur zeichnend in Gouache- und …lfarbe glŸcklich ausfŸhrte, war als Gegensatz einer praktischen Manier, der sich die Franzosen hingegeben hatten, sehr willkommen. Wille, hochgeehrt als Kupferstecher, gab dem deutschen Verdienste Grund und Boden; Grimm, schon einflu§reich, nŸtzte seinen Landsleuten nicht wenig. Angenehme Fu§reisen, um unmittelbar nach der Natur zu zeichnen, wurden unternommen und so manches Gute geleistet und vorbereitet.

Boucher und Watteau, zwei wahrhaft geborene KŸnstler, deren Werke, wenn schon verflatternd im Geist und Sinn der Zeit, doch immer noch hšchst respektabel gefunden werden, waren der neuen Erscheinung geneigt, und selbst, obgleich nur zu Scherz und Versuch, tŠtig eingreifend. Greuze, im


Familienkreise still fŸr sich hinlebend, dergleichen bŸrgerliche Szenen gerne darstellend, von seinen eigenen Werken entzŸckt, erfreute sich eines ehrenhaften leichten Pinsels.

Alles dergleichen konnte unser Kraus in sein Talent gar wohl aufnehmen; er bildete sich an der Gesellschaft zur Gesellschaft und wu§te gar zierlich hŠusliche freundschaftliche Vereine portrŠtmŠ§ig darzustellen; nicht weniger glŸckten ihm landschaftliche Zeichnungen, die sich durch reinliche Umrisse, massenhafte Tusche, angenehmes Kolorit dem Auge freundlich empfahlen; dem innern Sinn genŸgte eine gewisse naive Wahrheit, und besonders dem Kunstfreund sein Geschick: alles, was er selbst nach der Natur zeichnete, sogleich zum Tableau einzuleiten und einzurichten.

Er selbst war der angenehmste Gesellschafter: gleichmŸtige Heiterkeit begleitete ihn durchaus; dienstfertig ohne Demut, gehalten ohne Stolz, fand er sich Ÿberall zu Hause, Ÿberall beliebt, der tŠtigste und zugleich der bequemste aller Sterblichen. Mit solchem Talent und Charakter begabt, empfahl er sich gar bald in hšhern Kreisen und war besonders in dem freiherrlichen von Steinischen Schlosse zu Nassau an der Lahn wohlaufgenommen, eine talentvolle, hšchst liebenswŸrdige Tochter in ihrem kŸnstlerischen Bestreben unterstŸtzend und zugleich die Geselligkeit auf mancherlei Weise belebend.

Nach Verheiratung dieser vorzŸglichen jungen Dame an den Grafen von Werthern nahm das neue Ehepaar den KŸnstler mit auf ihre bedeutenden GŸter in ThŸringen, und so gelangte er auch nach Weimar; hier ward er bekannt, anerkannt und von dem dasigen hochgebildeten Kreise sein Bleiben gewŸnscht.

Wie er nun Ÿberall zutŠtig war, so fšrderte er bei seiner nunmehrigen RŸckkehr nach Frankfurt meine bisher nur sammelnde Kunstliebe zu praktischer †bung. Dem Dilettanten ist die NŠhe des KŸnstlers unerlŠ§lich, denn er sieht in diesem das Komplement seines eigenen Daseins, die WŸnsche des Liebhabers erfŸllen sich im Artisten.


Durch eine gewisse Naturanlage und †bung gelang mir wohl ein Umri§; auch gestaltete sich leicht zum Bilde, was ich in der Natur vor mir sah; allein es fehlte mir die eigentliche plastische Kraft, das tŸchtige Bestreben, dem Umri§ Kšrper zu verleihen, durch wohlabgestuftes Hell und Dunkel. Meine Nachbildungen waren mehr ferne Ahnungen irgend einer Gestalt, und meine Figuren glichen den leichten Luftwesen in Dantes Purgatorio, die, keine Schatten werfend, vor dem Schatten wirklicher Kšrper sich entsetzen.

Durch Lavaters physiognomische Hetzerei - denn so darf man die ungestŸme Anregung wohl nennen, womit er alle Menschen nicht allein zur Kontemplation der Physiognomien, sondern auch zur kŸnstlerischen oder pfuscherhaften praktischen Nachbildung der Gesichtsformen zu nštigen bemŸht war - hatte ich mir eine †bung verschafft, die PortrŠte von Freunden auf grau Papier mit schwarzer und wei§er Kreide darzustellen. Die €hnlichkeit war nicht zu verkennen, aber es bedurfte die Hand meines kŸnstlerischen Freundes, um sie aus dem dŸstern Grunde hervortreten zu machen. Beim DurchblŠttern und Durchschauen der reichlichen Portefeuilles, welche der gute Kraus von seinen Reisen mitgebracht hatte, war die liebste Unterhaltung, wenn er landschaftliche oder persšnliche Darstellungen vorlegte, der weimarische Kreis und dessen Umgebung. Auch ich verweilte sehr gerne dabei, weil es dem JŸngling schmeicheln mu§te, so viele Bilder nur als Text zu betrachten von einer umstŠndlichen wiederholten AusfŸhrung: da§ man mich dort zu sehen wŸnsche. Gar anmutig wu§te er seine GrŸ§e, seine Einladungen durch nachgebildete Persšnlichkeit zu beleben. Ein wohlgelungenes …lbild stellte den Kapellmeister Wolf am FlŸgel und seine Frau hinter ihm zum Singen sich bereitend vor; der KŸnstler selbst wu§te zugleich gar dringend auszulegen, wie freundlich dieses werte Paar mich empfangen wŸrde. Unter seinen Zeichnungen fanden sich mehrere, bezŸglich auf die Wald- und Berggegend um BŸrgel. Ein wackerer Forstmann hatte daselbst, vielleicht mehr


seinen anmutigen Tšchtern als sich selbst zu Liebe, rauhgestaltete Felspartien, GebŸsch und Waldstrecken durch BrŸcken, GelŠnder und sanfte Pfade gesellig wandelbar gemacht; man sah die Frauenzimmer in wei§en Kleidern auf anmutigen Wegen, nicht ohne Begleitung. An dem einen jungen Manne sollte man Bertuch erkennen, dessen ernste Absichten auf die €lteste nicht geleugnet wurden, und Kraus nahm nicht Ÿbel, wenn man einen zweiten jungen Mann auf ihn und seine aufkeimende Neigung fŸr die Schwester zu beziehen wagte.

Bertuch, als Zšgling Wielands, hatte sich in Kenntnissen und TŠtigkeit dergestalt hervorgetan, da§ er, als GeheimsekretŠr des Herzogs schon angestellt, das Allerbeste fŸr die Zukunft erwarten lie§. Von Wielands Rechtlichkeit, Heiterkeit, GutmŸtigkeit war durchaus die Rede; auf seine schšnen literarischen und poetischen VorsŠtze ward schon ausfŸhrlich hingedeutet und die Wirkung des "Merkur" durch Deutschland besprochen; gar manche Namen in literarischer, staatsgeschŠftlicher und geselliger Hinsicht hervorgehoben, und in solchem Sinne MusŠus, Kirms, Berendis und Ludecus genannt. Von Frauen war Wolfs Gattin und eine Witwe Kotzebue, mit einer liebenswŸrdigen Tochter und einem heitern Knaben, nebst manchen andern rŸhmlich und charakteristisch bezeichnet. Alles deutete auf ein frisch tŠtiges literarisches und KŸnstlerleben.

Und so schilderte sich nach und nach das Element, worauf der junge Herzog nach seiner RŸckkehr wirken sollte; einen solchen Zustand hatte die Frau ObervormŸnderin vorbereitet; was aber die AusfŸhrung wichtiger GeschŠfte betraf, war, wie es unter solchen provisorischen Verwaltungen Pflicht ist, der †berzeugung, der Tatkraft des kŸnftigen Regenten Ÿberlassen. Die durch den Schlo§brand gewirkten greulichen Ruinen betrachtete man schon als Anla§ zu neuen TŠtigkeiten. Das in Stocken geratene Bergwerk zu Ilmenau, dem man durch kostspielige Unterhaltung des tiefen Stollens eine mšgliche Wiederaufnahme zu sichern gewu§t,


die Akademie Jena, die hinter dem Zeitsinn einigerma§en zurŸckgeblieben und mit dem Verlust gerade sehr tŸchtiger Lehrer bedroht war, wie so vieles andere, regte einen edlen Gemeinsinn auf. Man blickte nach Persšnlichkeiten umher, die in dem aufstrebenden Deutschland so mannigfaches Gute zu fšrdern berufen sein kšnnten, und so zeigte sich durchaus eine frische Aussicht, wie eine krŠftige und lebhafte Jugend sie nur wŸnschen konnte. Und schien es traurig zu sein, eine junge FŸrstin ohne die WŸrde eines schicklichen GebŠudes in eine sehr mŠ§ige zu ganz andern Zwecken erbaute Wohnung einzuladen, so gaben die schšn gelegenen wohleingerichteten LandhŠuser, Ettersburg, Belvedere und andere vorteilhafte Lustsitze, Genu§ des GegenwŠrtigen und Hoffnung, auch in diesem damals zur Notwendigkeit gewordenen Naturleben sich produktiv und angenehm tŠtig zu erweisen.

Man hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umstŠndlich gesehen, wie das Kind, der Knabe, der JŸngling sich auf verschiedenen Wegen dem †bersinnlichen zu nŠhern gesucht, erst mit Neigung nach einer natŸrlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen, ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen KrŠfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben. Als er in den ZwischenrŠumen dieser Regionen hin und wider wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehšren mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehn, da§ es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfa§lichen abzuwenden.

Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in WidersprŸchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefa§t werden kšnnte. Es war nicht gšttlich, denn es schien unvernŸnftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltŠtig, nicht englisch, denn es lie§ oft


Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es Šhnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien fŸr dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkŸrlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmšglichen schien es sich zu gefallen und das Mšgliche mit Verachtung von sich zu sto§en.

Dieses Wesen, das zwischen alle Ÿbrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dŠmonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas €hnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flŸchtete.

Unter die einzelnen Teile der Weltgeschichte, die ich sorgfŠltiger studierte, gehšrten auch die Ereignisse, welche die nachher vereinigten Niederlande so berŸhmt gemacht. Ich hatte die Quellen flei§ig erforscht und mich mšglichst unmittelbar zu unterrichten und mir alles lebendig zu vergegenwŠrtigen gesucht. Hšchst dramatisch waren mir die Situationen erschienen und als Hauptfigur, um welche sich die Ÿbrigen am glŸcklichsten versammeln lie§en, war mir Graf Egmont aufgefallen, dessen menschlich ritterliche Grš§e mir am meisten behagte.

Allein zu meinem Gebrauche mu§te ich ihn in einen solchen Charakter umwandeln, der solche Eigenschaften besa§, die einen JŸngling besser zieren als einen Mann in Jahren, einen Unbeweibten besser als einen Hausvater, einen UnabhŠngigen mehr als einen, der, noch so frei gesinnt, durch mancherlei VerhŠltnisse begrenzt ist.

Als ich ihn nun so in meinen Gedanken verjŸngt und von allen Bedingungen losgebunden hatte, gab ich ihm die ungeme§ne Lebenslust, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst, die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehn (attrattiva) und so die Gunst des Volks, die stille Neigung einer FŸrstin, die ausgesprochene eines NaturmŠdchens, die Teil-


nahme eines Staatsklugen zu gewinnen, ja selbst den Sohn seines grš§ten Widersachers fŸr sich einzunehmen.

Die persšnliche Tapferkeit, die den Helden auszeichnet, ist die Base, auf der sein ganzes Wesen ruht, der Grund und Boden, aus dem es hervorspro§t. Er kennt keine Gefahr, und verblendet sich Ÿber die grš§te, die sich ihm nŠhert. Durch Feinde, die uns umzingeln, schlagen wir uns allenfalls durch; die Netze der Staatsklugheit sind schwerer zu durchbrechen. Das DŠmonische, was von beiden Seiten im Spiel ist, in welchem Konflikt das LiebenswŸrdige untergeht und das Geha§te triumphiert, sodann die Aussicht, da§ hieraus ein Drittes hervorgehe, das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde, dieses ist es wohl, was dem StŸcke, freilich nicht gleich bei seiner Erscheinung, aber doch spŠter und zur rechten Zeit, die Gunst verschafft hat, deren es noch jetzt genie§t. Und so will ich denn auch hier, um mancher geliebten Leser willen, mir selbst vorgreifen und, weil ich nicht wei§, ob ich so bald wieder zur Rede gelange, etwas aussprechen, wovon ich mich erst viel spŠter Ÿberzeugte.

Obgleich jenes DŠmonische sich in allem Kšrperlichen und Unkšrperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwŸrdigste ausspricht; so steht es vorzŸglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so da§ man die eine fŸr den Zettel, die andere fŸr den Einschlag kšnnte gelten lassen.

FŸr die PhŠnomene, welche hiedurch hervorgebracht werden, gibt es unzŠhlige Namen: denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses RŠtsel zu lšsen und die Sache schlie§lich abzutun gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe.

Am furchtbarsten aber erscheint dieses DŠmonische, wenn es in irgend einem Menschen Ÿberwiegend hervortritt. WŠhrend meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der NŠhe, teils in der Ferne beobachten kšnnen. Es sind nicht


immer die vorzŸglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch HerzensgŸte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie Ÿben eine unglaubliche Gewalt Ÿber alle Geschšpfe, ja sogar Ÿber die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen KrŠfte vermšgen nichts gegen sie; vergebens, da§ der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als BetrŸger verdŠchtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu Ÿberwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein: ÒNemo contra deum nisi deus ipse.Ó

Von diesen hšheren Betrachtungen kehre ich wieder in mein kleines Leben zurŸck, dem aber doch auch seltsame Ereignisse, wenigstens mit einem dŠmonischen Schein bekleidet, bevorstanden. Ich war von dem Gipfel des Gotthard, Italien den RŸcken wendend, nach Hause gekehrt, weil ich Lili nicht entbehren konnte. Eine Neigung, die auf die Hoffnung eines wechselseitigen Besitzes, eines dauernden Zusammenlebens gegrŸndet ist, stirbt nicht auf einmal ab, ja sie nŠhrt sich an der Betrachtung rechtmŠ§iger WŸnsche und redlicher Hoffnungen, die man hegt.

Es liegt in der Natur der Sache, da§ sich in solchen FŠllen das MŠdchen eher bescheidet als der JŸngling. Als Abkšmmlingen Pandorens ist den schšnen Kindern die wŸnschenswerte Gabe verliehen, anzureizen, anzulocken und mehr durch Natur mit Halbvorsatz, als durch Neigung, ja mit Frevel um sich zu versammeln, wobei sie denn oft in Gefahr kommen, wie jener Zauberlehrling, vor dem Schwall der Verehrer zu erschrecken. Und dann soll zuletzt denn doch hier gewŠhlt sein, einer soll ausschlie§lich vorgezogen werden, einer die Braut nach Hause fŸhren.

Und wie zufŠllig ist es, was hier der Wahl eine Richtung gibt, die AuswŠhlende bestimmt! Ich hatte auf Lili mit †ber-


zeugung Verzicht getan, aber die Liebe machte mir diese †berzeugung verdŠchtig. Lili hatte in gleichem Sinne von mir Abschied genommen, und ich hatte die schšne zerstreuende Reise angetreten; aber sie bewirkte gerade das Umgekehrte.

Solange ich abwesend war, glaubte ich an die Trennung, glaubte nicht an die Scheidung. Alle Erinnerungen, Hoffnungen und WŸnsche hatten ein freies Spiel. Nun kam ich zurŸck, und wie das Wiedersehn der frei und freudig Liebenden ein Himmel ist, so ist das Wiedersehn von zwei nur durch VernunftgrŸnde getrennten Personen ein unleidliches Fegefeuer, ein Vorhof der Hšlle. Als ich in die Umgebung Lilis zurŸckkam, fŸhlte ich alle jene Mi§helligkeiten doppelt, die unser VerhŠltnis gestšrt hatten; als ich wieder vor sie selbst hintrat, fiel mirs hart aufs Herz, da§ sie fŸr mich verloren sei.

Ich entschlo§ mich daher abermals zur Flucht, und es konnte mir deshalb nichts erwŸnschter sein, als da§ das junge herzoglich weimarische Paar von Karlsruhe nach Frankfurt kommen und ich, frŸheren und spŠteren Einladungen gemŠ§, ihnen nach Weimar folgen sollte. Von seiten jener Herrschaften hatte sich ein gnŠdiges, ja zutrauliches Betragen immer gleich erhalten, das ich von meiner Seite mit leidenschaftlichem Danke erwiderte. Meine AnhŠnglichkeit an den Herzog von dem ersten Augenblicke an, meine Verehrung gegen die Prinzessin, die ich schon so lange, obgleich nur von Ansehn, kannte, mein Wunsch, Wielanden, der sich so liberal gegen mich betragen hatte, persšnlich etwas Freundliches zu erzeigen und an Ort und Stelle meine halb mutwilligen, halb zufŠlligen Unarten wieder gut zu machen, waren BeweggrŸnde genug, die auch einen leidenschaftslosen JŸngling hŠtten aufreizen, ja antreiben sollen. Nun kam aber noch hinzu, da§ ich, auf welchem Wege es wolle, vor Lili flŸchten mu§te, es sei nun nach SŸden, wo mir die tŠglichen ErzŠhlungen meines Vaters den herrlichsten Kunst- und Naturhimmel vorbildeten, oder nach Norden, wo mich ein so bedeutender Kreis vorzŸglicher Menschen einlud.


Das junge fŸrstliche Paar erreichte nunmehr auf seinem RŸckwege Frankfurt. Der herzoglich meiningische Hof war zu gleicher Zeit daselbst, und auch von diesem und dem die jungen Prinzen geleitenden Geheimenrat von DŸrckheim ward ich aufs freundlichste aufgenommen. Damit aber ja, nach jugendlicher Weise, es nicht an einem seltsamen Ereignis fehlen mšchte, so setzte mich ein Mi§verstŠndnis in eine unglaubliche, obgleich ziemlich heitere Verlegenheit.

Die Weimarischen und Meiningischen Herrschaften wohnten in einem Gasthof. Ich ward zur Tafel gebeten. Der weimarische Hof lag mir dergestalt im Sinne, da§ mir nicht einfiel, mich nŠher zu erkundigen, weil ich auch nicht einmal einbildisch genug war zu glauben, man wolle von meiningischer Seite auch einige Notiz von mir nehmen. Ich gehe wohlangezogen in den "Ršmischen Kaiser", finde die Zimmer der weimarischen Herrschaften leer, und da es hei§t, sie wŠren bei den meiningischen, verfŸge ich mich dorthin und werde freundlich empfangen. Ich denke, dies sei ein Besuch vor Tafel oder man speise vielleicht zusammen, und erwarte den Ausgang. Allein auf einmal setzt sich die weimarische Suite in Bewegung, der ich denn auch folge; allein sie geht nicht etwa in ihre GemŠcher, sondern gerade die Treppe hinunter in ihre WŠgen, und ich finde mich eben allein auf der Stra§e.

Anstatt mich nun gewandt und klug nach der Sache umzutun und irgend einen Aufschlu§ zu suchen, ging ich, nach meiner entschlossenen Weise, sogleich meinen Weg nach Hause, wo ich meine Eltern beim Nachtische fand. Mein Vater schŸttelte den Kopf, indem meine Mutter mich so gut als mšglich zu entschŠdigen suchte. Sie vertraute mir abends: als ich weggegangen, habe mein Vater sich geŠu§ert, er wundre sich hšchlich, wie ich, doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, nicht einsehen wollte, da§ man nur von jener Seite mich zu necken und mich zu beschŠmen gedŠchte. Aber dieses konnte mich nicht rŸhren: denn ich war schon Herrn von DŸrckheim begegnet, der mich, nach seiner milden Art,


mit anmutigen scherzhaften VorwŸrfen zur Rede stellte. Nun war ich aus meinem Traum erwacht und hatte Gelegenheit, fŸr die mir gegen mein Hoffen und Erwarten zugedachte Gnade recht artig zu danken und mir Verzeihung zu erbitten.

Nachdem ich daher so freundlichen AntrŠgen aus guten GrŸnden nachgegeben hatte, so ward folgendes verabredet. Ein in Karlsruhe zurŸckgebliebener Kavalier, welcher einen in Stra§burg verfertigten Landauer Wagen erwarte, werde an einem bestimmten Tage in Frankfurt eintreffen, ich solle mich bereit halten, mit ihm nach Weimar sogleich abzureisen. Der heitere und gnŠdige Abschied, den ich von den jungen Herrschaften erfuhr, das freundliche Betragen der Hofleute machten mir diese Reise hšchst wŸnschenswert, wozu sich der Weg so angenehm zu ebnen schien.

Aber auch hier sollte durch ZufŠlligkeiten eine so einfache Angelegenheit verwickelt, durch Leidenschaftlichkeit verwirrt und nahezu všllig vernichtet werden: denn nachdem ich Ÿberall Abschied genommen und den Tag meiner Abreise verkŸndet, sodann aber eilig eingepackt und dabei meiner ungedruckten Schriften nicht vergessen, erwartete ich die Stunde, die den gedachten Freund im neuen Wagen herbeifŸhren und mich in eine neue Gegend, in neue VerhŠltnisse bringen sollte. Die Stunde verging, der Tag auch, und da ich, um nicht zweimal Abschied zu nehmen, und Ÿberhaupt, um nicht durch Zulauf und Besuch ŸberhŠuft zu sein, mich seit dem besagten Morgen als abwesend angegeben hatte; so mu§te ich mich im Hause, ja in meinem Zimmer still halten und befand mich daher in einer sonderbaren Lage.

Weil aber die Einsamkeit und Enge jederzeit fŸr mich etwas sehr GŸnstiges hatte, indem ich solche Stunden zu nutzen gedrŠngt war, so schrieb ich an meinem "Egmont" fort und brachte ihn beinahe zustande. Ich las ihn meinem Vater vor, der eine ganz eigne Neigung zu diesem StŸck gewann, und nichts mehr wŸnschte, als es fertig und gedruckt zu sehn, weil er hoffte, da§ der gute Ruf seines Sohns dadurch sollte vermehrt werden. Eine solche Beruhigung und


neue Zufriedenheit war ihm aber auch nštig: denn er machte Ÿber das Au§enbleiben des Wagens die bedenklichsten Glossen. Er hielt das Ganze abermals nur fŸr eine Erfindung, glaubte an keinen neuen Landauer, hielt den zurŸckgebliebenen Kavalier fŸr ein Luftgespenst; welches er mir zwar nur indirekt zu verstehen gab, dagegen aber sich und meine Mutter desto ausfŸhrlicher quŠlte, indem er das Ganze als einen lustigen Hofstreich ansah, den man in Gefolg meiner Unarten habe ausgehn lassen, um mich zu krŠnken und zu beschŠmen, wenn ich nunmehr statt jener gehofften Ehre schimpflich sitzen geblieben.

Ich selbst hielt zwar anfangs am Glauben fest, freute mich Ÿber die eingezogenen Stunden, die mir weder von Freunden, noch Fremden, noch sonst einer geselligen Zerstreuung verkŸmmert wurden, und schrieb, wenn auch nicht ohne innere Agitation, am "Egmont" rŸstig fort. Und diese GemŸtsstimmung mochte wohl dem StŸck selbst zugute kommen, das, von so viel Leidenschaften bewegt, nicht wohl von einem ganz Leidenschaftslosen hŠtte geschrieben werden kšnnen.

So vergingen acht Tage, und ich wei§ nicht, wie viel drŸber, und diese všllige Einkerkerung fing an mir beschwerlich zu werden. Seit mehreren Jahren gewohnt unter freiem Himmel zu leben, gesellt zu Freunden, mit denen ich in dem aufrichtigsten geschŠftigsten WechselverhŠltnisse stand, in der NŠhe einer Geliebten, von der ich zwar mich zu trennen den Vorsatz gefa§t, die mich aber doch, solange noch die Mšglichkeit war mich ihr zu nŠhern, gewaltsam zu sich forderte, - alles dieses fing an, mich dergestalt zu beunruhigen, da§ die Anziehungskraft meiner Tragšdie sich zu vermindern und die poetische Produktionskraft durch Ungeduld aufgehoben zu werden drohte. Schon einige Abende war es mir nicht mšglich gewesen, zu Haus zu bleiben. In einen gro§en Mantel gehŸllt schlich ich in der Stadt umher, an den HŠusern meiner Freunde und Bekannten vorbei, und versŠumte nicht, auch an Lilis Fenster zu treten. Sie wohnte im Erdgescho§ eines Eckhauses, die grŸnen Rouleaux waren


niedergelassen, ich konnte aber recht gut bemerken, da§ die Lichter am gewšhnlichen Platze standen. Bald hšrte ich sie zum Klaviere singen, es war das Lied: Ach wie ziehst du mich unwiderstehlich! das nicht ganz vor einem Jahr an sie gedichtet ward. Es mu§te mir scheinen, da§ sie es ausdrucksvoller sŠnge als jemals, ich konnte es deutlich Wort vor Wort verstehn; ich hatte das Ohr so nahe angedrŸckt, wie nur das auswŠrts gebogene Gitter erlaubte. Nachdem sie es zu Ende gesungen, sah ich an dem Schatten, der auf die Rouleaux fiel, da§ sie aufgestanden war; sie ging hin und wider, aber vergebens suchte ich den Umri§ ihres lieblichen Wesens durch das dichte Gewebe zu erhaschen. Nur der feste Vorsatz mich wegzubegeben, ihr nicht durch meine Gegenwart beschwerlich zu sein, ihr wirklich zu entsagen, und die Vorstellung, was fŸr ein seltsames Aufsehen mein Wiedererscheinen machen mŸ§te, konnte mich entscheiden, die so liebe NŠhe zu verlassen.

Noch einige Tage verstrichen, und die Hypothese meines Vaters gewann immer mehr Wahrscheinlichkeit, da auch nicht einmal ein Brief von Karlsruhe kam, welcher die Ursachen der Verzšgerung des Wagens angegeben hŠtte. Meine Dichtung geriet ins Stocken, und nun hatte mein Vater gutes Spiel bei der Unruhe, von der ich innerlich zerarbeitet war. Er stellte mir vor: die Sache sei nun einmal nicht zu Šndern, mein Koffer sei gepackt, er wolle mir Geld und Kredit geben, nach Italien zu gehn, ich mŸsse mich aber gleich entschlie§en aufzubrechen. In einer so wichtigen Sache zweifelnd und zaudernd, ging ich endlich darauf ein, da§, wenn zu einer bestimmten Stunde weder Wagen noch Nachricht eingelaufen sei, ich abreisen, und zwar zuerst nach Heidelberg, von dannen aber nicht wieder durch die Schweiz sondern nunmehr durch GraubŸnden oder Tirol Ÿber die Alpen gehen wolle.

Wunderbare Dinge mŸssen freilich entstehen, wenn eine planlose Jugend, die sich selbst so leicht mi§leitet, noch durch einen leidenschaftlichen Irrtum des Alters auf einen


falschen Weg getrieben wird. Doch darum ist es Jugend und Leben Ÿberhaupt, da§ wir die Strategie gewšhnlich erst einsehn lernen, wenn der Feldzug vorbei ist. Im reinen GeschŠftsgang wŠr ein solches ZufŠlliges leicht aufzuklŠren gewesen, aber wir verschwšren uns gar zu gern mit dem Irrtum gegen das NatŸrlichwahre, so wie wir die Karten mischen, eh wir sie herumgeben, damit ja dem Zufall sein Anteil an der Tat nicht verkŸmmert werde; und so entsteht gerade das Element, worin und worauf das DŠmonische so gern wirkt und uns nur desto schlimmer mitspielt, je mehr wir Ahndung von seiner NŠhe haben.

Der letzte Tag war verstrichen, den andern Morgen sollte ich abreisen, und nun drŠngte es mich unendlich, meinen Freund Passavant, der eben aus der Schweiz zurŸckgekehrt war, noch einmal zu sehn, weil er wirklich Ursache gehabt hŠtte zu zŸrnen, wenn ich unser inniges Vertrauen durch všllige Geheimhaltung verletzt hŠtte. Ich beschied ihn daher durch einen Unbekannten nachts an einen gewissen Platz, wo ich, in meinen Mantel gewickelt, eher eintraf als er, der auch nicht ausblieb und, wenn er schon verwundert Ÿber die Bestellung gewesen war, sich noch mehr Ÿber den verwunderte, den er am Platze fand. Die Freude war dem Erstaunen gleich, an Beredung und Beratung war nicht zu denken; er wŸnschte mir GlŸck zur italienischen Reise, wir schieden, und den andern Tag sah ich mich schon bei guter Zeit an der Bergstra§e.

Da§ ich mich nach Heidelberg begab, dazu hatte ich mehrere Ursachen: eine verstŠndige; denn ich hatte gehšrt, der Freund wŸrde von Karlsruhe Ÿber Heidelberg kommen, und sogleich gab ich, angelangt, auf der Post ein Billet ab, das man einem auf bezeichnete Weise durchreisenden Kavalier einhŠndigen sollte; die zweite Ursache war leidenschaftlich und bezog sich auf mein frŸheres VerhŠltnis zu Lili. Demoiselle Delph nŠmlich, welche die Vertraute unserer Neigung, ja die Vermittlerin einer ernstlichen Verbindung bei den Eltern gewesen war, wohnte daselbst, und ich


schŠtzte mir es fŸr das grš§te GlŸck, ehe ich Deutschland verlie§, noch einmal jene glŸcklichen Zeiten mit einer werten geduldigen und nachsichtigen Freundin durchschwŠtzen zu kšnnen.

Ich ward wohl empfangen und in manche Familie eingefŸhrt, wie ich mir denn in dem Hause des Oberforstmeisters von Wrede sehr wohlgefiel. Die Eltern waren anstŠndig behagliche Personen, die eine Tochter Šhnelte Friedriken. Es war gerade die Zeit der Weinlese, das Wetter schšn und alle die elsassischen GefŸhle lebten in dem schšnen Rhein- und Neckartale in mir wieder auf. Ich hatte diese Zeit an mir und andern Wunderliches erlebt, aber es war noch alles im Werden, kein Resultat des Lebens hatte sich in mir hervorgetan, und das Unendliche, was ich gewahrt hatte, verwirrte mich vielmehr. Aber in Gesellschaft war ich noch wie sonst, ja vielleicht gefŠlliger und unterhaltender. Hier, unter diesem freien Himmel, unter den frohen Menschen, suchte ich die alten Spiele wieder auf, die der Jugend immer neu und reizend bleiben. Eine frŸhere noch nicht erloschene Liebe im Herzen, erregte ich Anteil ohne es zu wollen, auch wenn ich sie verschwieg, und so ward ich auch in diesem Kreise bald einheimisch, ja notwendig, und verga§, da§ ich nach ein paar verschwŠtzten Abenden meine Reise fortzusetzen den Plan hatte.

Demoiselle Delph war eine von den Personen, die, ohne gerade intrigant zu sein, immer ein GeschŠft haben, andere beschŠftigen und bald diese bald jene Zwecke durchfŸhren wollen. Sie hatte eine tŸchtige Freundschaft zu mir gefa§t, und konnte mich um so eher verleiten lŠnger zu verweilen, da ich in ihrem Hause wohnte, wo sie meinem Dableiben allerlei VergnŸgliches vorhalten, und meiner Abreise allerlei Hindernisse in den Weg legen konnte. Wenn ich das GesprŠch auf Lili lenken wollte, war sie nicht so gefŠllig und teilnehmend, wie ich gehofft hatte. Sie lobte vielmehr unsern beiderseitigen Vorsatz, uns unter den bewandten UmstŠnden zu trennen, und behauptete, man mŸsse sich in das


Unvermeidliche ergeben, das Unmšgliche aus dem Sinne schlagen, und sich nach einem neuen Lebensinteresse umsehn. Planvoll, wie sie war, hatte sie dies nicht dem Zufall Ÿberlassen wollen, sondern sich schon zu meinem kŸnftigen Unterkommen einen Entwurf gebildet, aus dem ich nun wohl sah, da§ ihre letzte Einladung nach Heidelberg nicht so absichtlos gewesen, als es schien.

KurfŸrst Karl Theodor nŠmlich, der fŸr die KŸnste und Wissenschaften so viel getan, residierte noch zu Mannheim, und gerade weil der Hof katholisch, das Land aber protestantisch war, so hatte die letztre Partei alle Ursache, sich durch rŸstige und hoffnungsvolle MŠnner zu verstŠrken. Nun sollte ich in Gottes Namen nach Italien gehn und dort meine Einsichten in dem Kunstfach ausbilden, indessen wolle man fŸr mich arbeiten, es werde sich bei meiner RŸckkunft ausweisen, ob die aufkeimende Neigung der FrŠulein von Wrede gewachsen oder erloschen, und ob es tŠtlich sei, durch die Verbindung mit einer angesehnen Familie, mich und mein GlŸck in einem neuen Vaterlande zu begrŸnden.

Dieses alles lehnte ich zwar nicht ab, allein mein planloses Wesen konnte sich mit der PlanmŠ§igkeit meiner Freundin nicht ganz vereinigen; ich geno§ das Wohlwollen des Augenblicks, Lilis Bild schwebte mir wachend und trŠumend vor und mischte sich in alles andre, was mir hŠtte gefallen oder mich zerstreuen kšnnen. Nun rief ich mir aber den Ernst meines gro§en Reiseunternehmens vor die Seele und beschlo§, auf eine sanfte und artige Weise mich loszulšsen und in einigen Tagen meinen Weg weiter fortzusetzen.

Bis tief in die Nacht hinein hatte Demoiselle Delph mir ihre Plane und was man fŸr mich zu tun willens war, im einzelnen dargestellt, und ich konnte nicht anders als dankbar solche Gesinnungen verehren, obgleich die Absicht eines gewissen Kreises, sich durch mich und meine mšgliche Gunst bei Hofe zu verstŠrken, nicht ganz zu verkennen war. Wir trennten uns erst gegen eins. Ich hatte nicht lange aber tief geschlafen, als das Horn eines Postillons mich weckte, der


reitend vor dem Hause hielt. Bald darauf erschien Demoiselle Delph mit einem Licht und Brief in den HŠnden und trat vor mein Lager. "Da haben wir's!" rief sie aus. "Lesen Sie, sagen Sie mir, was es ist. Gewi§ kommt es von den Weimarischen. Ist es eine Einladung, so folgen Sie ihr nicht, und erinnern sich an unsre GesprŠche." Ich bat sie um das Licht und um eine Viertelstunde Einsamkeit. Sie verlie§ mich ungern. Ohne den Brief zu eršffnen, sah ich eine Weile vor mich hin. Die Stafette kam von Frankfurt, ich kannte Siegel und Hand, der Freund war also dort angekommen, er lud mich ein, und der Unglaube und Ungewi§heit hatten uns Ÿbereilt. Warum sollte man nicht in einem ruhigen bŸrgerlichen Zustande auf einen sicher angekŸndigten Mann warten, dessen Reise durch so manche ZufŠlle verspŠtet werden konnte? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Alle vorhergegangene GŸte, Gnade, Zutrauen stellte sich mir lebhaft wieder vor, ich schŠmte mich fast meines wunderlichen Seitensprungs. Nun eršffnete ich den Brief, und alles war ganz natŸrlich zugegangen. Mein ausgebliebener Geleitsmann hatte auf den neuen Wagen, der von Stra§burg kommen sollte, Tag fŸr Tag, Stunde fŸr Stunde, wie wir auf ihn geharrt, war alsdann GeschŠfts wegen Ÿber Mannheim nach Frankfurt gegangen, und hatte dort zu seinem Schreck mich nicht gefunden. Durch eine Stafette sendete er gleich das eilige Blatt ab, worin er voraussetzte, da§ ich sofort nach aufgeklŠrtem Irrtume zurŸckkehren und ihm nicht die BeschŠmung bereiten wolle, ohne mich in Weimar anzukommen.

So sehr sich auch mein Verstand und GemŸt gleich auf diese Seite neigte, so fehlte es doch meiner neuen Richtung auch nicht an einem bedeutenden Gegengewicht. Mein Vater hatte mir einen gar hŸbschen Reiseplan aufgesetzt und mir eine kleine Bibliothek mitgegeben, durch die ich mich vorbereiten und an Ort und Stelle leiten kšnnte. In mŸ§igen Stunden hatte ich bisher keine andere Unterhaltung gehabt, sogar auf meiner letzten kleinen Reise im Wagen nichts anders gedacht. Jene herrlichen GegenstŠnde, die ich von


Jugend auf durch ErzŠhlung und Nachbildung aller Art kennen gelernt, sammelten sich vor meiner Seele, und ich kannte nichts ErwŸnschteres, als mich ihnen zu nŠhern, indem ich mich entschieden von Lili entfernte.

Ich hatte mich indes angezogen und ging in der Stube auf und ab. Meine ernste Wirtin trat herein. "Was soll ich hoffen?" rief sie aus. "Meine Beste," sagte ich, "reden Sie mir nichts ein, ich bin entschlossen zurŸckzukehren; die GrŸnde habe ich selbst bei mir abgewogen, sie zu wiederholen wŸrde nichts fruchten. Der Entschlu§ am Ende mu§ gefa§t werden, und wer soll ihn fassen als der, den er zuletzt angeht?"

Ich war bewegt, sie auch, und es gab eine heftige Szene, die ich dadurch endigte, da§ ich meinem Burschen befahl, Post zu bestellen. Vergebens bat ich meine Wirtin, sich zu beruhigen und den scherzhaften Abschied, den ich gestern abend bei der Gesellschaft genommen hatte, in einen wahren zu verwandeln, zu bedenken, da§ es nur auf einen Besuch, auf eine Aufwartung fŸr kurze Zeit angesehn sei, da§ meine italienische Reise nicht aufgehoben, meine RŸckkehr hierher nicht abgeschnitten sei. Sie wollte von nichts wissen und beunruhigte den schon Bewegten noch immer mehr. Der Wagen stand vor der TŸr, aufgepackt war, der Postillon lie§ das gewšhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen, ich ri§ mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte kŸnstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so, da§ ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief:

"Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefa§t, die ZŸgel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die RŠder abzulenken. Wohin es geht, wer wei§ es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam."