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huerdenlauf.html 09.05.2011

Inform Verlag GmbH

Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

"Erzählungen und dergleichen" von Helmar Kloss (Copyright)


                        Kostprobe:Hürdenlauf

     [Hinweis: Das “Ich” dieser Geschichte ist nicht der Autor, sondern entspricht eher, wenn auch nicht genau, seinem Bruder.]

     Sport ist gesund, heißt es. Ich glaube sagen zu dürfen, nachdem mir mein Sportlerherz den ersten Infarkt beschert hat: nur, wenn man ihn nicht übertreibt. Doch Leistungssport - vor allem der heutige - bedeutet immer Übertreibung. Darüberhinaus denke ich inzwischen auch, nachdem viele der Supersportler meiner Jugendzeit bereits verschieden oder Frühinvaliden geworden sind, daß die jungen Leute, die es in den Leistungssport zieht, viel zuwenig darüber nachdenken, warum sie Leistungssport betreiben und dabei unbedingt siegen wollen. Zu meiner Zeit hatte das Wort von Pierre de Coubertin - dem Begründer der modernen Olympischen Spiele - noch einen guten Klang: “Nicht der Sieg ist das Entscheidende, sondern die Teilnahme!” oder so ähnlich. Darüber wird man heute nur noch mitleidig lächeln oder Zustimmung äußern, die geheuchelt ist. Denn nun wollen alle siegen! Und zwar unbedingt!! Doch was an kranken und eigentlich behandlungsbedürftigen Motiven hinter dem Leistungssport steht, will ich an einem sprechenden Beispiel darlegen, - meinem eigenen.
     Als junger Mensch war ich Hürdenläufer. 400m waren meine Spezialstrecke. Zeitweilig bin ich sogar sehr nahe an die deutsche Meisterschaft herankommen, blieb aber auch in meiner besten Zeit der berühmte ewige Zweite. Hin und wieder habe ich mich damals selbst gewundert, warum ich diese Strecke gewählt hatte, denn für Hürden bin ich eigentlich ein bißchen zu klein und für Mittelstrecken, die man nahezu im Sprinttempo schaffen muß, zu schwer. Ich hatte soviel Muskeln, daß mir regelmäßig auf der Zielgeraden die Luft ausging. Die letzte Hürde, - mein Himmel, - wenn ich an die letzte Hürde denke! Was für eine Quälerei! - Die Relation zwischen Muskelvolumen, Gewicht und Kreislaufkapazität war konstitutionsbedingt und durch kein Training der Welt zu verändern. Denn jedes Training vergrößert die Muskeln, erhöht aber zugleich die Anforderungen an das Herz-Kreislaufsystem. Und letzteres kann irgendwann nicht mehr mithalten, denn im Brustraum ist nur begrenzt Platz. Wächst das Herz, fehlt Raum für die Lunge und vice versa. Im Gegenteil, die Schere geht immer weiter auf.
     Trotzdem war der Sport lange das Schönste in meinem Leben, - durch das Körpergefühl beim Training und durch die Kameraden. Und auch durch die Reisen, - ich bin 1952 sogar mit bei der Olympiade in Helsinki gewesen.
     Ich studierte damals Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin, einer meiner Clubkameraden ebenda Psychologie. Nicht, daß wir direkt Freunde gewesen wären, aber ich traf ihn nicht nur beim Sport, sondern hin und wieder auch an der Uni. Einmal sogar auf einer Party.
     Da kam er hinzu, als ich gerade auf die Stichworte “Schule” und “Lehrer”, auf die ich garnicht gut zu sprechen bin, von meiner Zeit in Napajedl in der ehemaligen Tschechei erzählte, wo ich während des Krieges mit vielen, vielen anderen darauf vorbereitet wurde, für Führer, Volk und Vaterland zu sterben. Wir - d.h. ich und meine Freunde und Altersgenossen - waren mit im Durchschnitt etwa vierzehneinhalb die letzte Klasse. Alle Älteren hatten wir Jahrgang für Jahrgang verschwinden sehen und wären nun unsererseits an der Reihe gewesen, an der Ostfront den Heldentod zu sterben. - Da verschwand eines Nachts das gesamte Lehrerkollegium. Wir Pimpfe saßen allein am leeren Frühstückstisch in dem großen Schloß, das als Internat diente. Plötzlich tauchten draußen tschechische Bauern auf, mit Messern, Schlegeln, Stangen und Schrotflinten bewaffnet, um den letzten verbliebenen Herrenmenschen den Garaus zu machen. Da erst begriffen wir, daß wir in Feindesland und völlig auf uns selbst gestellt waren. Mein bester Freund und ich, wir schafften es irgendwie, davonzukommen und sind in den folgenden Tagen und Nächten, von Todesangst getrieben, nahezu ohne Unterlaß durch Büsche und Wälder, über Hecken, Zäune und Bäche - wie man so sagt: ‘über Stock und Stein’ - nach Westen gerannt. Am Grenzfluß zwischen Böhmer und Oberpfälzer Wald haben sie uns eingeholt und meinen Freund erschlagen. Ich bin auch da nochmal davongekommen; wie, weiß ich aber heute nicht mehr. - Ich lief danach noch bis zum Bodensee.
     Kaum hatte ich meine Erzählung beendet, und die sichtlich beeindruckten Zuhörer waren eben dabei, das Gehörte zu verarbeiten, da stiehlt mir doch mein Sportsfreund die Show und sagt: “Kein Wunder, daß du dann Hürdenläufer geworden bist!”
     Gerade weil es wahrscheinlich stimmte, schien mir das eine Riesensauerei, die ich weder ihm noch der Psychologie je so richtig habe verzeihen können. Trotzdem hat mich die Sache ins Grübeln gebracht, und ich glaube einiges begriffen zu haben, was zu hören vielleicht auch anderen nicht schaden kann.
     Natürlich werden jetzt alle denken: “Naja, Verrückte gibt es überall, aber was geht das m i c h an? Derart kranke Motive haben vielleicht die anderen, - ich hingegen bin okay!” Oder so ähnlich. Aber ich glaube inzwischen, daß die ganze Menschheit krank ist, und daß das unbedingte Siegenwollen - im Grunde ganz egal, wobei - eines der Symptome ist, an dem man die Krankheit erkennen kann. Letztlich ist der Leistungssport mit seinen heutigen Auswüchsen die Fortsetzung der schrecklichen Kriege des letzten Jahrhunderts mit anderen Mitteln. “Das ist doch gut!” wird jetzt der eine oder andere denken. “Schließlich ist das immer noch besser als richtiger Krieg.“ Schon wahr, - Sport ist besser als Krieg. Doch aufgrund der innewohnenden Psychodynamik, an der offenbar niemand etwas zu ändern gedenkt - die infolge der Vielzahl der Betroffenen allerdings auch ein Gesellschaftsdrama ist - wird der unbedingte Siegeswille immer weiter nach neuen, noch extremeren Ausdrucksmitteln suchen und sie natürlich finden. Über kurz oder lang mit Sicherheit auch wieder kriegerische, wie schon nach 1936. Und ob die Menschheit diese Hürde dann wieder noch wird nehmen können, ist doch sehr die Frage.

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