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irishfuneral.html 04.05.2011

Inform Verlag GmbH

Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

"Erzählungen und dergleichen" von Helmar Kloss (Copyright)


                        Kostprobe: Irish Funeral

     Die folgende Geschichte ist so etwas wie ein Plagiat. Weniger kritisch könnte man aber auch von einer homage sprechen. Jedenfalls möchte ich eine Erklärung vorausschicken, um aufzuzeigen, woher die Idee stammt und warum ich die Geschichte erzähle.
     Mein Bruder war lange Zeit an einer Hotelanlage in der Republik Irland beteiligt. Sie war nicht sehr rentabel, aber mit seiner relativ großen Familie - es sind vier Kinder - hat er dort immer wieder vergleichsweise billig Urlaub gemacht. Bei diesen Gelegenheiten haben sich auch freundschaftliche Beziehungen zu den Einwohnern der Gegend und dem nahegelegenen Ort unweit der Südwestküste der Insel ergeben. Dort wird mein Bruder die folgende Geschichte erlebt oder erfahren haben, die er zu fortgeschrittener Stunde immer wieder gern und sehr eindrucksvoll erzählt hat. Er war es auch, der ihr den Titel “The Irish Funeral” gegeben hat. Und nicht nur, wenn er die Geschichte erzählte, pflegte Alkohol in Strömen zu fließen, auch bei den Ereignissen, von denen sie berichtet. Daher muß man sich vielleicht erst vollaufen lassen, um sie wirklich zu verstehen.
     Mehrfach - mindestens jedesmal, wenn mein Bruder die Geschichte in meinem Beisein erzählt hat - riet ich ihm dringend an, sie niederzuschreiben. Er hat es sich auch immer mal wieder vorgenommen. Leider ist es am Ende nicht dazu gekommen, da er selbst schon vor der Zeit verstarb. Zwar waren die Gründe nicht ganz die, welche den Helden des ”Irish Funeral” abberufen haben, aber doch damit verwandte. Deshalb erzähle ich die Geschichte nun an seiner Stelle; sicher nicht mit derselben Authentizität, vergleichbarer Verve und demselben Lokalko[ho]lorit, aber hoffentlich dennoch unterhaltsam. Und ich widme sie seinem Andenken:

In memoriam

Dr. Edgar Siegfried Kloss
*15.6.1931-03.03.1996+



     Bei O’Leary hatte es sich um einen alten Suffkopp gehandelt. Viel zu früh hatte er seine Frau zur Witwe und seine Kinder zu Halbwaisen gemacht. Seine Leber war den Mißhandlungen, die seine Lebensart mit sich gebracht hatte, nicht auf Dauer gewachsen gewesen. Unumkehrbar schrumpfend und sich verhärtend hatte sie sowohl mit ihrem als auch seinem vorzeitigen Ende gedräut.
     Nun war O’Leary nicht der christliche Duldertyp, der das dräuende Schicksal bis zum bitteren Ende still ertragen hätte. Nie würde er die andere Wange hingehalten haben, und über eine zweite Leber verfügte er nicht. Anstatt sich durch die finale Leidenszeit läutern zu lassen, hatte er einen nach christlicher Lehre unzulässigen Haken um sie geschlagen und sich kurzerhand erhängt. Nachdem man die Leiche gefunden und vom Balken des Kirchturmdachs abgeschnitten hatte, an dem sie baumelte, befahl der Pfarrer, sie in die Krypta der Kirche zu bringen. Das war der kühlste Raum im Ort und diente auch als Leichenhalle.
     In seiner nächsten Sonntagspredigt - O’Learys Leiche war noch ziemlich frisch - verkündete der Pfarrer ex cathedra, daß O’Leary am Montagmorgen begraben werde. Anschließend erging er sich lang und breit darüber, wie erbost er sei, über O’Learys unchristliches Ende. Vor allem auch über die Blasphemie, die es bedeutet habe, sich ausgerechnet mithilfe eines Kirchenbalkens aus dem Leben zu mogeln. Keineswegs könne dieser Sünder in geweihter Erde begraben werden. Dort sei kein Platz für Selbstmörder und Blasphemiker. Am Rande des Schindangers, der zwar zu dieser Zeit nicht mehr in Gebrauch, jedoch in jedermanns Erinnerung war, sei der richtige Platz für O’Learys Überreste.
     Ein unerhörter Aufschrei ging außerhalb der Kirche durch die Gemeinde, der spätabends im Pub zu wildem, weithin hörbarem Gegröhle anstieg. Jeder im Ort kannte O’Leary, und im Pub kannten sie ihn sogar besonders gut. Natürlich hatte O’Leary in seinem Haus keinen Balken, sonst hätte er sich sicher da erhängt. Vielleicht aber auch nicht, denn bestimmt hatte er bis zuletzt Rücksicht auf Frau und Kinder nehmen und ihnen den Anblick ersparen wollen. Vielleicht hätte er sich aber auch irgendwo draußen einen passenden Baum gesucht, würde es an diesem Abend nicht geregnet haben. Zwar regnet es in dieser Gegend fast jeden Abend - außer im Mai - aber natürlich hatte O’Leary nicht bis Mai warten können.
     Da all seinen Mitzechern mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann Ähnliches bevorstand, mag die Sorge um das eigene Seelenheil nicht unerheblich dazu beigetragen haben, daß die Einwohnerschaft von Soundso-County eine Solidarität an den Tag legte, wie sie anderswo nur noch selten vorkommt. Allerdings ist O’Learys Schicksal niemandem derart zu Herzen gegangen, daß er daraufhin das Saufen aufgegeben hätte. Wie schon beim Leeren so mancher pint war O’Leary nur mal wieder der Schnellere gewesen.
     Doch was die Empörung am Ende in Rebellion verwandelte, war etwas anderes. Ein ganz besonders einfühlsamer Mitmensch fand es heraus: Der Pfarrer hätte nicht nur das entscheidend Wichtige verkannt und durch seine Art der Betrachtung verfälscht, erklärte dieser seinen staunenden Zuhörern, sondern auf diese Weise sogar das Andenken des Verblichenen beschmutzt!! O’Learys Beweggründe seien rein und lauter gewesen! Er habe seinem Herren nahe sein wollen, in seiner letzten Minute! Mit Macht habe es ihn hinangezogen, in jener Nacht! Und was hätte sich für einen Menschen, der leider noch ohne Engelsflügel hatte auskommen müssen, besser dafür geeignet als ein Balken im Kirchturmdach!?
     Das sprach sich wie der Blitz herum, und jeder in Soundso-County verstand O’Leary - die im Pub sogar noch besser - nur dieser schreckliche Pfarrer nicht.
     Dazu muß erklärend gesagt werden: Der Pfarrer war keiner der I[h]ren. Er verstand grundsätzlich alles miß, was im Soundso-County vorging. Schon lange hatten sie kein Vertrauen mehr zu ihm. Mit seinem verleumderischen Gerede würde er sie noch alle in die Hölle bringen, statt das Seine zu ihrer Erlösung beizutragen, wie es seine Pflicht gewesen wäre. An der Art, wie er mit O’Learys Leichnam umzugehen gedachte, konnte man nur allzu deutlich seine unchristliche und vor allem aber (was in ihren Augen sehr viel schlimmer war) unirische Denkungsart ablesen.
     Nun war Eile geboten. O’Connor war der Mann der Stunde. Er mußte die Sache in die Hand nehmen. Und was O’Connor in seine Hand nahm, das ging entweder kaputt - denn als Schmied, der allerdings schon längst sein altes, ehrwürdiges Gewerbe in Richtung auf einen Reparaturbetrieb für Kraftfahrzeuge und landwirtschaftliche Maschinen erweitert hatte, besaß er verdammt starke Hände - oder es bog sich ganz nach seinem Belieben. O’Connor schickte acht von O'Learys Saufkumpanen früh nach Hause, auf daß sie halbwegs nüchtern wären, wenn er sie brauchte. Um drei Uhr nachts sollten sie wieder vor seiner Werkstatt sein. Von dort aus würden sie losziehen, O’Leary den allerletzten Dienst zu erweisen. Erstaunlich klaglos nahmen sie diese Order hin und zogen ungestillten Durstes von hinnen.
     Und alle kamen, - für ihre Verhältnisse sogar nahezu pünktlich. Der Schmied hatte Werkzeug und Lampen bereitgelegt. Die nahmen sie und machten sich in Richtung Kirche auf. Dort angekommen, standen sie ratlos herum. O’Connor schien der einzige, der wußte, was zu tun war.
     Kirche, Friedhof und Pfarrhaus von Soundso-County bilden ein Ensemble, dessen Anlage noch auf die Zeit zurückgeht, da man hier mit Wikingerüberfällen hatte rechnen müssen. Und auch noch viel später war es keinesfalls verkehrt, wenn man sich schützen und in eine Wehrkirche zurückziehen konnte, um nicht ohne Gegenwehr von den Erfüllungsgehilfen irgendwelcher Herrschaften verschleppt oder hingerichtet zu werden. Daher war die Kirche ein sehr stabiles Gebäude mit dicken Mauern und kleinen, an Schießscharten erinnernden Fenstern.
     Angesichts der stabilen Beschläge breitete sich Mutlosigkeit aus, als sich O’Connor daran zu schaffen machte. Doch der kannte seine Pappenheimer und ließ die Flasche kreisen, die zum festen Bestand seines Werkzeugkoffers gehörte, was der Moral seiner Truppe hörbar aufhalf. Ja, so hörbar, daß er sie sogleich wieder etwas dämpfen mußte. Ihm selbst war imübrigen nicht bange, denn er kannte sich mit diesen Fenstern aus. Samt ihren Beschlägen stammten sie aus neuerer Zeit und hätten weder einen Wikinger lange aufgehalten, noch konnten sie es mit einem O’Connor tun.
     Sie standen auf der Seite, die vom Pfarrhaus ab- und dem Friedhof zugewandt war. Sogar der Mond schien ihrem Vorhaben gewogen, denn er beleuchtete die Szenerie mit fahlem Licht, das für ihre Zwecke völlig ausreichte, zumindest solange ihn keine Wolke verdeckte.
     “Hier müssen wir hinein, Freunde! Und wir werden hier jetzt auch gleich hineingehen, keine Bange! Denn ich bin der, der diese Riegel repariert und in Schuß hält, vergeßt das nicht!”
     Nun hätten sie in überschäumender Be(wein)geisterung beinahe ein Lied angestimmt, als wären sie im Pub, so daß er sie erneut bremsen mußte. Eigentlich - wurde ihm allmählich klar - hätte er besser daran getan, seine Helfer erst für später zu bestellen, denn nun hatte er mit ihnen sehr viel mehr Mühe als mit der eigentlichen Arbeit. Um einen besseren Überblick zu haben, kommandierte er zwei von ihnen ab, an der am weitest entfernten Ecke der Friedhofsmauer das Grab zu graben, also dort, wo entweder noch niemand lag oder die Toten schon so lange begraben lagen, daß man sie wieder vergessen hatte. Grabsteine waren nicht immer in Mode gewesen, und auch O’Leary würde ja ohne einen solchen auskommen müssen. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Fenster, das der Krypta am nächsten lag. Für den Notfall hatte er einen Kuhfuß dabei, aber zunächst versprach er sich mehr von einem dünnen, biegsamen Sägeblatt. Das schob er zwischen die beiden schmalen Fensterflügel, tastete nach dem Riegel. Es war nur einer, denn Wikinger hatte man hier seit langem nicht mehr befürchtet, und außer O’Leary war in dieser Kirche nichts zu holen. Und schwupp, schon war das Fenster offen.
     Für ihn selbst schien die Öffnung viel zu eng, und er versuchte auch gar nicht erst, da durchzukommen. Er hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, wer von ihnen schlank genug war, um durch das Fenster zu gelangen und trotzdem kräftig genug, um den Leichnam zu transportieren. O’Learys Schwager war noch ein junger Mann, bei dem sich die Guinness, die er abends zu sich nahm, nur erst vergleichsweise unauffällig markierten. Der andere, den er auserkor, war ein noch junger Mann, bei dem allerdings das Gegenteil der Fall war: Dessen Guinness sah man überdeutlich. Er hatte aber das Fett auf den Hüften und würde quer noch eben durch die schmale Fensterhöhlung passen.
     O’Connor half erst dem einen, dann dem anderen auf die Fensterbrüstung, zündete eine Lampe an und reichte sie ihnen hinterher, damit sie drinnen etwas sehen konnten. Als treue Kirchgänger kannten sie den Weg in die Krypta, und es bedurfte keiner langen Erklärungen.
     Es trat nun eine Pause ein, in der O’Connor nichts anderes tun konnte, als geduldig abzuwarten. Das lag ihm nicht besonders, denn er war ein sehr aktiver Mann. Mußte er einmal stille sein, so konnte es passieren, daß ihm seine Phantasie einen Streich spielte. Bisher war das Unternehmen zufriedenstellend verlaufen, und wenn man an den vielen Alkohol dachte, den sie alle vor wenigen Stunden geschluckt hatten, war das nahezu ein Wunder. Mancher Gläubige würde daraus gefolgert haben, der Herr sei mit ihnen, aber O’Connors Gott neigte nicht zu Interventionen, was ja durchaus auch sein Gutes hat.
     Allmählich wurde ihm die Zeit lang. Wo blieben die beiden Leichenträger? War ihnen womöglich etwas zugestoßen? Siedendheiß fiel ihm ein, daß er versäumt hatte, eine Wache aufzustellen, um das Pfarrhaus zu überwachen. Hatte den Pfarrer womöglich nach einem Zwiegespräch mit seinem Herrn gedürstet, und war er dabei auf die zwei Leichendiebe gestoßen? Doch zum Glück sorgte er sich umsonst, denn plötzlich gewahrte er den Lichtschein der Lampe, der sich rhythmisch schwankend dem Fenster näherte. Er war so hell, daß er sich nun sorgte, der Pfarrer könnte ihn ebenfalls bemerken, falls er vom Pfarrhaus aus einen Blick auf sein Gotteshaus warf. Schnell schickte er einen der verbliebenen Mannen auf die andere Seite, um dort Wache zu halten. Inzwischen waren die beiden mit O’Leary am Fenster angekommen und hatten ihn und die Bahre, auf der er lag, abgestellt. O’Learys Schwager, der die Lampe um den Hals getragen hatte, nahm sie herunter und hing sie an das offene Fenster. Nun war die Frage, wie man O’Leary samt seiner Bahre durch das Kirchenfenster bekam. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse war mit bloßem Auge zu erkennen, daß beides zugleich in der momentan bestehenden Anordnung - nämlich O’Leary rücklings auf der Bahre liegend - nicht durchpassen würde. Dafür war das Fenster zu schmal. Also ordnete O’Connor an, die beiden drinnen sollten O’Leary von der Bahre nehmen, ihn vor dem Fenster aufstellen, Kopf und Oberkörper aus dem Fenster lehnen, und den Rest würden sie von hier unten schaffen.
     Das hört sich einfacher an als es war. Trotz seiner Magerkeit, denn nicht nur die Leber, sondern der ganze Kerl war zum Schluß ziemlich elend geschrumpft, war O’Leary als tote Last von rund 45 kg aufgrund der ungünstigen Gewichtsverteilung - und zudem noch in einem weißen Hemd ohne Taschen, das sich als extrem rutschig erwies, als sie versuchten, durch den dünnen Stoff hindurch die Glieder des Toten zu packen und festzuhalten - nur unter den allergrößten Mühen dazu zu bringen, aufrecht vor das Fenster zu treten und sich hinauszulehnen.
     Als sie ihn schließlich doch soweit hatten, wechselte der Kopf, der bisher für die draußen unsichtbar nach hinten gebaumelt hatte, was O’Leary das Aussehen eines Geköpften gegeben hatte, ganz plötzlich mit heftigem Schwung die Lage, kippte nach vorn, riß den Oberkörper mit durch die Öffnung, und knallte - ehe O’Connor und seine Gehilfen reagieren konnten, mit einem wirklich schauerlich klingenden Laut, den ich, um die Magennerven der Leser zu schonen, nicht genauer beschreiben werde - außen gegen die Kirchenmauer. Hätten die drin nicht schnell reagiert und sich O’Learys Beine gegriffen, der Rest der Leiche wäre - schwupp - dem Kopf gefolgt.
     Da hing er nun, der arme O’Leary, kopfüber aus dem Kirchenfenster, wie das Opfer einer schweren Mißhandlung. O’Connor besann sich als erster, griff nach dem Oberkörper der Leiche, hielt ihn fest im Arm und zerrte daran. Ein Helfer sprang hinzu, die Beine zu übernehmen, die nun dem Rumpf folgten. Ihre Pietät hatte unter den Ereignissen etwas gelitten, und sie setzten den Leichnam ziemlich unsanft ab, um die Bahre zu übernehmen, die nun ebenfalls im Fenster erschien. Aber O‘Leary machte sich nichts mehr aus der rauhen Behandlung. Imübrigen war, was nun folgte, ein Kinderspiel, verglichen mit dem Vorangegangenen. Sie legten O’Leary wieder rücklings auf seine Bahre, formierten eine Art Leichenzug, und ab ging es in Richtung Friedhofsecke.
     Beim Näherkommen vernahmen sie erst das Geräusch von Schaufeln und dann gedämpftes Fluchen. Es ist nicht jedermanns Sache, nachts auf einem Totenfeld ein Grab auszuheben, - und sei es auch auf einem christlichen Friedhof. Allenthalben schienen Geister zu spuken, die sich nur durch kräftiges Whiskytrinken und lautes Fluchen bannen ließen. Neben dem schon recht tiefen, aber noch längst nicht fertigen Grab angekommen, ordnete O’Connor einen Wechsel in der Totengräberschicht an. Einige von denen, die bei der Kirche O’Learys Entführung beigewohnt hatten, waren bisher noch nicht aktiv gewesen. Die schickte er nun in die Grube, damit sie sich aufwärmen konnten. Für die übrigen war es an der Zeit, sich wieder aus der Flasche zu stärken. O’Connor nahm auch gleich selbst noch einen kräftigen Schluck und ließ danach die Flasche kreisen. Eigentlich würden sie ja viel lieber Bier getrunken haben, aber Whisky ließ sich besser transportieren, und das gab an diesem Tag den Ausschlag.
     Als O‘Connor beim Trinken den Kopf in den Nacken legte, richtete er unwillkürlich den Blick auf den Horizont und sah dabei, daß die Zeit allmählich drängte. Am östlichen Himmel markierte sich ein erster Hauch der Morgendämmerung. Noch eine knappe Stunde und es würde taghell sein, was schlecht war für ein heimliches Unternehmen, wie dieses Begräbnis es war und nach Möglichkeit auch bleiben sollte. Der Pfarrer würde auch so schon früh genug von der Sache Wind bekommen und Scherereien machen. Also trieb O’Connor die Totengräber zur Eile an, befahl bei den geringsten Ermüdungserscheinungen erneuten Schichtwechsel und erreichte so, daß in kurzer Zeit die erforderliche Tiefe erreicht wurde. Nun nahmen sie O’Leary von seiner Bahre. Die Zwei, die noch im Grabe standen, reichten ihre Schaufeln hinauf und nahmen den Leichnam in Empfang. Das ging entschieden einfacher vonstatten als beim Passieren des Kirchenfensters, obwohl es ebenfalls eine delikate Operation war, denn neben der Leiche blieb in dem Loch nur sehr wenig Platz. Der eine hatte O’Learys Kopf zwischen den Beinen und der andere stand gewissermaßen auf vier Beinen. Eilig zog man die beiden hinauf, alle nahmen ihre Mützen ab und stellten sich in einer Runde am Grabesrand auf, O’Connor sprach ein paar schlichte Worte des Gedenkens, die halbleere Flasche - es war bereits die zweite, O'Connors allerletzte Reserve - kreiste zu einem letzten Schluck auf O’Learys Wohl, dann schaufelten sie das Grab in schnellem Wechsel zu und verteilten die überschüssige Erde in der Umgebung, denn der besonderen Umstände wegen mußte O’Learys letzte Liegestätte unmarkiert bleiben. Die Engel, denen es oblag, das Jüngste Gericht vorzubereiten, würden ihn sicherlich trotzdem finden. Schließlich sorgte O’Connor dafür, daß die Bahre wieder in die Kirche gehievt und das Fenster provisorisch verschlossen wurde, schickte die Mannschaft heim und ging erleichtert selbst nach Hause, um sich im Bett von den Strapazen und dem vielen Whisky zu erholen.
     Da sie nicht in Arbeit schwammen, in Soundso-County, konnten es sich auch alle erlauben, mittags schon wieder im Pub zu sein, um ihren Sieg gehörig zu feiern, zumal sie von gestern etwas nachzuholen hatten. Einer nach dem anderen trudelte dort ein, den Whisky des vorigen Abends und der Nacht noch immer in Kopf und Adern. Bald war die Runde - sich ihrer nächtlichen Großtaten rühmend - voll in Fahrt. Nur O’Connor war schon wieder nahezu nüchtern und außerdem auch seltsam still. Scheinbar bereitete er sich auf die Konfrontation mit der geistlichen Obrigkeit vor, die ihnen bevorstand.
     Da tauchte der Pfarrer auf, stürmte durch die Tür, steuerte nach kurzem Umhersehen zielsicher auf die Gruppe um O'Connor zu, baute sich vor ihnen auf, wie ein Feldwebel, und brüllte, die Arme in die Seiten gestemmt: “Ihr alle habt eine Todsünde begangen! Ja, mehr als eine!! Dafür werdet ihr in der Hölle schmoren!!!”
     Mit leiser Stimme und in äußerster Ruhe, die ihm mehr Gehör verschaffte als ein noch so mächtiges Gebrüll es je gekonnt hätte, erwiderte O’Connor dem Pfarrer, ohne dabei aufzustehen, wie es sich eigentlich geschickt hätte: “Darüber entscheidest zum Glück nicht du,” - sein Tonfall war sachlich und trocken - “sondern der Herr, dessen Diener du zu sein vorgibst.” Er machte eine kleine Wirkungspause, wie ein Redner im englischen Unterhaus, dann fuhr er fort: “Und der Herr weiß, daß wir nur getan haben, was getan werden mußte. Und wenn wir dabei gefehlt haben, so wird er Nachsicht üben und Milde walten lassen. Vor allem aber wird er nicht so unchristlich herumschreien, wie sein angeblicher Diener. Und wenn ich auch nur halbwegs verstanden habe, was seine Lehre ist, dann bedeutet das: D u wirst in der Hölle schmoren!” Und nun hob er doch noch - geradezu bühnenwirksam - ein wenig die Stimme, um die Schlußpointe seiner kleinen Predigt zu setzen: “Du verkleideter Antichrist!”
     Alle hatten gebannt zugehört, nun brachen sie in lauten Jubel aus. Der Tumult wollte garnicht mehr enden, so begeistert waren sie. Der Pfarrer, der eigentlich etwas hatte erwidern wollen, sah und hörte sich das eine Weile mit an, ehe er sich brüsk umwandte und - vor Wut und Ingrimm kochend - auf immer aus dem Pub verschwand. Woraufhin der Jubel, der bereits am Abklingen gewesen war, noch einmal aufbrandete. So kam Soundso-County zu einer Geschichte, die bis heute gern erzählt und gehört wird.
     Nur wenig später bekam die Gemeinde einen anderen Pfarrer. Dem ist aber bisher der O’Leary-Test erspart geblieben, so daß man noch nicht so recht weiß, wes Geistes Kind er wirklich ist.

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