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keinefrau.html 28.06.2013

Inform Verlag GmbH

Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

"Erzählungen und dergleichen" von Helmar Kloss (Copyright)


                        Kostprobe: Keine Frau für’s Leben

     Mein alter Freund Willi riß mich bei seinen Besuchen immer wieder aus meinem normalen Trott, und wir stellten zusammen Sachen an, von denen ich mir vorher nicht hätte träumen lassen, daß ich sie tun könnte. Dazu gehörte auch das Frauenaufreißen oder -abschleppen. Ich sprach zwar gelegentlich eine Frau auf der Straße an, die mir gefiel, aber er hatte ein System entwickelt. Wir setzten uns in eine Kneipe oder ein Café und parlierten in einer Phantasiesprache, die wir möglichst französisch klingen ließen. Meist reichten wenige Minuten, und wir waren nicht mehr allein. In der Regel waren es Gruppen anderer erlebnishungriger junger Leute, mit denen wir so in Kontakt kamen, und eh wir’s uns versahen, befanden wir uns auf einem Ausflug, in irgendeiner Kneipe, die wir noch nicht kannten, oder sogar auf einer Fete.
     An diesem Abend war es eine Fete. Ich sichtete die eher bescheidenen Eßvorräte in der spartanisch eingerichteten Küche. Ein Riesentrog mit grauenhaftem Nudelsalat - einem bestenfalls geschmacklosen Sattmacher - beherrschte den Küchentisch. Dazu jede Menge Bier. Mit einer offenen Bierflasche in der Hand ging ich zurück in den Hauptraum.
     Dort fiel mir sogleich eine junge Frau mit slawisch anmutendem Gesichtsschnitt auf: rundes Gesicht, kurze, strohblonde Haare, dazu weit auseinanderstehende, grün schimmernde Augen - das Licht ließ keine genauere Festlegung zu - und ein großer, aber nicht zu großer, jedenfalls sehr sinnlich wirkender Mund unter einer allerliebsten Stupsnase. Die Faszination schien gegenseitig zu sein. Vermutlich, weil ich das genaue Gegenteil war: längliches Gesicht mit ausgeprägter Sattelnase, braune Augen und Haare, schmallippiger Mund.
     Ihr Interesse gab mir sozusagen die Sporen. Ich legte einen Balztanz hin, der mich selbst verblüffte. Ich bin sonst kein großer Tänzer, aber angefeuert von den Zuschauern, die inzwischen einen Kreis um mich gebildet hatten, produzierte ich unter anderem sogar einen Krakowiak - oder was ich dafür hielt - und erntete großen Beifall. An ihren Augen, die ich hin und wieder in der mich umgebenden Menschenmauer aufblitzen sah, konnte ich ablesen, daß sich die Mühe lohnen könnte.
     Nach dem Tanz war sie mein. Allerdings wußte ich damals noch nicht allzuviel daraus zu machen. Wir knutschten ein bißchen, ich betatschte sie ausgiebig, aber mehr war nicht drin. Dann, plötzlich - die Fete war in vollem Gange und würde bis zum Morgengrauen dauern - mußte sie dringend weg. Dabei ging es erst auf Mitternacht! Aber sie, - sie mußte unbedingt weg. Ich begleitete sie, - was blieb mir anderes übrig. Zunächst wußte ich aber noch nicht, wohin. Als ich es erfuhr, was das ein weiterer Schlag.
     Sie kam aus dem Westen.
     Mit meinem Moped brachte ich sie zum Bahnhof Friedrichstraße, und wir verabredeten uns für morgen. Morgen um 9 Uhr, am Ausgang, wo die Touristen die Grenzkontrollen hinter sich hatten, denn weiter kam man damals nicht, als Ossi. Außerdem sagte sie, ich solle mich auf Schwierigkeiten gefaßt machen, denn sie sei mit einer Reisegruppe da, und könne leider nicht immer machen, was sie wolle. - Na, prima!
     Am nächsten Morgen - der Nebel in meinem Gedächtnis hatte sich leider nur an einigen Stellen verflüchtigt - war ich wieder am Bahnhof. Eigentlich war es noch zu früh für mich, denn von Rechts wegen hätte ich an diesem Tag Erholung von einer langen Woche und der Fete respektive von dem nach dem Abschied noch stattgehabten Alkoholmißbrauch suchen müssen. Stattdessen stand ich nun hier, in mäßiger Form, am Eingangstor zum Arbeiter- und Bauernparadies und wartete.
     Man könnte sich fragen, warum ich mir die Mühe machte. Frauen gibt es doch wie Sand am Meer. Aber außer Willi und meiner Familie kenne ich kaum einen Menschen näher. Die Leute, die wir am Wochenende treffen, sehen wir in der Regel nie wieder. Zwar könnte ich mich einer Klicke anschließen, die immer in der Gegend herumhängt, wo ich wohne, aber die Typen sind mir zu blöd. Es reicht mir schon, auf der Arbeit mit jeder Menge blöder Typen zu tun zu haben. Im übrigen ist Anonymität ja der Normalfall in der Stadt. Auf dem Land, wo ich herkomme, ist sie die auffällige Ausnahme, die niemanden ruhen läßt, ehe nicht die Herkunft des Fremden erkundet und der Grund seiner Anwesenheit herausgefunden ist. Aber kein Stadtmensch will ohne besonderen Grund über einen anderen etwas herausfinden. Es gibt einfach zuviele. In der Regel wünschen alle nur, in Ruhe gelassen zu werden. Daß zwei Menschen aufeinandertreffen, die gleichzeitig Interesse aneinander haben, ist also garnicht so häufig. Darum stand ich hier herum.
     Ich bin jemand, der sehr geduldig warten kann. Aber nur bis zur festgesetzten Zeit. Ist die erreicht, werde ich prompt nervös, fühle mich angespannt, fange irgendwann an, mir Unfallszenarien auszudenken, nehme vorsichtshalber auch bald an, die erwartete Person werde nicht kommen, damit es mich nicht so trifft, wenn ich damit tatsächlich recht behalte, hoffe dann wieder ein paar Minuten, gebannt auf die vorrückenden Zeiger einer Uhr starrend, setze mir schließlich Grenzen für mein Ausharren, erst eine Viertelstunde, dann eine halbe, dann ...
     Ich wartete über eine Stunde. Woran man ablesen kann, wie verliebt ich war. Jedoch umsonst. Plötzlich standen zwei Vopos neben mir.
“Ihren Ausweis bitte!”
     Höflich, aber unfreundlich. Ich suchte meinen Personalausweis heraus und gab ihn dem, der ihn gefordert hatte. Während der meinen Ausweis genauestens prüfte, fragte der andere:
“Was dun Se hier?”
“Ich warte auf jemand.”
“Wissn Se nich, dasse hier nich einfach so rumschdähn genn?”
“Nee, wieso?”
“Wär geene Berächtjung hat, sich hier uffzuhaldn, der macht sich verdächdich!”
“Verdächtig?”
“Na glar!”
“Wieso?” Ich tat erstaunt, obwohl der Groschen inzwischen längst gefallen war.
“Se befindn sich hier an eem sozusajen neuralgischen Bungt, junger Mann. Nur n’ bar Meder von de Kränzgondrolln, ja?”
     Ich zuckte die Achseln.
“Ist Ihnen das nicht klar?” fragte der Ausweiskontrolleur.
“Doch.”
“Also, was suchn Se nu' hier?”
“Ich bin verabredet.”
“Mit wäm?”
“Mit einer jungen Frau aus dem Westen, die ich gestern kennengelernt habe.”
“Aha”, sagte der Kontrolleur, so als ob seine schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheitet hätten.
     Die beiden Grenzer nickten sich zu.
“Bidde folchen Se uns unauffällich, ja!?”
     Der Kontrolleur ging voraus, ich folgte ihm. Hinter mir ging der Sachse. Ich war nicht verhaftet, sondern nur vorläufig festgenommen; was sich allerdings im Arbeiter-und-Bauer-Paradies nicht unbedingt lange zu unterscheiden brauchte.
     Die Vopos, die mich eingesammelt hatten, trugen Uniform. Wo sie mich hinführten, waren die Leute in Zivil, - Stasi (Staatssicherheit). Mit denen hatte ich garnicht gern zu tun. Das würde Ärger geben, so oder so.
     Ich saß wartend auf einer schäbigen Bank in einem schäbigen Raum. Teil eines bunkerartigen Verlieses in den Eingeweiden des Bahnhofs. Eine schäbige Tür ging auf, ein Mensch in schäbigem Zivil sah heraus und sagte: “Kommen Sie bitte hier herein!”
     Ich stand auf und ging an ihm vorbei in ein schäbiges Verhörzimmer. Er wies mir mit einer Geste, die ich im Halbdunkel nur undeutlich wahrnahm, einen Platz zu, aber die Geste war überflüssig. Es war ganz klar, welcher Platz für mich gedacht war, der im grellen Licht einer Verhörlampe. Der Mann an der Tür blieb irgendwo im Dunkel hinter mir zurück; sollte wahrscheinlich aufpassen, daß ich die Räumlichkeiten nicht etwa plötzlich verließ. Hinter dem Schreibtisch vor mir saß ein anderer, den ich nur in Umrissen sah.
“Was tun Sie über eine Stunde am Bahnhof Friedrichstraße?”
     Die Frage war ganz ruhig gestellt, im Plauderton sozusagen, ganz unverfänglich. Eine Einladung, dem netten Onkel alles zu sagen, was mich bedrückte.
     Ich hatte Zeit gehabt, nachzudenken und mir überlegt, ob ich ihnen ein Märchen auftischen oder bei der Wahrheit bleiben sollte. Im Geschichtenausdenken bin ich nicht gut, und mir war keine stimmige eingefallen. Also blieb ich bei der Wahrheit:
“Ich habe auf eine Bekannte gewartet.”
“Soso, eine Bekannte. Eine Bekannte aus dem Westen, wie?”
“Ja. Aber als ich sie kennenlernte, wußte ich nicht, daß sie aus dem Westen war.”
“So, Sie wußten nicht, daß sie aus dem Westen war. Was wissen Sie denn jetzt über sie?”
“Nur, daß sie mich um 9 vor dem Bahnhof treffen wollte.”
“Und warum standen Sie” - er sah auf seine Armbanduhr - “um Viertel nach zehn immer noch da?”
“Ich dachte, sie habe sich verspätet und würde noch kommen.”
“So, Sie dachten, sie würde noch kommen. - Wie heißt denn die junge Dame?”
“Jutta.”
“Und wie weiter?”
“Weiß ich nicht.”
     Hinter mir klappte die Tür.
“Soso. - Und wie haben Sie sie kennengelernt?”
“Gestern auf einer Fete.”
“Kann man erfahren, was das für eine Fete war?”
“Keine Ahnung. Eine Fete eben. Wir ... äh, ich meine ich, also ich traf ein paar Leute in einem Café, und die schlugen mir vor, mit auf diese Fete zu gehen. Ich ging auch mit und traf da Jutta. Jutta mußte vor Mitternacht wieder rüber. So erfuhr ich, daß sie von drüben war. Ich brachte sie zum Bahnhof, und wir verabredeten uns für heute um 9. Aber sie ist nicht gekommen.”
“Soso, sie ist also nicht gekommen.”
     Er überlegte, was er mit mir anfangen sollte.
“Nun,” meinte er schließlich, “da Sie so lange geduldig gewartet haben, können Sie ja wohl auch noch etwas weiterwarten, wie?”
     Er beachtete mich nicht weiter, sondern begann irgendwelche Papiere zu sortieren, stellenweise zu lesen, abzuzeichnen und abzulegen. Sehen konnte ich das zwar kaum, aber wenn nicht gerade eine S-Bahn über uns oder eine U-Bahn neben uns ein- oder ausfuhr, hörte ich die dazugehörigen Geräusche.
     Mir ging bald jedes Zeitgefühl verloren. Auch alles andere erschien mehr und mehr unwirklich. Ich schloß die Augen vor der blendenden Helligkeit und versuchte an Jutta zu denken. Aber ihr Gesicht wollte mir nicht einfallen. Nur der Eindruck, den es mir gemacht hatte. Für mehr war die Bekanntschaft wohl zu kurz gewesen. Dann überkam mich Müdigkeit, weil ich nicht ausgeschlafen war.
     Nach mir unendlich lang erscheinender Zeit klappte erneut die Türe im Dunkel hinter mir, und eine Männerstimme sagte: “Eine Jutta Hunziger aus Bremerhaven ist mit einer Gruppe am Übergang Oberbaumbrücke eingereist.”
     Also das war es! Sie hatte ihrer Gruppe folgen müssen, und die hatte einen anderen Übergang gewählt. Ohne den Gedanken zu Ende zu denken, registrierte ich beiläufig, daß die Polizei die Namen aller Einreisenden registrierte und datentechnisch erfaßte. Und ich registrierte die Namen Hunziger und Bremerhaven. Jutta war also aus Bremerhaven. Irgendwie norddeutsch hatte sie ja ausgesehen, auch wenn ich sie erst für slawisch gehalten hatte.
“Tja, junger Mann. Da haben Sie hier wohl umsonst herumgestanden.”
“Ja, sieht so aus.”
“Wir halten noch Ihre Personalien fest, dann können Sie gehen,” sagte er gönnerhaft, als ob er mir einen persönlichen Gefallen damit täte, daß er mich nicht kasernierte, schrieb die Angaben aus meinem Ausweis ab und gab ihn mir zurück.
“Übrigens, hat Ihnen noch keiner gesagt, daß Sie Westkontakte besser - äh - unterlassen sollten?”
“Ja, schon, aber ...”
“Kein ‘aber’, junger Mann. Mit einer Verliebtheit fängt es an und mit versuchter Republikflucht hört es auf. Ich kann Sie nur warnen! Der Klassenfeind schläft nicht!”
     Ich nickte ergeben.
“Und merken Sie sich, junger Mann,” sagte er noch, “in der Nähe der Grenzanlagen sollte man sich nicht aufhalten. Schon garnicht so lange. Das weckt den Argwohn unserer Grenzverteidiger.”
     Ich merkte mir das, dann war ich entlassen.
     Aber Jutta habe ich nie wiedergesehen und auch nie wieder etwas von ihr gehört.

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