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klavier.html 04.04.2008

Inform Verlag GmbH

Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

"Erzählungen und dergleichen" von Helmar Kloss (Copyright)


                        Kostprobe: Brennholz für Frieda

"Wann wirst du endlich aufhören, auf dem Klavier herumzuklimpern! Man wird ja seines Lebens nicht mehr froh!"
"Hab dich nicht so, Herbert! Der Junge spart schon für Klavierstunden! Dann wird es sich bald besser anhören!"
"Wenn das so weitergeht, werde ich das nicht mehr erleben! Dann bin ich längst in der Klapsmühle!!"
"Das ist doch Unsinn! Du bist doch den ganzen Tag nicht da! Und abends braucht er ja auch nicht zu üben!"
"Er tut es aber!!!"
"Statt zu schimpfen, solltest du ihm lieber etwas dazugeben! Bei seinem Taschengeld kann es doch noch ewig dauern, bis es für Klavierstunden
reicht!"
"Das wär' ja noch schöner! Wer soll denn das alles bezahlen!? Kriegt er etwa nicht genug Taschengeld!!? - Ich habe in seinem Alter
überhaupt kein Taschengeld bekommen!! Da mußte ich alleine sehen, wie ich zurechtkomme!"
Der Vater hielt kurz inne, um zu kauen.
"Außerdem bin ich grundsätzlich dagegen, daß der Junge seine Zeit am Klavier verplempert! Er soll gefälligst etwas Anständiges
lernen! Ich habe mit 17 längst meinen eigenen Lebensunterhalt verdient!! Aber natürlich ist Handwerk nichts für unseren feinen Herrn!
Da könnte er sich ja die Finger schmutzig machen! Er klimpert lieber den ganzen Tag auf dem Klavier herum! - Und du mußt ihn natürlich auch
noch wieder dabei unterstützen!!"
Der Vater atmete tief durch.
"Aber ihr werdet schon sehen, was dabei herauskommt! Man sieht es ja an deiner ganzen Familie."
"Laß’ bitte meine Familie aus dem Spiel!"
"Jaja, das hörst du nicht gern! Weil das in deiner Familie ja auch alles Spinner waren, die es zu nichts gebracht haben im Leben!"
Der Vater wandte sich wieder seinem Essen zu; allerdings nur kurz.
"Abitur! Natürlich müssen unsere Herren Söhne Abitur machen! Und studieren müssen sie natürlich auch!
Selbstverständlich!! Und wer, frage ich dich, übernimmt das Geschäft, wenn ich mal nicht mehr kann!? Ein Wahnsinn ist das!! Da
schuftet man, um seiner Familie eine Situation zu schaffen! Rackert sich ab für seine Kinder!! - Und was tun die als Dank dafür!?"
Dramatische Pause.
"Der eine Spinner studiert 'Volkswirtschaft' - wenn ich das schon höre - 'Volkswirtschaft'! Und der andere klimpert nur noch auf dem Klavier! Es ist
zum Auswachsen!! Zum Auswachsen ist das!!!"
"Aber Herbert, mußt du dich denn wieder bei Tisch so aufregen? Man kommt ja gar nicht richtig zum Essen."
"Außerdem wird er, wenn er so weitermacht, sein Abitur garnicht schaffen! Das wird einem ja nicht in den Schoß gelegt, während man
am Klavier klimpert!"
"Das würde dir so passen! - Junge, iß doch! Es wird ja alles ganz kalt! Du hast doch den ganzen Tag nichts gegessen! Richtig blaß siehst du aus!"
"Ja, der arme Junge! Ganz blaß sieht er aus! So hat ihn das Klimpern angestrengt!"
"Herbert, jetzt gehst du wirklich zu weit! Du warst doch überhaupt nicht hier! Woher willst du wissen, was der Junge gemacht hat!?"
Das Klappen der Tür enthob den Vater einer Antwort.
"Ach, da kommt ja auch unser 'Volkswirt'! Der weiß zwar sonst nicht, was eine Uhr ist! Aber zum Essen kommt er immer noch gerade rechtzeitig!"
"Herbert, du bist heute wieder unmöglich!"
"Guten Tag, Mutter, Tag Vater, Tach Kleena!"
"Da bist du ja endlich! Nun setz dich doch schon. Ich hole nur noch schnell ein Gedeck!" Die Mutter eilte in die Küche. Blitzschnell war sie mit Teller
und Besteck zurück.
"Warum kommst du so spät? Alles ist schon beinahe kalt!"
"Tschuldige. War noch bei Pauls."
"Und, - wie geht es denen?"
"Gut, wie soll's geh'n?"
Es wurde schweigend - mehr oder minder hastig - gegessen. Nach einer Weile sagte der ältere Sohn:
"Ich muß euch etwas sagen."
"Nanu, so feierlich?"
"Mach's nicht so spannend!"
"Tja also, Elvira und ich, äh, - wir wollen heiraten."
Sprachloses Schweigen.
Bis vor kurzem war allenfalls eine Heirat mit Angelika erwartet - im übrigen zehn Jahre umsonst erwartet - worden.
Nach längerer Pause meinte der Vater schließlich: "Hast du dir das auch richtig überlegt, mein Junge?"
Ehrlicherweise hätte der mit 'nein' antworten müssen, weil derzeit ein zum Denken denkbar ungeeignetes Organ sein Handeln diktierte. Doch er
sagte nichts.
"Und wann soll die Hochzeit sein?" Die Mutter dachte praktisch: Es gab so viel vorzubereiten.
"Das steht noch nicht fest. Und außerdem muß ich ja auch noch mit dem Pfarrer reden, - von wegen meiner Konfirmation und so."
Durch die Kriegswirren war er mit 14 nicht eingesegnet, sondern beinahe, wie sein etwas langsamerer Freund, am Grenzfluß von tschechischen Bauern
eingeholt und erschlagen worden.
"Ihr wollt euch kirchlich trauen lassen!?"
Die Mutter kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie erkannte ihren Ältesten nicht wieder.
"Ja. - Elvira möchte gern. - Und warum soll ich ihr diesen Wunsch abschlagen?"
Der Mutter fielen Gründe genug ein. Sie hatten vor allem mit der Überzeugung zu tun, die er selbst so oft lautstark vertreten hatte:
antireligiös und antikirchlich. Aber sie sagte nichts, sondern fragte nur, in banger Erwartung, ihren Ältesten nun endgültig zu verlieren:
"Und wo wollt ihr wohnen?"
"Tja, darüber sind wir uns noch nicht im Klaren."
Diese Unentschlossenheit bot der Mutter die Chance, den Status quo wenigstens annähernd noch für eine Weile zu erhalten:
"Und wie wär' es mit dem Souterrain, Herbert?" wandte sie sich an ihren Mann. "Können wir das nicht ausbauen?"
Der Vater lehnte sich, wahrscheinlich an einem bissigen Kommentar formulierend, in seinem Stuhl zurück. Der Ehekandidat stocherte nachdenklich in
seinem Essen. Die Mutter blickte gespannt von einem zum anderen.
"Und wo bleibt mein Klavier!?" fragte der Junge in die konzentrierten Überlegungen hinein.
Aus dem nachdenklichen wurde ein allmählich immer peinlicher werdendes Schweigen.
"Ach ja! - Das Klavier ...??" -
"Können wir doch nach oben tragen."
"Nach oben? Über  d i e  Treppe!?"
Ratloses Schweigen ...
"Ins Parterre ginge es ja über die Gartentreppe, - aber in den ersten Stock ...?"
"Vielleicht durchs Fenster?"
"Das geht nicht ohne Kran."
"Na, den haben wir doch! - Die Erdbautechnik hat doch einen! - Das wäre nicht das Schlimmste."
Die 'Erdbautechnik GmbH' war der jüngste Spross des kleinen Firmenimperiums, das der Vater aufgebaut hatte.
"Ich glaube, die Fenster sind viel zu klein..."
"Das wird schon irgendwie klappen, das mit deinem Klavier", wandte sich schließlich der Heiratslustige ermutigend an seinen kleinen Bruder, der still
zugehört hatte. "Wichtiger ist jetzt erstmal der Umbau und die Renovierung: Unten muß 'ne Heizung 'rein! Und wir brauchen einen Schrank! Am
besten wär' ein Einbauschrank im hinteren Raum! Dann wären auch die Geräusche der Ölheizung gedämpft!"
Im hinteren Raum stand zur Zeit das Klavier.
"Aus der kleinen Nische neben dem Durchgang zur Waschküche machen wir die Küche! Ein Schornstein ist da, glaub' ich! Brauchen wir nur
einen Abzug einzubauen!"
Bei dieser Planungseuphorie wollte auch der Vater nicht zurückstehen: "Den Öltank laß' ich im Garten versenken! Dann haben wir Platz
für das Bad!"
"Kannst du nicht den Siwak freibekommen? Das wär' doch genau das Richtige für ihn!"
Siwak war Heizungsmonteur, Installateur, Maurer und Tischler in einer Person und würde das Ding schon schaukeln.

Wochen vergingen. Die Vorbereitungen für den Umbau kamen gut voran. Währenddessen versuchte der Junge sein Klavier zu retten. Der Tag
rückte näher, an dem es aus dem Wege sein mußte. Er trommelte erneut die Freunde zusammen, die ihm schon beim Transport geholfen
hatten, als das Klavier 'gegen Abholung' zu haben gewesen war. Nichtsdestoweniger hatte ihn die Sache einschließlich Klavierstimmer über ein
Monatstaschengeld gekostet, nach eigener - nicht väterlicher - Währung. Die Freunde kamen.
Trotz der Transportgurte war es eine Quälerei, das schwarze Monstrum im Stile der Jahrhundertwende unten aus dem Haus in den Garten,
außen die Stufen hinauf zum Vordereingang und von dort durch die kleine Diele zur Treppe zu bugsieren, die in den ersten Stock führte, wo das
Zimmer des Jungen lag. Doch es ging. Dort aber, am Fuß der Treppe - oder genauer, in dem Knick am Fenster, wo die Treppe unter der Kante
hindurchging, die vom Fußboden des ersten Stocks gebildet wurde, - dort war Schluß. Und wenn bis dahin - trotz allen Messens - die Hoffnung
bestanden hatte, das Kamel doch noch irgendwie durch das Nadelöhr zu bekommen, - hier zerrann sie.

Als der Vater einige Tage später abends nach Hause kam, hörte er lärmendes Sägen und Hämmern aus dem Garten
heraufschallen. Er suchte und fand seine Frau in der Küche.
"Macht Siwak heute Überstunden?"
"Nein, der ist schon lange weg."
"So, - und wer sägt da?"
"Der Junge."
Sie hörten plötzlich einen fürchterlichen Krach, gefolgt von mächtigem Sirren und Surren, das langsam abschwoll und leise
verklang, mancher Stelle zeitgenössischer Musik nicht unähnlich. Der Vater ging über den Flur in das Wohnzimmer, um von dort aus
dem Fenster in den Garten zu sehen.
Sein jüngerer Sohn war dabei, das Klavier zu zerlegen. Alle Klappen der mit Schnitzereien verzierten Verkleidung waren geöffnet oder schon
abgenommen. Das Pedalgestänge war ausgeweidet. Auch nackt sah das Klavier noch sehr eindrucksvoll aus. Es besaß einen mächtigen
Gußrahmen für die kreuzgespannten Saiten, der auf schweren Holzbalken ruhte. Es hätte sicher noch hundert und mehr Jahre leben
können. Die ebenhölzernen oder mit Elfenbein beschichteten Tasten häuften sich auf dem Rasen. Der Junge nahm gerade behutsam den
Klöppelmechanismus auseinander, betrachtete ihn dem Anschein nach andächtig und legte die Teile auf einen Haufen. Dann griff er zum Beil
und begann, Pedalstangen, Klappen und alle anderen hölzernen Teile mit geradezu berserkerhafter Wut zu zerhacken, daß die Fetzen flogen.
Die Mutter trug das Essen auf.
"Wie ist er denn auf die Idee gekommen?" fragte der Vater.
"Er hat es nicht fertiggebracht, es wieder zu verkaufen, sagt er. Brennholz für Frieda will er daraus machen."
Der Vater war sprachlos.
Frieda, die Schwägerin, hatte - solange der Vater in Gefangenschaft war - dem Jüngsten die Mutter ergänzt wenn nicht ersetzt, denn diese
hatte die Aufgabe des Ernährers übernehmen müssen. Dem Vater war sie schon immer ein Dorn im Auge. In ihrem Lebensentwurf spielte der Vorsatz, 'es zu etwas zu bringen', nicht die herausragende Rolle, die er seiner Meinung nach verdiente. Jeder Einfluß, der von ihr auf seine Söhne ausging, schien ihm daher höchst suspekt. Doch reichte in diesem speziellen Fall das Material für eine Anklage nicht aus.
"Brennholz für Frieda?" murmelte er ungläubig und ratlos.
"Ja, Brennholz für Frieda."

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