Kostprobe: Brennholz für Frieda
"Wann wirst du endlich aufhören, auf dem Klavier
herumzuklimpern!
Man
wird ja seines Lebens nicht mehr froh!"
"Hab dich nicht so, Herbert! Der Junge spart schon für
Klavierstunden!
Dann wird es sich bald besser anhören!"
"Wenn das so weitergeht, werde ich das nicht mehr erleben! Dann bin
ich längst in der Klapsmühle!!"
"Das ist doch Unsinn! Du bist doch den ganzen Tag nicht da! Und abends
braucht er ja auch nicht zu üben!"
"Er tut es aber!!!"
"Statt zu schimpfen, solltest du ihm lieber etwas dazugeben! Bei seinem
Taschengeld kann es doch noch ewig dauern, bis es für
Klavierstunden
reicht!"
"Das wär' ja noch schöner! Wer soll denn das alles bezahlen!?
Kriegt
er etwa nicht genug Taschengeld!!? - Ich habe in seinem Alter
überhaupt kein Taschengeld bekommen!! Da mußte ich alleine
sehen,
wie ich zurechtkomme!"
Der Vater hielt kurz inne, um zu kauen.
"Außerdem bin ich grundsätzlich dagegen, daß der Junge
seine Zeit
am Klavier verplempert! Er soll gefälligst etwas Anständiges
lernen! Ich habe mit 17 längst meinen eigenen Lebensunterhalt
verdient!!
Aber natürlich ist Handwerk nichts für unseren feinen Herrn!
Da könnte er sich ja die Finger schmutzig machen! Er klimpert
lieber
den ganzen Tag auf dem Klavier herum! - Und du mußt ihn
natürlich
auch
noch wieder dabei unterstützen!!"
Der Vater atmete tief durch.
"Aber ihr werdet schon sehen, was dabei herauskommt! Man sieht es ja
an deiner ganzen Familie."
"Laß’ bitte meine Familie aus dem Spiel!"
"Jaja, das hörst du nicht gern! Weil das in deiner Familie ja auch
alles Spinner waren, die es zu nichts gebracht haben im Leben!"
Der Vater wandte sich wieder seinem Essen zu; allerdings nur kurz.
"Abitur! Natürlich müssen unsere Herren Söhne Abitur
machen! Und
studieren müssen sie natürlich auch!
Selbstverständlich!! Und wer, frage ich dich, übernimmt das
Geschäft,
wenn ich mal nicht mehr kann!? Ein Wahnsinn ist das!! Da
schuftet man, um seiner Familie eine Situation zu schaffen! Rackert
sich ab für seine Kinder!! - Und was tun die als Dank
dafür!?"
Dramatische Pause.
"Der eine Spinner studiert 'Volkswirtschaft' - wenn ich das schon
höre
- 'Volkswirtschaft'! Und der andere klimpert nur noch auf dem Klavier!
Es ist
zum Auswachsen!! Zum Auswachsen ist das!!!"
"Aber Herbert, mußt du dich denn wieder bei Tisch so aufregen?
Man
kommt ja gar nicht richtig zum Essen."
"Außerdem wird er, wenn er so weitermacht, sein Abitur garnicht
schaffen!
Das wird einem ja nicht in den Schoß gelegt, während man
am Klavier klimpert!"
"Das würde dir so passen! - Junge, iß doch! Es wird ja alles
ganz
kalt! Du hast doch den ganzen Tag nichts gegessen! Richtig blaß
siehst
du aus!"
"Ja, der arme Junge! Ganz blaß sieht er aus! So hat ihn das
Klimpern
angestrengt!"
"Herbert, jetzt gehst du wirklich zu weit! Du warst doch überhaupt
nicht hier! Woher willst du wissen, was der Junge gemacht hat!?"
Das Klappen der Tür enthob den Vater einer Antwort.
"Ach, da kommt ja auch unser 'Volkswirt'! Der weiß zwar sonst
nicht,
was eine Uhr ist! Aber zum Essen kommt er immer noch gerade
rechtzeitig!"
"Herbert, du bist heute wieder unmöglich!"
"Guten Tag, Mutter, Tag Vater, Tach Kleena!"
"Da bist du ja endlich! Nun setz dich doch schon. Ich hole nur noch
schnell ein Gedeck!" Die Mutter eilte in die Küche. Blitzschnell
war
sie
mit Teller
und Besteck zurück.
"Warum kommst du so spät? Alles ist schon beinahe kalt!"
"Tschuldige. War noch bei Pauls."
"Und, - wie geht es denen?"
"Gut, wie soll's geh'n?"
Es wurde schweigend - mehr oder minder hastig - gegessen. Nach einer
Weile sagte der ältere Sohn:
"Ich muß euch etwas sagen."
"Nanu, so feierlich?"
"Mach's nicht so spannend!"
"Tja also, Elvira und ich, äh, - wir wollen heiraten."
Sprachloses Schweigen.
Bis vor kurzem war allenfalls eine Heirat mit Angelika erwartet - im
übrigen zehn Jahre umsonst erwartet - worden.
Nach längerer Pause meinte der Vater schließlich: "Hast du
dir das
auch richtig überlegt, mein Junge?"
Ehrlicherweise hätte der mit 'nein' antworten müssen, weil
derzeit
ein zum Denken denkbar ungeeignetes Organ sein Handeln diktierte. Doch
er
sagte nichts.
"Und wann soll die Hochzeit sein?" Die Mutter dachte praktisch: Es
gab so viel vorzubereiten.
"Das steht noch nicht fest. Und außerdem muß ich ja auch
noch mit
dem Pfarrer reden, - von wegen meiner Konfirmation und so."
Durch die Kriegswirren war er mit 14 nicht eingesegnet, sondern
beinahe,
wie sein etwas langsamerer Freund, am Grenzfluß von tschechischen
Bauern
eingeholt und erschlagen worden.
"Ihr wollt euch kirchlich trauen lassen!?"
Die Mutter kam aus dem Staunen nicht heraus. Sie erkannte ihren
Ältesten
nicht wieder.
"Ja. - Elvira möchte gern. - Und warum soll ich ihr diesen Wunsch
abschlagen?"
Der Mutter fielen Gründe genug ein. Sie hatten vor allem mit der
Überzeugung
zu tun, die er selbst so oft lautstark vertreten hatte:
antireligiös und antikirchlich. Aber sie sagte nichts, sondern
fragte
nur, in banger Erwartung, ihren Ältesten nun endgültig zu
verlieren:
"Und wo wollt ihr wohnen?"
"Tja, darüber sind wir uns noch nicht im Klaren."
Diese Unentschlossenheit bot der Mutter die Chance, den Status quo
wenigstens annähernd noch für eine Weile zu erhalten:
"Und wie wär' es mit dem Souterrain, Herbert?" wandte sie sich an
ihren Mann. "Können wir das nicht ausbauen?"
Der Vater lehnte sich, wahrscheinlich an einem bissigen Kommentar
formulierend,
in seinem Stuhl zurück. Der Ehekandidat stocherte nachdenklich in
seinem Essen. Die Mutter blickte gespannt von einem zum anderen.
"Und wo bleibt mein Klavier!?" fragte der Junge in die konzentrierten
Überlegungen hinein.
Aus dem nachdenklichen wurde ein allmählich immer peinlicher
werdendes
Schweigen.
"Ach ja! - Das Klavier ...??" -
"Können wir doch nach oben tragen."
"Nach oben? Über d i e Treppe!?"
Ratloses Schweigen ...
"Ins Parterre ginge es ja über die Gartentreppe, - aber in den
ersten
Stock ...?"
"Vielleicht durchs Fenster?"
"Das geht nicht ohne Kran."
"Na, den haben wir doch! - Die Erdbautechnik hat doch einen! - Das
wäre nicht das Schlimmste."
Die 'Erdbautechnik GmbH' war der jüngste Spross des kleinen
Firmenimperiums,
das der Vater aufgebaut hatte.
"Ich glaube, die Fenster sind viel zu klein..."
"Das wird schon irgendwie klappen, das mit deinem Klavier", wandte
sich schließlich der Heiratslustige ermutigend an seinen kleinen
Bruder,
der still
zugehört hatte. "Wichtiger ist jetzt erstmal der Umbau und die
Renovierung:
Unten muß 'ne Heizung 'rein! Und wir brauchen einen Schrank! Am
besten wär' ein Einbauschrank im hinteren Raum! Dann wären
auch die
Geräusche der Ölheizung gedämpft!"
Im hinteren Raum stand zur Zeit das Klavier.
"Aus der kleinen Nische neben dem Durchgang zur Waschküche machen
wir die Küche! Ein Schornstein ist da, glaub' ich! Brauchen wir
nur
einen Abzug einzubauen!"
Bei dieser Planungseuphorie wollte auch der Vater nicht
zurückstehen:
"Den Öltank laß' ich im Garten versenken! Dann haben wir
Platz
für das Bad!"
"Kannst du nicht den Siwak freibekommen? Das wär' doch genau das
Richtige
für ihn!"
Siwak war Heizungsmonteur, Installateur, Maurer und Tischler in einer
Person und würde das Ding schon schaukeln.
Wochen vergingen. Die Vorbereitungen für den Umbau kamen gut
voran.
Währenddessen versuchte der Junge sein Klavier zu retten. Der Tag
rückte näher, an dem es aus dem Wege sein mußte. Er
trommelte erneut
die Freunde zusammen, die ihm schon beim Transport geholfen
hatten, als das Klavier 'gegen Abholung' zu haben gewesen war.
Nichtsdestoweniger
hatte ihn die Sache einschließlich Klavierstimmer über ein
Monatstaschengeld gekostet, nach eigener - nicht väterlicher -
Währung.
Die Freunde kamen.
Trotz der Transportgurte war es eine Quälerei, das schwarze
Monstrum
im Stile der Jahrhundertwende unten aus dem Haus in den Garten,
außen die Stufen hinauf zum Vordereingang und von dort durch die
kleine
Diele zur Treppe zu bugsieren, die in den ersten Stock führte, wo
das
Zimmer des Jungen lag. Doch es ging. Dort aber, am Fuß der Treppe
- oder genauer, in dem Knick am Fenster, wo die Treppe unter der Kante
hindurchging, die vom Fußboden des ersten Stocks gebildet wurde,
-
dort war Schluß. Und wenn bis dahin - trotz allen Messens - die
Hoffnung
bestanden hatte, das Kamel doch noch irgendwie durch das Nadelöhr
zu bekommen, - hier zerrann sie.
Als der Vater einige Tage später abends nach Hause kam,
hörte er
lärmendes
Sägen und Hämmern aus dem Garten
heraufschallen. Er suchte und fand seine Frau in der Küche.
"Macht Siwak heute Überstunden?"
"Nein, der ist schon lange weg."
"So, - und wer sägt da?"
"Der Junge."
Sie hörten plötzlich einen fürchterlichen Krach, gefolgt
von
mächtigem
Sirren und Surren, das langsam abschwoll und leise
verklang, mancher Stelle zeitgenössischer Musik nicht
unähnlich.
Der Vater ging über den Flur in das Wohnzimmer, um von dort aus
dem Fenster in den Garten zu sehen.
Sein jüngerer Sohn war dabei, das Klavier zu zerlegen. Alle
Klappen
der mit Schnitzereien verzierten Verkleidung waren geöffnet oder
schon
abgenommen. Das Pedalgestänge war ausgeweidet. Auch nackt sah das
Klavier noch sehr eindrucksvoll aus. Es besaß einen
mächtigen
Gußrahmen für die kreuzgespannten Saiten, der auf schweren
Holzbalken
ruhte. Es hätte sicher noch hundert und mehr Jahre leben
können. Die ebenhölzernen oder mit Elfenbein beschichteten
Tasten
häuften sich auf dem Rasen. Der Junge nahm gerade behutsam den
Klöppelmechanismus auseinander, betrachtete ihn dem Anschein nach
andächtig und legte die Teile auf einen Haufen. Dann griff er zum
Beil
und begann, Pedalstangen, Klappen und alle anderen hölzernen Teile
mit geradezu berserkerhafter Wut zu zerhacken, daß die Fetzen
flogen.
Die Mutter trug das Essen auf.
"Wie ist er denn auf die Idee gekommen?" fragte der Vater.
"Er hat es nicht fertiggebracht, es wieder zu verkaufen, sagt er.
Brennholz
für Frieda will er daraus machen."
Der Vater war sprachlos.
Frieda, die Schwägerin, hatte - solange der Vater in
Gefangenschaft
war - dem Jüngsten die Mutter ergänzt wenn nicht ersetzt,
denn diese
hatte die Aufgabe des Ernährers übernehmen müssen. Dem Vater
war
sie schon immer ein Dorn im Auge. In ihrem Lebensentwurf spielte
der Vorsatz, 'es zu etwas zu bringen', nicht die herausragende Rolle,
die er seiner Meinung nach verdiente. Jeder Einfluß, der von ihr
auf
seine
Söhne ausging, schien ihm daher höchst suspekt. Doch reichte
in
diesem
speziellen Fall das Material für eine Anklage nicht aus.
"Brennholz für Frieda?" murmelte er ungläubig und ratlos.
"Ja, Brennholz für Frieda."