Kostprobe: Ein Konzert
Die Nachtigall war berühmt für ihre Sangeskunst und den
Wohlklang
ihrer Stimme. Sie war darob auch nicht wenig stolz. Wer sie sah, mochte
allerdings ahnen, daß ihr Stolz vielleicht nicht zuletzt deshalb
so groß
war, weil ihre Stimme sie unter anderem für die Unscheinbarkeit
ihres
Kleides entschädigen mußte. Denn wenn sie irgendwo erschien,
wo man ihren
Rang nicht kannte, drehte sich niemand nach ihr um, - so unscheinbar
war
sie. Fand sie aber Gelegenheit - und sie unterließ es nie,
fleißig nach
einer solchen zu suchen und so sich eine bot, sie auch sogleich zu
ergreifen
- schmetterte sie ihr kunstvolles Lied, woraufhin sie sogleich zum
Mittelpunkt
des allgemeinen Interesses wurde. Alles verstummte und hörte ihr
zu.
Eines schönen Tages befand sich ein alter Rabe unter dem
unverhofft
beglückten Publikum, der ihr - kaum daß sie ihr Lied geendet
hatte -
den
allergrößten Beifall spendete.
¨Ihr seid die Königin aller Vögel¨, sagte er, nachdem
wieder
Ruhe eingetreten war. ¨Niemals zuvor bin ich von einer Vogelstimme
derart beglückt
worden!¨
¨Vogelstimme?¨ fragte jemand neugierig. ¨Warum die
Einschränkung?
Gibt es denn etwas Schöneres als eine Vogelstimme? Und ist nicht
unter
allen
Vogelstimmen die der Nachtigall die schönste?¨
¨Gewiߨ, antwortete der Rabe, ¨gewiß hat sie
die schönste
aller Vogelstimmen! Wir sind uns darin sicher einig! Garkein Zweifel!
Und auch ihr Lied ist
wundervoll und ergreifend. Man weiß nicht, was man mehr bewundern
soll: die Art, in der es das Herz ergreift, oder die alles erhellende
Klarheit
bei so
ungeheurer Vielfalt und Koloratur.¨
Und er fuhr noch eine ganze Weile fort in seiner eloquenten Eloge,
welche anzuhören die Nachtigall nicht müde wurde, wohingegen
die anderen
allmählich etwas gelangtweilt wirkten.
¨Doch muß ich das erhabene Bild ein ganz klein wenig
trüben,¨
sagte der Rabe schließlich bedächtig.
Wer nun nicht, wie alle übrigen, auf den Raben, sondern weiter auf
die Nachtigall geschaut hätte, würde gesehen haben, wie sich
ihr liebes
Gesicht
verfinsterte. Doch statt sich vehement zu verteidigen, schwieg sie
betroffen.
¨Weshalb?¨ fragte einer der Anwesenden schließlich
neugierig.
¨Woran fehlt es denn nach deiner Meinung?¨
¨Die Leichtigkeit ihres Gesanges, so herrlich sie ist, - bedeutet
sie nicht unvermeidlicherweise zugleich einen Mangel an Gewicht und -
na,
sagen wir mal -
Bedeutung?¨
¨Warum sollte etwas, was so herrlich leicht ist, wie der Gesang
der Nachtigall, zugleich auch noch Gewicht und Bedeutung haben?¨
wandte
ein anderer ein.
¨Weil sich nach kurzer Zeit - empfinden wir das nicht alle? seien
wir ehrlich! - ein gewisses Ungenügen einstellt. Man ahnt,
daß sie nur
um ihrer selbst -
und um des Beifalls - willen singt, statt etwas Höheres zu
preisen.
Die Kunst der Nachtigall, - sie ist sich selbst genug. Und das bedeutet
leider - mit Verlaub - eine gewisse - um nicht zu sagen: eitle -
Leere.¨
¨Das geht nun aber doch entschieden zu weit, finde ich¨,
krächzte
der gerade aus seiner langjährigen Gefangenschaft entflohene
Papagei,
in der Hoffnung, sich dadurch ein paar Freunde zu machen.
¨Nun, so ganz abweisen kann ich diesen Einwand nicht¨,
ließ
sich - am Boden äußerst vorsichtig - die Lerche vernehmen.
¨Ich
für mein Teil versuche
über die Kunst hinaus etwas auszudrücken.¨
¨Da ist schon etwas dran¨, sagte eine Stimme aus dem
Hintergrund,
- glattweg ignorierend, was die Lerche geäußert hatte.
¨Die Nachtigall
ist so in sich
selbst verliebt, daß man sich sehr bald dagegen sträubt, von
ihrem Lied berührt zu werden.¨
¨Ich denke auch¨, ließ sich der eher zufällig
anwesende Kauz
vernehmen, des für ihn grellen Lichtes wegen die großen
Augen geschlossen
haltend. ¨Es
ist ein gar zu nichtiges Trällern, an dem ich mich nicht lange
erfreuen
kann.¨
¨Doch wo findet man das, was der Nachtigall fehlt?¨ wandte
sich ein junger Rabe neugierig an den alten.
¨Im Gesang der Raben!¨ Der alte Rabe zuckte mit keiner Wimper,
als er das sagte.
¨Im Gesang der Raben!? - Ich wußte nicht, daß Raben
singen
können!¨ Die Elster blickte erstaunt in die Runde.
¨Und ob¨, erwiderte der Rabe. ¨Zwar wird uns von Banausen
und Ignoranten die Anerkennung verweigert, weil es so mühevoll
ist, die
Bedeutung des
Rabengesanges zu ermessen, und oberflächliche Schönheit
läßt sich
heutzutage - da das Publikum - mehr noch als je - zumeist nur aus einem
Haufen
eitler und ungebildeter Banausen besteht - leider entschieden leichter
verkaufen als Tiefe und Wahrheit.¨
Alle dachten angestrengt darüber nach, ob sie protestieren
sollten,
ohne sich dadurch womöglich eine Blöße zu geben.
¨Die Anwesenden natürlich ausgenommen,¨ fügte der
Rabe verschmitzt
hinzu.
¨Ihr tut mir Unrecht¨, wandte schließlich die Nachtigall
ein.
¨Meinem Gesang ermangelt es keineswegs an Tiefe, - und schon gar
nicht
an Wahrheit!¨
¨Also was die Tiefe angeht¨, meldete sich der Uhu zu Wort,
ganz wie der Kauz die Augen geschlossen haltend, ¨so muß ich
dem Raben
leider beipflichten.
Und imübrigen finde ich tiefere Stimmen sowieso erheblich
schöner
als dieses seichte, ja, geradezu leere und dabei schrille Gezirpe, das
mir die Ohren
klirren macht. Außerdem, meine Damen und Herren,¨ er wandte
sich
an die Umstehenden, die großen Augen aus- und eindrucksvoll kurz
öffnend:
¨ich
frage Sie, - gibt es etwas Ergreifenderes als unseren Ruf!?¨
Er holte mächtig tief Luft und rief: ¨Uhuu!! Uhuu!!¨
¨Bravo! Sehr richtig!¨ Der Kauz war natürlich nicht
zuletzt
aufgrund ihrer Verwandtschaft völlig auf des Uhus Seite. ¨Und
was,
gebe ich zu bedenken,
würde daraus werden, wenn er in der Tonlage altissima der
Nachtigall
erschallen würde!?¨
¨Nicht auszudenken!¨ gurrte die Taube, aber keiner gab weiter
auf sie acht, weil sie eigentlich in diesem erlauchten Kreise nichts zu
suchen hatte.
¨Ich kann nun allerdings darin nichts - aber auch garnichts -
hören, was die Bezeichnung ‘Gesang’ verdiente¨, wandte nach
einer
Pause die Lerche ein.
¨Allenfalls handelt es sich bei diesen Lauten um einen Ruf!¨
¨Ja, ganz richtig! Es ist nur ein Lockruf, - einer, der mich
imübrigen nicht ein bißchen verlockt¨, ließ sich
noch einmal die Nachtigall
vernehmen.
¨Da bin ich gänzlich anderer Meinung¨, mischte sich ein
vorlautes
Käuzchen ein.
¨Und!?¨ sagte der Rabe mit gewichtiger Stimme, alle Anwesenden
zum Zuhören zwingend, ¨Ruf oder Gesang, - eine Stimme von Rang
sollte
alle
Ausdrucksformen beherrschen, auch die scheinbar einfache des Uhurufs,
der aber dem Kenner und Liebhaber bei genauerem Zuhören tiefe
Besinnlichkeit
verrät und durchaus nicht weniger Eindruck macht als die
Prächtigkeit
der perlendsten Nachtigallkoloratur!¨
Während der nun eintretenden Pause, in der alle damit
beschaätigt
waren, diesen bedenkenswerten Gedanken des Raben zu verarbeiten [was
nun
allerdings keine ganz leichte Sache war, mit Hirnen, die denen von
Spatzen
sehr verwandt sind] öffnete sich langsam und schauerlich knarrend
die
Tür. Jeder stellte daraufhin erleichtert das Denken ein, und aller
Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Eingang. Folglich sahen
auch
alle gebannt mit an, wie ehrfurchtgebietend und majestätisch -
obwohl
die geringe Höhe des Durchganges ihn einen Moment lang zwang, den
Kopf
einzuziehen - der Adler eintrat.
Alle verneigten sich sogleich und bildeten eine Gasse, um ihn - wo
er auch immer hinwollen mochte - untertänigst durchzulassen. Doch
der
Adler blieb dort stehen, wo er gerade stand, - die Flügel leicht
gespreizt,
ein unüberwindliches Hindernis vor dem einzigen Ausgang, und
musterte
die Anwesenden - einen nach dem anderen - mit einem Blick seiner kalten
Augen, der jedem von ihnen durch und durch ging.
'Ich kann nur hoffen, daß er schon zu Abend geatzt hat', dachte
die
Taube, als die Reihe an ihr war, gemustert zu werden, und verfluchte
ihre
Neugier, die sie an diesen Ort geführt hatte.
Und auch der Nachtigall kam unter diesen Umständen nicht in den
Sinn,
wie gewohnt, ein Lied anzustimmen, um die Aufmerksamkeit aller auf sich
zu
lenken. Vielmehr bedankte sie sich im Stillen bei ihrem Schöpfer
für
die Unscheinbarkeit ihres Federkleides.
Niemand gedachte noch des Zwists von eben. Ja, - sogar der Rabe, der
bis eben noch den Kreis nahezu souverän beherrscht und - viel
hatte nicht
gefehlt - sein Krächzen als Gesang verkauft hätte, war mit
einem Male ein Niemand,
für den sich dementsprechend auch niemand mehr interessierte; von
Kuckuck,
Kauz und Käuzchen in dieser Hinsicht ganz zu schweigen.
Da standen sie nun einander gegenüber, hier der königliche
Raubvogel,
Beherrscher der Lüfte, nicht ganz à l’aise in dieser
vergleichsweise
engen Höhle, aber dennoch ein unbezwingbarer Gegner, der sie
jederzeit
einzeln oder zugleich nach Belieben hätte schlagen können,
und da seine
Untertanen, die möglichen Menupunkte, Insekten- und Wurmfresser
ihres
Zeichens, bestenfalls an Aas interessiert, wie der Rabe und der heute
mal
wieder nicht pünktliche Geier. Alle warteten sie stumm auf sein
Wort.
- Doch der Adler schwieg. Und sein Schweigen wußte sich niemand
zu deuten.
Es war jedoch mehr als unheilschwanger. Zudem lag unausgesprochen eine
Frage in der Luft: Wer hatte dem Adler den Treffpunkt verraten?
Ganz allmählich stieg die Spannung ins Unerträgliche.
Und plötzlich - wie auf ein Zeichen - hielt sie niemand
länger aus!
Ein Trällern, Zwitschern und Rufen hub an, höllisch laut und
oft auch
schrill, manchmal geradezu dysharmonisch; letztlich dann aber doch -
aller
Dysharmonie zum Trotz - irgendwie zusammenklingend; auf jeden Fall
ungeheuer
mächtig und eindrucksvoll, - ein Konzert, das nie wieder
vergißt, wer
es jemals gehört hat. Was vorher noch keinem der Anwesenden
widerfahren
war. Allenfalls dem Raben mochte etwas in der Art vorgeschwebt haben,
als
er die Gleichrangigkeit von Koloratur und Ruf behauptet hatte.
Dieses mächtige und zugleich schauerlich klingende Konzert - denn
trotz einer gewissen befreienden Wirkung saß allen nach wie vor
die Angst
in den
Hohlknochen - dauerte eine ganze Weile an und ließ dabei kein
Auge
trocken. Sogar den Adler muß es irgendwie beeindruckt haben, denn
nach einer Weile machte er auf der Stelle kehrt und verschwand.
Übrigens soll es Versammlungen dieser Art danach nie wieder
gegeben
haben. - Weshalb denn auch heutzutage ein jeder selber sehen muß,
ob und
wie er mit Adlern zurechtkommt.