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orestnachwort.html 25.04.2013

Inform Verlag GmbH

Orest - Tragödie in vier Akten von Helmar Kloss


Nachwort des Autors

     Die mythische Gestalt des Orest hat mich fasziniert, solange ich zurückdenken kann: Wie und wodurch hatte er dazu gebracht werden können, die für einen Menschen normalerweise ungemein liebe und wichtige Person - manchmal sogar die liebste und wichtigste - die eigene Mutter, umzubringen? Seine Tat erschien mir, der ich als Kind durch kriegsbedingte Ereignisse, wie den Bombenhagel auf Berlin und die Flucht aus Ostpreußen - vielleicht mehr, zumindest aber spürbarer als üblich - existentiell von meiner Mutter abgehangen habe, ungeheuerlich und unfaßbar. - Aber vielleicht gerade deshalb auch besonders faszinierend. Denn was mußte geschehen sein, wie schwer hatte die Beziehung zwischen Mutter und Sohn beschädigt werden müssen, damit es zu einer solchen Greueltat kommen konnte? Daß Orest durch Elektras Einflüsterungen oder gar nur durch Folgsamkeit gegenüber dem Gesetz der Blutrache hatte dazu gebracht werden können, erschien mir immer schon unpsychologisch, konstruiert und unglaubwürdig. Also habe ich versucht, eine glaubwürdigere Konstellation zu erfinden. Das bedingte einige Freiheit im Umgang mit der (allerdings ohnehin schon ziemlich variantenreichen) Überlieferung, zumal ich die in der Sage hin und wieder handelnd auftretenden Götter ausklammern wollte.
     Wer einen “Orest” vorlegt, der ohne Psychologie nicht denkbar wäre, sollte vielleicht auch gleich selbst die Frage aufwerfen und beantworten, ob und inwieweit er die Titelfigur “sei” bzw. ihr charakterlich ähnele, damit nicht mehr oder oft auch weniger wohlmeinende Kritiker darüber spekulieren, wie sehr der Autor in seinem Stück Aggressionen gegen seine Mutter “sublimiert” habe. Also: ich “bin” nicht Orest, und ich ähnele ihm auch nicht besonders. Auch "ist" oder ähnelt meine Mutter nicht Klytaimnestra. Alle vier Figuren sind zwar irgendwie “ich”, denn sie “leben” von meiner Lebenserfahrung, und sowohl in Orest als auch in Klytaimnestra steckt einiges von meinem eigenen Charakter, mehr als z.B. in Elektra. Nicht zuletzt wegen der Alterslage fühle ich mich aber auch dem nicht weiter ausgeführten Ägisth sehr nahe, obwohl ich mich nicht mit ihm identifiziere.
     Und was nun die eben aufgeworfene Kernfrage angeht, so hatte ich nie einen mir bewußten Grund oder Wunsch, meine Mutter umzubringen, und ich habe auch trotz langen Nachdenkens keinen finden können. Das schließt natürlich nicht aus, daß es, wie in jeder engen Beziehung, Aggressionen gegeben hat, die einen Beitrag zum Interesse am Thema “Orest” geleistet haben mögen. Und vielleicht tat ja auch Orest, was ich mir als Kind aus Wut, Enttäuschung oder Verlassenheit zeitweilig - unbewußt - gewünscht habe. Gründe dafür wären natürlich vorstellbar. Kinder haben oft ganz erhebliche Aggressionen, die sie erst allmählich zu zügeln bzw. zu verdrängen lernen. Das Muster für den im Stück dargestellten Mutter-Sohn-Konflikt hat sich jedoch nicht aus einem einzigen, sondern aus vielen Beispielen gebildet, ergänzt durch Lektüre sowie Erfahrungen in Therapiegruppen und in Familien von Freunden und Bekannten, wobei sicher eine Rolle gespielt hat, daß in der Nachkriegszeit alleinerziehende Kriegerwitwen lange die Regel und komplette Familien die Ausnahme waren. Mein eigener Vater kam erst 1948 aus dem Krieg zurück, genauer: aus der Kriegsgefangenschaft, wurde dann allerdings nicht, wie Agamemnon, ermordet, sondern übernahm ganz selbstverständlich wieder die Familienoberhoheit. Ihm gegenüber hatte das Kind, das ich damals war, ganz erhebliche und mir auch durchaus bewußte Aggressionen, - Ödipus läßt grüßen. (Jedoch sind wir, als er starb, versöhnt geschieden.) Meine Mutter habe ich aber immer sehr geschätzt und geachtet, und solange sie lebte, habe ich ihr ein langes, gesundes und zufriedenes Leben gewünscht. Und als sie sterben mußte, habe ich ihr dabei zu helfen versucht.
     All dies (und wahrscheinlich noch einiges mehr) verdichtete sich im Laufe meines Lebens zu dem Eindruck, daß Mütter gewissermaßen Schaltstellen sind, durch welche die Schicksale der Menschen entschieden werden, weil es ihr Verhalten ist, das wesentlich die Beziehung des Kindes zur Welt bestimmt. Da jedoch die Erinnerung eines jeden einzelnen nicht bis in die Zeit, die ihn entscheidend geprägt hat, zurückreicht, wissen wir darüber - aller Psychologie zum Trotz - im Grunde doch noch immer nur sehr wenig. Trotzdem müßten eigentlich, da wir (fast) alle Familien entstammen, die Äußerungen und geheimsten Gedanken der verschiedenen Mitglieder der Familie Tantalides den Lesern und Zuschauern hin und wieder bekannt vorkommen.
     Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur Form. Wozu die Einheit von Ort und Zeit? Warum ein Vierpersonenstück? Und weshalb Verse? - Zum einen sind vier Personen sowohl für den Autor als auch für die Zuschauer leichter zu handhaben bzw. auseinanderzuhalten als z.B. sechs oder acht. Zum anderen glaube und hoffe ich, daß sich durch die Form des Stückes die Intensität der Vorgänge und ihre Wirkung auf die Zuschauer erhöhen. So dient auch die Einheit von Ort und Zeit dem Zweck der Intensivierung: Keine Umbauten sollen die Konzentration der Zuschauer stören, keine rührend hilflosen oder gar peinlichen Versuche, mit den Möglichkeiten des Films zu konkurrieren, die Bemühungen der Schauspieler entwerten und das Stück ungewollt zur Farce machen, wie ich das im Theater oft habe mitansehen müssen. Der Vorhang senkt sich zwischendurch nur, damit das Gehörte nachwirken kann. Und schließlich sollen auch die Verse dazu dienen, die Intensität von Gesagtem und Geschehen zu erhöhen.
Berlin, im März 1994