Kostprobe: Das verkleidete Schaf
Man kennt die Fabel vom Wolf im Schafspelz. Weniger
bekannt dürfte die Geschichte vom Schaf im Wolfspelz sein, die nun hier
berichtet werden soll.
Ein junges, soeben nacktgeschorenes Schaf fror ganz erbärmlich,
weil der Frühling immer wieder dem zurückkehrenden Winter wich.
Und als eines Tages die Schafherde, wie gewöhnlich, am frühen Morgen
auf die noch sehr karge Weide getrieben werden sollte, verkroch es sich in
einer Ecke im Stall, wo Hunde und Hütejunge es nicht finden konnten.
Am selben Tag begann der Bauer, die Remise über dem Stall aufzuräumen,
in der teils Heu und Stroh, teils Gerümpel gelagert war, um Platz zu
schaffen und all das von oben herunterwarf, was er entweder erneut zu gebrauchen
oder auszusortieren gedachte. Der Zufall wollte es, daß ein alter Wolfspelz,
den der Bauer hinunterwarf, just auf dem Rücken des nackten Schafes
landete, das dadurch nicht wenig erschrak. Zunächst wollte es sich auch
gleich wieder des Pelzes entledigen, zumal er trotz seines Alters und verwahrlosten
Zustandes den Geruch des gefährlichen Räubers verströmte.
Doch dann merkte das Schaf, wie gut der Pelz es wärmte und ließ
ihn schließlich da, wo er war.
Diesen Tags brauchte das Schaf auch nicht zu hungern,
denn nachdem der Bauer seine Arbeit auf der Tenne beendet hatte, gab es genug
nach sonniger Alm duftendes Heu, das zwar geschmacklich nicht mit frischem
Grün, wohl aber mit den frostgeschädigten Pflanzen auf der Winterweide
mithalten konnte. Auf diese Weise sah das Schaf einmal mehr, daß es
vorteilhaft sein kann, aus dem gewohnten Trott der Herde auszuscheren. Es
verbrachte den ganzen Tag allein, doch nichtsdestoweniger auf recht angenehme
Weise. An dieser Extratour ersieht man, daß es sich vor der Schur um
ein schwarzes Schaf gehandelt hat, denn die sind für ihre Unarten sattsam
bekannt.
Auch blieb die Sache nicht ohne Folgen. Als die Schafherde
abends von den Hunden getrieben zurückkehrte und unser Schaf sich den
Artgenossen zwanglos zugesellen wollte, gab es einen Aufruhr. Wie wild stob
die Herde lauthals blökend auseinander, so daß das schwarze Schaf
erneut alleine dastand. Nun sind Schafe von Natur aus Herdentiere und mögen
es nicht, allein zu sein. Daher tat es dem Schaf in diesem Moment - anders
als am Morgen - sehr weh, von allen gemieden zu werden. Zudem begriff es
nicht, wie ihm geschah. Schafe sind nunmal nicht die klügsten Tiere.
Aber es kam sogar noch schlimmer. Plötzlich sah
sich das arme Schaf zähnefletschenden Schäferhunden gegenüber.
Auch Hunde sind ja nicht die Allerklügsten, und ihrer Nase nach war
das Schaf im Wolfspelz ein Wolf im Schafspelz. Aus Angst begann das Schaf
verzweifelt zu blöken, doch die Hunde hielten das für eine wölfische
Kriegslist und ließen sich nicht beirren. Wie auf Kommando griffen
sie ihren urverwandten Feind auf einmal an, packten ihn von verschiedenen
Seiten und zerrten gewaltig an seinem Fell.
Dadurch konnten sie allerdings nicht sehen, was sich
darunter abspielte: Durch das Zerren der Hunde hob sich der Wolfspelz und
entledigte das Schaf seiner Verkleidung. Unerkannt und unbeachtet konnte
es entweichen. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe die Hunde endlich begriffen,
daß sie keinen Wolf gepackt hatten, sondern nur einen Wolfspelz.
Und die Moral von der Geschicht': Sich verkleiden bringt es nicht!