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staub.html 19.05.2011

Inform Verlag GmbH

Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

"Erzählungen und dergleichen" von Helmar Kloss (Copyright)


                        Kostprobe: Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens

     Während vieler Jahre habe ich meine Mutter dabei beobachtet, wie sie verzweifelt, jedoch vergeblich bemüht mit Staub und Schmutz gerungen hat. Ja, ich würde so weit gehen, zu behaupten, daß sie ihr Leben im wesentlichen diesem Kampf gewidmet hat. Denn das Einkaufen von Lebensmitteln und die Zubereitung eßbarer Speisen hatte für sie längst nicht dieselbe Bedeutung, was nicht zuletzt an ihrem Hauptabnehmer gelegen haben mag, - meinem Vater, der sein Desinteresse an lukullischen Genüssen wiederholt demonstriert hat, indem er z.B. kalte Kartoffeln vorgeblich mit demselben Genuß [fr]aß, wie warme. Da ich das niederschreibe, sehe ich ihn in der Küche stehen, den Rücken an die eine Seite des Einbauschrankes gelehnt, den Kartoffeltopf auf der anderen und dessen Inhalt vertilgend. Ich vermute - beweisen kann ich es nicht - daß es in erster Linie ein Affront gegen meine Mutter, ihre Kochkünste, ihre Vorwürfe, seines unentschuldigten Fernbleibens zur üblichen Essenszeit, und ich weiß nicht, weswegen noch, darstellte. (Mir hat sie jedenfalls immer wieder einmal gern meine Lieblingsspeise zubereitet.)
     Zurück zum Staub, aus dem wir gemacht sind und zu dem wir wieder werden sollen. Meine Mutter kämpfte gegen dieses Urmaterial ihr Leben lang. Natürlich vergeblich. Der Staub ist überall und hat die penetrant zu nennende Eigenheit, kurz nach seiner Entfernung zurückzukehren. Ja, - wer darauf aus ist, ihn fernzuhalten, kann daraus ohne weiteres eine eminent sinnlose und frustrierende Dauerbeschäftigung machen. Ich denke sogar, daß die Geschichte von Sisyphus falsch kolportiert wird. Vermutlich hat man ihn versehentlich mit irgendwelchen Titanen in einen Topf geworfen. Ich bin überzeugt davon, daß Sisyphus’ eigentlicher Gegner nicht ein Fels gewesen ist, sondern schlichter Staub. Felsen sind überhaupt kein Problem für jemanden, der die Hebelgesetze kennt bzw. anzuwenden gelernt hat, und Sisyphus war ja kein Dummer. Nein, was einen Menschen wirklich entmutigen und verzweifeln lassen kann, das sind nicht Felsbrocken, sondern kleinste, allerfeinste Staubpartikel, die allerdings in so großer Zahl aufzutreten pflegen, daß kein noch so sauberer Mensch mit ihnen fertigwerden kann.
     Und Mutter war ein sauberer Mensch! Sie kämpfte und kämpfte ... Aufgrund meiner späten Geburt kenne ich nicht ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte, aber als ich zu denken begann, da war sie schon am Kämpfen. Und sie hat diesen Kampf erst auf dem Sterbebett ermattet aufgegeben. (Allerdings hatte es schon zuvor einige Ermüdungserscheinungen gegeben, über die ich pietätvollerweise schweigen werde.) Ich habe aus dieser Leidensgeschichte gefolgert, es lohne sich nicht, mit übermächtigen Gegnern zu kämpfen. Man ist immer der Verlierer und bleibt irgendwann auf der Strecke. Und der Staub ist so ein übermächtiger Gegner, denn er hat einfach den längeren Atem. Kaum ist er weggeputzt, beginnt er sich unerschüttert wieder zu sammeln. Ja, er neigt sogar zu bodenloser Gemeinheit, denn markiert er sich nicht am deutlichsten auf den eben geputzten Flächen!? Nirgendwo sonst sieht man ihn eher als dort, wo er fehlt! Allenfalls schnelles Wegschauen erlaubt, bei dieser Arbeit überhaupt zu einem vorläufigen Ende zu kommen.
     Deshalb habe ich mich schon vor langer Zeit entschlossen, Staub und Konsorten weitgehend dem Walten der Naturkräfte zu überlassen. Folgende Beobachtung hat diesen Entschluß erleichtert: In bewohnten Räumen wächst eine Staubschicht eigenartigerweise nicht über eine gewisse Dicke hinaus. Es kommt zu einer Art natürlichen Gleichgewichts. Vermutlich hat der Wind, der bei geöffneten Fenstern durch die Wohnung streicht, oder der Luftzug, den wir selbst erzeugen, wenn wir durch die Räume gehen, die Wirkung, daß die Staubschicht auf der polierten Anrichte eine gewisse Dicke nicht überschreiten kann. Diese gilt es zu tolerieren, ohne sich als Dreckschwein zu fühlen. Irgendwann kann man dann mit relativ geringer Mühe den auf dem Boden sedimentierten Staubüberschuß aufsaugen. Das ist alles.
     Dieser Trick funktioniert leider nicht, wenn man vom "Hausfrauensyndrom" eingekreist ist. Die Bezeichnung "Hausfrauensyndrom" ist imübrigen irreführend, denn es bedeutet ja keinesfalls ein Leiden für die Damen selbst als vielmehr für ihr soziales Umfeld. Dieses leidet, wenn die Hausfrau mitten im Fußballspiel allenthalben Bakterien und Milben wuchern sieht und erst lockerläßt, wenn auch der letzte in der Familie mindestens eine Allergie - sinnvollerweise eine Stauballergie - entwickelt hat. Bei manchen kann es allerdings auch zu einer Hausfrauenallergie kommen.
     Aber zurück zu den Glücklichen, die es sich leisten können, gegenüber dem Staub eine entspanntere Haltung einzunehmen. Das beschriebene Gleichgewicht hat meines Erachtens nach folgenden technischen Hintergrund: Zunächst sammelt sich der Staub aufgrund von Schwerkraft und Adhäsion. Wächst die Staubschicht, muß über die Schwerkraft hinaus die Kohäsion die Arbeit übernehmen, neu hinzukommende Staubteilchen zu binden. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Denn erstens hat Staub ein sehr geringes Gewicht - Sie erinnern sich: Gewicht ist Druck auf die Unterlage - und zweitens scheint auch seine Kohäsion relativ schwach zu sein. Demzufolge setzt selbst der leiseste Luftzug die obersten Staubschichten in Bewegung, wirbelt sie fort, hinweg und weiter, immer weiter, wohin auch immer; vielleicht - wenn man Glück hat - sogar aus dem Fenster, um die liebe Hausfrau des Nachbarn zu erfreuen, oder irgendwo anders hin, wo sich Staubempfindliche darüber aufregen können.
     Also ich habe dem unverschämten Treiben des Staubes ganz einfach ein Ende gesetzt, indem ich es ignoriere. Doch sagt sich das so leicht daher. Es ist keineswegs eine Kleinigkeit gewesen, den Einflüsterungen meiner Erziehung durch eine Urenkelin des Sisyphus zu entkommen. Man hat sich dieses Umdenken als lange, mühevolle, von Rückfällen immer wieder infragegestellte Emanzipationsbestrebung vorzustellen. Den Anstoß dazu bekam ich natürlich auch nicht etwa in meinem Heimatland, das so voller unglücklicher Menschen ist, die unter Staub, Lärm, Arbeitswut, Ordnungsliebe und Reinlichkeitswahn leiden, daß die Praxen der Psychotherapeuten und Psychiater - oder wer immer sich sonst erfrecht, seelisches Leid heilen zu wollen - sowie die Irrenanstalten voll sind von Leidenden, von Patienten im eigentlichen Wortsinn, von den armen Kindern ganz zu schweigen. - Nein, nicht dort, sondern in einem westlichen Nachbarland. Zwar haben auch da die Menschen Probleme, doch der Staub gehört ganz offensichtlich nicht dazu; zumindest nicht in demselben Maße. Und ich habe den Eindruck gewonnen, daß sie nicht zuletzt deshalb ein glücklicheres Volk sind. Zum Beweise will ich nur eine von vielen Begebenheiten schildern, die ich dort erlebt habe.
     Als ich mich eines schönen Abends in meinem Quartier auf der Suche nach einem heruntergefallenen Kugelschreiber bückte, um unter dem Bett nach ihm zu suchen, und zu diesem Zweck die Schärpe anhob, die rundherum vom Bett bis auf den Boden hing, um dahinterzuschauen, gewahrte ich ein diesen Hohlraum völlig ausfüllendes Gespinst, gewissermaßen eine Inkarnation von Staub, die in langen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, dort gewachsen sein mußte. Ich war beeindruckt.
     Für meine arme Mutter wäre ein solcher Staubballen eine Leiche im Keller gewesen, von deren Entdeckung sie sich lebenslang nicht mehr erholt hätte. Angesichts dieses Monstrums wäre einer ihrer schrecklichsten Albträume Wirklichkeit geworden. Ja, ich fürchte sogar, sie würde sich etwas angetan haben, wenn es dergleichen in ihrem Hause zu entdecken gegeben hätte. Doch die Menschen hier - d.h. jetzt leider: dort - lebten nahezu glücklich und zufrieden, dieser ungeheuerlichen Ansammlung des Todfeindes jeder deutschen Hausfrau zum Trotz! Und ich befand mich zudem auch noch wohl unter ihnen! (Imübrigen befindet sich der Ballen sogar heute noch dort. Erst kürzlich habe ich nachsehen und ihn wie einen alten Bekannten begrüßen können.)
     Nun stellte sich mir natürlich unausweichlich die Frage: Sollte ich etwa diesen Staubballen zum Anlaß nehmen, anders über die Menschen zu denken, die ihn beherbergen? - Ohne weiteres kam ich zu dem Ergebnis: Nein, das wäre falsch, ja, - anmaßend und dumm! Ich will mich an dieser Stelle nicht über diese Leute verbreiten, aber es sind Menschen, wie du und ich. Und sie haben unseren Respekt nicht zuletzt auch deshalb verdient, weil sie in vielem unsere Lehrmeister sein können. Sie sind es in der Vergangenheit sogar tatsächlich gewesen, nur danken wir es ihnen in etwa genauso, wie die Römer den Etruskern, also durch Verleugnen und Vergessen. Mir blieb daher nichts weiter übrig, als anders über den Staub zu denken. Imübrigen - seien wir ehrlich - ist es nicht sogar so, daß auch wir den Staub nur dort nicht tolerieren, wo unsere Gäste ihn sehen können? Wie sieht es denn - Hand aufs Herz - im Keller und auf dem Dachboden aus?
     Jedenfalls kam es durch diese und eine Reihe weiterer Begebenheiten dazu, daß ich gelernt habe, folgende Maxime zu beherzigen: Ignoriere den Staub, solange du nicht zu solchem zu werden im Begriffe stehst. Denn er ist kein Feind, sondern nur Ausdruck der uns ängstigenden Vergänglichkeit.
Wir sollten lernen, damit richtig umzugehen.

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