Kostprobe: Über Staub und andere Feinde des Wohlbefindens
Während vieler Jahre habe ich meine
Mutter
dabei beobachtet, wie sie verzweifelt, jedoch vergeblich bemüht
mit
Staub
und Schmutz gerungen hat. Ja, ich würde so weit gehen, zu
behaupten,
daß
sie ihr Leben im wesentlichen diesem Kampf gewidmet hat. Denn das
Einkaufen
von Lebensmitteln und die Zubereitung eßbarer Speisen hatte
für sie
längst
nicht dieselbe Bedeutung, was nicht zuletzt an ihrem Hauptabnehmer
gelegen
haben mag, - meinem Vater, der sein Desinteresse an lukullischen
Genüssen
wiederholt demonstriert hat, indem er z.B. kalte Kartoffeln vorgeblich
mit demselben Genuß [fr]aß, wie warme. Da ich das
niederschreibe,
sehe
ich ihn in der Küche stehen, den Rücken an die eine Seite des
Einbauschrankes
gelehnt, den Kartoffeltopf auf der anderen und dessen Inhalt
vertilgend.
Ich vermute - beweisen kann ich es nicht - daß es in erster Linie
ein
Affront gegen meine Mutter, ihre Kochkünste, ihre Vorwürfe,
seines
unentschuldigten
Fernbleibens zur üblichen Essenszeit, und ich weiß nicht,
weswegen
noch,
darstellte. (Mir hat sie jedenfalls immer wieder einmal gern meine
Lieblingsspeise
zubereitet.)
Zurück zum Staub, aus dem wir gemacht
sind
und zu dem wir wieder werden sollen. Meine Mutter kämpfte gegen
dieses
Urmaterial ihr Leben lang. Natürlich vergeblich. Der Staub ist
überall
und hat die penetrant zu nennende Eigenheit, kurz nach seiner
Entfernung
zurückzukehren. Ja, - wer darauf aus ist, ihn fernzuhalten, kann
daraus
ohne weiteres eine eminent sinnlose und frustrierende
Dauerbeschäftigung
machen. Ich denke sogar, daß die Geschichte von Sisyphus falsch
kolportiert
wird. Vermutlich hat man ihn versehentlich mit irgendwelchen Titanen in
einen Topf geworfen. Ich bin überzeugt davon, daß Sisyphus’
eigentlicher
Gegner nicht ein Fels gewesen ist, sondern schlichter Staub. Felsen
sind überhaupt kein Problem für jemanden, der die
Hebelgesetze kennt bzw.
anzuwenden gelernt hat, und Sisyphus war ja kein Dummer. Nein, was
einen
Menschen wirklich entmutigen und verzweifeln lassen kann, das sind
nicht
Felsbrocken, sondern kleinste, allerfeinste Staubpartikel, die
allerdings
in so großer Zahl aufzutreten pflegen, daß kein noch so
sauberer
Mensch
mit ihnen fertigwerden kann.
Und Mutter war ein sauberer Mensch! Sie
kämpfte
und kämpfte ... Aufgrund meiner späten Geburt kenne ich nicht
ihre
ganze
Lebens- und Leidensgeschichte, aber als ich zu denken begann, da war
sie
schon am Kämpfen. Und sie hat diesen Kampf erst auf dem Sterbebett
ermattet
aufgegeben. (Allerdings hatte es schon zuvor einige
Ermüdungserscheinungen
gegeben, über die ich pietätvollerweise schweigen werde.) Ich
habe
aus
dieser Leidensgeschichte gefolgert, es lohne sich nicht, mit
übermächtigen
Gegnern zu kämpfen. Man ist immer der Verlierer und bleibt
irgendwann
auf der Strecke. Und der Staub ist so ein übermächtiger
Gegner, denn
er hat einfach den längeren Atem. Kaum ist er weggeputzt, beginnt
er
sich
unerschüttert wieder zu sammeln. Ja, er neigt sogar zu bodenloser
Gemeinheit,
denn markiert er sich nicht am deutlichsten auf den eben geputzten
Flächen!?
Nirgendwo sonst sieht man ihn eher als dort, wo er fehlt! Allenfalls
schnelles
Wegschauen erlaubt, bei dieser Arbeit überhaupt zu einem
vorläufigen
Ende zu kommen.
Deshalb habe ich mich schon vor langer Zeit
entschlossen, Staub und Konsorten weitgehend dem Walten der
Naturkräfte
zu überlassen. Folgende Beobachtung hat diesen Entschluß
erleichtert:
In bewohnten Räumen wächst eine Staubschicht
eigenartigerweise nicht über eine gewisse Dicke hinaus. Es kommt
zu einer Art natürlichen
Gleichgewichts.
Vermutlich hat der Wind, der bei geöffneten Fenstern durch die
Wohnung
streicht, oder der Luftzug, den wir selbst erzeugen, wenn wir durch die
Räume gehen, die Wirkung, daß die Staubschicht auf der
polierten
Anrichte
eine gewisse Dicke nicht überschreiten kann. Diese gilt es zu
tolerieren,
ohne sich als Dreckschwein zu fühlen. Irgendwann kann man dann mit
relativ
geringer Mühe den auf dem Boden sedimentierten
Staubüberschuß
aufsaugen.
Das ist alles.
Dieser Trick funktioniert leider nicht, wenn
man vom "Hausfrauensyndrom" eingekreist ist. Die Bezeichnung
"Hausfrauensyndrom"
ist imübrigen irreführend, denn es bedeutet ja keinesfalls
ein
Leiden
für die Damen selbst als vielmehr für ihr soziales Umfeld.
Dieses
leidet,
wenn die Hausfrau mitten im Fußballspiel allenthalben Bakterien
und
Milben
wuchern sieht und erst lockerläßt, wenn auch der letzte in
der
Familie
mindestens eine Allergie - sinnvollerweise eine Stauballergie -
entwickelt
hat.
Bei manchen kann es allerdings auch zu einer Hausfrauenallergie kommen.
Aber zurück zu den Glücklichen, die
es sich
leisten können, gegenüber dem Staub eine entspanntere Haltung
einzunehmen.
Das beschriebene Gleichgewicht hat meines Erachtens nach folgenden
technischen
Hintergrund: Zunächst sammelt sich der Staub aufgrund von
Schwerkraft
und Adhäsion. Wächst die Staubschicht, muß über
die
Schwerkraft
hinaus die Kohäsion die Arbeit übernehmen, neu hinzukommende
Staubteilchen
zu binden. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Denn erstens hat
Staub
ein sehr geringes Gewicht - Sie erinnern sich: Gewicht ist Druck auf
die
Unterlage - und zweitens scheint auch seine Kohäsion relativ
schwach
zu
sein. Demzufolge setzt selbst der leiseste Luftzug die obersten
Staubschichten
in Bewegung, wirbelt sie fort, hinweg und weiter, immer weiter, wohin
auch
immer; vielleicht - wenn man Glück hat - sogar aus dem Fenster, um
die
liebe Hausfrau des Nachbarn zu erfreuen, oder irgendwo anders hin, wo
sich
Staubempfindliche darüber aufregen können.
Also ich habe dem unverschämten Treiben
des
Staubes ganz einfach ein Ende gesetzt, indem ich es ignoriere. Doch
sagt
sich das so leicht daher. Es ist keineswegs eine Kleinigkeit gewesen,
den
Einflüsterungen meiner Erziehung durch eine Urenkelin des Sisyphus
zu
entkommen. Man hat sich dieses Umdenken als lange, mühevolle, von
Rückfällen
immer wieder infragegestellte Emanzipationsbestrebung vorzustellen. Den
Anstoß dazu bekam ich natürlich auch nicht etwa in meinem
Heimatland,
das so voller unglücklicher Menschen ist, die unter Staub,
Lärm,
Arbeitswut,
Ordnungsliebe und Reinlichkeitswahn leiden, daß die Praxen der
Psychotherapeuten
und Psychiater - oder wer immer sich sonst erfrecht, seelisches Leid
heilen
zu wollen - sowie die Irrenanstalten voll sind von Leidenden, von
Patienten
im eigentlichen Wortsinn, von den armen Kindern ganz zu schweigen. -
Nein,
nicht dort, sondern in einem westlichen Nachbarland. Zwar haben auch da
die Menschen Probleme, doch der Staub gehört ganz offensichtlich
nicht
dazu; zumindest nicht in demselben Maße. Und ich habe den
Eindruck
gewonnen,
daß sie nicht zuletzt deshalb ein glücklicheres Volk sind.
Zum
Beweise
will ich nur eine von vielen Begebenheiten schildern, die ich dort
erlebt
habe.
Als ich mich eines schönen Abends in
meinem
Quartier auf der Suche nach einem heruntergefallenen Kugelschreiber
bückte,
um unter dem Bett nach ihm zu suchen, und zu diesem Zweck die
Schärpe
anhob, die rundherum vom Bett bis auf den Boden hing, um
dahinterzuschauen,
gewahrte ich ein diesen Hohlraum völlig ausfüllendes
Gespinst,
gewissermaßen
eine Inkarnation von Staub, die in langen Jahren, wenn nicht
Jahrzehnten,
dort gewachsen sein mußte. Ich war beeindruckt.
Für meine arme Mutter wäre ein
solcher
Staubballen
eine Leiche im Keller gewesen, von deren Entdeckung sie sich lebenslang
nicht mehr erholt hätte. Angesichts dieses Monstrums wäre
einer ihrer
schrecklichsten Albträume Wirklichkeit geworden. Ja, ich
fürchte
sogar,
sie würde sich etwas angetan haben, wenn es dergleichen in ihrem
Hause
zu entdecken gegeben hätte. Doch die Menschen hier - d.h. jetzt
leider:
dort - lebten nahezu glücklich und zufrieden, dieser
ungeheuerlichen
Ansammlung
des Todfeindes jeder deutschen Hausfrau zum Trotz! Und ich befand mich
zudem auch noch wohl unter ihnen! (Imübrigen befindet sich der
Ballen
sogar heute noch dort. Erst kürzlich habe ich nachsehen und ihn
wie
einen
alten Bekannten begrüßen können.)
Nun stellte sich mir natürlich
unausweichlich
die Frage: Sollte ich etwa diesen Staubballen zum Anlaß nehmen,
anders über die Menschen zu denken, die ihn beherbergen? - Ohne
weiteres kam
ich zu dem Ergebnis: Nein, das wäre falsch, ja, - anmaßend
und dumm!
Ich will mich an dieser Stelle nicht über diese Leute verbreiten,
aber
es sind Menschen, wie du und ich. Und sie haben unseren Respekt nicht
zuletzt
auch deshalb verdient, weil sie in vielem unsere Lehrmeister sein
können.
Sie sind es in der Vergangenheit sogar tatsächlich gewesen, nur
danken
wir es ihnen in etwa genauso, wie die Römer den Etruskern, also
durch
Verleugnen und Vergessen. Mir blieb daher nichts weiter übrig, als
anders über den Staub zu denken. Imübrigen - seien wir
ehrlich - ist es
nicht
sogar so, daß auch wir den Staub nur dort nicht tolerieren, wo
unsere
Gäste ihn sehen können? Wie sieht es denn - Hand aufs Herz -
im
Keller
und auf dem Dachboden aus?
Jedenfalls kam es durch diese und eine Reihe
weiterer Begebenheiten dazu, daß ich gelernt habe, folgende
Maxime zu
beherzigen: Ignoriere den Staub, solange du nicht zu solchem zu werden
im Begriffe stehst. Denn er ist kein Feind, sondern nur Ausdruck der
uns ängstigenden Vergänglichkeit.
Wir sollten lernen, damit richtig umzugehen.