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familienministerin.html 17.05.2008

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Familienministerin, 17.04.2007

                                                             

Sehr geehrte Frau Minister,
     obwohl ich sehr wenig Zeit habe, will ich ... mich zu Ihren Plänen, die 700.000 KITA-Plätze (waren es 700.000?) betreffend, äußern.
     Ich bin Jahrgang (Ende) 1940. Aus Gründen, die zu erläutern hier zu weit führen würde (sie hingen mit kriegsbedingt zeitweiligem Vater- und Mutterverlust zusammen) habe ich mich während meines Soziologiestudiums stark mit Sozialisation und Entwicklungspsychologie beschäftigt. Der Krieg hat damals sehr viele Familien zeitweilig auseinandergerissen und viele endgültig zerstört. Viele Kinder mußten ohne Vater aufwachsen, nicht wenige ohne Eltern.
     Aber wie schon der Erste hat auch der Zweite Weltkrieg zur Frauenemanzipation beigetragen, weil die Frauen sich als durchaus fähig erwiesen, das zu tun, was sonst Männer taten. Und während nach dem Ersten die Nazis dafür gesorgt haben, daß die Frauen sich auf häusliche Aufgaben zurückzogen, hatte nach dem Zweiten die Frauenemanzipation allenthalben so weit fußgefaßt, daß die Restaurationsversuche nicht von Dauer blieben. Die Frauenbefreiung ließ sich nicht wieder ganz rückgängig machen. Insoweit scheint die Entwicklung positiv gewesen zu sein.
     Ich schreibe “scheint”, weil ich der Meinung bin, daß die Freiheit nun allenthalben entschieden zu weit geht.
     Ich bin  f ü r  die Frauenemanzipation, aber die Sache ist nicht so einfach, wie Sie sie zu sehen scheinen. Sie kämpfen dafür, daß mehr Frauen bereits zweijährige Kinder in Kindertagesstätten abgeben können. Die damalige Forschung (ich kann jetzt hier keine wissenschaftliche Arbeit leisten und die Quellen zitieren, denke aber, daß Sie genug Helfer haben, die das für Sie nachholen könnten) ergab, daß Kinder schwere seelische Schäden erleiden, wenn sie vorzeitig abgeschoben werden. Das Prinzip muß sein: Die Mutter muß dem Kind Zeit und Gelegenheit geben, sich  v o n  s i c h  a u s  abzunabeln.
     Nun frage ich Sie: Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß in unserer Gesellschaft (aber auch in unserer “Vorbild”-Gesellschaft, den USA) alle Zeichen auf Sturm stehen? Viele seelisch kranke Menschen ergeben nämlich eine kranke Gesellschaft! Muß ich die Symptome aufführen? Ich kann auch hier nicht alles so gründlich darlegen, wie ich müßte, will aber wenigstens den Versuch einer Diagnose wagen.
     Es gibt kaum noch stabile Ehen. Unglaublich viele Kinder müssen als Halbwaisen aufwachsen, weil die Menschen unfähig sind, stabile Beziehungen zu führen, in denen Kinder gedeihen. Mit anderen Worten: Die aktuelle gesellschaftliche Situation hat auf diesem Gebiet dieselben katastrophalen Auswirkungen, wie der schrecklichste Krieg, den die Menschheit bisher gesehen hat! Gibt das nicht zu denken!? Und natürlich ist das eine Lawine, die von Generation zu Generation anwächst, denn in kaputten Ehen aufgewachsene Kinder führen mit abnehmender Wahrscheinlichkeit selber glückliche Ehen. Folglich wird die Zahl der Ehescheidungen in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Arme, ungebildete und darüberhinaus bildungsunfähige Kinder werden der “Normal”fall werden (wenn sie es nicht schon sind).
     Während in meiner Zeit “Bildung” noch ein gesellschaftliches Ideal darstellte, weshalb z.B. der Beruf “Professor” den größten Nimbus hatte, ist Bildung heute ein gesellschaftliches Spurenelement. Die Menschen schätzen Bildung nicht und auch keine gebildeten Menschen. Allenfalls schätzen sie abfragbares, sinnloses Faktenwissen, weil man daraus Spiele machen kann. Denn die Menschen wollen unterhalten werden, damit sie sich von ihrer inneren Misere ablenken können. D.h. wir sind wieder da, wo das römische Imperium nicht allzulange vor seinem Untergang gestanden hat: panem et circensis, um den Pöbel ruhigzustellen und freie Bahn dem Machthungrigen und Gewinnsüchtigen! (Gewinnsucht ist übrigens eine dem Geiz verwandte seelische Krankheit wie Drogensucht, Freßsucht und Alkoholismus). Die bekannte (es gibt mit Sicherheit eine sehr große Dunkelziffer) Zahl von Analphabeten geht auf 10%. Auch das ist eine anwachsende Lawine, die sich mit den von unseren Politikern geplanten Maßnahmen nicht wird aufhalten geschweige denn rückgängig machen lassen.
     Doch genug davon. Sie können sicher aus eigenem Erleben weitere Symptome sozialer Krankheit hinzufügen. Stattdessen will ich versuchen, Anregungen zu geben, in welche Richtung man gehen müßte, um das “Schicksal” aufzuhalten: Ähnlich, wie zu Zeiten der Nazis muß das Muttertum öffentlich wertgeschätzt werden. Es muß Anerkennung bringen, Mutter zu werden und zu sein, wie zurzeit nur Erfolg im Beruf und der Besitz von Geld und dessen Zurschaustellung. Anerkennung erfährt eine Mutter heute fast nur von anderen Müttern. Und das ist vielen zuwenig; schon gar einer selbständigen, beruflich erfolgreichen, emanzipierten Frau. Damit die Emanzipation nicht leidet, muß dasselbe mit Bildung geschehen. Bildung muß öffentliche Anerkennung finden, denn zurzeit sind nur die Ungebildeten fruchtbar. (Studierte Frauen haben den geringsten Anteil an der Geburtenrate). Studium, Bildung und alles, was Frauenemanzipation und stabile Beziehungen fördert, muß von der öffentlichen Hand gefördert werden. Nicht zwei Jahre Mutterschaftsurlaub, sondern bei Bedarf sechs (mit sechs Jahren sind die meisten Kinder abgenabelt; eine wirklich liebevoll-zugewandte Mutter kann es bereits mit vier “schaffen”; nur die sich abgelehnt oder verstoßen fühlenden Kinder klammern und werden kurioserweise oft zu “Nesthockern”).
     Ich würde gern weitermachen, die Gedanken ordnen und das Ganze überzeugender darlegen, aber ich habe leider keine Zeit. ...
Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Damen und Herren Ihres Stabes, informieren Sie sich bitte zu den angesprochenen Themen und ändern Sie Ihre Pläne. Denn was Sie jetzt vorhaben, ist das Gegenteil von dem, was unsere Gesellschaft braucht, um nicht weiter in die Anomie abzugleiten. Mit dem, was Sie vorhaben, kämpfen Sie dafür - sicher ohne es zu wollen - daß seelische Schäden und deren soziale Folgen weiter um sich greifen werden.
MfG Helmar Kloss (Diplomsoziologe)

P.S.: Und damit nicht gar zu theoretisch bleibt, was ich Ihnen mitzuteilen versuche, eine (auf wahren Begebenheiten beruhende) Illustration aus meinem (bisher unveröffentlichten) Roman “Helena”:
Helmut erzählte: “Netti war eine berufstätige und selbständige junge Frau. Nur die Neugier und nicht etwa seelisches Leid hatte sie in die Kleingruppe einer Therapieorganisation getrieben, in der ich ihr begegnet bin, als ich mal eine depressive Krise hatte. Aber auch auf anderen Veranstaltungen dieser Organisation traf ich sie, denn wenn Netti etwas tat, dann tat sie es gründlich. Sie hoffte, etwas über Psychologie zu lernen, was sie in ihrem Beruf würde gebrauchen können. Netti war bei der Jugendfürsorge tätig, und da ergaben sich immer wieder schwierige Situationen, die sie mit Hilfe vertiefter Menschenkenntnis noch etwas besser zu meistern hoffte. Das war zumindest, was sie uns erklärte, als sie in der Kleingruppe nach ihren Motiven befragt wurde. Nicht, daß sie sich diesen Situationen etwa nicht gewachsen gefühlt hätte, - das nicht. Netti war eine kluge, gebildete und sehr energische junge Frau, die sich auch in schwierigen Situationen zu behaupten, - nein, falsch, nicht nur zu behaupten, sondern durchzusetzen wußte.”
“Wie Helena,” sagte Herr Keßner, und alle sahen auf Helene. Da weiter niemand etwas sagte, fuhr Helmut fort:
“Dann kam der Tag, an dem sie dem wiederholten Zureden der Kleingruppenleiterin schließlich nachgab und - obwohl sie es ja eigentlich nicht nötig hatte - in einer der gewissermaßen öffentlichen Therapiesitzungen dem Guru in persona Rede und Antwort stand, - vor 80 bis 100 Zulauerern, denen es natürlich oft vor allem auch darum ging, zu erfahren, daß nicht nur sie Probleme hatten. - Tja, und bei der Gelegenheit habe ich folgendes über Netti erfahren: Sie ist die Tochter wohlsituierter Eltern, - so wohlsituiert, daß die Eltern die Erziehung ihrer Tochter nicht selbst in die Hand nahmen, sondern Kindermädchen übertrugen. Kindermädchen im Plural, da diese Mädchen aus allen möglichen Gründen häufig wechselten. Aber eines dieser Kindermädchen blieb immerhin doch so lange, daß das Kind eine Beziehung aufbaute und sich eng an die Betreuerin anschloß, - ja, sie schließlich sogar liebte. Der Mutter fiel das bald unangenehm auf; sie reagierte mit Eifersucht, und des Bleibens auch dieses Kindermädchens war nicht länger. Betreuerin und Kind protestierten, aber die Mutter setzte sich durch. Es kam zu einer herzzerreißenden Trennungsszene, doch die Mutter blieb hart und war nicht umzustimmen. Das Kind blieb allein.”
“Das ist ja eine ganz schreckliche Geschichte.” Frau Keßners Mitgefühl war seinerseits ergreifend. Allem Anschein nach war sie eine sehr warmherzige Person.
“Das ist doch ganz alltäglich,” sagte Helene, deutlich um Abstand bemüht, “früher bei den Reichen, jetzt vor allem bei denen, für die Geld und Konsum wichtiger sind als das Glück ihrer Kinder.”
“So sehe ich es auch,” sagte Helmut.
“War das schon die ganze Geschichte?” Herr Keßner vermißte eine Pointe.
“Nein. Und wenn Sie wollen, erzähle ich weiter.”
“Wir bitten darum.”
“Gut. Also die berufliche Situation von Netti war folgende: Es war ihre Aufgabe, ledige Mütter daraufhin zu prüfen, ob sie geeignet schienen, ihre Kinder alleinerziehend durchzubringen. Kam sie bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis, die amtlichen Kriterien seien nicht erfüllt und die einwandfreie Erziehung der Kinder durch die Mutter sei infolge charakterlicher Mängel, finanzieller Probleme oder sonstiger Gründe nicht gewährleistet, veranlaßte sie die Trennung der Kinder von ihren leiblichen Müttern und ihren Abtransport in irgendwelche Waisenheime. Dabei kam es natürlich immer wieder zu herzzerreißenden Szenen, die Netti aus ihrer eigenen Kindheit hätten bekannt vorkommen müssen. Und ich halte es für möglich, daß sie genau deshalb - unbewußt Hilfe suchend - in der Therapiegruppe aufgetaucht war.”
“Unbewußt Hilfe suchend?” fragte Frau Keßner zweifelnd.
“Ja, ich glaube auch, daß das so gewesen sein kann,” sagte ihr Mann, “ich habe einiges darüber gelesen.”
“Du hast über Psychologie gelesen? Mir hast du nie davon erzählt.”
“Es gibt so einiges, worüber wir nicht reden.”
Betretenes Schweigen trat ein.
“Schade,” sagte Frau Keßner nach einer Weile. “Übrigens hat es zu diesem Thema einen sehr anrührenden englischen Spielfilm gegeben, in dem sich die Mutter gegen die herzlosen Bürokraten des Jugendamtes zuguterletzt erfolgreich zur Wehr setzt.”
“Du meinst ‘Ladybird Ladybird’,” sagte Helene prompt. “Von Ken Loach, wenn ich mich recht erinnere.”
‘Die Frau hat einiges auf dem Kasten,’ dachte Helmut bewundernd.
“Sehr gut,” sagte er. “Hätte ich nicht mehr gewußt. Gesehen habe ich den Film aber auch und fand ihn so anrührend, daß ich mir die Geschichte gemerkt habe. Doch eine herzlose Bürokratin war Netti wohl nicht, denn es fiel ihr ja schwer, ihres Amtes zu walten.
“Nichtsdestotrotz, - sie waltete,” kommentierte Helene.
“Irgendwann sprachen wir auch in der Gruppe über Nettis Arbeit,” nahm Helmut den Faden wieder auf, “und ich sagte zu ihr: …”
“Ich ahne, was jetzt kommt.” Helene lächelte seltsam.
“… Also hast du aus dem Schlüsselerlebnis deiner Kindheit - der Trennung von einer geliebten Person - deinen Beruf gemacht. Nun bist  d u  es, die von Amts wegen Mütter und Kinder trennt, wenn es das Gesetz befiehlt.”
“Mein Gott,” sagte Frau Keßner tonlos.
“Netti war sprachlos,” fuhr Helmut fort. “Anderntags warf mich die Gruppenleiterin aus der Gruppe, weil ich die Grundregeln verletzt hätte. Und wahrscheinlich hatte sie damit sogar recht. Deshalb weiß ich nicht, was aus Netti geworden ist. Aber die Therapie in der Gruppe lief sowieso darauf hinaus, daß alle gewaschen wurden, ohne naß zu werden. Deshalb bin ich danach auch ganz gut ohne über die Runden gekommen.”
Helmut war mit seiner Geschichte zuende.

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