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kainproblem.html 22.07.2018

Helmar Kloss

Wieso hat Kain Abel erschlagen?  09.05.2008

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     Kain hat, wie wir alle wissen, Abel erschlagen. Aber weshalb? Wieso hat nicht Abel Kain erschlagen? Ich frage: War das nur ein Zufall?
     Vieles deutet darauf hin, daß es kein Zufall war. Kain war der Ältere und Abel der Jüngere. Tiefenpsychologische Erkenntnisse, soziologische Untersuchungen, die ganze Menschheitsgeschichte und unbefangene Beobachtungen ganz normaler Familien weisen darauf hin, daß die älteren öfter auf die jüngeren Geschwister eifersüchtig sind als umgekehrt. Für ein jüngeres Geschwister ist es von Geburt an normal, Geschwister zu haben, für das älteste nicht. Allerdings kommt es oft vor, daß die Jüngeren bei dem Versuch, sich gegen das ältere und zunächst überlegene Geschwister zu behaupten, zwar nicht unbedingt eifersüchtig, aber doch ebenso - oder in sogar noch höherem Maße - bösartig werden. Ja, ich denke sogar, daß die Eifersucht Auslöser dessen war, was die Bibel ”Erbsünde” nennt und was wir alle als ”das Böse” im Menschen kennen.
     Wie soll man sich das vorstellen?
     Eifersucht ist keine ausschließlich menschliche Gefühlsreaktion. Man kennt sie auch von anderen Tieren; z.B. bei Hunden, die oft auf neu in die Familie kommende Tiere oder neugeborene Kinder mit Eifersucht reagieren. Das Gefühlsschema dürfte also vermutlich erblich angelegt und lange vor dem Menschen entstanden sein. Aber wie ist es zu verstehen, daß die Eifersucht beim Menschen eine derart zerstörerische Wirkung entfalten kann, daß daraus das ”Böse” entstanden ist, das wiederum unendliches Leid zur Folge hat?
     Die Menschwerdung vollzog sich vermutlich infolge eines oder sogar mehrerer Wechsel im habitat, also der Umwelt, in der die Vormenschen lebten. Normalerweise verursachen Veränderungen der Umwelt den Untergang vieler der in ihr lebenden Arten. Alle Arten, die es nicht schaffen, sich den neuen Bedingungen anzupassen, gehen unter. Wann, wo, wie, wieoft und in welcher Reihenfolge sich die Lebensbedingungen geändert haben, ist noch weitgehend unerforscht. Es ist zu vermuten, daß Änderungen in den Lebensbedingungen auf mancher Entwicklungsstufe auch die Gattung ”Mensch” dem Untergang nahegebracht hat. Und außerdem ist anzunehmen, daß es uns bei einer wesentlich anderen Abfolge von Änderungen dcr Umwelt nicht geben würde. Doch die Vormenschen haben es geschafft, sich anzupassen. Und die Menschen und ihre Vorfahren haben auch nicht einfach nur überlebt, sondern sich dabei weiterentwickelt. Erfolgreiche Anpassung bedeutet Entwicklung.
     Z.B. könnte der aufrechte Gang eine Folge der Übersiedlung aus dem Urwald in die Savanne gewesen sein. Der aufrechte Gang hatte seinerseits die Verkümmerung der Greiffüße zur Folge und setzte die Hände von der Aufgabe der Fortbewegung frei. Daraus ergaben sich zahllose neue, taktile Erfahrungen, die ihrerseits wiederum die Intelligenzentwicklung vorangetrieben und die manuellen Fähigkeiten stimuliert haben. Das Gehirn der Vormenschen wuchs.
     Mit dem Wachsen des Gehirns ging eine immer länger werdende Schwangerschaft einher. Zudem blieben Neugeborene nach der Geburt immer länger von elterlicher Pflege abhängig; nicht nur ein paar Wochen, wie noch nicht flügge Vögel, sondern Monate, schließlich sogar Jahre.
     Doch anders als z.B. bei Orang Utans und Schimpansen war nicht die Mutter allein dafür zuständig, das Kind zu versorgen. Die Vormenschen hatten sich in Gegenden vorgewagt, in denen eine alleinerziehende Mutter keine Überlebenschance hatte. Sie konnte die Aufgaben der Säuglingspflege und Nahrungssuche nicht mehr allein bewältigen. Zum Überleben der Art bedurfte es einer sozialen Organisation. Es bildeten sich Familien - bestehend aus Mutter, Vater und dem unselbständigen Nachwuchs - und früher oder später Horden heraus. Oder - umgekehrt - konnten die Vormenschen sich aufgrund von familiärer Arbeitsteilung in Gegenden vorwagen, die für andere Primaten zu unwirtlich waren. Über Art und zeitliche Abfolge der vielen verschiedenen Umweltänderungen und Entwicklungschritte wird man wohl über Vermutungen nie hinauskommen. Immerhin soll kürzlich eine 790.000 Jahre alte Feuerstelle gefunden worden sein, so daß man davon ausgehen kann, daß die Beherrschung des Feuers bei der Menschwerdung eine viel größere Rolle gespielt hat als bisher angenommen.
     Die Erfordernisse, die Handlungen der Familienmitglieder zu koordinieren, begünstigten die Entstehung der Sprache und diese wiederum die Entstehung und Entfaltung dessen, was wir ”Kultur” nennen.
     Wann und wie, ist unbekannt, aber auch das Sexualleben dieser familiär um eine Feuerstelle herum organisierten Vormenschengruppe muß sich geändert haben. Ständige Sex-Bereitschaft statt jährlicher Brunst gibt es zwar bereits bei den Schimpansen, doch erst beim Menschen oder seinen Vorfahren konnte es zu dem kommen, was es sonst – außer bei Zwillingsgeburten - bei keiner anderen Art gibt, nämlich daß eine Mutter mit einem noch von ihrer Fürsorge abhängigen Kind erneut schwanger wird. Und falls es doch noch andere Arten geben sollte, dann keinesfalls solche mit auch nur annähernd so hoher Intelligenz wie der Mensch sie hat und leider auch dazu benutzt, Böses auszudenken und zu tun. Infolgedessen stellt sich bis heute in jeder Familie nach der zweiten Entbindung das Kain-Problem.
     Denn man versetze sich in die Situation eines erstgeborenen Kindes jeder Familie, in der es mehr als ein Kind gibt. Es wird durch folgendes Ereignis entscheidend geprägt, das für diejenigen Kinder, die bei der folgenden Geburt unter etwa vier Jahren alt waren, besonders einschneidend ist, weil sie sich nicht daran erinnern können: Die über alles geliebte Mutter – für die Jüngsten ihr Einundalles, ihr Über-Ich in einem nicht-freudschen Sinn, denn Kinder im Kleinkindalter haben zunächst noch kein “Ich”, sondern hängen vollkommen von der Mutter ab, haben sie doch gerade erst das ‘extra-uterine Jahr’, wie ein Biologe das erste Lebensjahr genannt hat, hinter sich - also ihre ‘Existenzgrundlage’ im ureigentlichen Sinn wendet sich plötzlich einem anderen Wesen zu, das sie vor ihren Augen umsorgt, herzt und küßt, während sie sehen können, wo sie bleiben. Bestenfalls können sie sich vom Papa, von der Oma oder einer Tante trösten lassen.
     Diese ungeheuerliche Enttäuschung, diese geradezu existentielle Bedrohung, über die in der Regel nie gesprochen wird (die jüngeren können ja noch garnicht sprechen), über die aber auch später nicht gesprochen wird, weil die auf Eintracht zielende Familienideologie und das dieser angepaßte bewußte Erleben des Heranwachsenden dem entgegenstehen - sie und ihre Folgen sind es, womit Erstgeborene lebenslang zu kämpfen haben. Denn wer so unsagbar tief enttäuscht worden ist, hat natürlich Mühe, zu lieben und an die Liebe anderer zu glauben. Negative Gefühle wie Neid, Eifersucht und Schuldgefühle machen ihm zu schaffen, und infolgedessen vermag er auch kein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, was aber eben auch heißt: sich selbst zu lieben.
     Folglich hat für ihn jegliches Problem, dem er im Leben begegnet, eine Dimension, die es für andere nicht oder längst nicht im selben Maße hat: die Selbstwert-Dimension. Leichter als andere Menschen reagiert er gekränkt auf Äußerungen anderer oder erlebt sie sogar als Angriff, auf den er mit den ihm zu Gebote stehenden Waffen, jedoch kaum einmal mit Verständnisbereitschaft und Einsicht reagiert. Zu seinem Waffenarsenal gehören neben den von Freud “Abwehrmechanismen” genannten seelischen unter Umständen auch ganz reale Waffen, weswegen es - wenn er z.B. an die Spitze eines Staates gelangt ist, wohin ihn sein eigener krankhafter oder der nicht minder krankhafte Ehrgeiz seiner Vorfahren geführt hat - zu Krieg oder Völkermord kommen kann, die unsägliches Leid über viele Tausend oder sogar Millionen Menschen bringen können, - und in der Vergangenheit ja entschieden zuoft auch tatsächlich gebracht haben.
     Leider sieht es nicht danach aus, als ob die Intelligenz der Menschen ausreichen würde, das Kain-Problem zu erkennen oder zu lösen, geschweige denn, die katastrophalen Auswirkungen beherrschen zu lernen, die sich seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte weltweit aus dem Umstand ergeben haben, daß die Mehrzahl der Menschen in Familienkonstellationen charakterlich geprägt werden, in denen die Konkurrenz mehr oder weniger offen neidisch-eifersüchtiger Geschwister unterschiedlicher Altersstufen eine zentrale Rolle spielt. Zu den oft als ‘natürlich’ angesehenen Folgen gehört der Umstand, daß allenthalben Erstgeborene das Sagen haben. Im Verlauf von Jahrzehntausenden haben sie sich durch ihre altersbedingte Überlegenheit nicht nur politische, rechtliche und wirtschaftliche Vorteile verschafft, sondern dabei oft das Böse in Form von Ungerechtigkeiten aller Art - z.B. Frauenunterdrückung und die Ausbeutung von Schwächeren - mit Gewalt durchgesetzt oder sogar gesetzlich verankert. Da von der Liebe zutiefst enttäuscht, jagen sie lebenslang vergeblich Surrogaten nach, als da z.B. sind: Macht und Einfluß, Geld und Gut, Genuß, – widmen sich aber leider auch oft der Rache, die in der Regel Unschuldige trifft.
     Und selbst wenn alles vergleichsweise freundlich aussieht, weil es weder Haßorgien gibt, die hin und wieder in totschlagsnahen Aggressionen kulminieren können, wie ich es auch schon miterlebt habe, noch lebenslanger Haß in Form von heimlicher Feindschaft die Atmosphäre vergiftet, wie in meiner Herkunftsfamilie, fällt bei genauerem Hinsehen Konkurrenzverhalten auf, bei dem der oder die Älteste versucht, die körperliche und geistige Überlegenheit auszunutzen, um den oder die Kleinere/n in Schach zu halten oder kleinzumachen und zu demütigen. Denn auch in einer scheinbar heilen, nach außen hin beneidenswert einträchtigen Familie wüten unter der Oberfläche Gefühle, die aus der beschriebenen Quelle stammen, und vergiften die zwischenmenschlichen Beziehungen.

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