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klassenlehrerin.html 27.08.2008

Inform Verlag GmbH

Klassenlehrerin, 26.06.2008

                                                             

Liebe I.,

    Du hast mir erneut ein Stichwort gegeben! Auch Dein letzter Brief handelt von Ideen, mit denen ich seit Jahren schwanger gehe. Du sprichst sie an zwei oder sogar drei Stellen an:
- ”Wir sind nun mal ein Herdenvieh und brauchen Austausch.”
- ”… es erscheint mir äußerst wichtig, daß man ab und zu durch Anerkennung beflügelt wird.”
    Damit hängt auch der ”Gedankenaustausch mit Dir ähnlichen Menschen” zusammen.
Leider habe ich in meinem Leben keine ”mir ähnlichen Menschen” getroffen, ja – nicht einmal von weitem gesehen. Ich bin fast immer nur auf Feindseligkeit, Konkurrenz, falsche (geheuchelte) Liebe und Freundschaft, Unverständnis und dergleichen gestoßen. Aus Büchern weiß ich zwar: Es gibt mir ähnliche Menschen, aber sie scheinen eher selten zu sein. Es hat keinen Sinn, nach ihnen zu suchen. Immerhin habe ich hin und wieder Menschen getroffen, mit denen es lohnt, sich auszutauschen ....
    Nun zum Thema ”Anerkennung”. Dadurch, daß ich das Kriegsende mit einem für mich unverständlichen, aber trotz meiner vier Jahre fühlbaren Wertewandel miterlebt habe, mißtraue ich allem, was ”man” so denkt und für richtig hält. Ich weiß ja sozusagen aus ‘Erfahrung‘, daß das meiste zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen (und in anderen Ländern und Kulturen) nicht gilt oder gelten würde. Daher bin ich überall dort, wo es bestimmte Beitrittsvoraussetzungen gibt - Überzeugungen, Modisches, Patriotisches und dergleichen – womit soziale Gruppen sich von anderen abzugrenzen pflegen - fehl am Platz. Was aber im Grunde heißt: überall. Vermutlich habe ich Soziologie studiert, um diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Allerdings hat die Soziologie, die ich an der Uni kennengelernt habe, nicht allzuviel gebracht. Sie war mehr damit beschäftigt, sich als anerkannte Wissenschaft zu etablieren und ihren Adepten Karrierechancen zu eröffnen als daß sie mir Erkenntnisse geliefert hätte. Nicht zuletzt aufgrund von persönlichen Problemen habe ich die Psychologie zuhilfegerufen. Aber auch da lieferte die universitäre Disziplin nahezu nichts, was mir hätte weiterhelfen können. Erst später bin ich bei Alfred Adler fündig geworden. Zumindest hat er Ideen geliefert, durch die sich alles andere, was ich gehört, erfahren und gelesen habe, zu einem Muster zu ordnen begann. Der Essay über Kain ist dafür ein Beispiel, denn die darin angesprochene Eifersucht hat bereits Adler beschrieben. Ich habe nur die Bedeutung verallgemeinert, wobei ich Entscheidendes Frank J. Sulloway verdanke, dem Autor von ”Born to Rebel” (deutsch falsch und irreführend mit ”Der Rebell der Familie” übersetzt).
    Anerkennung setzt Akzeptanz voraus, und da liegt wahrscheinlich der Kern des ”Kain-Problems”. Denn auch wenn die Eltern die nachfolgenden Kinder akzeptieren, was in Notzeiten nicht immer garantiert ist, tun es die älteren Geschwister – vor allem die Ältesten - nicht oder nur scheinbar. Goethe z.B. hat seine 15 Monate jüngere Schwester sicher auch irgendwie ‘geliebt‘, zugleich aber dafür ”gesorgt”, daß sie es nur 26 Jahre auf diesem Planeten ausgehalten hat. Er hat alles dazu getan, die Schwester auflaufen zu lassen, zu entmutigen und fertigzumachen, wobei ihm die damaligen sozialen Verhältnisse, der zwanghaft-pedantische Vater und die wenig hilfreiche Mutter geholfen haben. Wenn Goethe in seinen Lebenserinnerungen schreibt, sie sei ”ohne Liebe, Glaube, Hoffnung” gewesen, dann war er selbst es, der einen großen Anteil daran hatte, daß sie es wurde. Und da er ein großer Psychologe war, hat er das zumindest zeitweilig auch geahnt. In seinen Stücken tauchen allenthalben mephistophelische Gestalten auf, deren Ratschläge man besser nicht befolgen sollte. Und seiner Mutter hat er lebenslang nachgetragen, daß sie ihn mit fünf Geschwistern ‘betrogen‘ hat, was ihm und all seinen Biographen allerdings nicht klar war. Sie wundern sich nur alle, daß er die doch ach so liebe Mutter auf Abstand hielt.
     ...
    Da allenthalben die Erstgeborenen den Ton angeben - nicht nur in der Erbfolge von Fürstenhäusern – bin ich ständig auf solche Typen aufgelaufen, die in mir den gefährlichen Rebellen witterten und mich kaltzustellen suchten. Meist hatten sie Erfolg, und ich bin es ziemlich leid, mich um etwas zu bemühen, was – wie man an vielen Beispielen sehen kann – alles andere, nur nicht glücklich und zufrieden macht. Ich hätte allenfalls dort eine Chance, wo ein Nachgeborener, der einigen Einfluß gewonnen hat, ohne daß ihn der allenthalben regierende Haß und Neid überwältigt hätte (eine eher seltene Erscheinung), meine Hervorbringungen würdigen könnte. Dir mag die Schilderung unrealistisch und unwahrscheinlich vorkommen, aber lies z.B. Sulloways Analyse der Französischen Revolution. Da Du wahrscheinlich nicht dazu kommst, folgt ein Auszug aus meinem Roman ”Helena”, in dem ich mich darauf beziehe, denn – welch Zufall – Revolutionen haben mich immer interessiert:
    “Nachdem sich die Volkswut am 14. Juli 1789 im Angriff auf die Bastille Bahn gebrochen hatte, traten Leute in Erscheinung, die sozusagen den Tiger ritten und sich zum Sprachrohr des Pöbels machten. Sie waren fast ohne Ausnahme jüngere und jüngste Geschwister. D.h., wie Sulloway eindrucksvoll herausarbeitet, gewissermaßen ‘geborene’ Rebellen, denen es erklärtermaßen um mehr Gerechtigkeit ging. Doch nun kommt das Verblüffende: Im Verlauf der nächsten vier Jahre verloren diese Leute mehr und mehr an Einfluß und wurden durch andere ersetzt oder sogar Opfer des Terrors, wie mit ihnen rund 15.000 Guillotinierte, - übrigens sehr viel weniger als ich vermutet hätte. Und nun der springende Punkt: Die 1793 mit eiserner Hand die Herrschaft übernahmen - allen voran Robespierre – waren ohne Ausnahme älteste Geschwister. Und diesen Ältesten ging es - und geht es bis heute - vor allem um Macht.”
    Tja, und wenn ich deren Treiben – ob nun in der Gegenwart oder in der Geschichte - von ferne beobachte, finde ich es zum Kotzen, ob mit oder ohne Guillotine, Konzentrationslager, Krieg und Auschwitz. Ich halte mich lieber an meine Bücher und an die Musik. Zurzeit höre ich jeden Tag Domenico Scarlatti, und da er fast 600 Sonaten geschrieben hat, werde ich noch lange Freude an ihm haben, echte, ungetrübte Freude.
    Auf Anerkennung sollte man also besser nicht hoffen, wenn man nicht mit der Masse geht, und ich tue es auch nicht mehr. Was mich über Wasser hält, ist der Umstand, daß ich etwas zustandezubringen gelernt habe, was  m e i n e r  Kritik widersteht, denn die hat mich jahr(zehnte)lang lahmgelegt.  I c h  kann inzwischen (an)erkennen, was der Wert dessen ist, was ich hervorbringe, und das genügt mir zwar nicht immer ganz, aber doch  f a s t  immer. Allenfalls mein Über-Ich plagt mich hin und wieder, manchmal - wenn ich bei einigen Sachen weit hinter meinen Plänen zurückliege - täglich. Aber ich weiß, daß es mein internalisierter Vater ist, der seit 20 Jahren tot ist und nur in mir weiterlebt. Damit kann ich besser umgehen als mit ihm selbst. Der vorgestellte Vater ist erheblich toleranter als es der wirkliche war.
    Aber das Problem “Anerkennung” hat noch andere Aspekte:
    Fehlende oder gefährdete Akzeptanz erzeugt in dem Betroffenen, sofern ihm daran gelegen ist, akzeptiert zu werden, eine Tendenz, die ich mit dem Stichwort ”Daseinsrechtfertigung” kennzeichne. Wenn jemand unwillkommen ist, aber dennoch bleiben will oder muß, ist er gezwungen, sein Dasein zu rechtfertigen. Bei der ”Daseinsberechtigung” geht es um die schiere Existenz, bei der ”Daseinsrechtfertigung” nur um die Bemühungen einer Person, in einem bestimmten sozialen Umfeld akzeptiert zu werden; z.B. in der Schule von den Lehrern und den Mitschülern.
    Auch in meiner Herkunftsfamilie war ich in der Lage, mein Dasein rechtfertigen zu müssen, und das Bemühen ist tief in meiner Persönlichkeit verankert. Letztlich schreibe ich deswegen. Mutter wird mich irgendwann akzeptiert haben, und ich habe sie geliebt, außerdem habe ich gelernt, mir anderswo zu holen, was ich brauche, aber Vaters Überzeugungen habe ich ebensowenig akzeptieren können wie er meine.
    Jeder Mensch hat in Kindheit und Jugend das Problem, herauszufinden, wer er ist, wie er – im Unterschied zu anderen – ist und was er im Leben will. ”Erziehung” nennt man den Prozeß, in dem Erwachsene versuchen, auf die Entwicklung eines Individuums Einfluß zu nehmen, so daß es sich zu einer Person entwickelt, die sich den sozialen Verhältnissen, in der die Familie lebt, soweit anpaßt, daß sie dort akzeptiert wird und Erfolg hat. Oder – wenn die Familie dort wegstrebt und sozial aufzusteigen versucht – die Fähigkeiten erwirbt, die dabei von Nutzen sein könnten. Probleme gibt es allerdings bei starkem, schnellem sozialem Wandel, wie zu meiner und in der jetzigen Zeit. Niemand weiß so recht, worauf es ankommt.  Trotzdem (oder gerade deswegen, weil alle Angst haben) bekommt es ein Mensch - insbesondere ein Jugendlicher - der nach eigenen Vorstellungen selig werden will, mit allen anderen um ihn her zu tun, weil sie das schwarze Schaf disziplinieren wollen. Das zwingt das schwarze Schaf zu etwas, was etwas weniger grundsätzlich, aber nicht viel weniger unangenehm ist als die Daseinsrechtfertigung: Es muß sich für sein Sosein rechtfertigen. Beispiel: Als ich mir 1969 (nach dem Diplom) einen Bart wachsen ließ, weil ich das morgendliche Rasieren satthatte, war das noch nicht (wieder) Mode, und ich mußte ständig spießrutenlaufen, bis die Mode auch den letzten Spießer umgepolt hatte.
    Diese von mir so genannte ”Soseinsrechtfertigung” spielt bei der Anpassung an soziale Verhältnisse eine wichtige Rolle. Z.B. auch in Ehen, weil ein Mensch einen anderen selten auf Dauer restlos so zu akzeptieren vermag wie er nunmal ist. Er will, daß der andere sich in dieser oder jener Hinsicht ändert, und wenn der das nicht tut, wird er den anderen kritisieren und an ihm herumnörgeln, so daß der sich ständig genötigt sieht, sich für sein Aussehen, seine modischen Vorlieben, seine Hygienemaßnahmen und andere Eigenarten zu rechtfertigen. Haben Partner und andere Mitmenschen viel an ihm auszusetzen, wird er ständig damit beschäftigt sein, sein Sosein zu rechtfertigen und kaum dazu kommen, sich zu entspannen, sich wohlzufühlen, sich selbst zu mögen und d.h.: glücklich und zufrieden zu sein. Die meisten Ehescheidungen werden dadurch verursacht, daß sich die Partner nicht auf Dauer so akzeptieren können wie sie sind und die Rechtfertigungen des jeweils anderen zurückweisen. Und auch wenn ein Mensch, den seine Mitmenschen in einer bestimmten Weise schätzen gelernt haben, sich verändert – aus Sicht der anderen zu seinem Nachteil – muß er sein verändertes Sosein rechtfertigen oder sich davonmachen.
    Letzteres ist meine Wahl. Ich habe mich aus den Verhältnissen zurückgezogen, in denen ich lange gelebt habe und wo ich einigermaßen akzeptiert wurde. Aber sie gefielen mir nicht. Sie ließen mich nicht zu mir selbst finden. Ich strebte nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit. Dort, wo ich gelandet bin, gefallen mir die sozialen Verhältnisse zwar ebensowenig, aber ich kann mich leicht heraushalten und tun und lassen, was ich will, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Das – merke ich mit der Zeit immer deutlicher - ist Freiheit. Denn frei ist, wer weder sein Dasein noch sein Sosein rechtfertigen muß. D.h. ich kann so sein und leben, wie ich will. Niemand redet mir rein. Zwar bin ich aufgrunddessen mehr und mehr allein, doch ich finde, daß der Preis nicht zu hoch ist, den ich bezahle.
    Und während ich das schrieb, fiel mir das romantische Motto ein: ”Frei, aber einsam!”

Herzliche Grüße und alles Gute

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