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zensurheute.html 13.03.2016; überarbeitet: 20210628
Helmar Kloss
Zensur funktioniert heute anders als im 3. Reich, in der DDR oder anderen Diktaturen, aber sie funktioniert. Unliebsames wird entweder gar nicht erst gedruckt oder nicht kommentiert, bleibt daher unbekannt und wird also auch nicht gelesen. Die Entscheidung darüber, was gedruckt, kommentiert, gelobt und gelesen wird, treffen zwar nicht mehr Funktionäre kirchlicher oder staatlicher Organe, sondern ganz normale Menschen, Menschen wie du und ich. Aber sie arbeiten in Verlagslektoraten oder in der Dramaturgie von Theatern, in Zeitungsredaktionen und verfügen daher über die Macht, ihren Geschmack zum Maßstab zu machen. Und wehe dem Autor, der ihren Geschmack nicht trifft!
Doch besteht bei j e d e r Art Zensur ein grundsätzliches Problem: Wie hat sich der Geschmack der Zensoren gebildet? Nach welchen Regeln gehen sie vor?
Und da entsteht der Verdacht, dass viele von ihnen aus Mangel an Kreativität das geworden sind, was sie wurden. Selbst unfähig, zu schreiben, suchen sie nach einem literaturnahen Betätigungsfeld und werfen sich zu Kritikern auf.
Die Unfähigkeit hängt vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass sie viel gelesen haben. Wer viel liest, hat es schwer, eigene Gedanken zu entwickeln, vor allem, wenn er noch jung ist. Ich hatte mit Zwanzig nichts zu sagen, was ich nicht irgendwo gelesen hatte, und ich denke, dass das normal ist.
Jedenfalls kann man, wenn man in die Geschichte blickt, viele, viele Beispiele finden, in denen der Geschmack der zeitgenössischen Zensoren auf welchen Gebieten auch immer als Maßstab für die Leistung von Autoren und anderen schöpferisch tätigen Menschen ungeeignet war. Ja, man könnte sogar versucht sein, zu behaupten: Sie waren deren größte Feinde!